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Es sind wilde Zeiten ... ... in einer fernen Zukunft, in der sich die menschliche wie alle anderen Zivilisationen endgültig von den Auswirkungen einer längst vergangenen, in den Köpfen bereits völlig verblassten Katastrophe erholt haben. Handel und Forschung, politische Ränkespiele und die Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten scheinen das Leben aller Wesen in der bekannten Galaxis zu bestimmen. In den Randgebieten des erforschten Weltraums, in die sich die diversen Sternenstaaten noch nicht richtig vorgewagt haben, erledigen die systemumspannenden Konzerne sowie die freie Handelsorganisation des Raumcorps die Erschließung und Nutzung der Ressourcen. Doch die Gefahren sind oft größer als der potentielle Nutzen und nicht immer lässt sich das Risiko vorher abschätzen. Immer dann, wenn jemand einen Schritt zu weit gemacht, eine Situation falsch eingeschätzt hat oder das Schicksal auf völlig unvorhergesehene Art und Weise zuschlug, ist Hilfe notwendig – schnell, effektiv und mit der Bereitschaft, sich selbst in die gleiche Situation zu bringen, der die Hilfesuchenden zum Opfer gefallen sind. Dann ist es Zeit für die Mannschaft des Rettungskreuzers Ikarus, die Kastanien aus dem Feuer zu holen ... Dieses eBook enthält Band 11 bis 20 der Science-Fiction-Serie RETTUNGSKREUZER IKARUS. 21: Putsch der Heiligen, Dirk van den Boom 22: Die letzten Movatoren, Sylke Brandt 23: Flucht von Borsai, Irene Salzmann 24: In den Gärten der Tomakk, Achim Hiltrop 25: Kaisersturz, Martin Kay 26: Antagonist, Dirk van den Boom 27: Memento Mort, Thomas Folgmann 28: Welt der Adlaten, Irene Salzmann 29: Tod den Unsterblichen, Irene Salzmann 30: Held wider Willen, Sylke Brandt
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1625
Impressum
Band #021: Putsch der Heiligen
Prolog
Epilog
Band #022: Die letzten Movatoren
Prolog
Band #023: Flucht von Borsai
Prolog
Band #024: In den Gärten der Tomakk
Prolog
Band #025: Kaisersturz
Prolog
Endnoten
Band #026: Antagonist
Prolog
Band #027: Memento Mort
Prolog
Band #028: Welt der Adlaten
Prolog
Band #029: Tod den Unsterblichen
Prolog
Band #030: Held wider Willen
Prolog
Atlantis Verlag
Der Versuch Kronprinz Jorans, durch die Offenlegung von Dr. Anandes dunkler Vergangenheit der Rettungsabteilung dauerhaften Schaden zuzufügen, ist gescheitert. Dennoch hat diese Intrige einen bleibenden Eindruck auf die Crew des Rettungskreuzers gemacht und das Gefühl einer akuten Bedrohung nur noch verstärkt. Weit weg vom Nexoversum, in der heimatlichen Galaxis, bereitet Joran zusammen mit seinen Verbündeten nun alles vor, um die Invasion der Outsider zu einem Erfolg zu machen. Es ist nur ein Vorspiel kommender Katastrophen und Gefahren, aber es ist ein entscheidendes Präludium, in dem die Outsider ein aktives Sonnentor in der Galaxis installieren können. Im Nexoversum musste sich Jason Knight derweil mit der Erkenntnis abfinden, dass seine Gefährtin Shilla den Einflüsterungen der Outsider nicht hatte widerstehen können: Sie ist übergelaufen und scheint ihre Vergangenheit vollständig verdrängt zu haben. Jason Knight kommt auf der Knotenwelt der Lösung dieses Problems einen Schritt näher, während in der Milchstraße der Fokus der Ereignisse das Outback verlässt – es geht um die Hauptwelt der Galaktischen Kirche, und dort um den Putsch der Heiligen …
Als Uhul noch ein Kind gewesen war, hatte er das Haus seiner Eltern verlassen und war am Markttag in die Stadt gewandert. Er hatte natürlich gewusst, dass er das an sich nicht durfte, doch er hatte es vor lauter Langeweile nicht mehr im Haus ausgehalten. Ein unachtsamer Moment seiner Aufpasserin, der alten Tahkla, und schon hatte er sich vom Hof gemacht. Das Haus lag unweit der Stadtmauern und Uhul kannte den Weg genau, war er ihn doch des Öfteren an der Seite seines Vaters gegangen, wenn dieser mit ihm den Gottesdienst besucht hatte. Niemand auf der staubigen Straße hatte das allein daherspazierende Kind beachtet, denn Uhul war groß für sein Alter gewesen und hatte einen ausgesprochen selbstsicheren Eindruck gemacht. In seinem Beutel hatten zudem einige Münzen geklimpert, verdient am Marktstand seines Onkels, den er zu besuchen beabsichtigt hatte.
Der Markt war das zentrale gesellschaftliche Ereignis in der Stadt und es gab nichts Spannenderes. Nur weil seine Eltern volle Vorratsräume hatten, waren sie nicht bereit gewesen, den Weg dorthin anzutreten. Nun, Uhul hatte anders entschieden.
Als er das Stadttor durchschritten hatte, war aus dem losen Strom der Reisenden ein reißender Fluss geworden. Uhul hatte sofort den Überblick verloren, als er in diesen Fluss geworfen wurde, der aus zahllosen Erwachsenen, die ihn immer noch deutlich überragten, und vielen Lasttieren bestand. Es wurde geschrien, geflucht, geschimpft und geschubst, und nur wenn ein Milizionär oder ein Staubdiener in die Nähe kam, benahm man sich etwas zivilisierter. Bald war Uhul, trotz seiner Bemühungen um zielsichere Fortbewegung ein Spielball in den Wellen der Menge geworden und hatte rasch keine Ahnung mehr, wo er sich befand. Doch Uhul war nicht dumm, und anstatt gegen die urwüchsige Kraft der Massen anzukämpfen, hatte er sich treiben lassen, schonte seine Kräfte und seine Stimme und rechnete damit, wie Treibgut an einen Strand getrieben zu werden, von dem aus er seinen Weg dann fortsetzen konnte.
Uhul hatte, wie nur zu oft, recht und unrecht zugleich.
Nach weiteren zehn Minuten hatte ihn die wogende Masse tatsächlich an einen Strand gespült. Dieser bestand aus einer etwas wackeligen Häuserfront in einem der weniger angesehenen Viertel der Stadt, was auf so ziemlich alle Bauten in relativer Nähe des Stadttores zutraf. Hier gab es einige kleinere Geschäfte, die am Markttag geschlossen hatten, und ansonsten nur mehrstöckige Wohnhäuser aus Lehm, Holz und noch mehr Lehm. Sie hatten braune, bröckelige Wände voller Flecken. Durch Löcher konnte man das gewobene Stroh sehen, das in den Wänden den Lehm stützte, wenn er noch nicht ausgetrocknet war. Jedes Jahr stürzten einige dieser Häuser ein, um dann auf Weisung der Stadtoberen mit Stein und Holz wieder aufgebaut zu werden. Doch niemand riss die alten Häuser ein, um stabileren Platz zu machen, denn viele der Bauten waren fast hundert Jahre alt und manche der angesehenen Familien führte ihre Herkunft auf eines dieser Häuser zurück, die sie nun für die weniger Wohlhabenden als Mietshäuser bereithielt.
»Pst, junger Mann«, war eine Stimme an Uhuls Ohr gedrungen. Er hatte sich umgedreht, das Echtauge in die Richtung bewegt, aus der die Worte gekommen waren. Er war neugierig und ohne Angst in das Halbdunkel getreten. Im schwummrigen Licht hatte er eine alte Frau erkannt, die zusammengesunken auf einer Holzkiste saß. Ihr Echtauge war blass, beinahe weiß, und sie nutzte ein Falschauge, um Uhul anzusehen – das zeigte ihm, dass sie fast blind sein musste.
»Uhul«, hatte sie gemurmelt. Der Junge hatte sie überrascht angeschaut.
»Ihr kennt meinen Namen!«, hatte er geantwortet.
»Er steht auf der Liste«, hatte sie geantwortet. »Es wird Zeit, dass wir sprechen.«
»Was für eine Liste?«, wollte Uhul wissen.
»Die Liste«, hatte die alte Frau schlicht geantwortet, als hätte sie seine Frage damit geklärt. Dann hatte sie noch gesagt: »Ist nicht so wichtig. Du wirst es wissen, wenn es so weit ist. Bring mich zum Prior, mein Sohn.«
Uhul zuckte zusammen. Dieser Wunsch war nun völlig unvermittelt gekommen. Der Prior! Haupt der Kirche, der in seinem wundersamen Amtssitz residierte, die Gottesdienste zu den hohen Feiertagen leitete und eigentlich nur zur Prozession die Stadt verließ. Uhul hatte ihn ein paarmal von ferne gesehen, ein gütiges Gesicht in seiner Erinnerung und große Ehrfurcht, die alle empfanden, die vom Prior erzählten. Er war immer umgeben von seinen Staubdienern, hochgestellten Persönlichkeiten, die die Kirche am Leben hielten und zwischen dem Prior und den Gläubigen vermittelten. Normalerweise ging man nur zum Amtssitz des Priors, wenn man eine Bitte vorbringen wollte, in der Regel zu den Audienzzeiten. Und dorthin sollte er die alte Frau bringen? Wenn sie krank war, so war doch das Hospiz des Staubhauses der Ort, an dem sie Aufnahme finden würde.
»Wieso zum Prior?«, hatte Uhul seinen Zweifel geäußert. »Ich kann doch nicht zum Prior.«
»Doch, das kannst du. Du bringst mich als Geschenk.«
»Als Geschenk?« Uhul war nun völlig verwirrt gewesen. Was sollte der erhabene Prior denn mit einer alten Frau anfangen? Alles in ihm hatte sich danach gedrängt, einfach umzudrehen und sich wieder kopfüber in die vorbeiströmende Menge der Marktbesucher zu stürzen.
»Bleib!«, hatte die Stimme der alten Frau geboten, als habe sie seine Gedanken gelesen. Uhul hatte sich nicht fortbewegt. Dann hatte sie sich mühsam erhoben, einen Arm um den Körper des Jungen gelegt und verlangt: »Stütze mich!«
Uhul hatte es einfach getan. Die Alte war leicht wie eine Feder gewesen. Sie hatte ihn zurück auf die Straße gedrängt und zur großen Überraschung des Jungen hatte sich die Menge vor ihnen fast intuitiv geteilt. Niemand hatte sie angerempelt oder ob ihrer Langsamkeit beschimpft. Es war ein unwirkliches Gefühl gewesen, als ob Uhul Teil einer Insel gewesen wäre, die sich durch einen Ozean bewegt hatte. Er hatte keine Fragen gestellt, bis sie vor dem Hauptportal des Amtssitzes angekommen waren. Noch größer war die Überraschung Uhuls, als die wachhabenden Staubdiener und Milizionäre ihnen ohne Probleme den Weg zur Tür freigegeben hatten.
»Lass mich sitzen«, hatte die Alte verlangt.
Uhul hatte unvermittelt gehorcht.
»Soll ich anklopfen?« Uhul hatte leise gesprochen. Er war jetzt doch etwas verschüchtert geworden.
»Nein, der Prior weiß, dass ich hier bin.«
»Woher das denn?«
»Es ist mein Tag.«
»Was für ein Tag?«
Die Alte hatte geseufzt. »Bin ich froh, dass ich deine Ausbildung nicht überwachen werde. Du kannst einem Löcher in den Bauch fragen.«
»Ausbildung?«
Die Alte hatte noch einmal geseufzt. »Es wird wirklich Zeit, dass ich sterbe.«
Dann war sie in sich zusammengefallen und lag tot auf dem Boden.
Uhul hatte sie sekundenlang völlig entsetzt angestarrt. Dann hatte er sich schüchtern zu den Wachen umgedreht, doch die hatten sich nicht bewegt.
Schließlich hatte sich die Tür des Amtssitzes geöffnet. Hondul, der Erste Staubdiener, war auf die Treppe herausgekommen, hatte den Körper der Alten hochgehoben und auf seinen starken Armen gebettet. Dabei hatte er Uhul forschend angeschaut. »Du bist Uhul.«
Jeder schien ihn zu kennen.
»Du wirst Staubdiener werden.«
Uhul hatte seinen Mund geöffnet und dann doch vor lauter Fassungslosigkeit kein Wort hervorgebracht. Er ein Staubdiener? Allein für die Eingangsprüfungen waren jahrelange Vorbereitungen notwendig. Eine solche Karriere für einen Bauernsohn, das war doch eigentlich undenkbar. Staubdiener kamen aus den angesehenen Familien, die in der Stadt lebten, nicht oder nur selten aus der Landbevölkerung. Und Uhul hatte seinen bisherigen Schulbesuch nicht wirklich ernst genommen.
»Ich …«
»Die Vorsteherin hat dich hierher gebracht, damit bist du von den Prüfungen befreit«, hatte Hondul sanft erklärt. »Du musst nicht, wenn du nicht willst.«
Nicht wollen?
Uhul war keinesfalls verrückt.
Nicht sehr fleißig, zu groß für sein Alter und zu starrsinnig (wenn man seinen Eltern Glauben schenken wollte), aber verrückt war er nicht.
»Ich will!«, hatte er mit fester Stimme geantwortet.
Hondul hatte genickt. Die Leiche der alten Frau, die er Vorsteherin genannt hatte – und Uhul hatte die Ahnung beschlichen, dass es sich um die Vorsteherin des Staubhauses gehandelt hatte, das weibliche Pendant zum Prior –, war in den Amtssitz getragen worden. Uhul hatte zu essen und zu trinken bekommen und einen Termin in zwei Wochen, um bei Hondul wegen seiner Ausbildung vorzusprechen. Dann hatte dieser ihm das Aufnahmeschreiben mit dem Siegel gegeben, damit ihm seine Eltern glauben würden.
Sie hatten ihm natürlich nicht geglaubt.
Doch Uhul war das egal gewesen.
Er wurde ein Staubdiener.
Und nach einiger Zeit hatte er fast vergessen, von was für einer Liste die Vorsteherin bei ihrer Begegnung gesprochen hatte.
Sentenza wälzte sich auf die Seite, presste die Hand auf die Schulterwunde und fühlte, wie sein Blut feucht zwischen seinen Fingern durch das Uniformhemd drang. Er verbiss sich den Schmerz und starrte aus staubverklebten Augen auf das massige Ungetüm, das mit seinem schreienden und einen urtümlichen Schießprügel schwenkenden Reiter fast über ihn hinwegritt. Dann sah er eine zweite Gestalt hervorschnellen, einen Fedajin, der sich aus dem Stand auf den Reiter katapultierte, ihn mit Wucht in der Körpermitte traf und aus dem Sattel in den Sand schleuderte. Das führerlose Reittier kam zum Stehen, die großen, einer Kuh ähnlichen Augen in plötzlicher Sanftmütigkeit auf das Getümmel gerichtet, scheinbar unbeeindruckt von dem Kampfeslärm. Sentenzas Kopf zuckte herum, als er ein scharfes Knacken vernahm, sah den Fedajin sich aufrichten, die klobige Schusswaffe kurz inspizieren und dann fortwerfen. Er bückte sich, griff in den natürlichen Hautmantel des Wesens, das eine überraschende Ähnlichkeit mit dem Fedajin-Kommandanten Hargin Flech hatte. Hervor zog er einen kräftigen, kurzen Stil, an dessen Ende eine Art Dreizack befestigt war. Er wog die Waffe in der Hand, dann, völlig unvermittelt, wirbelte er um seine eigene Achse, der Dreizack schnellte in einer fließenden Bewegung vor und schnitt quer über den herabgebeugten Körper eines zweiten Reiters, der sich bedrohlich genähert hatte. Ein heller Schwall grünlichen Blutes ergoss sich aus der breiten Fleischwunde, der martialische Angriffsruf des Reiters verwandelte sich unvermittelt in einen Schmerzensschrei. Der Getroffene glitt vom sofort langsamer werdenden Reittier, das sich zu seinem friedlichen Artgenossen gesellte.
»Das Haus!«, rief Thorpa gegen den Kampfeslärm und wackelte mit einigen Zweigen zu dem unweit stehenden, trutzigen Steinbau. Der Pentakka schien den Angreifern Angst einzuflößen, sie hatten nur vereinzelt versucht, ihn mit ihren schwerfälligen Musketen zu treffen. Thorpa hatte den ebenfalls verletzten Serbald auf seinen Zweigarmen gebettet, der dort offenbar nun in relativer Sicherheit war. Sentenza nickte. Ihm war auch schnell aufgefallen, dass von dort auf die Reiter geschossen wurde, nicht sehr akkurat, dafür aber schnell. Jedenfalls war ein guter Teil der angreifenden Horde, die sich nach dem Zusammenbruch des Sanktuariums auf sie gestürzt hatte, dadurch genug abgelenkt.
»Flech!«, bellte Sentenza über das Schlachtfeld. Er rappelte sich auf und sah sich nach Sally um. Als er sie erblickte, musste er unwillkürlich grinsen. Wie eine Amazone stand sie hinter dem gefällten Leib eines der schweren Reittiere, eine Muskete im Anschlag. Sie balancierte die für andere Arme und Hände – Tentakel, wie Sentenza erkannt hatte – gemachte Waffe mit erstaunlicher Virtuosität, dann erklang ein lautes Krachen und ein auf die Direktorin zureitender Angreifer wurde zurückgeschleudert und fiel zu Boden. Auch die anderen Fedajin erwehrten sich ihrer Haut. Obgleich fast unbewaffnet, hatten sie sich schnell bei den ebenso überraschten, aber offenbar mit galaktischen Kampftechniken nicht vertrauten Gegnern bedient. Sie hatten alle, im Gegensatz zu Sally, die Gewehre schnell fortgeworfen, aber sichtbaren Gefallen an den dreizackähnlichen Stoß- und Hiebwaffen gefunden. Ihre eher dünnen Rapiere waren hier offenbar ungeeignet.
Dennoch, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie der Übermacht erliegen würden. Fast alle hatten bereits leichte Verletzungen erlitten, Serbald und Sentenza am schwersten. Der Captain schleppte sich zur tierischen Deckung der Direktorin, die Blutung verstärkte sich mit jedem Schritt. Sally warf ihm ein handliches Medpack zu, das Sentenza überrascht zu Boden fallen ließ.
»Ich habe so was immer dabei«, kommentierte sie. »Ich bin zu oft angegriffen worden.«
Sentenza riss das Pack auf, entnahm die Kompresse, die sich selbst auf die Wunde heftete und die Blutung unmittelbar unter Kontrolle brachte. Dennoch, Arm und Schulter waren wie paralysiert. Eine große Hilfe war er nicht. Sentenza fand noch ein kreislaufstärkendes Mittel, dann aber erinnerte er sich an Serbald und winkte Thorpa herbei. Auch die Fedajin arbeiteten sich in ihre Richtung vorwärts.
»Thorpa hat recht«, sagte Sally nun. »Wir müssen zu diesem festungsartigen Bau. Ich weiß nicht, ob dort unsere Freunde sind, aber diese Reiter hier scheinen zurzeit unsere gemeinsamen Gegner zu sein!«
Thorpa gesellte sich zu ihnen, Serbald immer noch auf den Zweigen tragend. Der Prior war bewusstlos. Der Pentakka wandte sich an Sentenza. »Captain, Sie sind verletzt!«
Sentenza winkte ab. »Das ist nichts weiter.«
»Verstehe. Sie bewahren männliche Würde und projizieren Schmerzunempfindlichkeit, um Eindruck auf gebärfähige Weibchen zu machen. Nur«, Thorpa zögerte, »außer der Direktorin …«
Sentenza starrte Thorpa halb verwundert, halb wütend an, ehe er zu einer Entgegnung den Mund öffnete.
Doch Flech kam ihm zuvor. »Selbstverständlich, wie es sich für einen Krieger gehört«, erwiderte der Fedajin-Kommandant. »Sie allerdings sind offenbar nicht zum Kampf geboren und daher unwert. Seien Sie froh, dass Sie den Prior tragen, sonst würde ich Sie als unnötige Last einschätzen und zum Wohle aller eliminieren.«
Thorpa raschelte entrüstet mit den Zweigen, merkte jedoch, dass seine Analysen derzeit fehl am Platze waren.
Dieses Geplänkel war nur möglich gewesen, weil eine Kampfpause eingetreten war. Die Reiter hatten sich außerhalb der Schussweite des Gebäudes versammelt und schienen zu beraten. Zwar hatten sie nach dem Auseinanderbrechen des Sanktuariums sofort angegriffen, aber die neue Situation schien den Anführern jetzt doch nicht ganz geheuer. Jedenfalls war wildes Gestikulieren erkennbar.
»Unsere Chance!«, fasste Sentenza den Eindruck aller zusammen.
»Wir müssen den Ushu schützen!«, gab einer der Fedajin zu bedenken. Er wies auf den großen Tank, in dem inmitten mehrfarbiger Gase der gazeartige Körper des Ushu erkennbar war. Er schien von diesen Ereignissen weitgehend unbeeindruckt.
Flech wirkte für einen Augenblick unentschlossen, dann schüttelte er in einer sehr menschlichen Geste den Kopf. »Wir können den Tank nicht bewegen. Das Material ist außerdem sehr widerstandsfähig, auch ein direkter Treffer mit einer dieser Waffen oder ein Schlag werden ihm nichts anhaben.«
»Was ist mit der Atmosphäre?«, wollte Sentenza wissen. »Muss sie nicht ausgetauscht werden?«
Flech nickte. »Selbstverständlich. Aber zum einen ist der Tank teilautonom und kann die Atmosphäre über einen längeren Zeitraum hinweg auffrischen. Zum anderen war erst vor einem Monat ein Atmosphärenwechsel, sodass wir einen größeren Zeitraum haben, in dem der Ushu sicher ist, etwa zwei bis drei Monate. Dann allerdings wird die Lage kritisch.«
»Also müssen wir uns erst einmal selbst helfen, ehe wir dem Ushu helfen können«, erklärte Sally bestimmt und wies auf das Gebäude. »Worauf warten wir noch?«
»Es geht los!«, befahl Sentenza.
Er und Flech hatten intuitiv das Kommando übernommen und sie ernteten keinen Widerspruch.
Die Gruppe eilte auf das trutzige Gebäude zu, so schnell sie konnte, und das keine Sekunde zu früh.
Die Reiter waren offenbar zu einem Entschluss gekommen.
Sie formierten sich erneut zum Angriff.
»Dies ist eine umfassende Krise, auf die wir ebenso umfassend reagieren müssen!«
Die laute und klare Stimme von Prior Decorian hallte durch den Konferenzraum wie durch die Sakristei einer Kirche und seine Zuhörer unterschieden sich zurzeit nicht sehr von den gläubigen Schafen, die seinen Predigten daheim, in seinem Amtssitz auf Persephone, zu lauschen pflegten. Decorian konnte sich gut in Szene setzen und er tat es mit Wonne, nicht zuletzt, weil er damit ein ehrgeiziges Ziel verfolgte, das nun zum Greifen nahe schien: sich zum Erzprior machen zu lassen und für sich, Kronprinz Joran und die neue Ordnung die Macht in der Galaktischen Kirche zu ergreifen.
Decorian dachte immer nur an die »neue Ordnung«. Er konnte nicht umhin, dass er sich bei dem Gedanken an die Outsider und das durch sie repräsentierte Nexoversum etwas unwohl fühlte. Doch der Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen – oder gar Gewissensbisse zu empfinden –, war schon seit Langem verstrichen.
Prior Martinus, Logistikchef der Galaktischen Kirche, gehörte zu den wenigen, die auf das salbungsvolle Intro Decorians nicht wie gewünscht reagierten. Der etwas füllige Mann sah noch blasser aus als sonst, auch ihm hatten die katastrophalen Entwicklungen der letzten Stunden mächtig zugesetzt. Der Haupttempel der Kirche war auseinandergefallen, als der Dimensionsfalter schwer beschädigt worden war. Da jedwede Kommunikation zum Steuerzentrum unterbrochen war, wusste niemand, was exakt passiert war. Nur das Hauptgebäude auf Sankt Salusa war noch in einem Stück. Die umfassenden Räumlichkeiten, die, durch den Falter verbunden, auf zahllosen Welten in der Galaxis verteilt waren, schienen bis auf Weiteres verloren, inklusive der darin arbeitenden Bediensteten, mit denen ebenfalls kaum Kontakt möglich war. Von vielen Teilen des Tempels wusste man nicht, wo in der Galaxis sie sich eigentlich befanden.
»Ich darf doch mal zusammenfassen, Prior«, erhob Martinus seine leicht quengelnde Stimme, die Decorian sofort innerlich zur Weißglut brachte. »Wir haben Hyperfunknachrichten von insgesamt drei Tempelbereichen, die innerhalb des Commonwealth liegen, erhalten und wissen, dass die Situation dort überall gleich aussieht: keine Verbindung mehr nach Sankt Salusa. Der Prior Camerlengo ist verschwunden, mit ihm, und das trifft die Kirche ins Mark ihrer Existenz, das Sanktuarium. Die Fedajin sind in heller Aufregung und es ist zu Kämpfen gegen Unbekannte gekommen, wahrscheinlich die Urheber des Anschlages. Hargin Flech ist zusammen mit dem Camerlengo verschollen. Unsere Nachrichtensperre hält noch, aber bestimmt nicht mehr lange, vor allem dann, wenn die Arbeitszeiten um sind und die in den abgetrennten und verschwundenen Tempelbereichen Tätigen nicht zu ihren Angehörigen zurückkehren. Erschwerend kommt hinzu, dass der Hospitalbereich mit dem im Koma liegenden Erzprior ebenfalls fort ist. Es rächt sich jetzt, dass wir niemals ernsthaft nachgeforscht haben, auf welchen Welten überhaupt die Tempelbereiche verteilt sind. Nach den Schätzungen der Techniker sind insgesamt 116 abgetrennte Räumlichkeiten verschwunden, darunter übrigens auch ein Großteil des Kirchenarchivs. Wir haben Rückmeldungen von 3, wir wissen von 17 weiteren auf Welten des Commonwealth, aber wo die restlichen 96 sich befinden – darüber haben wir keine Kenntnis. Noch schlimmer: Allem Anschein nach wird der verehrte Erzprior nicht mehr aus dem Koma erwachen.«
Decorian nickte unentwegt. Martinus hatte die Situation treffend zusammengefasst und tat ihm damit sogar noch einen Gefallen.
»Bruder Martinus, Sie haben absolut recht. Danke für die konzise Darstellung. Was noch erschwerend dazukommt, sind die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Katastrophe. Die Kirche ist führerlos! Der Erzprior und sein Stellvertreter außer Gefecht oder verschollen! Wenn wir in dieser Krise handeln wollen, müssen wir als Erstes die Hierarchie wiederherstellen!«
Decorian blickte in die Runde.
Seine Äußerungen ernteten Zustimmung, dem konnte niemand etwas entgegensetzen. Der Rat war bereits durch die andauernde Erkrankung des Erzpriors mehr als nur gereizt, er war müde – müde, Entscheidungen hinauszuzögern und mit einer insgesamt unbefriedigenden Situation umgehen zu müssen. Dies wurde durch die plötzliche Krise noch bestärkt und exakt das war Decorians – und Jorans – Absicht gewesen.
Decorian erhob erneut beide Arme. Das nach seiner letzten Äußerung einsetzende Stimmengewirr ebbte ab.
»Brüder! Schwestern! Ich bitte Euch!«
Stille trat ein.
»Ich weiß, es besteht Bedarf nach Diskussion, aber die Zeit drängt. Wir haben Anleitung und Führung durch die Kirchenkonstitution, die bereits unseren Vorfahren nützliche Dienste geleistet hat. Wir sollten uns gerade in dieser Phase der Umwälzung auf jene Traditionen besinnen, die die Kirche groß gemacht haben.«
Er hatte damit offenbar den richtigen Ton gefunden. Überall, selbst unter seinen Gegnern, erwartungsvolle Gesichter, voller Hoffnung auch, etwas zu finden, an dem man sich festhalten konnte. Decorian war bestrebt, diese Hoffnung zu erfüllen.
»Die Konstitution sagt eindeutig aus: Wenn sowohl Erzprior wie Camerlengo nicht imstande sind, ihre Amtsgeschäfte auszuführen, ernennt die Kongregation einen Interimsverwalter, der die Position des Erzpriors einnimmt, ehe das Konklave zusammentritt, um einen neuen Erzprior zu wählen.«
»Wie kann das Konklave zusammenkommen?«, nölte wieder Martinus, der auf Decorians interner Abschussliste rasant nach oben schnellte. »In den abgetrennten und verschollenen Tempelteilen vermuten wir alleine 22 Prioren, deren Positionen nunmehr als vakant zu bezeichnen sind. Ehe wir ein beschlussfähiges Konklave haben, wird eine lange Zeit vergehen!«
Der Logistiker hatte seine Fakten beisammen, das musste Decorian ihm erneut zubilligen.
»Das ist leider wahr, ehrenwerter Bruder. Das enthebt uns aber nicht von der Notwendigkeit, einen Interimsverwalter zu ernennen, und das so schnell wie möglich. Es müssen Entscheidungen getroffen werden und die Kirche muss nach außen hin eindeutig identifizierbar sein und repräsentiert werden.«
Erneut kein Widerspruch. Bis hierher würden ihm alle folgen. Mögliche Probleme würden sich erst ergeben, wenn es an die Kandidatensuche kam. Doch Decorian hatte vorgesorgt, er überließ so wichtige Dinge nur höchst ungern dem Zufall.
Er musste nicht lange warten.
»Brüder und Schwestern!«, erhob sich die leicht zittrige Stimme der Priorin Alessandria. Die alte Ordensfrau war Mitglied dieses Gremiums, seit sich Decorian erinnern konnte. Als Nentaki war sie ohnehin ausgesprochen langlebig – Vertreter dieses Volkes wurden bis zu 200 Jahre alt –, doch es schien, als hätten die Alten Völker diese Frau mit Unsterblichkeit gesegnet. Neben ihrer Beharrlichkeit im Leben gehörte ein abgrundtiefer religiöser Fundamentalismus zu ihren Haupteigenschaften. Decorian hatte diesen Fanatismus, der zunehmend die Form von Altersstarrsinn angenommen hatte, noch subtil gefördert. Trotz ihrer etwas einseitigen Interpretation der kirchlichen Lehre war die Priorin immer noch hoch angesehen, eine Respektsperson mit einer Ausstrahlung weit über ihre Heimat hinaus.
Stille kehrte ein, damit Alessandria nicht unnötig laut sprechen musste.
»Ich schlage vor«, krächzte sie, »dass wir der Diskussion an dieser Stelle ein schnelles Ende bescheren. Bruder Decorian hat die kirchenrechtlichen Konsequenzen deutlich und unmissverständlich dargelegt. Es steht für mich außer Zweifel, dass wir sofort zur Tat schreiten müssen, um die Autorität der Kirche wiederherzustellen. Ich möchte daher Bruder Decorian bitten, für diese schwere Zeit als Interimsverwalter zur Verfügung zu stehen.«
Halblautes Gemurmel erhob sich, noch gebannt von der Aufmerksamkeit, die sich nun auf den multimperischen Prior richtete. Dieser hatte natürlich auf diesen Vorschlag nur gewartet.
»Edle Schwester«, erwiderte er nun, »ich bin gerührt und dankbar über Eure Nominierung. Dennoch mag es weitere Kandidaten geben, die bereit wären …«
»Sind SIE bereit, Decorian?«, bellte Martinus dazwischen, offenbar des salbungsvollen Herumgeeieres seines Bruders müde.
Decorian hielt einen Moment inne, dann nickte er knapp. »Ja, das bin ich. Aber ich erwarte eine ordnungsgemäße Wahl und ich hoffe, dass sich noch andere Kandidaten finden.«
Das erhoffte sich Decorian in der Tat. Eine richtige Wahl zu gewinnen, würde seiner Legitimität zugutekommen – und außerdem als Vorgriff auf den Zeitpunkt gelten, an dem er sich als Erzprior aufstellen lassen würde, für das Konklave. Wenn er wusste, wer dort ein potenzieller Gegner war, ließ sich dieser leicht im Vorfeld ausschalten.
Seine Hoffnung wurde jedoch enttäuscht. Im Stillen hatte er mit einer Kandidatur Martinus’ gerechnet, doch der Chef der Transportflotte der Kirche kniff nur unwillig die Lippen zusammen und starrte auf seine Hände, die er flach auf die Tischplatte gelegt hatte.
Er weiß, wohin der Hase läuft, dachte Decorian zufrieden. Er mag es nicht, aber er ist klug genug, sein Scheitern einzusehen.
Martinus hatte sich auf Platz eins seiner Abschussliste vorgearbeitet.
Die verbleibenden Minuten der Krisensitzung verliefen wie eine Formalie. Prior Decorian wurde mit großer Mehrheit, bei vereinzelten Enthaltungen, zum Interimsverwalter der Galaktischen Kirche ernannt und nahm das Heft des Handelns sofort in die Hand.
Als er den Raum verließ und auf dem Gang die Glückwünsche entgegennahm, war er mit den Gedanken bereits bei den nächsten Schritten.
Erst Sankt Salusa, dann die ganze Kirche.
Und dann die gesamte bekannte Galaxis.
Ihre Gastgeber waren in der Tat Arbito.
Erst jetzt, als Sentenza die Gelegenheit hatte, die Wesen in relativer Ruhe zu studieren, drängte sich die Ähnlichkeit auf. Sie waren groß, hatten Tentakel als Gliedmaßen, dicke Hautlappen umhüllten ihre inneren Körperteile, die als sehr sensitiv bekannt waren, und der eiförmige Kopf wurde beherrscht durch die drei Augen, ein großes, dominierendes, das als Echtauge bekannt war, sowie zwei weitere, eher rudimentäre, die Falschaugen genannt wurden. Die Arbito hier waren etwas massiger als Flech, der die Ähnlichkeit offenbar gar nicht für erwähnenswert gehalten hatte. Dennoch stammten sie definitiv von diesem Volk ab. Das war sehr hilfreich, denn die Sprache, die die Einheimischen benutzten, war für Sentenza weitgehend unverständlich. Auch Sally konnte nur kopfschüttelnd zuhören, wie Flech und die offenbar uniformierten Bewohner des Steinhauses in eine rege Konversation verfielen. Zu Sentenzas Überraschung sprang dann Thorpa ein, der zumindest grob übersetzte. Der aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte Serbald, obgleich sichtlich geschwächt, schien ebenfalls folgen zu können.
»Sie sprechen Alt-Arbito«, klärte der Pentakka seinen Captain auf. »Flech kann es einigermaßen sprechen, ich habe im Rahmen meines Studiums Neu-Arbito gelernt und verstehe zumindest etwas. Das galaktische Idiom scheint hier unbekannt zu sein.«
Flech unterbrach sein Gespräch, nickte seinem Gesprächspartner – einem seltsam gewandeten Mann – noch einmal zu und gesellte sich wieder zu seinen Gefährten. »Das dort«, und er wies in Richtung des würdevoll dreinblickenden Mannes, »ist Uhul, eine Art Oberpriester der hiesigen Variante der Galaktischen Kirche. Er scheint ein intelligenter Mann zu sein, denn er hat die Soldaten – sie nennen sich Milizionäre – davon abgehalten, sich vor uns in den Staub zu werfen und uns als Götterboten anzubeten.«
»Beruhigend. Als was haben Sie uns vorgestellt?«, fragte Sally.
»Als diejenigen, die wir sind. Der Milizhauptmann, der hier das Kommando führt, will uns nicht recht glauben, aber Uhul scheint bereit zu sein, meine Erklärung als Arbeitshypothese anzunehmen. Ich glaube, er reimt sich so ein paar Sachen zusammen. Standard ist als Sprache übrigens durchaus bekannt – es ist die liturgische Sprache der Gottesdienste, die hier abgehalten werden. Uhul zeigte sich überrascht, als ich ihn auf Standard ansprach. Aber es schien ihn eher zu überzeugen, dass meine Version mehr der Wahrheit entspricht als die Götterbotentheorie.«
Sentenza nickte. »Dann vermute ich mal, dass Sie mir zustimmen werden, wenn ich behaupte, dass wir auf einer ehemaligen imperialen Welt gestrandet sind, die nach der Großen Stille den Kontakt zur galaktischen Zivilisation verloren und eine technologische Regression durchgemacht hat.«
Flech machte eine zustimmende Geste. »Das denke ich in der Tat. Mein Volk war im letzten Imperium durchaus weitverbreitet, mit Siedlungsgebieten überall verstreut. Dies scheint eine unserer vergessenen Welten zu sein.«
Serbald, der sich weiterhin an den Pentakka lehnte, ergriff das Wort. »Was ist hier los? Warum der Kampf?«
»Ich habe lediglich in groben Zügen erfahren, worum es hier geht. Also, erst einmal: Das Sanktuarium war für die hiesigen Bewohner – von außen – schlicht ein seltsames Gebäude, dass die Alten Völker hier abgestellt hatten. Es war eine Art religiöses Zentrum. Ich befürchte, das Auseinanderbrechen wird einige gesellschaftliche Erschütterungen auslösen. Die Milizionäre sind jedenfalls total aus dem Häuschen und wir können froh sein, dass Uhul hier ist und die Sache einigermaßen im Griff hat.«
»Die Reiter?«
»Uhul nennt sie die Ketzer, eine Gruppe von Abtrünnigen. Generell siedeln die Arbito hier in einer städtischen Kultur, lediglich die Ketzer scheinen halbnomadisch zu leben. Dabei ist es nicht einmal eine genuin religiöse Angelegenheit: Es befinden sich wohl auch viele Verbrecher oder politische Oppositionelle unter diesen Aufständischen. Das Sanktuarium ist das religiöse Hauptsymbol und Zeichen der Macht der größten Stadt, die hier bekannt ist. Ihr Name ist Jenangar. Die Ketzer wollen wohl im Vorgriff auf ein großes religiöses Ereignis – die sogenannte Prozession – die Kontrolle darüber erlangen. Es ist meiner Ansicht nach eher eine politische Aktion, keine wirklich ketzerische im religiösen Sinne.«
»Ein Bürgerkrieg.«
»Nein. Das heißt: noch nicht. Aber offenbar hat das Ganze eine neue Qualität bekommen. Ich habe nicht alles verstanden, was Uhul mir erklären wollte. Wir müssen uns jetzt auch um Wichtigeres kümmern: Mit Entsatz für diesen Posten ist so bald nicht zu rechnen und es ist notwendig, nach Jenangar zu reisen, um dem Prior dort Meldung zu machen.«
Flech warf dabei Serbald einen Blick zu, den dieser schief lächelnd erwiderte.
»Wie ist die Lage?«, fragte Sentenza, der nur bemerkt hatte, dass die Milizionäre an den Schießscharten weniger oft feuerten als vorher.
»Fast unverändert. Die Reiter umkreisen die Wachstation und man feuert aufeinander. Ich habe den Eindruck, dass die Ketzer kein militärisches Konzept für die Einnahme einer Befestigung haben. Andererseits deutete der Milizhauptmann an, dass die Angreifer eine andere taktische Innovation eingesetzt hätten. Es hat irgendwas mit ihren Reittieren zu tun. Jedenfalls befinden wir uns im Belagerungszustand.«
»Wie schätzt dieser Uhul die Lage ein?«
Flech machte eine eher resigniert wirkende Geste. »Er fragte uns nicht ganz ernsthaft, ob wir möglicherweise ein paar Götterwaffen dabeihätten.«
»Das klingt nicht sehr vielversprechend. Selbst die Technologie des Sanktuariums scheint komplett nicht mehr zu funktionieren, von den Versorgungseinrichtungen des Ushu-Tanks einmal abgesehen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser sich als widerstandsfähig genug erweisen wird.«
»Ich denke nicht, dass er in Gefahr ist. Selbst diese Ketzer werden ihn nicht angreifen.«
Es kehrte Stille ein. Hin und wieder krachte ein Schuss, doch hier, im Inneren des sehr geräumigen Wachhauses, waren sie sicher. Sentenza lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie befanden sich in einer verfahrenen Situation. Gestrandet auf einer fernen Welt, deren galaktische Position ihnen unbekannt war, ohne Möglichkeit zur Kommunikation und schließlich die Frage, wie es dazu überhaupt hatte kommen können und was auf Sankt Salusa jetzt wohl los war. Sentenza spürte dieses nagende Gefühl der Ungewissheit, dass sich zunehmend mit Misstrauen und einem stillen Verdacht vermischte, den er jedoch nicht deutlich artikulieren konnte.
Dann sah er auf und blickte in Sallys Augen. Auch die Direktorin machte einen unbehaglichen Eindruck. Sie legte eine Hand auf Sentenzas gesunde Schulter und betrachtete seine Wunde.
»Geht es?«, fragte sie mit Mitgefühl.
»Oh ja, durchaus. Die Blutung ist gestoppt, doch es steckt definitiv eine Kugel in meinem Arm. Ich bin mit meinen Impfungen auf dem aktuellen Stand, also habe ich keine große Angst vor einer Infektion, das ändert aber nichts daran, dass operiert werden muss, wenn ich meinen Arm wieder richtig bewegen möchte.«
»Ich bin mir sicher, wir finden einen einigermaßen geschickten Arzt in der Stadt. Betäubungsmittel haben wir noch im Erste-Hilfe-Päckchen und ich vermute mal, eine Kugel aus einem Arm zu holen, ist hier keine völlig unbekannte Prozedur. Solange die Schlagader nicht getroffen wurde …«
»Nein, wie gesagt, das ist unter Kontrolle. Und ein weiterer Grund, um in die Stadt vorzudringen.«
Sally nagte auf ihrer Unterlippe. »Ich überlege gerade … wenn wir hier auf einer ehemaligen Imperiumswelt sind, dann könnte es doch noch technologische Hinterlassenschaften von damals geben.«
»Die sind mehrere Hundert Jahre alt!«, gab Sentenza zu bedenken.
»Ja, aber wir haben nicht zuletzt durch Serbalds Vortrag erfahren, dass die Imperiumstechnologie unserer derzeitigen deutlich überlegen war. Wenn ich jetzt mal spekuliere, dass ein Standard-Hyperfunksender unserer Zeit für mehrere Hundert Jahre inaktiv, aber in einem geschützten Raum verbleibt und dann wieder zu aktivieren ist … Ich würde es nicht für unmöglich halten, dass so was klappen könnte.«
Sentenza nickte langsam.
Thorpa gesellte sich zu ihnen, er hatte offenbar zugehört.
Während Flech berichtete, war der Pentakka zu Uhul gegangen und hatte seine eigenen Sprachkenntnisse an ihm ausprobiert. Die Arbito waren über den sprechenden Baum erstaunlich wenig überrascht. Thorpa wollte herausfinden, woran das lag.
»Captain, ich habe mich mit Uhul einigermaßen verständigen können. Er ist ein gelehrter Mann, das muss man ihm lassen. Und ich bin offenbar einer der Heiligen.«
Sentenza und McLennane starrten Thorpa entgeistert an. Der Pentakka raschelte amüsiert mit den Zweigen.
»Ich erkläre es Ihnen später. Was aber viel wichtiger ist: Wenn wir irgendwo alte Imperiumstechnologie in gebrauchsfertigem Zustand finden, dann im Amtssitz des Priors. Uhul scheint schon lange Ähnliches zu vermuten, nämlich dass die ›heiligen‹ Gegenstände dort in Wirklichkeit, wie er es nennt, ›beseelte Mechanik‹ seien. Ich vermute, dass der Amtssitz ein Gebäude aus imperialer Zeit ist.«
Sally fühlte sich sichtlich bestätigt.
»Das heißt also erneut«, fasste Sentenza zusammen, »dass wir in diese Stadt müssen.«
Er blickte in die Runde.
»Hat da irgendjemand Vorschläge?«
Jamir saß in seinem Sattel, die Augen vom Staub verklebt, und starrte auf das Wachhaus. Immer noch kreisten die Seinen um das Gebäude, in das sich auch die fremden Dämonen geflüchtet hatten, und immer noch gaben sie Schüsse ab, doch es wurde deutlich, dass bei aller neuer Taktik das grundsätzliche Problem, wie sie durch die starken Türen und die feste Mauer gelangen konnten, nicht bedacht worden war. Jamir verfluchte sich selbst und seine mangelnde Voraussicht, bewahrte nach außen hin jedoch Ruhe und Entschlossenheit. Sein Vater war gestorben, als er zu deutlich Schwäche und Unsicherheit gezeigt hatte. Sein Sohn würde diesen Fehler nicht wiederholen.
Dennoch war er in einer verfahrenen Situation. Unerwartetes war passiert. Wahrscheinlich hätten die Milizionäre längst aufgegeben, wenn der Schrein nicht plötzlich auseinandergebrochen wäre. Seltsame Wesen waren ihm entstiegen und hatten meisterhaft gegen die Seinen gekämpft. Die Reiter waren unruhig, verwirrt und verlangten nach Antworten. Jamir konnte sie ihnen nicht geben, nur seine eigenen Mutmaßungen – und damit seine eigene Verwirrung – äußern. Das aber durfte er nicht tun. Ein Anführer, der nicht wusste, wie es weiterging? Das hatte seinem Vater die Führung und das Leben gekostet.
Er musste sich etwas ausdenken, und das schnell.
»Sandol!«
Sein Adjutant gesellte sich zu ihm. Auch er sah aus, als habe er im Staub gebadet. »Herr?«
»Befiehl den Rückzug!«
Sandol zwinkerte mit dem Echtauge, sagte aber nichts. Er hob sein Signalhorn und stieß hinein.
Ein lang gezogener, klagender Laut erscholl. Fast unmittelbar brachen die Wahrgläubigen ihren Angriff ab und galoppierten auf ihren Anführer zu. Disziplin, stellte Jamir zufrieden fest, hatte er ihnen beigebracht. Doch würde sie halten?
Die Belastungsprobe kam schneller, als er erwartet hatte.
Wukt, ein besonders hitziger und fanatischer Krieger, hielt, ohne zu zögern, direkt auf ihn zu. Unwillkürlich umklammerte Jamir seine Stechforke fester.
»Herr!«, rief Wukt und zügelte sein Tier vor seinem Anführer. »Wozu der Abbruch? Der Feind ist eingekesselt! Der Schrein zerstört! Der Sieg ist unser!«
»Narr!«, spie Jamir aus. Wukt zuckte zusammen, war aber nicht weiter beeindruckt. »Der Schrein ist zerbrochen, aber wie kommst du darauf, dass dies unser Werk war? Vielleicht war es das Werk der fremden Dämonen, die ihm entstiegen sind. Die Situation hat sich verändert. Wir brauchen das Milizhaus nicht mehr. Es wird keine Prozession mehr geben. Was wir aber brauchen, ist Kontrolle über das neue Heiligtum, das vom Schrein geboren wurde.«
Jeder wusste, was Jamir meinte. Das große Behältnis, in dem wallender Staub, aus sich selbst heraus leuchtend, zu erkennen war und darin wieder seltsame Schleier, die sich von selbst zu bewegen schienen. Ohne Zweifel war es der Kern, das Heilige im Schrein, nun vor den Wahrgläubigen entblößt. Jamir sah seine Chance.
»Nein, Wukt, denk einmal nach! Die Tatsache, dass die Alten Völker uns das Heiligste im Schrein entblößt haben, als wir angriffen, ist ein Zeichen! Wir wurden von ihnen auserwählt und es sind jene in Jenangar, die nun als Ketzer zu bezeichnen sind, endgültig haben sich die Götter von ihnen abgewendet. Es ist nun unsere heilige Pflicht, diesen neuen Altar zu bewahren, zu beschützen und gegen die Ketzer zu verteidigen.«
Seine Worte wirkten bei dem Fanatiker. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass sein Anführer aus einer spontanen Eingebung argumentiert hatte. Jamir merkte, wie sich die anderen Krieger um ihn scharten und an seinen Lippen hingen. Er hatte sie im Griff, das fühlte er, und er wusste, dass jede Krise, auf die er möglicherweise zugesteuert war, nun nicht mehr eintreten würde.
»Sandol, entsende Boten in das Hauptlager. Mein Befehl lautet: Das Lager wird abgebrochen, alle Wahrgläubigen, der ganze Tross mit allem Material, den Zelten, jedem Mann und jeder Frau, wird hierher verlegt.«
Jamir machte eine ausholende Geste. »Dies ist das neue Zentrum des wahren Glaubens. Hier ist das Wunder einer Offenbarung geschehen. Hier soll die neue Hauptstadt der Welt entstehen! Unsere Zeit der Wanderung ist vorüber! Mühsal und Unterdrückung haben ein Ende! Jetzt sind die Wahrgläubigen in jeder Hinsicht die Rechtgläubigen, denn die Alten Völker haben uns das Heiligste gesandt!«
Ein langsam aufkommendes Gemurmel schwoll in lautstarken Jubel an. Arme wurden hochgeworfen, Stechforken geschwunden, religiöse Formeln gesprochen.
Sandol beorderte sofort zwei Reiter zu sich und diese machten sich auf den Weg zum Lager.
»Der Feind – was ist mit der Miliz, Herr?«, fragte Sandol leise seinen Anführer.
Jamir, der den jubelnden Kriegern huldvoll zulächelte und ihnen winkte, wandte kaum den Kopf, um ihm zu antworten. »Wir lassen sie ziehen. Lass sie unsere Botschaft in die Stadt tragen. Und sobald sie fort sind, errichten wir unsere eigenen Befestigungen. Möglicherweise haben wir uns geirrt, was unsere Chancen anging, eine Belagerung erfolgreich durchzuführen. Aber die Miliz hat auch seit fast 150 Jahren keinen richtigen Krieg mehr geführt.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Sie werden die Gründung unserer Stadt und die Geburt des neuen Glaubens nicht verhindern können!«
Und, fügte er in Gedanken hinzu, dazu gehörte auch die Machtergreifung des neuen Propheten.
Jamir.
Decorian machte einen großen Schritt. Er musste so weit ausgreifen, denn direkt vor ihm lag der zusammengeschossene Körper Tholiks, den es zu überschreiten galt. Solanas Decorian ließ sich nicht anmerken, ob ihm der gewaltsame Tod seines engen Vertrauten besonders naheging, er zeigte jedoch starke Betroffenheit angesichts der von ihm zu verantwortenden Zerstörungen am Dimensionsfalter. Nica Rens, die neue Leiterin der Fedajin, huschte eilfertig hinter dem Interimsverwalter her. Sie war durch Decorians Protektion in diese hohe Stellung gekommen, die sie normalerweise niemals erreicht hätte. Doch das Verschwinden Hargin Flechs und das Machtvakuum, das Decorian sofort nach seiner Ernennung tatkräftig und mit Autorität zu füllen begann, hatte auch die letzten Zweifler, zumindest vorläufig, zum Verstummen gebracht. Decorian entschied und er entschied schnell. Jeder war froh, wieder etwas zu tun zu haben, und wenn jemand ein Problem damit hatte, dass eine nur für untergeordnete Positionen geeignete Kämpferin plötzlich Verantwortung tragen sollte, dann äußerte es keiner. Decorian warf Nica nur hin und wieder einen amüsierten Blick zu. Sie war zumindest in einer Hinsicht untypisch für die anderen Fedajin: Seit ihrer Ernennung zur Chefin der Kirchengarde trug sie eine kleine Handtasche mit sich herum, in der sie die Personalunterlagen der verbliebenen Truppe verborgen hatte. Sie kannte ihre Kameraden nämlich so gut wie gar nicht, und jedes Mal wenn sie einen traf, musste sie nachschauen. Die hektische Betriebsamkeit, die dabei entstand, half Decorian – neben Rens wirkte er dann noch souveräner und beeindruckender als ohnehin.
»Er war Euer Gehilfe, Eminenz«, murmelte Rens nun zaghaft und richtete einen angewiderten Blick auf Tholik. Es hatte einige Zeit gedauert, bis es den Fedajin mithilfe von Decorians Zugangscodes gelungen war, in die versiegelte Maschinenhalle vorzudringen. Darin hatten sie hilfloses Personal vor dem Dimensionsfalter und eine mehrfach gesicherte Kontrollzentrale voller Leichen gefunden. Tholik hatte erschossen werden müssen, da er sich standhaft gewehrt hatte.
»Ich bin enttäuscht«, erwiderte Decorian bedrückt. »Enttäuscht von dem Verräter, den ich an meiner Brust nährte, und enttäuscht von mir, der ich seinen verhängnisvollen Verrat nicht rechtzeitig erkannte.«
»Euch ist kein Vorwurf zu machen«, scharwenzelte Rens eifrig.
»Doch, doch«, klagte Decorian salbungsvoll. »Ich werde diese Schuld mit mir tragen. Sobald meine Zeit als Interimsverwalter vorbei ist, muss ich in mich gehen und nach meinem Versagen forschen. Doch jetzt gilt es, andere Fragen zu beantworten, zum Beispiel, wer Tholik angestiftet hat!«
Rens machte ein bekümmertes Gesicht. »Wir haben in seiner persönlichen Habe nichts gefunden, Eminenz.«
Decorian wusste das wohl. Schließlich war er es gewesen, der Tholik diesen Auftrag gegeben und alles vorbereitet hatte. Selbstverständlich gab es eine Hinterlassenschaft des Toten. Man würde sie in Kürze »finden« und sie würde einiges erklären. Oder zumindest den Anschein erwecken.
Der neue Erzprior – auch wenn er diesen Titel offiziell noch nicht trug – wandte seine Aufmerksamkeit Dr. Ash’kal zu, dem Leiter der Falterstation. Er war zum Zeitpunkt des Unglücks nicht im Dienst gewesen, war aber über die Zerstörungen sichtlich entsetzt. Er hatte sofort, nachdem der Zugang wieder frei war, ein Reparaturteam zusammengestellt. Hier gab es einen Teil in Decorians Plan, der kaum vorhersehbar war. Der Geistliche war kein Techniker oder Wissenschaftler, er wusste nur, dass die Leute, die den Falter betreuten, nicht wirklich ahnten, wie er funktionierte. Er war alte imperiale Technik, aus besseren, gloriosen, gescheiterten Zeiten. Die Männer und Frauen um Ash’kal taten meist nichts weiter, als Wartungsarbeiten durchzuführen, die sie aufgrund der alten Handbücher meistern konnten. Decorian wusste aber nicht, wie weit die jahrelangen Forschungen bezüglich des Betriebsprinzips des Gerätes tatsächlich gediegen waren. Auch Tholik hatte ihm da kaum weiterhelfen können. Dies war die Domäne meist introvertierter Akademiker, denen nach dem Ausbleiben von Erfolgsstorys jahrelang keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt worden war. Das mochte sich jetzt rächen.
»Doktor, wie ist die Sachlage?«, fragte Decorian mit ernsthaftem Interesse.
»Eminenz, wir sind noch bei der Bestandsaufnahme«, erwiderte der Mann. Er war Terraner oder von terranischer Abstammung, genauso wie sein Gegenüber. Seine Nervosität wirkte ansteckend, sodass sich Decorian zur Ruhe rufen musste. »Ich kann Euch so viel sagen: Dieser Tholik«, er sprach seinen Namen wie ein Schimpfwort aus, »hat ganze Arbeit geleistet. Der Falter wurde durch zahlreiche gezielte Fehlschaltungen außer Gefecht gesetzt. Es gibt keine äußeren Beschädigungen, soweit wir das feststellen konnten, aber die Steuerelektronik hat sich selbst abgeschaltet und damit auch die Nothalteautomatik des Falters automatisch in Gang gesetzt. Wir können kaum noch Emissionen anmessen. Unsere Experten konzentrieren sich daher auf die Elektronik, in der Hoffnung, sie wieder aktivieren zu können. Dazu muss aber gewährleistet sein, dass die wesentlichen Steuerelemente durch die Manipulationen keine bleibenden Schäden erhalten haben. Wir müssen daher erst einmal die Elektronik vom Falter abkoppeln und Tests durchführen, Trockenübungen, wenn Ihr so wollt.«
»Wann ist der Falter wieder einsatzbereit?«, stellte Decorian die entscheidende Frage.
Ash’kal zuckte mit den Schultern. »Ich kann Euch darauf keine Antwort geben. Wir stehen am Anfang der Tests und der Fehleranalyse. Aber ich rechne eher mit Monaten als mit Wochen.«
Decorian verbarg seine Erleichterung. Wenn dies zutraf, waren seine Pläne weit genug gediehen, um auch bei einer erfolgreichen Wiederherstellung der Gesamtstruktur des Tempels sicher im Sattel zu sitzen. Er hatte bereits befürchtet, weitere Sabotageakte anordnen zu müssen, was im schlechtesten Fall – und auch Decorian respektierte Murphys Gesetz – auf ihn zurückfallen mochte. Ihm war es lieber, gar nichts zu tun und die Wissenschaftler ihre Arbeit machen zu lassen. Es sollte so lange dauern, wie es dauerte.
»Doktor, Sie haben meine volle Unterstützung!«, erklärte er laut. Der Wissenschaftler nickte artig. »Und jetzt will ich Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten.«
»Ja, genau!«, setzte Nica Rens unnötigerweise hinzu. Decorian runzelte die Stirn, als auch Ash’kal die Fedajin-Kommandantin etwas irritiert ansah. Es schien, als würde er jeden Moment erwarten, dass diese ihn mit der Handtasche traktierte.
Die Frau war auf lange Sicht nicht haltbar, dachte sich Decorian. Und er wusste auch schon, durch wen er sie ersetzen würde.
Als er die Falterhalle verließ und sich auch Rens verabschiedet hatte, wandte er sich an seinen Privatsekretär, der ihn stillschweigend begleitet hatte.
»Sobald wir etwas Ruhe haben, stelle mir eine gesicherte Verbindung zu Asiano von den Erleuchteten her.«
»Zu den Abtrünnigen?«, fragte der Mann leicht verwundert nach.
»Ja, genau.« Decorian lächelte dünn. »Es wird Zeit, in dieser Phase der Krise die Einheit der Kirche wiederherzustellen.«
Sein Sekretär neigte den Kopf.
Uhul setzte sich neben Tokal, der eine frisch geladene Muskete an die Wand stellte. Neben ihm hockte ein Milizionär, bereit, auf vorbeireitende Ketzer zu feuern, doch die Angreifer schienen sich zur Beratung zurückgezogen zu haben. Der Novize wirkte erschöpft, seine Tentakelspitzen aufgeraut von der ständigen Arbeit mit den sperrigen Musketen und dem beißenden Schießpulver. Er nickte Uhul zu und sah seinen Lehrer erwartungsvoll an.
»Nun, Herr, was sind das für Dämonen? Außer dem einen, der aussieht wie einer der Unsrigen, sind sie sehr seltsam. Und ist nicht einer der Heiligen unter ihnen? Ich bin sehr verwirrt.«
Uhul musterte den Novizen nachdenklich. »Und obgleich du einen Heiligen erkennst und einen, der ist wie wir, bezeichnest du unsere Besucher als Dämonen?«
Tokal suchte sichtlich nach Worten. »Sie haben den Schrein zerstört«, erwiderte er schließlich.
»Haben sie das? Also, was ich gesehen habe, war Folgendes: Der Schrein öffnete sich und heraus traten die Fremden. Unter ihnen ein Heiliger und einer der Unseren. Die Ketzer griffen sie an, doch sie verteidigten sich tapfer, suchen Zuflucht im Wachhaus und zeigen große Sorge, was das Allerheiligste angeht, das durch den Schrein offenbart wurde.«
Uhul hielt inne, als müsse er weiter nachsinnen, doch dann richtete er alle seine Augen auf Tokal, der sich erkennbar schämte.
»Wieso also sind dies Dämonen, Tokal?«
»Nun, es sind dann wohl tatsächlich keine, Herr.«
»Das sagst du, weil ich dich zurechtgewiesen habe?«
Tokal zögerte. »Nun, ich lerne von Euch.«
»Es gibt zwei Wege des Lernens. Der eine ist, dich mit meiner Autorität auf einen Pfad zu setzen, dem du zu folgen hast. Doch wer sagt, dass meine Wahl die richtige war? Sind es vielleicht doch Dämonen, die sich unter uns schleichen, um die Rechtschaffenen zu verderben? Bin ich gar von ihnen verzaubert worden? Warum beschreitest du nicht den zweiten Weg: Erfahre und lerne selbst, was real und wahr ist, und lasse dich nicht von dem leiten, wovor du Angst hast oder was dich verwirrt.«
Tokal wirkte nun tatsächlich beschämt.
Dann aber begehrte er auf. Uhul sah dies, wie immer, mit großer Zufriedenheit. Erneut hatte sich der Novize nur bis zu einer Grenze von seiner Belehrung unterweisen lassen.
»Herr, wenn aber die Dämonen Euch verderbt haben, dann werden sie mich ebenfalls verderben, wenn ich mich ihnen nähere!«
»Wie wahr. Und das ist die Gefahr deines Lebens, Tokal: Auf der Suche nach der Wahrheit irrezugehen und zu scheitern. Dann wirst du in Verblendung und Irrglauben enden und dein Leben fortgeworfen haben.«
Tokal war betroffen, doch Verstehen glomm in seinen Augen. »Und Ihr wollt mir sagen, dass mir niemand dieses Risiko abnehmen kann?«
»Wenn du den zweiten Weg beschreitest – nein.«
»So beschreite ich den ersten!«
»Dann wirst du niemals Größe erlangen.« Uhul beugte sich vor. »Tokal, rede mit dem, den du als Heiligen zu erkennen glaubst. Er scheint gerne und viel zu reden, auch wenn man ihn nur schwer versteht. Er wirkt auf mich nicht wie einer, der Erkenntnis gewonnen hat und demnach Heiligkeit beansprucht. Aber wenn du mich fragst, hat er sich für den zweiten Weg entschieden. Möglicherweise kann er dir helfen, dich auf diesem zu orientieren.«
»Das werde ich tun.«
»Und … Tokal …«
»Ja, Herr?«
»Nenne ihn nicht Herr. Das kann er genauso wenig leiden wie ich.«
»Ja, Herr.«
Uhul wollte noch etwas hinzufügen, dann aber tauchte der Milizkommandant auf. Kapitan Wahan hatte seine Männer gut im Griff. Keiner hatte versucht, sich auf die »Dämonen« zu stürzen, und alle hatten Uhuls Unterweisungen gelauscht und sich vernünftig verhalten. Wahan war ein professioneller Soldat, bei aller abergläubischen Ehrfurcht, die ihn erfüllen mochte. Ihn interessierte der taktische Aspekt der neuen Situation weitaus mehr als der spirituelle. Uhul schätzte Professionalität, egal auf welchem Gebiet. Wahan hatte sich einen hohen Rang in seiner persönlichen Wertschätzung redlich verdient.
»Erhabener, die Ketzer scheinen sich zurückzuziehen!«
Uhul drehte sein Echtauge zur nächsten Schießscharte. Staub wirbelte draußen auf. Der Kapitan schien recht zu haben.
»Das wird nicht lange vorhalten«, unkte Uhul.
»Ich befürchte Ähnliches. Ich habe zwei Männer in den Stall geschickt, die Tiere zu satteln. Wir müssen die Stellung aufgeben und in die Stadt reiten, solange wir das können.«
»Ich stimme zu. Die Fremden?«
»Wir nehmen sie mit. Mir scheint, dass sie trotz ihrer Herkunft der Hilfe bedürfen, und der Prior soll über sie entscheiden.«
Uhul stellte erfreut fest, dass Wahan auch seinen gesunden Verstand bewahrt hatte. Der Kapitan, so kam er zu dem Schluss, hatte ohne Zweifel schon vor längerer Zeit den zweiten Weg gewählt.
Deswegen, so schloss der Staubdiener, befahl er hier und gehorchte nicht.
Er erhob sich. »Die Fremden reisen auf meinem Wagen. Es wird eng, aber es wird gehen.«
»Dann machen wir uns auf den Weg.«
So spektakulär wie ihre Ankunft, so unspektakulär war ihre Abreise. Nachdem sie Serbald auf eine Art Trage gelegt hatten, die wiederum auf den durchaus stabil aussehenden Wagen Uhuls gelegt wurde, hatten sich die anderen um den Liegenden gruppiert. Uhul hatte Sentenza ein Reittier angeboten und der hatte das Angebot angenommen. Als Offizier des Multimperiums hatte er – zu besseren Zeiten – mehrfach die Gelegenheit gehabt, diverse Tiere zu reiten, nicht alle so gutmütig und leicht steuerbar wie das, das der Captain nun bestieg. Der Sattel half ihm nicht viel – er war viel zu groß –, aber der breite Rücken des Tieres bot genug Halt und die Zügel entsprachen in etwa Sentenzas Bedürfnissen. Trotz seiner Verletzung fand er Halt, und solange sie nicht galoppieren mussten, rechnete er nicht mit Schwierigkeiten. Die Soldaten der Stadt waren bemerkenswert schnell und diszipliniert vorgegangen. Keine 15 Minuten nach der Entscheidung, den Aufbruch zu wagen, war die Kolonne reisefertig: die eine Hälfte der Soldaten vorneweg, dann der Wagen mit den Neuankömmlingen, Uhul und seinem Lehrling (zumindest Thorpa hatte ihn so bezeichnet) und dann Sentenza zusammen mit dem Hauptmann der Truppe und dem Rest der Bewaffneten. Trotz aller erkennbarer Nervosität – die »Ketzer« hatten sich zwar recht deutlich zurückgezogen, waren aber noch rund 600 Meter entfernt in Sichtweite – verlief alles ohne größere Hektik. Auch als die Kolonne sich so zügig wie möglich in Bewegung setzte und das Wachhaus hinter sich ließ, machten die Angreifer keine Anstalten, ihr nachzusetzen. Offenbar wollte man sie ziehen lassen. Sentenza konnte das nur recht sein. Seine Gastgeber schienen weniger begeistert. Hargin Flech saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung am hinteren Ende des Wagens und ließ seine biegsamen Beine herunterbaumeln.
Sentenza sah sich um. Die Landschaft, durch die sie ritten, war karg und öde. Es war keine Wüste, zumindest keine aus Sand, aber Vegetation wuchs nur spärlich und das, was an Pflanzen sichtbar war, wirkte verkrümmt und vertrocknet. Sentenza hatte sofort gemerkt, dass sie auf einer heißen Welt gelandet waren, eine Welt, die von ihren Bewohnern »Tersi« genannt wurde. Flech hatte ihm erklärt, dass das ein nicht unüblicher Nachname sei und sich wahrscheinlich aus der Zeit vor der Großen Stille überliefert habe, möglicherweise der Entdecker dieser Welt oder eine wichtige historische Gestalt. Tersi war nicht nur heiß, sie war auch trocken, was generell dem Metabolismus der Arbito nicht so zusprach. Dennoch hatte sich die Zivilisation hier offenbar auch ohne die Hilfsmittel moderner Technologie erhalten. Die Straße, auf der sie nun reisten, war gut befestigt und, soweit man dies mit den hiesigen Materialien und Techniken erreichen konnte, wetterfest. Flech hatte ihm berichtet, dass Uhul von einer starken, wenngleich kurzen Regenzeit erzählt hatte. Für das Überleben der eigentlich ein feuchtes Klima gewöhnten Spezies war neben einem guten Wasserhaushaltungssystem auch der sogenannte »Staub« notwendig. Uhul selbst nannte sich Staubdiener. Doch um was genau es sich dabei handelte, hatte Sentenza noch nicht erfahren können. Offenbar war das Thema tabuisiert, zumindest hatte es religiöse Untertöne, denn sonst würde Uhul als offenbar hoher Geistlicher diesen Titel nicht tragen. Thorpa vermutete, dass es sich um eine natürliche Droge handelte, die den Feuchtigkeitshaushalt der hier lebenden Arbito zu regulieren half.
Sentenza sah auf. Der Arbito, an den er gerade gedacht hatte, erhob sich vom Kutschbock seines Wagens und winkte einen der Soldaten an seine Seite. Mit Interesse beobachtete der Captain, wie der reitende Soldat und Uhul in einer offenbar geübten Abfolge die Plätze wechselten. Das gutmütige Reittier machte den Spaß mit, ohne zu murren oder gar auszubrechen. Nach einer Minute saß der Soldat auf dem Wagen und der Staubdiener zügelte sein Tier, bis es direkt neben Sentenza wieder die Geschwindigkeit anpasste. Uhul warf Hargin Flech einige Worte zu. Der Fedajin-Kommandant antwortete, dann sprach er Sentenza in Standard an.
»Uhul möchte sich mit Ihnen unterhalten. Er bat mich zu übersetzen.«
»Warum benutzt er kein Standard?«
»Ich befürchte, die Tatsache, dass Standard nur noch als Kirchensprache Geltung hat, hat den Wortschatz deutlich vermindert. Es ist besser, wenn wir weiterhin übersetzen. Das hiesige Alt-Arbito ist praktisch orientiert und das dürfte uns eher helfen.«
Sentenza wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Reise würde länger dauern und ihn nicht nur wegen der Hitze rasch ermüden, die aber glücklicherweise nicht mit einer hohen Luftfeuchtigkeit verbunden war. Warum also nicht?
»Gerne. Was will er wissen?«
Und so entspannte sich ein etwas schwerfälliges, aber offenbar gut übersetztes Gespräch zwischen den beiden.
»Du bist ein Hauptmann«, eröffnete Uhul das Gespräch. Es dauerte einige Sekunden, bis Sentenza begriffen hatte, was er meinte. Uhul zog offenbar eine Parallele zu dem Kommandanten der Soldaten. Da Sentenza eine Corpsuniform inklusive der Insignien trug – als Einziger der ganzen Gruppe, denn die Fedajin trugen schmucklose und ungekennzeichnete Monturen –, lag das durchaus nahe.
»Ich bin nicht derjenige, der hier das Kommando führt«, erwiderte der Captain. »Wir haben in dieser Gruppe eigentlich keinen Anführer, da wir nur zufällig in den … Unfall verwickelt wurden, der uns auf dieser Welt hat stranden lassen.«
»Ihr seid weder Dämonen noch Heilige«, erklärte Uhul und es war keine Frage. »Die Öffnung des Schreins war auch kein Zeichen der Alten Völker.«
Sentenza suchte nach einer behutsamen Antwort. Er kannte Uhul nicht gut genug, um zu wissen, wie sein eigener religiöser Defätismus auf ihn wirken würde. »Manchmal gibt es solche Zeichen möglicherweise in Dingen, die wir als selbst verschuldet betrachten. Ich bin kein Mann, der sich über diese Zusammenhänge große Gedanken macht. Mein Interesse liegt darin, wie ich von hier wieder fortkomme.«
Uhul machte eine zustimmende Geste. Sie unterschied sich nicht von der Hargin Flechs, also hatten sich manche kulturelle Gemeinsamkeiten erhalten. »Wohin willst du zurückkehren?«
Sentenza machte eine Handbewegung, die in den Himmel zeigte.
Auch das schien den Geistlichen nicht wirklich zu überraschen. »Unsere Vorfahren kommen von dort«, erklärte er bestimmt. »Doch dann kam es zum großen Zusammenbruch. Wir nennen es den Sündenfall, denn er unterbrach unsere direkte Verbindung zur Welt der Alten Völker.«
So konnte man es auch werten, dachte Sentenza. »Eigentlich seid Ihr nicht schuld«, antwortete er vorsichtig. »Im Grunde ist niemand schuld. Deine Vorfahren haben mit den meinen gegen Dämonen, echte Dämonen, gekämpft. In ihrer Verzweiflung verwendeten sie eine Waffe, die den Feind zwar aufhielt, aber gleichzeitig ihr eigenes Verderben heraufbeschwor. So wurde der Kontakt beendet.« Er wies auf Flech, der nur übersetzte und nicht kommentierte. »Einige, auf anderen Welten, stellten den Kontakt wieder her. Diese Welt fehlt noch, aber möglicherweise lässt sich das ändern.«
»Das muss der Prior entscheiden«, erwiderte Uhul. »Aber deine Erklärung erscheint logisch. Bitte erwarte jedoch nicht, dass alle dieser Logik folgen werden. Selbst mein Novize hat noch Probleme, in Euch keine Dämonen zu sehen.«
Er wies auf Tokal, der auf dem Kutschbock saß und so tat, als würde er nicht zuhören.
»Ich verstehe. Gehört der Prior zu dieser Gruppe?«
»Nicht notwendigerweise. Er ist ein gläubiger Mann und in manchen Dingen doktrinär, aber er ist kein Dummkopf und er hört auf meinen Rat. Doch welchen Rat soll ich ihm geben?«
Kluger Junge, dachte Sentenza.
»Wir vermuten, dass im Amtssitz des Priors möglicherweise Technologie vorhanden ist aus der Zeit, bevor der Kontakt abbrach. Wir möchten diese untersuchen und herausfinden, ob da etwas ist, mit dem wir den Kontakt wiederherstellen können. Wir möchten, dass unsere Freunde kommen und uns abholen.«
Uhul schien über diese Aussicht nicht begeistert. »Du beziehst dich auf heilige Artefakte«, meinte er. »Ich weiß genau, was du meinst, denn im Gegensatz zum Prior halte ich diese Dinge in der Tat für Gerätschaften, nicht für gesegnete Objekte der Anbetung. Das ändert aber nichts daran, dass sie für viele einen hohen spirituellen Wert haben. Du wirst sehr behutsam vorgehen müssen.«
»Dafür werde ich deinen Rat benötigen!«, erwiderte Sentenza.
Kluger Junge, dachte Uhul.
»Ich werde sehen, was ich tun kann, Fremder. Doch nun erzähle mir etwas mehr über die Welt dort oben … dort draußen. Vielleicht kann ich dann leichter entscheiden, was ich meinem Prior zu erzählen gedenke – und wie.«
Sentenza wischte sich den staubigen Schweißfilm von der Stirn, nahm einen Schluck Wasser aus einer etwas unförmigen Feldflasche, die man ihm überlassen hatte, und begann.
Jenangar war eine beeindruckende Ansiedlung. An sich war Sentenza viele große urbane Zentren gewöhnt, gerade die Hauptstadt von Sankt Salusa gehörte dazu. Aber auch der imperiale Sitz auf Persephone, der Hauptwelt des Multimperiums, musste sich vor keiner Stadt der bekannten Galaxis verstecken. Beeindruckende, ja wagemutige Architektur unter Ausnutzung aller technischen Möglichkeiten war in allen prosperierenden Sternenstaaten gang und gäbe und der Captain hatte so manche besichtigen können. Jenangar war eine Stadt auf einer deutlich niedrigeren Entwicklungsstufe, aber das machte sie wahrscheinlich erst recht überwältigend. Die große, gut 20 Meter hohe Stadtmauer verlief in einer gewundenen Linie und schloss an überragenden Felshängen ab. Hinter der Stadt schob sich ein mächtiger Tafelberg empor, an seinen Hängen, eingehauen in die Felswände, weitere Häuser, bis die Formation zu steil wurde. Ein breiter Strom ergoss sich durch die Ebene, die mit der Stadt endete, und ging genau durch die an dieser Stelle mit schweren Gittern bewehrte Stadtmauer hindurch. Uhul hatte berichtet, dass der Fluss die umfassende Kanalisation Jenangars durchspülte, er führte unterirdisch in den Tafelberg hinein, tauchte auf der anderen Seite auf und mündete irgendwann in einen See. Dominiert wurde die Skyline der Stadt durch den Sitz des Erzpriors, in dem die Besucher galaktische Architektur wiedererkannten. Auch an einigen anderen Stellen waren mit hiesigen Mitteln restaurierte ehemalige imperiale Gebäude erkennbar. Uhul hatte erzählt, dass kurz nach Einbruch der Großen Stille ein Feuer in der Vorgängersiedlung ausgebrochen sei und viele der alten Gebäude vernichtet habe. Er berichtete von zwei weiteren Städten, die ihm dem Namen nach bekannt waren, weitaus dünner besiedelt als das prächtige Jenangar, jedoch mit Wohnhäusern, die eindeutig aus imperialer Zeit stammen mussten. Der Geistliche hatte durch die Erzählungen Sentenzas gelernt, seine eigene Vergangenheit und die seines Volkes in den richtigen Kontext zu stellen. Er ließ offenbar seinen Schüler, Tokal mit Namen, häppchenweise an diesem Wissen teilhaben. Dennoch blieb Sentenza Uhuls Warnung im Ohr: Sei vorsichtig, was du in der Stadt von dir gibst – nicht alle werden bereit sein, auf die Worte der Dämonen zu hören.
Ihre Sonderstellung wurde bereits deutlich, als ihre Kolonne das Haupttor der Stadt durchquerte. Bereits vorher, während sie eher ländliche Siedlungen auf dem Wege passiert hatten, waren sie von den Bewohnern erstaunt, zum Teil ängstlich angestarrt worden. Lediglich die umfassende Präsenz der Soldaten hatte bisher schlimmere Reaktionen verhindert. Auch bei ihrem Einzug durch das Tor war es die Miliz, die durch ihre Eskorte Selbstsicherheit ausstrahlte. »Wir haben alles unter Kontrolle«, war die indirekte Botschaft und sie entsprach sogar der Wahrheit – die Soldaten waren gut bewaffnet, die Gestrandeten so gut wie gar nicht. Lediglich einige Fedajin hatten sich von den mächtigen Stoß- und Hiebwaffen, den Stechforken, nicht getrennt.
Es war viel los auf den Straßen von Jenangar, doch dort, wo die Kolonne passierte, erstarb jede Aktivität. Es gab zwar ein Gedränge und Geschiebe, um einen Blick auf die seltsamen Besucher zu werfen, nur im Bann gehalten von der Eskorte sowie der Stadtmiliz, die offenbar aufmarschiert war, als ihre Annäherung angekündet worden war. Doch alle andere Arbeit, der Handel, der Transport auf den Straßen, ruhte.
Ohne weitere Verzögerung ging es direkt auf den Sitz des Priors zu, was Sentenza nur recht war. Uhul hatte ihm versichert, dass das Heilhaus des Hauptsitzes die beste Versorgung für die Verletzten bereitstellen würde. Obgleich Sentenza seine Bedenken hatte, sich in die Hände hiesiger Chirurgen zu begeben, musste er die Kugel in seiner Schulter so schnell wie möglich loswerden, damit die Selbstheilungsinjektionen, die wie Impfungen in seinem Körper auf das Loslegen warteten, ihre Arbeit beginnen konnten. Fremdkörper wurden isoliert, mögliche Infektionen verhindert, aber das Fleisch konnte die Kugel nicht von selbst absondern und der Arm blieb für den Captain weitgehend bewegungsunfähig.
Schließlich waren sie da.