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Islamistischer Terror, IS, Taliban: Der Nahe und der Mittlere Osten stehen im Westen vor allem für repressive Gesellschaftsordnungen, religiöse Intoleranz und Gewaltherrschaft. Navid Kermani, Orientalist und Schriftsteller, schildert in seiner Dankesrede anlässlich des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2015 eindrucksvoll die Diskrepanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart des Orients und des Islams. Er erinnert dabei an frühere islamische Kunst, Musikwissenschaft, Architektur und Poesie und damit an die Freiheit und die Kreativität, die im Islam einmal existierten. Die vorliegende Arbeit stellt diesen Kontrast anhand unterschiedlicher Repräsentationen Afghanistans im zeitgenössischen deutschen Roman dar. Zum einen als Sehnsuchtsort in Mariam Kühsel-Hussainis Roman „Gott im Reiskorn“ , zum anderen als Ort des Schreckens und der Talibanherrschaft in Linus Reichlins Roman „Das Leuchten in der Ferne“. Afghanistan fand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Einzug in die deutsche Literatur. Als Beispiel ist das Gedicht "Trauerspiel von Afghanistan" von Theodor Fontane zu nennen. Der Titel hat nichts von seiner Aktualität verloren, auch wenn das Trauerspiel sich heutzutage nicht mehr auf den verlorenen Kampf der Briten bezieht, sondern vielmehr auf den Kampf Afghanistans gegen den Terrorismus und auf die Wiederherstellung von Frieden und Ordnung. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, anhand der Repräsentationen Afghanistans das Land als Sehnsuchtsort, der Afghanistan einmal war, aus der Vergessenheit und Unkenntnis hervorzuholen und demgegenüber zu untersuchen, was den Schreckensort Afghanistan kennzeichnet, der heute das einzige Gesicht des Landes darstellt. Um Repräsentationen zu den soeben genannten gegensätzlichen Seiten Afghanistans zu erhalten, wurden die Romane „Gott im Reiskorn“ und „Das Leuchten in Ferne“ ausgewählt. Da es sich bei den Romanen um dieselbe Textsorte handelt, wird zugleich die Vergleichbarkeit der Repräsentationen erleichtert. Neben den zwei Hauptrepräsentationen Afghanistans als Sehnsuchts- oder Schreckensort soll darüber hinaus ein Blick auf die Bevölkerung Afghanistans sowie das Aussehen, diverse Eigenschaften, Moral, Werte, verschiedene Probleme des Landes wie beispielsweise Hunger und Perspektivlosigkeit, das Stadtleben und die Landschaft geworfen werden.
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Seitenzahl: 148
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik, Ziel und Methode
1.2 Forschungsrelevanz, Rezeption und Erkenntnisstand
2. Theoretische Grundlagen und Begriffe
2.1 Interkulturelle Literaturwissenschaft und Komparatistische Imagologie
2.2 Postkolonialismus, Orientalismus und Ethnologische Perspektive
2.3 Repräsentation, Gegenwartsliteratur, Bacha Posh, Kalligraphie
3. Analyse der Repräsentationen Afghanistans
3.1 Geschichte, Politik und Biographie als Quellen für die Repräsentationen
3.1.1 Ein geschichtlicher Überblick Afghanistans
3.1.2 Die aktuelle politische Lage Afghanistans
3.1.3 Biographische Informationen zu Autorin und Autor
3.2 Inhalt, Form und Erzählstruktur
3.2.1 Der Roman Gott im Reiskorn
3.2.2 Der Roman Das Leuchten in der Ferne
3.3 Das Eigene: Europa und Deutschland
3.3.1 Das Eigene in Gott im Reiskorn
3.3.2 Das Eigene in Das Leuchten in der Ferne
3.4 Das Andere: Repräsentationen Afghanistans
3.4.1 Repräsentationen Afghanistans in Gott im Reiskorn
3.4.2 Repräsentationen Afghanistans in Das Leuchten in der Ferne
4. Fazit
4.1 Ergebnis
4.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Printmedien
„Hinein – in die Kreuzung der Welten! […] hinein in jene zwei so majestätischen Metaphern Orient und Okzident.“[1]
In der gegenwärtigen Zeit, dem Zeitalter des Kampfes gegen den Terror des Islamischen Staates und der Taliban, der aus dem Nahen und Mittleren Osten in den Westen strebenden Flüchtlingsströme, der Anschläge auf Flüchtlingsheime und Politiker aus Fremdenfeindlichkeit aber auch der Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen, ist die Kreuzung von Orient und Okzident besonders deutlich zu spüren. Der Dialog zwischen der islamischen und westlichen Kultur spielt im Jahr 2015 nicht nur in der Politik sondern auch im Kulturbereich eine entscheidende Rolle. Zur Eröffnungspressekonferenz der Frankfurter Buchmesse 2015 wurde der Schriftsteller Salman Rushdie eingeladen und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015 erhielt der Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani, der in seiner Dankesrede in der Paulskirche in Frankfurt den früheren „multiethnisch, multireligiösen und multikulturellen Orient“[2] ins Bewusstsein ruft, den es nicht mehr gibt. Er schildert eindrucksvoll die Diskrepanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart des Orient und des Islam, indem er die in jüngster Zeit zahlreichen, unter Berufung auf den Islam verübten Verbrechen in Syrien, Afghanistan, dem Irak und weiteren Ländern aufzählt. Im Gegenzug dazu an die frühere islamische Kunst, Musikwissenschaft, Architektur und Poesie erinnert, und damit an die Freiheit und Kreativität, die im Islam einmal existierte. Die frühere Poesie, die „vom Geist und den Buchstaben des Korans“[3] durchdrungen war, enthalte sogar weltliche, erotische und feministische Züge. Es sei auch damals keine heile Welt gewesen, aber diese Beispiele würden doch zeigen, was einmal „denkmöglich, oder sogar selbstverständlich innerhalb des Islam war“.[4] Diesen Kontrast zwischen dem früheren und dem heutigen Orient beschreiben auch die Repräsentationen Afghanistans dieser Arbeit. In dem Roman Gott im Reiskorn geht es hauptsächlich um die vorhin angesprochenen Themen wie Kunst und Poesie sowie um das Afghanistan in der Vergangenheit. In dem Werk Das Leuchten in der Ferne stehen zum einen die Taliban im Mittelpunkt und zum anderen Verbrechen, wie die Steinigung einer Frau unter Berufung auf den Islam, eines der Verbrechen der Gegenwart, die Kermani mit Blick auf Afghanistan in seiner Rede anspricht.[5]
Afghanistan fand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Einzug in die deutsche Literatur.[6] Als Beispiel ist das Gedicht Trauerspiel von Afghanistan von Theodor Fontane[7] zu nennen. Der Titel hat nichts von seiner Aktualität verloren, auch wenn das Trauerspiel sich heutzutage nicht mehr auf den verlorenen Kampf der Briten bezieht, sondern vielmehr auf den Kampf Afghanistans gegen den Terrorismus und auf die Wiederherstellung von Frieden und Ordnung.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, anhand der Repräsentationen Afghanistans das Land als Sehnsuchtsort, der Afghanistan einmal war, aus der Vergessenheit und Unkenntnis hervorzuholen und demgegenüber zu untersuchen, was den Schreckensort Afghanistan kennzeichnet, der heute das einzige Gesicht des Landes darstellt. Damit wird der im folgenden Kapitel aufgeführte Erkenntnisstand Susan Zerwinskys konsolidiert. Um Repräsentationen zu den soeben genannten gegensätzlichen Seiten Afghanistans zu erhalten, wurden die Romane Gott im Reiskorn und Das Leuchten in Ferne ausgewählt. Da es sich bei den Romanen um dieselbe Textsorte handelt, wird zugleich die Vergleichbarkeit der Repräsentationen erleichtert.[8] Neben den zwei Hauptrepräsentationen Afghanistans als Sehnsuchts- oder Schreckensort soll darüber hinaus ein Blick auf die Bevölkerung Afghanistans sowie das Aussehen, diverse Eigenschaften, Moral, Werte, verschiedene Probleme des Landes wie beispielsweise Hunger und Perspektivlosigkeit, das Stadtleben und die Landschaft geworfen werden.
Die Thematik Repräsentationen Afghanistans ist den Arbeitsgebieten Interkulturelle Literaturwissenschaft und Komparatistische Imagologie zuzuordnen, welche zu Beginn der theoretischen Einführung kurz erläutert werden. Für die Analyse der Repräsentationen Afghanistans seien sowohl die Orientalismus-Debatte, der postkoloniale Blickwinkel sowie die ethnologische Perspektive als auch historische und politische Einflüsse von Bedeutung.[9] Daher wird als Vorbereitung auf die Analyse im zweiten Kapitel auf den Orientalismus- und Postkolonialismus-Begriff und die ethnologische Perspektive eingegangen. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird der Theorieteil um weitere relevante Begriffe wie Repräsentation, Gegenwartsliteratur, Bacha Posh und Kalligraphie ergänzt. Im dritten Kapitel erfolgt die Analyse der Repräsentationen Afghanistans in Anlehnung an Grabovszki und Corbineau-Hoffmann: Zuerst werden die Quellen für die Entstehung der Repräsentationen untersucht. Diese bestehen aus historischen, politischen und biographischen Hintergründen.[10] Daraus können sich bestimmte Interpretationsschemata entwickeln, die sich in den Repräsentationen widerspiegeln können.[11] Danach wird kurz auf die Form, den Inhalt und die Erzählstruktur eingegangen, da es einen großen Unterschied macht, ob es sich beispielsweise um einen Reisebericht handelt und sich der Autor somit freiwillig dem anderen Land ausgesetzt hat oder um einen von einem Exilanten geschriebenen Roman.[12] Weiterhin gehe jedes Bild (hier: jede Repräsentation) aus einer Bewusstwerdung hervor, „die sich in einem Ich in Beziehung zum ‚Anderen‘ […] vollzieht.“[13] Dabei sei es wichtig, dass das Bild nicht „Abbild tatsächlicher Gegebenheiten“[14] sei, sondern „Darstellung im Medium der Sprache“[15] und sich damit dem Wahr-falsch-Kriterium entziehe.[16] Hier wird die Relevanz des Eigenen, das für das Verständnis der Repräsentationen Afghanistans unabdingbar ist, wie im zweiten Kapitel gezeigt werden wird, betont. Dem Eigenen wird anhand der Charakterisierung der Protagonisten sowie ihrer Heimat Deutschland und Europa auf den Grund gegangen werden. Nun werden die Repräsentationen Afghanistans mithilfe der Fragen, wie Images (hier: Repräsentationen) im Text gebildet werden und welche Funktion sie dort erfüllen[17] herausgestellt und interpretiert. Zum Schluss folgt im vierten Kapitel das Fazit, indem das Ergebnis zusammengefasst und ein Forschungsausblick gegeben wird.
Die vorliegende Arbeit begründet ihre Forschungsrelevanz anhand fünf wichtiger Aspekte: Zum einen damit, dass das Afghanistanbild in Deutschland aufgrund ins Deutsche übersetzter Werke[18] englischsprachiger Autoren entstanden ist und deutsche Autoren sowie ihre Werke in Bezug auf Afghanistan bisher kaum erforscht worden sind. Zum anderen erschließt sie sich aus der Berichterstattung über Afghanistan in den deutschen Medien, die sich fast ausschließlich auf „Schreckensmeldungen“ beschränkt und damit eine sehr einseitige Wahrnehmung vorherrscht. Details spielen „kaum noch eine Rolle, denn wie man längst weiß, ‚nichts ist gut in Afghanistan‘ “.[19] Ein wichtiger Grund hierfür liegt darin, dass im Gegensatz zu den amerikanischen, britischen französischen und niederländischen Zeitungen sowie Radio- und Fernsehsendern die deutschen Medienanstalten weder ein Büro noch eine Mehrzahl akkreditierter deutscher Journalisten in Kabul haben oder in der Vergangenheit hatten. Die politischen Berichte stammen dagegen oft von Reportern, die mit der Bundeswehr anreisen und nicht über die Grenzen des Bundeswehrlagers hinausschauen können oder wie Friedrich Nowotny es formulierte, fiele „der Blick des Journalisten […] durch den Sehschlitz des Panzers. Und der ist nicht groß“[20]. Eine „Verzerrung der Wahrnehmung“ erfolge jedoch auch durch den, von den deutschen Medien geforderten, obligatorischen „Deutschlandbezug“[21]. An dieser Stelle können die Literatur und insbesondere die Auseinandersetzung mit den Repräsentationen Afghanistans in Gott im Reiskorn und Das Leuchten in der Ferne einen Beitrag zu Afghanistan jenseits der Grenzen des Bundeswehrlagers leisten, der nach der soeben geschilderten Problematik unbedingt notwendig erscheint. Dadurch erfährt die westliche Sichtweise auf Afghanistan eine Verfeinerung und der Dialog der Kulturen wird angeregt. Über Afghanistan wird im 21. Jahrhundert viel geschrieben. Deutsche und europäische Autoren, darunter bekannte Schriftsteller wie Soldaten schreiben vor allem über den Einsatz der NATO in Afghanistan und die traumatischen Erlebnisse der Bundeswehrsoldaten, deren Relevanz nicht negiert werden kann.[22] Ein möglichst vollständiges Bild von Afghanistan kann jedoch nur gelingen, wenn alle Facetten des Landes in Augenschein genommen werden. Dazu gehören Repräsentationen des früheren Afghanistans, seinen Landsleuten und deren Eigenschaften genauso wie diejenigen der Taliban, Bacha Posh und Menschen mit afghanischen Wurzeln, die im Westen leben. Darüber hinaus sieht die Germanistin Susan Zerwinsky in Untersuchungen „deutschsprachiger literarischer Afghanistanbilder“ vor dem Hintergrund der Befürchtung des Ethnologen Alfred K. Treml, jede Berührung mit der westlichen dominanten Kultur würde zu einer Assimilation an dieselbe und damit zu einer Verarmung der fremden Kultur führen, einen „Beitrag zur Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses Afghanistans.“[23] Und nicht zuletzt ist die Reflektion des Eigenen, die unvermeidlich mit den Repräsentationen Afghanistans verknüpft ist und vor allem anhand der beiden Protagonisten der Romane erfolgt, vor dem Hintergrund der in jüngster Zeit in Deutschland verübten Anschläge auf Flüchtlingsheime[24] von großer Bedeutung.
Die Publikumswirksamkeit und Leserrezeption spiegeln sich einerseits in der Auflagenzahl[25], in Übersetzungen sowie wissenschaftlicher Sekundärliteratur wider. Andererseits stellt die Literaturkritik einen wichtigen Aspekt des Rezeptionsprozesses dar[26], da sie den Publikumserfolg durch die „subjektive, ideologisch gefärbte Sicht“[27] des Literaturkritikers auf das Werk entscheidend beeinflusst und zu Missverständnissen führen kann.[28] Da zu den beiden Romanen bisher keine Übersetzungen in andere Sprachen sowie wissenschaftliche Beiträge vorliegen und die Auflagenzahl schwierig zu ermitteln ist, sind für die Rezeption der beiden Romane Rezensionen sowie das Interesse an Interviews und Lesungen ausschlaggebend.
Dem Roman Gott im Reiskorn wurde schon zu Beginn seines Erscheinens eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, wie die Westfälischen Nachrichten im Jahr 2010 berichten: „Das gibt es auch nicht jedes Jahr: Dass die Literaturbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihre Buchmessen-Beilage mit einem Debütroman aufmacht.“[29] Auch die Konrad-Adenauer Stiftung wurde auf Kühsel-Hussaini aufmerksam und lud sie zu einer Lesung an ihrem traditionellen Kulturabend im Jahr 2012 ein. Zudem schreibt der bekannte deutsche Schriftsteller Martin Walser: „Die Reichtümer ihrer orientalischen Herkunft erzählt Mariam Kühsel-Hussaini jetzt in der grenzenlosen Ausdruckskraft ihrer deutschen Sprache. Die deutsche Sprache darf sich bereichert fühlen durch Mariam Kühsel-Hussaini.“[30] Und Feuilletonisten bringen den Roman sogar mit Goethes West-Östlicher Divan in Verbindung.[31] Werden die Rezeptionen zu Gott im Reiskorn zusammengefasst, kommt man zu folgendem Schluss:
Es war höchste Zeit für solch ein Buch über Afghanistan. Anders als alle aktuellen Publikationen zeigt uns Mariam Kühsel-Hussaini kein von Krieg und Terror […] geschundenes Land. Sie erzählt von einem Afghanistan aus der Zeit vor den Islamisten und noch vor den Sowjets.[32]
Der Roman Das Leuchten in der Ferne stammt von dem renommierten Autor Linus Reichlin, der im Gegensatz zu Mariam Kühsel-Hussaini schon mehrere Romane geschrieben hat und besonders als Krimi-Autor bekannt ist. Für seinen Debütroman Die Sehnsucht der Atome erhielt er beispielweise 2009 den Deutschen Krimipreis.[33] Doch der Roman Das Leuchten in der Ferne wird mit mehr Kritik als Lob bedacht.
In den Rezensionen wird von einer literarischen Niederlage[34] gesprochen und die Darstellung der Figuren wie die der Taliban und der Afghanen wird als „platt“[35] bezeichnet. Schuld an den negativen Rezensionen sind zum Teil jedoch auch die Erwartungen, die an den Roman gestellt werden, wie beispielsweise diese:
Linus Reichlins Afghanistanbuch „Das Leuchten in der Ferne“ hätte der große Gegenwartsroman des Frühjahrs werden können. […] Es hätte in diesem Buch um das Verhältnis der Deutschen zum Krieg in Afghanistan, um die dort stationierten Bundeswehrsoldaten, um einen Europäer unter Talibankämpfern gehen können- Reichlin lässt dieses Potential ungenutzt. Er interessiert sich kaum für die politischen Implikationen seines Stoffs […]. Reichlins erzählerische Aufmerksamkeit […] gilt der Schilderung kulinarischer Details.[36]
Hinter den platten Schilderungen der Figuren und der kulinarischen Details kann auch eine Absicht stecken, auf die innerhalb der Analyse der Repräsentationen noch eingegangen werden wird. Darüber hinaus wird dem Roman auch Anerkennung zuteil, wie folgende Beispiele belegen: Der Germanist und Mitherausgeber der Zeitschrift für Germanistik Alexander Kosenina beschreibt Das Leuchten in der Ferne nicht nur als „große Literatur“, die „auch noch spannend erzählt“ ist, sondern der Roman rücke Afghanistan durch die Beschreibung der „wilden Welt der Mudschahedin“ in ein neues Licht.[37] Das Bayerische Fernsehen hat Linus Reichlin und seinem Roman einen eigenen Beitrag gewidmet, indem Das Leuchten in der Ferne als „lesenswertes Buch“ beschrieben wird.[38] Und die Süddeutsche Zeitung beschreibt Reichlins Afghanistanbuch als „gekonnt gebauten und spannenden Roman“.[39] Entgegen der vielen negativen Kritiken kann Reichlins Roman jedoch auch als ein gelungener Einblick in das Land betrachtet werden, der „Verständnis für die Menschen und ihre Handlungsweisen“ weckt.[40] Nicht umsonst stand er mehrere Wochen in der Schweiz auf der Bestsellerliste.[41]
Aus der internationalen Forschung sind bezüglich der literarischen Darstellung Afghanistans einzelne englischsprachige Studien zu dem Afghanistanbild in einem Roman und Reisebericht zu nennen.[42] Die deutschsprachige Forschung verzeichnet vor allem Beiträge zu Repräsentationen und Images anderer Länder.[43] Es gibt zwar Studien, in denen Repräsentationen Afghanistans zu finden sind, sie beziehen sich jedoch nicht auf die Literatur.[44] Untersuchungen zu dem Afghanistanbild in der deutschen und insbesondere der zeitgenössischen deutschen Literatur fehlen noch. Jedoch hat die Germanistin Susan Zerwinsky mit dem Aufsatz Imaginationen vom Hindukusch. Afghanistanbilder in der deutschen Literatur[45] auf diesem Gebiet einen wichtigen Anfang gemacht. Darin hält sie fest, dass in der deutschsprachigen Literatur häufig ein ambivalentes Afghanistanbild vorherrscht:
Afghanistan wird entweder zu einem faszinierenden literarischen Sehnsuchtsort stilisiert, an dem paradiesische Ursprünglichkeit und Schönheit anzutreffen sind, oder aber das Land und seine Menschen geraten zu einem literarischen Schreckensort
Die Interkulturelle Literaturwissenschaft befasst sich mit „Bilder[n] des Fremden in der deutschen Literatur[47] und deren Bezug zu Selbstdefinitionen der Deutschen im Kontext von Begegnungen, die nicht ohne Macht und Herrschaft zu denken sind.“[48] Dies weist bereits auf die postkoloniale Perspektive hin, die für die interkulturelle Literaturwissenschaft von großer Bedeutung ist, ebenso wie die Begriffe Interkulturalität, Kultur und Fremdheit wichtige Komponenten dieses Arbeitsfeldes darstellen. Interkulturalität wird als ein „intermediäres Feld, das sich im Austausch der Kulturen als Gebiet eines neuen Wissens herausbildet und erst dadurch wechselseitige Differenzidentifikation ermöglicht“ verstanden.[49] Dabei ist die Sichtweise von Homi Bhabha von Bedeutung, die darin besteht, dass „Interkulturalität nicht als das Aufeinandertreffen distinkter, homogener einzelner Kulturen begriffen werden kann, […] [sondern] schon die Einzelkultur, aus der ein Mensch stammt, durch die Kreuzung und Opposition der verschiedensten Tendenzen gekennzeichnet ist.“ [50]Kultur als das „vom Menschen Gemachte“[51] wird hier ebenso entgegen der allgemein üblichen Betrachtungsweise, sie sei „ein Komplex von Werten, Sitten und Gebräuchen, Überzeugungen und Praktiken, die die Lebensweise einer bestimmten Gruppe ausmachen“[52] differenzierter aufgefasst. Die Aufmerksamkeit gilt auch „intrakulturelle[n] Differenzen und Alteritäten“[53] und damit wie von Bhabha und Nünning gefordert, der Heterogenität einer Gemeinschaft.[54]Fremdheit ist für die Interkulturelle Literaturwissenschaft besonders aufgrund drei Erscheinungsformen relevant: Einerseits beschreibt sie das „Unverfügbare und Unzulängliche“[55], andererseits den unbekannten Außenraum als Gegensatz zu dem vertrauten Eigenen und darüber hinaus den „Einbruch in einen als eigen definierten Innenraum.“[56]
Der Begriff Komparatistische Imagologie (lat. imago: Bildnis) […] bezeichnet eine lit. wissenschaftliche Forschungsrichtung innerhalb der vergleichenden Lit.wissenschaft, die nationenbezogene Fremd- und Selbstbilder in der Lit. selbst sowie in allen Bereichen der Lit. wissenschaft und - kritik zum Gegenstand hat.[57]
Die Fremdbilder (Heteroimages) und Selbstbilder (Autoimages) bedingen sich gegenseitig, da das Fremde auf der Basis des Eigenen beurteilt wird und zugleich zur Bestimmung des Eigenen beiträgt.[58] Das Fremde beziehungsweise das Andere steht besonders im Mittelpunkt der Komparatistischen Imagologie, wie Corbineau-Hoffmann betont: „Hier wird das ‚Bild‘ vom anderen Land, seinen Bewohnern, seiner Kultur untersucht.“[59] Dabei können die Träger der Bilder Individuen aber auch Gruppen sein. Im letzteren Falle muss immer kritisch hinterfragt werden, inwieweit diese kollektiven Bilder Aufschluss über den Nationalcharakter geben können und dürfen.[60] Darüber hinaus muss „nicht jede Aussage, die über Bereiche des Andersnationalen getroffen wird, […] zwangsläufig auch die Bestimmung irgendeines Nationalcharakters im Visier haben bzw. dessen Vorhandensein […] voraussetzen“.[61] Die komparatistische Imagologie als Teildisziplin der Komparatistik und der Vergleichenden Literaturwissenschaft[62], ist sowohl mit der Stereotypenforschung als auch mit der Xenologie, der Fremdheitsforschung, verwandt.[63]
Die postkoloniale Perspektive besitzt für das interkulturelle Aufeinandertreffen einen großen Stellenwert, da sie daran erinnert, dass es sich bei interkulturellen Begegnungen um das Zusammentreffen von Nachkommen ehemaliger Kolonialmächte und kolonialisierter Völker handelt.[64] Dabei ist zu beachten, dass die Vorsilbe post zwar auf das Ende der Kolonialzeit verweist, jedoch auch Formen eines „Neo-Kolonialismus“ existieren.[65] Die Voraussetzung postkolonialer Existenz ist Hybridität.[66] Darunter wird in Anlehnung an Homi Bhabha eine Mischung aus verschiedenen Strömungen einer Einzelkultur sowie anderer Kulturen verstanden, die das einzelne Subjekt, vor allem dasjenige in westlichen Metropolen, betrifft.[67] Hybridität, die „durch das Überschreiten kultureller und ethnischer Grenzen entsteht“[68], macht „die Erfahrung fremder Repräsentationen“[69] erst möglich. Eine wichtige Rolle für die postkoloniale interkulturelle Literaturwissenschaft spielt darüber hinaus Edward Saids Orientalismus-Konzept, das im Folgenden erläutert wird.
Orientalismus ist einer der Schlüsselbegriffe für das „okzidentale Orient-Verständnis“[70] und bezeichnet nach Edward Said „einen westlichen Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient.“[71] Der eigentlich heterogene Raum Orient sei eine von Europa vereinheitlichte Konstruktion[72] und Erfindung[73], die den Orient als das unterlegene Andere zu einer Gegenfolie stilisieren, um Europa zu seiner Identität, und zwar die einer überlegenen Kultur, zu verhelfen.[74] Das Orientalismus-Konzept von Said wurde vielfach kritisiert[75]