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Japan ist ein Land der spannungsvollen Gegensätze, die sich dem Reisenden nicht sofort erschließen. Judith Brandner, profunde Japankennerin, zieht den Vorhang ein wenig zur Seite und gewährt erstaunliche Einblicke in das fernöstliche Land. Eine "japanische Großmutter" weiht in die Geheimnisse der Kochkunst ein und ein Besuch bei der Herzensfreundin endet mit einem Koffer voll antiker Kimonos. Der japanische Freund mit seinem alten Geländewagen erweist sich am Fischmarkt von Kyoto als verlässlicher Begleiter. Ausgehend von dieser vertrauten Atmosphäre unternimmt die Autorin ihre Expeditionen in die Randbereiche der japanischen Gesellschaft. Sie spricht mit Obdachlosen und Tagelöhnern, hat konspirative Treffen mit protestierenden Studierenden und Begegnungen mit Revisionisten oder jungen Menschen, die kaum etwas von der eigenen Geschichte wissen. Den intellektuellen Überbau liefern Literaturstar Haruki Murakami, mit dem sie über die Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft philosophiert, und Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe, der erzählt, weshalb ihn die Rechtsradikalen zum "National Enemy" erklärt haben.
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Seitenzahl: 129
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Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Worldscapes/www.buenosdias.at Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien ISBN 978-3-7117-5014-3 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt
Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at
Im Herbst 1987 kam ich zum ersten Mal nach Japan. Unvergessen der erste Blick beim Anflug, auf sattgrüne Reisfelder, ein Anblick, in den ich mich sofort verliebte. Ich reist an, um einen Job an der österreichischen Außenhandelsdelegation in Tokyo anzutreten, ein Chauffeur holte mich mit einer schwarzen Limousine vom Flughafen Narita ab und brachte mich in die Dienstwohnung im noblen Stadtviertel Nishi-Azabu nahe Roppongi. Ich kam in ein boomendes, reiches Land. Japan kaufte gerade halb Hawaii auf, die Immobilienpreise in Tokyo erreichten täglich neue, unfassbare Höhen. Der steigende Yen-Kurs war Tagesgespräch, die Lebenshaltungskosten enorm. Eine Tasse Kaffee etwa kostete zwei- bis dreimal so viel wie zu Hause. Westliche Unternehmen versuchten begierig, die Geheimnisse japanischer Management-Theorien zu ergründen. Es war die Zeit der Bubble Economy, die Spirale am Aktien- und Immobilienmarkt schraubte sich schier unaufhaltsam nach oben. Angespornt von staatlichen Parolen zur Ankurbelung des Inlandskonsums, stürmten die Menschen die Glitzerwelten der Kaufhäuser und deckten sich mit Dingen ein, die sie kurze Zeit später wegwarfen. (Sehr zum Entsetzen meiner japanischen Kolleginnen und Kollegen richtete ich meine Wohnung mit Fundstücken vom Sperrmüll ein.) Es herrschte Vollbeschäftigung, und des Abends füllten sich die Restaurants und Bars mit den sararimen, den Firmenangestellten, [10]die auf Firmenkosten üppige Gelage feierten. Die Firma bedeutete alles, die Firma war die Familie. Japan war die Familie, Japan war die Firma. Sah man näher hin, entdeckte man bereits damals die blitzblauen Plastikplanen im Park von Ueno, unter denen die Obdachlosen wohnten. Damals noch eine Randerscheinung, weitgehend ignoriert, aber auch geduldet vom Rest der »harmonischen Mittelstandsgesellschaft«, als die sich Japan sah.
Anfang der neunziger Jahre platzte die Blase. Die Banken waren auf ihren faul gewordenen Krediten sitzengeblieben, die durch die überbewerteten Immobilien nicht mehr abgesichert waren. Der Wert der Immobilien war innerhalb kurzer Zeit auf ein Viertel gesunken, der Aktienmarkt zusammengebrochen. Mehrere große Banken und Lebensversicherer hatten Konkurs anmelden müssen, andere waren von der Regierung gerettet worden. Es war der Beginn einer großen Krise.
Deflation und Stagflation wechselten einander ab. 2010 hat China Japan auf der Rangliste der größten Volkswirtschaften überholt. In diesen zwanzig Jahren der Krise besuchte ich Japan viele Male. Jedes Mal zeigte sich der Riss durch die Gesellschaft deutlicher, bekam die glänzende Lackoberfläche mehr und mehr Kratzer.
Im Jahr 2000 schilderte mir der Kulturphilosoph Ken’ichi Mishima in einem Radiointerview das »neue Phänomen« einer zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und den völligen Mangel an Solidarität in einer Gesellschaft, in der nur Geld und Konsum zählten. Ich habe noch seine [11]drastischen Worte von der »geistig-moralischen Verwahrlosung« der Gesellschaft im Ohr. Es fehle, meinte Mishima damals, ein System, um die aufzufangen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Ein Jahrzehnt später fehlt dieses System immer noch. Prekäre Arbeitsverhältnisse, modernes Tagelöhnertum und Armut sind längst keine Randphänomene mehr. Die Firma in der alten Form hat aufgehört zu existieren. Geblieben sind die Menschen. Die Reportagen in diesem Buch werfen einen Blick auf ein Land mit einer nach wie vor glitzernden Oberfläche, unter der es jedoch gärt.
»Willkommen im Hotel Ogino!«, sagt die kleine, zierliche Frau mit dem dichten schwarzen Haar. »Bitte treten Sie ein in mein kleines, schmutziges Haus.« Das Einfamilienhaus im Norden von Kyoto, nahe dem Fluss Kamogawa, wird für die nächsten Wochen mein Zuhause, Yoshiko Ogino für viele Jahre meine japanische Großmutter. Ich ziehe in ein Zimmer im oberen Stock ein, der unbenützte Wäscheplatz am Dach wird mein Rauchbalkon. Dezent stellt Frau Ogino einen Aschenbecher bereit und ersucht ab und zu, die Zigaretten immer gut auszudämpfen. Das Haus ist aus Holz.
Kennengelernt hatte ich sie und ihren Sohn Shigeru in Wien, im Sommer 1994. Sie logierten in einer Suite im Hotel Imperial, was mich sehr beeindruckte. Shigeru, der fortan nur »der Ogino-San«, wie die höfliche Anrede für Mann und Frau lautet, sein sollte, hatte eine kleine Ausstellung seiner wunderbaren grünlich-weißen Keramik im Tabakmuseum. Jahre später erzählte der Ogino-San, dass er mit diesem kurzen und ganz und gar außergewöhnlichen Aufenthalt im Luxushotel seiner Mutter einen ganz besonderen Wunsch erfüllt hatte.
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