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Robert ist fünfzehn. Sein Heimatdorf ist ihm zu klein, ihn zieht es gegen den Willen seines Vaters auf See. Viele Abenteuer, unter anderem auf Südseeinseln, in den Eiswüsten des Hohen Nordens und im Goldland der Comanchen erwarten ihn.
Coverbild: Bannykh Alexey Vladimorovich / Shutterstock.com
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Sophie Wörishöffer
Robert, der Schiffsjunge
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1. Zu Hause
In dem holsteinischen Flecken Pinneberg stand vor Jahren am Ufer der Pinnau das kleine einstöckige Häuschen des alten Schneidermeisters Kroll. Ein Gemüsegarten erstreckte sich vom Hof bis zum Wasser herab, und mehrere baufällige Scheunen beherbergten unter ihren moosbewachsenen Ziegeldächern allerlei solche Tiere, welche auf dem Lande die meisten Leute selbst zu halten und zu schlachten pflegen, nämlich Schweine, Hühner und Tauben; außerdem aber auch noch zu anderweitigen Wirtschaftszwecken eine Kuh und zwei Ziegen. Daneben fand sich ein Holzstall, ein Heuboden, eine Geschirrkammer und ein kleiner ausgemauerter Raum, den einige zehn bis zwölf Kaninchen bewohnten.
Diese Letzteren gehörten Robert, dem fünfzehnjährigen Sohn des Meisters, der überhaupt als Oberaufseher und Proviantmeister für die sämtlichen Bewohner des Hofes von seinem Vater angestellt worden war, obgleich er freilich dies Amt nicht immer zur Zufriedenheit des Alten verwaltete.
Manches Mal, besonders an Sommerabenden, brüllte, grunzte und piepste es in den Ställen jämmerlich durcheinander, bis denn der Meister mit der Brille auf der Nase herauskam und in all die leeren Futtertröge schaute.
»Dass Gott erbarm, wo steckt wieder der Junge? Auf und davon, sobald die Feierabendglocke geschlagen hat, anstatt sich noch in Haus und Hof nützlich zu machen, noch einen Schilling extra zu verdienen, oder wenigstens ein gutes Buch zu lesen. Der schwimmt irgendwo auf der Aue oder auf dem Mühlteich, das ist nur allzu gewiss, und wenn es mir nicht gelingt, ihn zahm zu machen, so wird er ein Vagabund, ein Taugenichts. Dass Gott erbarm!«
Und kopfschüttelnd versorgte der Alte die Tiere, kopfschüttelnd nähte er wieder Fleck nach Fleck auf die beschädigten Kleidungsstücke der Ortsbewohner und überlegte zum hundertsten Male, womit er seinen einzigen Sohn zur Vernunft bringen solle.
Robert war ein so kluger Junge, konnte alles spielend vollenden, was andern die größte Mühe verursachte, aber er hatte »seinen eigenen Kopf«, wie der Vater seufzend dachte, und er verachtete heimlich das Schneiderhandwerk, zu dem er doch auf jeden Fall erzogen werden sollte. Ja, er verachtete es, er warf Schere und Bügeleisen in den Winkel, sobald das irgend möglich war, und lief – dass Gott erbarm!, dachte der Alte – lieber mit einem Loch im Ärmel herum, als dass er sich's fein säuberlich zugenäht hätte.
Meister Kroll ließ die Hand mit der Nähnadel in den Schoß sinken und schaute vom Tisch herab ganz trübsinnig auf die Straße hinaus.
»Könnte es so schön haben«, murmelte er vor sich hin, »könnte so warm sitzen und will durchaus in die weite Welt laufen, um sich erst einmal mürbe machen zu lassen und auszuprobieren, wie fremder Leute Brot schmeckt. Soll aber nichts daraus werden, so wahr ich Hans Fürchtegott Kroll heiße. Den einen Jungen besitze ich nur, das Häuschen ist schuldenfreies Eigentum und die Kundschaft nährt ihren Mann, also was will der Robert weiter? Nicht dem hundertsten wird's so aufgeschüsselt, dass er nur den Löffel hineinzutauchen braucht. Was sagst du dazu, Mutter?«
Die alte Frau fuhr mit der Schürze über die Augen. »Es kommt nichts danach, Vater, du kannst ihn nur halten, bis er ausgelernt hat, dann geht er zur See.«
Der Alte nickte vor sich hin. »Hat dir's wohl schon alles anvertraut, nicht wahr, Frau?«, brummte er, »aber daraus wird nichts. Einen Zunftzwang gibt es nicht mehr, zu wandern braucht er nicht und damit basta.«
Die Mutter schwieg klüglich, um nicht ihren Mann nur noch mehr aufzubringen und dadurch dem Jungen zu schaden. Sie machte diesem vielmehr, wenn er spät nach Hause kam, allerlei heimliche Zeichen, dass er nur ganz still ins Bett kriechen und sich gar nichts merken lassen solle.
»Der Junge muss sich doch am Abend ein bisschen austoben«, dachte sie. »Er ist ja noch ein Kind, das vergisst der Alte nur.«
Sie nahm sich auch, wenn es irgend möglich war, der Tiere an und verschwieg es dem Vater, wenn Robert heimlich fortgelaufen war.
»Er mag einmal durchaus nicht sitzen«, überredete sie sich, »und den einzigen Jungen habe ich nur. Warum soll er beständig arbeiten, als wären wir arme Leute, die das Brot trocken essen müssen? Lass ihn nur laufen.«
Das war aber eine törichte Liebe, und die schlimmen Folgen zeigten sich bald. Der Vater schlug den Jungen mehr als er verdiente, die Mutter dagegen half ihm, sich durch fortwährende kleine Lügen diesen Bestrafungen zu entziehen, und Robert selbst wurde immer trotziger, immer ungehorsamer.
»Ich will kein Schneider werden«, erklärte er eines Tages dem Alten rund heraus, »ich habe dazu keine Lust. Das Schifferhandwerk ist auch ein ehrliches Gewerbe, nicht schlechter als sonst eines, und gerade danach steht mein Sinn. Ich möchte mehr von der Welt sehen als nur das kleine Pinneberg.«
Der Meister schüttelte den Kopf. »Ist alles dummes Zeug«, versetzte er. »Sollst in die Kundschaft hereinwachsen, dies Häuschen übernehmen und – beliebt's Gott! eines Tages von hier aus begraben werden, wie schon mein Großvater selig und mein Vater von hier aus begraben worden sind. Sie waren Schneider vom Vater auf den Sohn, und du wirst's auch, du bekommst den Platz auf diesem Tisch, sobald ich einmal unterm Grünen liege. Dabei bleibt's, verstanden?«
Robert weinte bitterlich. »Ich seh's aber gar nicht ein!«, schluchzte er.
»Ich desto besser. Bleibe im Lande und nähre dich redlich!, heißt der alte Spruch. Wer's nicht getan hat, der musste es bitter zu seinem Schaden erfahren.«
Robert hob plötzlich den Kopf. »Wenn aber jeder in seinem Lande geblieben wäre, dann sähe doch die Welt ganz anders aus!«, rief er. »Christoph Columbus und –«
»Ach lass doch die gräulichen Heiden. Es hilft dir alles nichts, die Krolls sind von jeher Schneider gewesen und du wirst's auch. Da, diese Naht nähst du mir mit einem sauberen Steppstich. Finde ich einen Tadel daran, so schmeckst du den Stock, und nun den Mund gehalten, wenn ich bitten darf. Lehrjungen plappern nicht während der Arbeitsstunden.«
Robert musste sich fügen, aber in seiner Seele wuchs das Verlangen nach Erlösung aus diesen Verhältnissen immer stärker. Hier bleiben fürs ganze Leben, nie etwas anderes sehen als den engen Hof und die enge Straße, das war schrecklich. Der Vater erlaubte gar kein Vergnügen, keine Erholung, er gestattete ihm nicht ein einziges Mal, mit der Eisenbahn nach Hamburg zu fahren oder in Gesellschaft anderer Knaben eine Fußreise zu machen. »Das alles kostet Geld und Zeit«, war die Antwort, welche er seinem Sohne gab. »Was willst du in Hamburg? Da stehen Häuser und laufen Menschen wie hier. Der Taler wäre ganz umsonst ausgegeben.«
Robert senkte mutlos den Kopf. »Und die Schiffe und die Elbe?«, fragte er kleinlaut. »Das ist doch sehenswert.«
Der Alte wich und wankte nicht. »War mir allezeit ein Gräuel, das Matrosenwesen«, antwortete er. »Die Kerle fluchen und trinken und sind Verschwender von Profession. Hat so einer seine Heuer empfangen, dann geht es darauf los, als könnte die Geschichte gar kein Ende nehmen. In die Sparkasse wandert kein Schilling.«
So endete jeder Versuch, etwas mehr Freiheit zu erringen, und Robert wurde endlich ganz stumm. Er grollte seinem Vater, daher sprach er nicht mit ihm.
Um diese Zeit machte er eine Bekanntschaft, die für seine ganze Zukunft von schwerwiegender Bedeutung werden sollte. Der Seilermeister, dessen Bahn an den Krollschen Garten stieß, hatte einen neuen Gesellen in Arbeit genommen, und Georg, so hieß er, suchte sehr bald den Umgang des verdrießlichen Schneiderlehrlings.
Nur um wenige Jahre älter als Robert, hatte er von der Welt schon ein gutes Stück gesehen, war als Schiffsjunge in fremden Ländern gewesen und kannte alles, was zum Seewesen und -unwesen gehört, auf das Allergenaueste. Kein Wunder also, dass sich Robert auf das Beste mit ihm befreundete.
Zuerst sprachen die beiden nur über den Zaun hinweg, dann aber schlüpfte Georg hindurch, und auf dem Heuboden entspann sich die lebhafteste Unterhaltung.
Robert horchte dem, was ihm der Seiler erzählte, wie einer Verkündigung. Endlich, endlich hatte er gefunden, was er suchte, endlich durfte er alle diese Dinge kennen lernen, nach denen seine Seele dürstete. Selbst an die Bootsfahrten auf dem Mühlenteich dachte er nicht mehr, sondern verbrachte jede freie Stunde neben dem neuen Kameraden auf dem Heuboden oder im Holzstall. Georg musste fortwährend erzählen.
Der schlaue Bursche wusste sehr bald seinen Vorteil wahrzunehmen. »Willst du eine Zigarre?«, fragte er einmal. »Oder ist dir eine Pfeife lieber?«
Robert errötete. »Ich – ich habe noch nie geraucht!«, stammelte er.
»Was? nicht geraucht?«, lachte der andere. »Darfst's wohl nicht, kleiner Junge, was? Gibt dir der Alte noch Schläge?«
Robert sah zur Seite. »Oh nicht doch«, versetzte er, »wohin denkst du? Und das Rauchen verbietet der Vater auch nicht, ich – habe schon manche Zigarre verdampft, aber –«
»Ha, ha, ha, und vor zwei Minuten sagtest du das Gegenteil, Bürschchen. Dich haben sie aber schön in der Zucht.«
»Gib her!«, rief Robert, gereizt durch den Spott des anderen. »Gib her! Und verböte es meinetwegen der Vater, so würde ich mich doch nicht daran kehren.«
»Das meine ich aber auch. Wie alt bist du eigentlich, Junge?«
»Bald sechzehn«, versetzte Robert. »Du brauchst mich übrigens gar nicht ›Junge‹ zu nennen, Georg. Ich bin fast so alt wie du selbst.«
Der Seiler lächelte überlegen. »Wirst ja noch wie ein kleines Kind behandelt, mein Bester«, sagte er, »daher kommt's wohl. Ich glaube, du musst um Erlaubnis fragen, wenn du niesen willst. Na, da war ich dir ein anderer Kerl!«
»So«, fragte Robert, mannhaft gegen den Tabaksdampf kämpfend, »und wie fingst du die Geschichte an? Warst du bereits Schiffsjunge?«
»Natürlich. Ach, das ist ein Herrenleben, sage ich dir. Es geht nichts über die See. Sollte ich so wie du auf dem Tisch sitzen und immer mit der Nadel in die Lappen hineinbohren, das wäre mir was Rechtes. Weiberarbeit und weiter nichts – ich danke dafür!«
Robert hatte große Lust zu weinen. Die Beschäftigung, welche ihm von seinem Vater aufgedrängt wurde, erschien ihm in diesem Augenblick wie eine Art Schande.
»Ja, du hast gut reden«, seufzte er. »Aber was soll ich machen? Mein Alter lässt mich nicht los, so oft ich ihn auch bitte.«
»So musst du einfach fortlaufen«, sagte gleichgültig der Seiler.
Robert erschrak heftig. Noch war er nicht verdorben genug, um einen solchen Gedanken in seiner Seele Wurzel fassen zu lassen. »Das wäre ja Sünde!«, stammelte er.
Der Seiler lachte spöttisch. »So bleib hier«, gab er zurück, »und bete das Vaterunser, ehe du einschläfst. Ich würd's auch tun.«
Robert verbiss das Unwohlsein, welches ihm die Zigarre verursachte. Um keinen Preis hätte er dem anderen eingestanden, dass ihn dies männliche Vergnügen jämmerlich über den Haufen zu werfen drohte. »Warum verspottest du mich immer?«, fragte er. »Lieber erzähle mir von deinen Reisen.«
Der Seiler gähnte. »Die Kehle wird einem trocken dabei«, antwortete er. »Hat dein Alter nirgends einen Schluck hinter seinen Flicken und Lappen verborgen?«
»Branntwein?«, fragte Robert. »Den trinkt er nie.«
»Gott, welch ein Muster von einem Manne. Ihr seid ja die reinen Mucker!«
Robert erhob sich, etwas schwankend, aus dem Heu. »Bier haben wir«, sagte er. »Ich will dir eine Flasche holen.«
»Du!«, rief ihm Georg nach. »Bring auch einen Bissen Brot mit und ein Stück Speck oder Dergleichen. Deine Alte hat ja natürlich die Speisekammer voll.«
Robert winkte ihm. »Pst – lass es doch niemand hören.«
Dann aber schlich er fort und gelangte durch eine zerbrochene Scheibe in den kleinen Vorratskeller. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er eine Bierflasche und ein tüchtiges Stück Schinken an sich nahm. Das war gestohlen, sein Gewissen sagte es ihm laut genug.
Jeden Augenblick glaubte er den schlürfenden Schritt des Vaters zu hören. Und nannte nicht dort jemand seinen Namen – »Robert!«
Er horchte. So bestimmt hatte er's geglaubt.
Aber alles blieb still. Leise wie ein Dieb kroch Robert wieder durch das Fenster in den Hof hinauf und brachte seinem Freunde das Verlangte. »Da, nun iss«, sagte er, »und dann erzähle. Warum bist du überhaupt vom Seewesen abgegangen?«
Der Seiler setzte die Flasche erst wieder auf den Fußboden, als sich kein Tropfen mehr darin befand. »Warum?«, wiederholte er. »Hm, ich habe einmal das Bein gebrochen – bin aus dem Mast gefallen und kann daher nicht mehr klettern.«
Robert zertrat heimlich die Zigarre mit dem Fuß. Er konnte es nicht ertragen, länger zu rauchen, aber dennoch empörte sich sein falscher Stolz gegen das Eingeständnis dieser Schwäche. »Aus dem Mast gefallen?«, wiederholte er. »Binden sich denn die Seeleute nicht fest da oben?«
Der Seiler wollte sich ausschütten vor Lachen. »Festbinden!«, rief er. »Das ist köstlich. Nein, du, sie machen sich's noch bequemer, will ich dir sagen, die Mutter muss mit an Bord und auf dem Verdeck die Schürze ausbreiten, dahinein fällt der Junge, wenn er das Gleichgewicht verliert.«
Robert errötete. Das und so vieles andere waren Anspielungen auf seine abhängige Lage und auf den strengen Gehorsam, welchen der Vater von ihm forderte; er fühlte es mit dem ganzen Groll, der so leicht ein junges Herz erfasst, wenn seine ersten unreifen Freiheitsbestrebungen keine Geltung erlangen können.
»Du bist glücklich«, sagte er, »kannst tun und lassen, was dir beliebt. Aber ich muss ein Schneider werden, weil es der Vater durchaus will. Wenn er nur erfährt, dass ich einmal auf dem Mühlenteich gefahren bin, so gibt es schon –«
»Kopfnüsse!«, ergänzte gleichmütig der andere. »Kann ich mir genau denken, du kleine Unschuld. Aber warum fährst du nicht in der Nacht? Eben jetzt haben wir die günstigste Jahreszeit dazu. Wahrhaftig, ich möchte einmal an des Müllers Segelboot meine Kunst wieder üben.«
Roberts Herz klopfte ungestüm. Wie dreist war Georg, wie leicht schien das alles, wenn man ihn so sprechen hörte. An das Segelboot des reichen Müllers hatte er selbst noch nicht einmal zu denken gewagt. Das lag ja mit einer Kette und einem Hängeschloss befestigt an dem zierlichen, über das Wasser hinausgebauten Gartenhaus, es war das Eigentum fremder Leute, wie konnte man also davon sprechen, als dürfe nur der erste Beste hingehen und es zu seinem Vergnügen besteigen?
»Ja«, sagte er ganz verwirrt, »aber das ist nicht erlaubt!«
»Ach, dummes Zeug. Was schadet es den Planken, wenn wir einmal ein wenig darauf herumtrampeln? Du glaubst gar nicht, wie angenehm es ist, bei stillem Wetter im Boot zu liegen und sich von den Wellen schaukeln zu lassen.«
»Das weiß ich!«, rief mit glänzenden Augen der Knabe. »O es ist ein Vergnügen wie kein anderes. Der Kahn des Holzhändlers da oben an der Eisenbahn ist mir von den Leuten erlaubt worden, weil ich ihnen kleine Gefälligkeiten leiste, und da fahre ich denn häufig nach Feierabend quer über den Teich. Freilich, der Vater darf's nicht wissen.«
Georg kaute noch an dem mitgebrachten Schinken. »Der platte, schwerfällige Kahn«, sagte er verächtlich »der Klotz, an welchem man sich die Arme lahm rudern muss. Nein, mein Junge, was erst große Anstrengung kostet, das ist kein Vergnügen mehr. Ein Segelboot steigt wie eine Möwe über das Wasser, aber dein Kahn gleicht einem Schubkarren, der dir Schweiß und Flüche auspresst. Versuch erst einmal den Unterschied.«
Robert war bereits halb besiegt. »Meinst du, dass es ginge?«, fragte er. »Das Boot ist angeschlossen, glaube ich.«
»Nun, dafür hat man krumme Nägel. Wir wollen ja nicht stehlen.«
»Freilich, freilich«, murmelte Robert. »Wie komme ich nur aus dem Hause, dass es die Eltern nicht merken? Den Schlüssel darf ich auf keinen Fall nehmen.«
»Ist ja auch gar nicht nötig, du Hasenherz. Die Hoftür hat jedenfalls einen Riegel, und den zieht man leise zurück, das ist das Ganze. Die Alten schnarchen ruhig weiter.«
»Ja«, rief Robert, »aber dann stände das Haus offen!«
»Nun, und was schadet das weiter? Schätze werden in dem alten Rumpelkasten nicht verborgen sein, denke ich.«
Robert lächelte. »Schätze wohl nicht, du, aber ein Paar hundert Taler hat der Alte doch im Schrank. Er bringt es immer erst zur Sparkasse, wenn das Tausend voll ist, so alle zwei oder drei Jahre.«
Georg hatte aufmerksam zugehört. »Sieh, sieh«, versetzte er, »also ein Krösus im Kleinen. Ja, die Schneider sind kluge Leute und sparsam dazu: Es tranken ihrer neunzig, und neunmalhundertneunzig – aus einem Fingerhut!«
Robert seufzte. »Die Schneider sind doch überall verachtet«, sagte er. »Ich mag keiner werden, und wenn es auch noch so viel Geld abwirft.«
Georg nickte. »Wäre auch schade um einen so strammen, kräftigen Burschen wie du bist«, meinte er. »Gott, wenn ich dich als Leichtmatrosen denke – du könntest es in ein paar Jahren zum Kapitän bringen. Und ein solcher ist ein König im Kleinen.«
Robert fuhr mit der Rückseite der Hand über die Augen. »Es hilft mir ja doch zu nichts«, stammelte er. »Ich darf nicht fort.«
»Ach, Unsinn. Komm nur erst einmal mit mir auf den Mühlenteich hinaus, dann wird dir der Mut schon wachsen. Wie wäre es, wenn wir morgen die Geschichte versuchten? Du legst dich um neun Uhr in deine Koje und schnarchst wie ein Bär, bis du merkst, dass die Alten ihr Vaterunser heruntergeleiert haben und sanftselig von ihren Sparkassenbüchern träumen, dann schlüpfst du zur Hoftür hinaus, aber nicht ohne ein wenig Mundvorrat, das sage ich dir. Gute Kost ist immer die Hauptsache.«
Robert fühlte, wie mächtig ihn die Versuchung ergriff. Was wäre es denn auch weiter? Die Söhne des Müllers durften nach getaner Arbeit im Boot fahren, so viel sie wollten, er hatte es oft gesehen und auch dem Vater vorgehalten, wenn ihm dieser jedes Vergnügen versagte; dann schüttelte der Alte ärgerlich den Kopf. »Der Müller ist ein reicher Mann«, antwortete er, »hat Geld und Gut die Fülle, da kann er es schon treiben, wie es ihm gefällt. Du aber bist armer Leute Kind und musst Pfennig auf Pfennig legen. Ich hab's auch so gemacht.«
Es war dem Knaben, als höre er die warnende Stimme des alten Vaters, aber doch konnte sein Herz nicht widerstehen. »Ich komme, Georg«, flüsterte er, unwillkürlich leise sprechend, als fürchte er sich vor dem Verbotenen. »Wo treffen wir uns?«
»Hm, ich denke am Mühlenteich. Du kennst ja jedenfalls im Garten des Müllers die Gelegenheit, nicht wahr? Hast da manchen Apfel und manche Pflaume erwischt.«
Robert schüttelte den Kopf. »Ich bin dort gewesen«, antwortete er, »aber mit den Söhnen des Müllers. Früchte gestohlen habe ich nie.«
Georg lachte. »Dann weißt du noch gar nicht, wie sie schmecken«, sagte er in leichtfertigem Tone. »Aber komm nur hin, kleiner Tugendprinz, und bring mir von demselben Schinken ein tüchtiges Stück mit. Deine würdige Frau Mutter hat dies verstorbene Borstvieh außerordentlich schmackhaft zubereitet.«
Robert versprach es, und dann trennten sich die beiden Genossen. Während der Seiler zufrieden lächelnd seine Herberge aufsuchte, kroch unser junger Freund, an allen Gliedern wie gelähmt, mit brennender Zunge und schwerem Kopf zunächst wieder in den Vorratskeller hinunter, um dort die leere Flasche an ihren Ort zu stellen, und dann ging er schleunigst zu Bett. So unwohl hatte er sich noch nie im Leben gefühlt. Es war ihm als wolle die Stirn zerspringen vor Schmerz.
Am folgenden Morgen hatte er Ränder um die Augen und sah ganz blass aus. Das Essen flößte ihm Widerwillen ein. Dennoch aber arbeitete er den Tag über mit besonderem Fleiß, um nur keinen Verdacht auf sich zu lenken, und ging früh wieder in sein Bett.
O wie lang wurde dieser Abend! Der Vater hatte noch spät eine fertige Arbeit auszutragen, und die Mutter knetete das Brot, Gott weiß wie lange. Es schien dem ungeduldigen Robert, als sei ein Jahr vergangen, seit er sich unter die heißen Federn legte. Zehnmal war er im Begriff wieder aufzustehen, aber immer hinderte ihn die Furcht, sich dadurch verdächtig zu machen. Sein böses Gewissen ließ ihn vor jedem Geräusch erzittern.
Aber alles nimmt ein Ende, auch der längste und der langweiligste Abend. Endlich war der Teig fertig und der Vater wieder nach Hause gekommen, endlich das Licht ausgelöscht und in der anstoßenden Kammer die Eltern zur Ruhe gegangen. Nur noch wenige Worte wurden gewechselt, dann schliefen die arbeitsmüden Menschen, dann regte sich im ganzen kleinen Räume kein Laut mehr. Robert konnte geräuschlos aus dem Bett und in die Kleider schlüpfen.
Seine Stiefeln behielt er in der Hand. Nur noch geschwinde wieder den Keller aufgesucht – heute schon viel gleichgültiger als gestern – dann zog er den Riegel von der Hoftür. Auf seinen Wangen brannte das Rot der Furcht und der Beschämung. Sollte er wirklich fortgehen, die ahnungslosen schlafenden Eltern keck betrügen, ihr Hab und Gut preisgeben, ihr Verbot übertreten? – Noch auf der Schwelle zögerte er. »Kein guter Sohn tut das!«, flüsterte die Stimme des Gewissens.
Ja, aber wie wird Georg lachen, wie wird er mich morgen verspotten, dachte der Knabe. Ich hör's schon, dass er sich lustig macht. »Bist kein Kerl, du kleiner Schneider, hast keinen Mut. Geh, nähe zahme Stiche und lass dir von den Alten die Lehren der Weisheit und Tugend vorpredigen, bis du ganz dumm geworden bist. Die Schafsköpfe leben am längsten.«
Er murmelte eine Entschuldigung, als stände Georg mit seinem mageren, blassen Gesicht und dem höhnischen Blick im Mondlicht unmittelbar vor ihm. Nein, nein, so feige und unzuverlässig konnte er sich nicht zeigen. Hingehen musste er.
Mit drei Sätzen war die Hecke des Nachbargartens überklettert, Flaschen und Mundvorrat hindurchgeschoben, und nun ging's in eiligem Laufe weiter. Der schlurfende Schritt des einzigen alten Nachtwächters, sein Stolpern über das schlechte, unebene Pflaster waren schon von Weitem zu hören – er konnte einer Begegnung leicht ausweichen. In weniger als einer Viertelstunde hatte er die Gruppe hoher alter Linden erreicht, unter deren Schatten der Eingang zum Garten des Müllers sich befand.
Georg trat ihm plötzlich von der Seite entgegen, sodass er erschrak.
»Ach – du bist's«, flüsterte er. »Ich dachte schon der Müller –«
»Passte hier auf, um mich gottlosen Sünder ans Messer zu liefern, nicht wahr?«, lachte der Seiler. »Bist du aber ein Hasenfuß, Prinz vom Bügeleisen. Na, komm nur; im Garten ist niemand, ich habe ihn schon ausgekundschaftet.«
Die beiden durchschritten den langen Kiesgang und kamen an ein kleines chinesisches Gartenhaus, dessen Tür verschlossen war. Robert wandte sich bedauernd zu seinem Gefährten. »Was nun?«, fragte er.
Der Seiler suchte in allen Taschen. »Wirst's gleich sehen«, versetzte er. »So musst du die Sache anfassen! – Das ist keine Hexerei.«
Er hatte ohne viele Mühe das Schloss geöffnet, noch ehe Robert eine Einwendung erheben konnte. Mit pochendem Herzen folgte ihm dieser in den kleinen offenen Raum, an dessen Treppe das Segelboot auf dem Wasser lag. Heller Mondschein überflutete den breiten Teich und seine hübschen, von grünen Wiesen umrahmten Ufer; weiße Schwäne segelten langsam vorüber.
Georg wandte sich blinzelnd zu seinem jüngeren Gefährten. »Wie angenehm ist es doch, ein reicher Mann zu sein, nicht wahr, Robert?«, fragte er. »Aber der Einfältige, der Schüchterne wird es nie im Leben. Sieh, wie oft hast du schon im Stillen die Söhne des Müllers um ihr hübsches Segelboot beneidet, aber hingehen und dir's nehmen, das wagtest du nicht. Jetzt fahren wir und kehren uns nicht daran, wer das Ding bezahlte – so macht es der Kluge überall.«
»Aha, ein hübsches Fahrzeug«, fuhr er fort, »verteufelt nett. Alles so fein gemalt und sauber gehalten, man sollte meinen, dass es richtige Teerjacken wären, die es unter Händen haben. Wahrhaftig, auch ein Flaschenkorb! Prosit, Müller!«
Er trank ein paar Schluck von dem Branntwein, der sich vorfand, und öffnete dann das Schloss des kleinen Bootes, alles mit einer Sicherheit, als sei er der rechtmäßige Eigentümer dieser Dinge.
Robert folgte ihm, und dann stießen sie ab, nachdem der Seiler vorerst das aufgerollt Segel »gesetzt«, das heißt es an dem einzigen Mast des Fahrzeuges »aufgehisst« hatte. Er schien so recht in seinem Elemente zu sein; das Vergnügen lachte aus seinen Gesichtszügen.
»Schau her, Landratte«, rief er, »lerne ein Boot bedienen. Da oben sitzt die ›Rolle‹ oder ›Scheibe‹ und an dieser ist das Tau befestigt, worauf unser Großsegel ›fährt‹. Es heißt ›Fall‹, dies Stückchen Seilerarbeit, und der höchste Punkt des Mastes heißt ›Topp‹. Die Stange, welche in der oberen, dem Maste gegenüberstehenden Ecke des Segels in einer Tauöse, ›Kausche‹, befestigt ist, und welche unten am Mast in einem beweglichen Tauring steht, heißt das ›Spriet‹ und dient dazu, das Segel straff zu ziehen, damit es den Wind besser aufzufangen vermag. Hast du deinen Herrn und Meister begriffen, kleiner Gelbschnabel?«
Robert horchte fast andächtig. Sein Herz hüpfte vor Freude, wie man zu sagen pflegt. Unter sich den blauen Spiegel des Teiches und über sich das weiße bauschende Segel – er glaubte, dass es auf der Welt kein größeres Vergnügen geben könne. Vergessen war der Ungehorsam, das Verbrechen, fremder Leute Schlösser gewaltsam geöffnet zu haben und die Gefahr einer etwaigen Entdeckung. Robert empfand nur die Seligkeit, in einem wirklichen Schiff, wie er es nannte, fahren zu dürfen. Langsam glitt das Boot über die Wellen dahin.
»Du bist ja ganz stumm geworden«, lachte der Seiler. »Hast am Ende noch gar nie die Planken eines Schiffes betreten?«
»Ach«, seufzte Robert, »nie eins gesehen sogar.«
»Unmöglich! du bist doch gewiss oft in Hamburg gewesen?«
»Noch nie. Vater gibt keinen Pfennig unnötig aus.«
Georg zog verächtlich die Schultern empor. »Dein Alter ist ein Narr«, sagte er, »aber du bist ein dreifacher, mein Söhnchen. Pass nur auf, die Gelegenheit zu einem Abstecher nach Hamburg soll sehr bald kommen. – Hast du etwas zu leben mitgebracht?«
Robert reichte dem Freunde das Bier und die Speisen. »Sind alle Boote so eingerichtet wie dieses?«, fragte er. »Ach, das Segeln ist doch ganz etwas anderes als das Rudern.«
»Habe ich dir's nicht gleich gesagt, Däumling? Aber das Ei will immer klüger sein als die Henne. Was wirst du erst für Augen machen, wenn wir uns einmal auf einem Dampfer befinden.«
»Wie sind die eingerichtet?«, fragte begierig der Knabe.
Georg lachte laut. »Wie tief ist das Meer bei Grönland, mein Junge? Ebenso gut könnte ich das auf Stecknadelbreite angeben als ohne Weiteres beantworten, wie Dampfschiffe eingerichtet sind. Sehr verschieden, das ist vorerst alles, was du zu wissen brauchst. Immer langsam voran, dass der Pinneberger Schneider nachfolgen kann.
Wollen jetzt einmal bei den Booten stehen bleiben und ihre Unterschiede kennen lernen. Da gibt es zum Beispiel solche, welche kein Spriet haben, sondern an deren oberem Rande eine Stange befestigt ist, die man ›Rah‹ nennt. Die Leine heißt in diesem Fall ›Lissleine‹ und jedes Segel ist mit dicken Tauen umsäumt, hier ›Segellicke‹ genannt. So gibt es ein ›Oberlick‹, ›Unterlick‹, ›Meßlick‹ und ›Achterlick‹. Wo ihrer zweie eine Ecke bilden, ist eine eiserne oder messingene Kausche eingenäht.
Die untere Ecke am Mast heißt der ›Hals‹ des Segels, die andere, gegenüberstehende, die ›Schoote‹. Bei sehr großen Segeln werden in den Kauschen dieser Ecken Flaschenzüge, ›Blöcke‹ genannt, befestigt und Taue in dieselben hineingeleitet. Letztere heißen ›Läufer‹.
Die Blöcke sind entweder einscheibige, zwei- oder dreischeibige Flaschenzüge, je nachdem sie weniger oder mehr die Last vermindern oder die Zugkraft erhöhen sollen. Sie werden immer nur paarweise verwendet und heißen dann ›Taljen‹ – nach ihrer bestimmten Stelle ›Halstalje‹, ›Schootentalje‹ usw.«
»Mein Gott«, unterbrach der Knabe, als Georg einen Augenblick schwieg, »wie kannst du das alles im Kopfe behalten?«
Der Seiler zog aus der Brusttasche seiner Jacke eine kleine Flasche hervor und tat einen tüchtigen Zug. Dann reichte er Robert den Rest. »Trink's aus, mein Junge«, sagte er.
Unser Freund hielt verlegen das Fläschchen in der Hand. »Branntwein?«, fragte er.
»Natürlich, es ist kein Gift, du kleine Unschuld. Hast wohl gar noch niemals ein Paar Tropfen über die Zunge laufen lassen?«
Robert umging die Antwort, indem er das gebotene Getränk eilends verschluckte. Es schmeckte ihm schlecht, aber er fühlte sehr bald eine angenehme Wirkung, so etwas wie ein Wachsen und Dehnen aller Kräfte, eine Unternehmungslust, die ihn nie vorher in dem Maße beseelt hatte.
»Ich möchte, dass das Amerika wäre oder Afrika,«, sagte er, auf die bewaldeten Ufer deutend, »und dass dort Wilde hausten, die wir bekämpfen oder überlisten würden. Hast du wohl schon wirkliche Schwarze gesehen, Georg?«
»Gesehen?«, lachte dieser. »Das ist nicht schlecht, wahrhaftig. Ich bin dir über ein Jahr lang als Feuermann auf den Red-River-Dampfern gefahren, mit lauter Negern als Schiffsmannschaft.«
Roberts Augen glänzten. »Habt ihr da Abenteuer erlebt, du?«
»Mit den Schwarzen? Das sind urgemütliche Kerle, sage ich dir. Wenn ihre Arbeit getan ist, so balgen sie sich wie die Kinder und stoßen mit den eisenharten Köpfen zum Spaß wie die Ziegenböcke gegeneinander.
Einmal, als bei einer großen Überschwemmung alle Holzlager weggespült waren und auch in den durchnässten Wäldern kein brauchbares Feuerungsmaterial aufgetrieben werden konnte, nahmen wir zum Ersatz desselben die Fenzriegel (Staketpfähle) der Farmen, und unsere Neger mussten, so oft der Vorrat zur Neige ging, ans Land, um wieder Nachschub herbeizuschaffen. Das war überaus komisch.
Denke zum Beispiel, dass unser harmloses kleines Gehölz der Urwald wäre, von himmelhohen Stämmen gebildet, von Unterholz und Schlingpflanzen in eine grüne, unentwirrbare Wildnis verwandelt und von zahlreichen Tieren bevölkert. Affen und Papageien in den Wipfeln, zuweilen ein brauner Bär mit seiner Familie am Ufer, zuweilen ein schwerfälliger Alligator, der so schnell es ihm seine kurzen, unbehilflichen Beine erlauben, die Flucht ergreift; dazu alle Arten von kleineren Tierchen, alle möglichen Stimmen, alles erdenkliche Geräusch.
An passenden Stellen entzündeten wir riesige Feuer, um das Gesindel aus unserer Nähe zu vertreiben, und dann mussten die Neger in das Wasser hinein, an einzelnen Punkten sogar bis unter die Arme. Sie jauchzten dabei vor Vergnügen und trugen auf ihren Schultern größere Lasten, als sie ein Weißer auf ebener Erde fortbringen könnte.«
Robert legte den Arm über die Augen. Er weinte glühende Tränen.
»Erzähle mir lieber gar nichts mehr, Georg«, schluchzte er. »Solche Abenteuer möchte ich erleben, die ganze weite Welt sehen, namentlich wilde Tiere und wilde Menschen – aber ich soll ja ein Schneider werden, der nur an Sparpfennige denkt und der immer die langweiligen Stiche machen muss. Am liebsten möchte ich sterben, Georg.«
Der Seiler pfiff spöttisch durch die Zähne. »Dass du ein Narr wärest, Kamerad, dir den blassen Tod herbeizuwünschen. Lieber halte dich doch an das warme Leben und erobere es mit Gewalt, wenn andere dir's mit Gewalt aus den Händen reißen wollen.
In Hamburg gibt es Kapitäne genug, die einen solchen Jungen, wie du bist, an Bord nehmen, ohne viel nach Papieren oder der Erlaubnis des Herrn Vaters zu fragen. Weil sich so ein alter Schneidermeister in den Kopf gesetzt hat, dass sein Sohn notwendig auch mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sitzen und allerlei Flicken zusammenstoppeln müsse, darum ist die Welt noch nirgends mit Brettern vernagelt. Lass du mich nur machen.«
Robert fühlte sehr wohl, dass es unkindlich und unzart von ihm war, Reden, die seinen Vater beleidigten, mit anzuhören, aber er leugnete sich selbst diese Empfindung. Georg hatte ja recht, der Alte misshandelte sein eigenes Kind.
»Es sind schon viele Jungen auf- und davongegangen, weil es ihnen in der Heimat nicht mehr gefiel«, fuhr der Seiler fort. »Ich selbst hab's ja so gemacht!«
Robert fuhr auf. »Du?«, fragte er ganz erstaunt.
»Natürlich, ich und kein anderer. Meine Mutter war eine Milchhändlerin, die mich an jedem Morgen vor ihren Karren spannte, bis mir das Ding nicht mehr gefiel. Da ging ich durch die Lappen – wer wollte mir's verdenken? Zum Hund fühlte ich mich nicht geschaffen.«
Robert saß da mit heißer Stirn und unruhigen Gedanken. Seine Blicke schweiften sehnsüchtig über das Wasser und den dunklen Wald dahin; es war ihm, als ob aus dem wehenden Schilf und dem Dickicht zu seiner Linken leise, flüsternde Stimmen ihn lockten. »Weiter, weiter hinaus in die schöne freie Welt, in die Ferne, wo sich Wunder vollziehen, während hier alles im Schneckengang kriecht und ohne Abwechselung langweilig dahinschleppt.«
»Lass uns umbiegen, Georg«, seufzte er, »wieder unter der Eisenbahnbrücke dahinfahren und dann die Ufer links vom Mühlteich berühren. Da sind kleine Inseln, wo wir Schuljungen oft Krieg spielten und denen wir Namen gaben. Ich war immer der König.«
Georg musterte die Umgebung. »Vor allen Dingen müssen sich Eure Majestät die Landratten-Bezeichnungen abgewöhnen«, versetzte er. »Vom Umbiegen weiß der Seemann nichts, und mit einem Segelboote so ohne Weiteres einen andern Kurs einschlagen, das kann er auch nicht.
Die verschiedenen Arten der Fortbewegung nennt man erstens, wie wir es bisher taten, ›vor dem Wind segeln‹, wenn dieser nämlich ganz von hinten, zweitens ›bei dem Winde‹, wenn dieser von der Seite weht, ›mit halbem Wind‹ oder ›Backstagswind‹, wenn er halb von hinten, halb von der Seite kommt, und ›kreuzen‹ oder ›lavieren‹, wenn er entgegenweht, wobei man sein Ziel natürlich auf geradem Wege nicht erreichen kann, sondern unter Beschreibung stumpfer oder mindestens doch rechter Winkel von einem Ufer zum andern fahren muss.
Bei dem Verfahren, welches du soeben in richtiger Fuhrmannssprache ›umbiegen‹ genannt, heißt es: ›Das Boot geht über Stag‹ oder ›wendet‹, und das Kommando lautet: ›Klar zum Wenden!‹ dann, wenn alle Schoten bedient sind: ›Wenden!‹«
Er hatte während dieser Auseinandersetzung die erforderlichen Handgriffe kunstgerecht ausgeführt, und jetzt tanzte das schlanke Fahrzeug wie ein Schwan auf den Fluten.
Robert verfolgte mit fast zärtlichen Blicken jede Bewegung seines Freundes. »Wie heißt diese Stange mit den beiden Eisenringen, Georg?«, fragte er.
»Das Bugspriet, mein Junge. Das Segel, welches zuweilen an demselben befestigt wird, ist dreieckig, während unser Großsegel viereckig ist. Das Erstere nennt man ›Klüver‹, dessen untere Ecke, der Hals, ist auf dem Bugspriet befestigt, und die obere Ecke enthält das ›Fall‹«.
Robert beobachtete sorgfältig die veränderte Stellung des Segels. »Georg«, rief er, »jetzt fahren wir ›bei dem Wind‹, nicht wahr?«
»All right, Sir«, lachte der Seiler. »Wahrhaftig, du bist zum Seemann geboren. Gib doch noch einmal die Flasche da aus dem Kasten herüber. Der Müller wird ja nicht arm werden, wenn ich in seinem Kognak dein Wohl trinke.«
Robert gehorchte widerstrebend, nur um in seines Freundes Augen als ein ganzer Mann dazustehen. Georg machte sich ja aus solchen Kleinigkeiten nichts, also durfte er nicht weniger mutig erscheinen als dieser.
Der Seiler hielt die Flasche gegen das Licht. »Wird gar nicht bemerkt«, sagte er, »und darauf kommt im Leben alles an. Auf die Kapitänsepauletten für dich, Kleiner.«
Robert verbarg aufatmend die Flasche, nachdem der andere getrunken. Obwohl niemand zugegen war, so schien es ihm doch, als sähen tausend Augen den Diebstahl.
Jetzt hatte das Boot den eigentlichen Mühlenteich wieder erreicht, und Georg hielt sich links, wo verschiedene kleine Inseln, grünen Punkten gleich, im ruhigen Wasser lagen.
Durch alle diese einzelnen Arme des Teiches kreuzte und schwamm das Fahrzeug wie ein leichter Vogel, während der Seiler fortwährend von seinen Reisen erzählte und den lauschenden Knaben so gut zu fesseln wusste, dass dieser tief seufzte, als der Garten des Müllers wieder erreicht war.
»Du fährst noch manches Mal mit mir, nicht wahr, Georg?«, fragte er.
»So oft du willst, mein Junge. Bin ja selbst eine ebenso eingefleischte Amphibie wie du. Aber für heute müssen wir es genug sein lassen, glaube ich. Mitternacht ist vorüber, und bald wird's heller Tag werden.«
Die beiden brachten nun das Segel wieder in seine vorige Lage, schlossen das Boot an den Eisenring der Treppe und versperrten auch die vordere Tür. Dann schlichen sie durch den Garten auf die Straße hinaus.
»Geh du allein«, flüsterte Georg, »und ich auch. Wenn dann einer gesehen wird, so ist doch wenigstens der andere geborgen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht!«, gab Robert zurück. »Und tausend Dank, Georg.«
»Hat nichts zu sagen«, lachte dieser. »Aber du, hör doch, wenn einmal deine Alte ein bisschen zu essen im Küchenschranke hat, dann denk an mich. Was Warmes bekomme ich nie.«
Robert stand vor Erstaunen still. »Nie ein Mittagsessen?«, wiederholte er. »Aber du verdienst ja doch wöchentlich dein bestimmtes Geld.«
Der andere zuckte die Achseln, »Fürs Verhungern zu viel und fürs Sattessen zu wenig«, antwortete er. »Ich bin ja noch ein Anfänger bei dem edlen Krebshandwerk, musst du wissen. Es tut eben alles der gebrochene Fuß, sonst wäre ich längst Steuermann.«
»Du Armer!«, rief gerührt der Knabe. »Ich will gewiss für dich tun, was ich kann und werde dir auch in Zukunft deine Kleider sticken. Der ›Schneider‹ soll doch zu etwas nützen.«
»Es tranken ihrer neunzig und neunmalhundert neunundneunzig aus einem Fingerhut!«, summte Georg, und dann winkte er im Halbdunkel der Linden noch einen lachenden Abschiedsgruß.
Robert war jetzt allein. Schnell die Flaschen aufgerafft, einen letzten Blick zum Teich hinüber, eine Rundschau, ob auch alles im tiefen Schlafe liege, und nun Fersengeld gegeben. Husch, husch, über den Bahnkörper, vorbei am hohen alten Gefängnis, auf leichten Sohlen durch die Straße, an deren fernem Ende erst der Nachtwächter daherklapperte, und dann in des Seilers Garten gekrochen.
Gottlob, gottlob, nichts regte sich. Jetzt stand er auf dem Hofplatz seines elterlichen Hauses und probierte die Tür – sie war offen. Pikas, der Spitz, kroch ihm wedelnd entgegen, alles atmete so tiefen Frieden, war so ganz ungestört, ganz wie immer, dass es dem Knaben mit jeder Minute leichter ums Herz wurde. Er warf Stiefel, Mütze und Jacke von sich, dann schlich er an die angelehnte Tür zur Schlafkammer seiner Eltern und sah hinein. Die beiden alten Leute schliefen fest.
Robert lächelte, als er jetzt den Riegel der Hoftür vorlegte. Welche unnötigen Sorgen hatte er sich gemacht, wie viele »Wenn« und »Aber« in seinem Kopfe herumgewälzt, bevor er es zum ersten Mal wagte, wie ein freier selbstständiger Mensch nach Belieben zu kommen und zu gehen.
Georg verspottete ihn wirklich nicht mit Unrecht, das begriff er erst in diesem Augenblick, aber mit gleicher Sicherheit beschloss er auch, dass das fernerhin nicht mehr so bleiben dürfe.
»Ich will kein ›Mucker‹ werden, wie Georg sagt, keiner, der Branntwein und Zigarren nur dem Namen nach kennt. Andere Lehrjungen haben auch ihre freien Stunden; ich nehme also nur, was mir als mein gutes Recht zusteht.«
Er kroch in sein Bett und träumte in verworrenem Durcheinander von Segeln und Booten, von erbrochenen Schlössern und leeren Flaschen.
Am folgenden Morgen hatte er zwar so eine Art von unheimlichem Gefühl, als müsste das Geheimnis der Nacht auf seiner Stirn zu lesen sein, aber das verzog sich auch bald wieder. Robert sollte es erfahren, dass der erste Schritt auf dem Wege des Unrechtes zu immer weiterem Fortgehen zwingt und dass man nicht stillstehen kann, ohne zu fallen, wenn die Bahn einmal schlüpfrig geworden ist.
Gegen Mittag schaute Georg verstohlen durch die Lücke im Zaun. »Hast du etwas zu essen, mein Kleiner?«
Robert schob hindurch, was er unbemerkt beiseite hatte bringen können, und so ging es fort während der folgenden Tage. Er bestahl seine Mutter, um sich die Freundschaft des ehemaligen Matrosen zu erhalten und um namentlich mit demselben bei jedem günstigen Wetter auf dem Wasser zu fahren. Der Gedanke, dass das Boot dem Müller gehörte, dass die Benutzung desselben ein Unrecht sei – war längst vergessen.
Die beiden Kameraden sprachen nur noch darüber, wie es einzurichten sei, hinter dem Rücken des alten Schneiders einen Abstecher nach Hamburg machen zu können. Robert brannte vor Begierde, wirkliche Schiffe und Schiffswerften zu sehen. »Wenn ich nur Geld hätte!«, seufzte er.
Der Seiler schien diesen Ausruf erwartet zu haben. »Besitzst du keinen ›Spartopf‹, Kleiner?«, fragte er. »Alle wohlerzogenen Kinder führen einen solchen.«
Dieser Ton reizte jedes Mal den ganzen Trotz des Knaben, Er wollte nicht wie ein kleines Kind behandelt sein.
»Ich habe Geld«, antwortete er, »aber den Schlüssel zum Spartopf gibt mir der Vater nicht. An jedem Weihnachten wird der Inhalt auf die Sparkasse getragen und für mich angelegt.«
Georg lachte. »Dass dich!«, rief er. »Also bist du ein reicher Mann trotz Rothschild. Weißt du aber, dass ich es von deinem Alten mindestens sonderbar finde, dir die Verfügung über dein Eigentum zu entziehen? Ich wenigstens ließe es mir nicht gefallen.«
Robert errötete. »Aber was soll ich dabei tun?«, fragte er kleinlaut.
»Hm, Notwehr ist erlaubt. Hat er deine Sparbüchse, so halte du dich an seinen Geldkasten. Wo er steckt, das wirst du ja wissen.«
Roberts Herz pochte schneller. »Freilich weiß ich das«, antwortete er, »aber –«
»Nun, und das kleine Instrument, welches über eigensinnige Schlösser hinweghilft, kennst du ja, Freund. Hier ist's.«
Robert wehrte mit erhobenen Händen. »Du«, stammelte er, »das kann ich doch nicht tun. Es ist ja des Vaters Geld, und nähme ich's, so wäre es gestohlen.«
Der Seiler steckte gelassen den Dietrich wieder in die Tasche. »Bleib bei deinen Ansichten, Kleiner«, sagte er, »ich habe nichts dagegen. Aber sag doch einmal, für wen spart und geizt denn eigentlich dein Alter? Wem wird künftig alles gehören, was er zusammenstichelt?«
Robert machte bei dieser Frage seines Freundes ein sehr vergnügliches Gesicht. »Mir natürlich«, antwortete er. »Ich bin ja das einzige Kind meiner Eltern,«
Georg nickte leicht. »Siehst du«, sagte er, »es ist alles dein rechtmäßiges Eigentum, aber trotzdem bist du zu verschüchtert, noch zu sehr unmündiges Kind, um dir darauf den richtigen Vers machen zu können. Du lässt dich willig knechten, es ist einmal deine Natur so.«
Und nachdem er achselzuckend das gesagt hatte, sprach er von etwas anderem, um den Stachel in der Wunde fortwühlen zu lassen. Er wusste, dass Robert an seiner empfindlichsten Stelle getroffen worden war.
Wirklich vergingen auch nur wenige Tage, bis der Sohn des alten Schneiders auf allerlei Umwegen wieder zu dem Geldkasten seines Vaters zurückkehrte.
»Höre mal, du, sollte es keine so große Sünde sein, wenn ich's täte?«
Der Seiler sah ihn mit dem unschuldigsten Gesichte an. »Was, mein Bürschchen?«
Robert wandte sich errötend ab. »Nun, du weißt doch – mit dem Gelde!«, stammelte er.
»Ach! – Das hatte ich längst vergessen. Du meintest ja, es sei ein Diebstahl, also tu's um des Himmels willen nicht.«
Robert zerzupfte unmutig die Halme, auf welchen er lag. »Aber man kann doch davon sprechen«, versetzte er. »Du sagtest, es sei mein gutes Recht, aus dem Geldkasten des Vaters das herauszunehmen, was er mir vorenthält, indem ich nie zu dem Inhalt der Sparbüchse gelangen kann. Glaubst du das wirklich, Georg, oder hast du es nur so hingeworfen?«
Der Seiler lächelte. »Kleine Unschuld«, versetzte er halb spöttisch, »das ist eine komische Frage – ob dein Eigentum in der Tat dein Eigentum ist. Sechs oder acht Taler wirst du wohl im Spartopf haben, und über die musst du allezeit frei verfügen können, denke ich. Ob es nun gerade dieselben Münzen find oder andere, was verschlägt das? Es handelt sich ja um den Wert, nicht um das Geldstück; und mehr als jene acht Taler brauchst du ja immerhin nicht aus dem Kasten zu nehmen.«
Robert warf stolz den Kopf zurück. »Oho, du – so etwa sechsundzwanzig habe ich ganz gewiss drin« sagte er. »Ich bekomme immer das neue, blanke Geld, was sich hier und da vorfindet, außerdem zum Geburtstag, und wenn ich den herrschaftlichen Kunden das Zeug bringe, auch wohl hier und da ein Trinkgeld. Das wandert alles in die Sparbüchse.«
»Ha, ha, ha«, lachte der Seiler, »und mittlerweile hast du keinen Pfennig, über den dir das Verfügungsrecht zustände. Weshalb, in des Himmels Namen, lieferst du denn die Trinkgelder an den Alten ab, du dummer Geselle?«
Robert stutzte. Er hatte immer gefühlt und angenommen, dass das so sein müsse, sich aber über das »Warum« nie Rechenschaft abgelegt. Jetzt, unter dem Einfluss von Georgs Blicken, hielt er sein früheres kindliches Betragen für albern.
»Du hast recht!«, sagte er zögernd. »Wahrhaftig, ich glaube, dass es kein so großes Verbrechen wäre, aus dem Geldkasten einige Taler herauszunehmen. Wir brauchen ja nur wenig.«
Der Seiler zog die Stirn in krause Falten. »Hm«, machte er, »wie man's nehmen will. Die Groschen fliegen nur so, kann ich dir sagen.«
»So lass uns denn einen ganzen Taler verbrauchen!«, rief ungestüm der Knabe.
»Einen? – Unter fünf ist nicht daran zu denken.«
Robert erschrak, aber das Verlangen, die Elbe und wirkliche Schiffe zu sehen, ließ sich nicht mehr unterdrücken.
»So nehme ich fünf«, entschied er nach kurzem Bedenken. »Aber wie fangen wir es denn überhaupt an, unbemerkt von hier fortzukommen?«
»Das ist kinderleicht, mein guter Junge. Dein Vater reist in ein paar Tagen zum Elmshörner Jahrmarkt, um dort seinen Bruder zu treffen, der mit Schusterwaren aus dem Oldenburgischen herüberkommt. Ist er erst einmal fort, so haben wir freie Hand. Deine Mutter verrät nichts.«
Roberts Augen leuchteten. »Wie du dir alles ausdenken kannst«, rief er. »Das wäre mir, glaube ich, gar nicht eingefallen.«
»Weil du dir die strenge Herrschaft deines Alten so gutmütig gefallen lässt, Junge. Einen eigenen Willen kennst du ja im Grunde nicht einmal.«
Robert wechselte schnell den Gegenstand des Gespräches. »Du, wollen wir nach Hamburg fahren oder zu Fuß gehen?«, fragte er.
»Natürlich fahren. Der Böse hole ein Vergnügen, wobei man sich müde und lahm laufen muss. Überdies hätte ich dazu keine Stiefel. Ach, es ist ein jämmerliches Leben so auf dem Trocknen, wo man bald dieses und bald jenes Kleidungsstück anschaffen muss – mit leeren Händen natürlich. An Bord braucht der Seemann das blaue Wollenzeug und ein wenig Leinenwäsche, damit Punktum.«
Robert sah mitleidig auf das blasse, kränkliche Gesicht seines Freundes und auf die zerfetzten Schuhe, welche derselbe trug. »Ob ich fünf Taler aus dem Kasten nehme oder acht«, dachte er, »das bleibt sich im Grunde ganz gleich. Zurückerstatten werde ich dem Vater alles und zwar von meinen Trinkgeldern. Georg hat ganz recht – ich bin früher ein dummer Junge gewesen.«
Er sprach nicht weiter von der Sache, aber er beschloss, für seinen Freund ein Paar neue Stiefel zu kaufen, und fühlte sich in diesem Gedanken ganz glücklich. Georg war ja doch, wie er glaubte, der einzige Mensch, welcher es wirklich gut mit ihm meinte.
»Du verrätst aber nichts!«, bat er ihn, »darauf muss ich mich verlassen können.«
»Wie auf das Amen in der Kirche!«, nickte Georg. »Obwohl die Geschichte gar nichts auf sich hat. Ich sollte nur in deiner Stelle sein, Wetter noch einmal, der Alte würde Mores lernen. Kein Meister darf seinen Lehrjungen prügeln, also auch deiner nicht!«
Robert errötete. »Aber er ist ja mein Vater, Georg, nicht allein mein Meister!«
»Das ist gleichviel. Du bist konfirmiert und in der Lehre, gerade so gut wie irgendein anderer. Er kann dich ja nur fortschicken, sich von dir lossagen, Besseres verlangst du nicht, glaube ich.«
Robert seufzte tief. »Ach, wenn er das tun wollte!«
»Siehst du, Kleiner! Lass dir alle Gewissensbisse vergehen, sie sind wirklich unnötig. Nähe und stopfe mit wahrer Andacht, bis der Alte nach Elmshorn unter Segel geht, sei recht freundlich und gehorsam, damit er keinen Verdacht fasst, und wir werden einen angenehmen Tag verleben, das verspreche ich dir. Du sollst es nicht bereuen, ein paar Taler geopfert zu haben.«
»Wann ist Elmshörner Markt?«, fragte begierig der Knabe.
»Nächsten Mittwoch. Ich weiß, dass dein Alter am Dienstag abreist und am Donnerstag zurückkommt, also haben wir den ganzen Mittwoch für uns.«
»Noch vier Tage!«, seufzte Robert. »Ach, wäre es erst so weit.«
»Das kommt alles, eines nach dem anderen«, tröstete Georg. »Bleib du nur recht fleißig, und lass uns lieber während der ganzen Zeit nicht mehr miteinander sprechen, außer wenn du mir mittags ein paar Bissen durch den Zaun schiebst. Dann fährt der Alte ab und hält das heilige Grab für wohl verwahrt, indes wir uns gütlich tun. Gar zu gestrenge Herren werden betrogen, das ist der Welt Lauf.«
Robert sah ein, dass sein geschmeidiger Freund einen klugen Rat gegeben hatte, und obgleich es ihm sehr schwer wurde, hielt er sich doch bis zur Abreise des Alten ganz von dem Seiler fern und arbeitete auch tapfer darauf los, sodass ihn der Vater sogar lobte, was selten oder nie geschah.
»Bist doch richtiges Schneiderblut!«, murmelte er, mit innigem Vergnügen eine Naht betrachtend, welche sein Sohn und Lehrjunge soeben vollendet hatte, »kannst es noch weit bringen in der Welt, wenn du nur keine Raupen im Kopfe duldest. Vielleicht erleb ich's ja gar, dass der Herr Branddirektor oder der Herr Bürgermeister, Gestrengen, bei dir ihre neuen Kleider bestellen, und das wäre eine Auszeichnung, welcher die Krolls bis jetzt nicht würdig befunden worden.
Vor allen Dingen lass dich nur nie verleiten, irgendeinem Verein beizutreten oder gar das neuerfundene Ding, die Nähmaschine, im Hause zu dulden. Als ob der liebe Herrgott an den zwei Händen nicht ›Maschine‹ genug geschenkt hätte, wenn einer sie nur richtig brauchen will. All solcher moderner Firlefanz und Dudeldum ist mir ein Gräuel, hat auch nie zum Segen geführt, das weiß ich gewiss. Wie es mein Großvater und mein Vater gemacht haben, so mache ich's wieder und damit basta,«
Der brave alte Mann sah nicht, wie sein Sohn errötete, als er ihn lobte. Robert fühlte jedes Wort gleich einer Beschämung, einem bitteren Vorwurf. Er war fast im Begriff, dem Vater um den Hals zu fallen, ihm alles zu gestehen und ihn um Gotteswillen zu bitten »Vergib mir!« – aber dann musste er ja zugleich den Freund verraten und musste den Ausflug nach Hamburg aufgeben!
Nein, nein, das konnte er nicht. Die weichere Regung, das letzte Mahnen seines guten Engels wurde gewaltsam erstickt, und der Alte traf alle Vorbereitungen zur Abreise, ohne zu ahnen, welche Pläne sein Sohn im Kopfe wälzte. Er bestellte und ordnete alles, wie wenn er mindestens ein Jahr lang ausbleiben wolle. »Mutter, vergiss das nicht, Mutter, behalte, was ich sage, und Mutter, hier auf diesen Kasten gib Acht, du weißt, was darin steckt!«, so klang es den ganzen Tag. Der Vater verdarb sich selbst die Freude der kleinen Reise, weil er Berge von Sorgen vorsätzlich erschaffte und alles von der schwersten Seite ansah.
Robert hätte lachen mögen, als er den dicken Winterrock und das ungeheure Bündel sah, welches der Alte für die beiden Tage im schönsten Oktoberwetter mit sich herumschleppte. Er dachte an die Spottlieder seines Freundes und errötete für seinen Vater. Nein, unmöglich konnte er das Leben so auffassen, wie es dieser tat; er wollte frei sein und genießen, aber nicht wie ein Sklave an der Kette nur immer gewisse vorsichtige Schritte gehn und einmal sterben, ohne je gelebt zu haben.
Endlich war der Alte nach Gott weiß wie vielen Ermahnungen und dreimaligem Umkehren glücklich zum Bahnhof gelangt, und Robert sah mit erleichtertem Herzen dem Zuge nach, wie er am Mühlenteich vorüber ins Weite dampfte.
Der Vater hatte davon keinen Genuss, weil er, anstatt sich der selten vergönnten Muße zu freuen, vielmehr seiner ganzen Natur nach die schwärzesten Bilder entwerfen und die schlimmsten Möglichkeiten als wahrscheinlich ansehen würde. Ob Mutter auch die Schweine gehörig versorgen, ob der Junge keinen Unfug machen, und ob das Haus nicht niederbrennen wird! – Man hat es zwar versichert, aber die Police könnte doch auch in den Flammen verloren gehen, und dann gäbe es ungeheure Weitläufigkeiten!
Robert hüpfte durch das Gehölz nach Haufe. Mochte sich sein Vater mit Grillen plagen so viel er wollte, das konnte ihn selbst nicht hindern, das eigene Schicksal nach Belieben einzurichten. Er wusste gewiss, mit welchem Entzücken er morgen nach der anderen Seite davon fahren würde.
Ach, hätte doch Georg zu Fuß gehen wollen, dann brauchte man nicht bis um halb neun Uhr früh zu warten, sondern konnte um fünf schon unterwegs sein. Aber das ließ sich nun nicht mehr ändern, und die Hauptsache musste überhaupt erst getan werden, bevor der ganze Plan einen sichern Boden besaß. Noch steckte das Geld im wohlverschlossenen Kasten.
Robert besah pochenden Herzens den kleinen Dietrich, welchen ihm Georg neulich ohne weitere Bemerkungen überreicht hatte. Ein Ruck und jeder Widerstand war besiegt.
»Mein ist alles«, dachte der verführte Knabe, »ich nehme nur, was mir gehört.«
Er wartete, bis die Mutter in den Stall hinausging, um die Kuh zu melken. Dann öffnete er mit schnellem Griff den altmodischen Eckschrank, welcher des Vaters Blechkasten mit Geld und Papieren enthielt. Jetzt nur noch der letzte Schritt – dann war die Reise gesichert.
Er schlich zum Küchenfenster und blickte, vorsichtig hinter dem Vorhang versteckt, hinaus in den offenen Stall. Die Mutter begann erst ihr Geschäft, nachdem sie das wohlgepflegte Tier mit frischem Futter versorgt hatte; sie rückte gerade jetzt den kleinen, kreiselförmigen Bock zurecht. Warum hätte sie sich auch beeilen, wie hätte sie denken sollen, dass ihr einziges Kind im Begriff war, mit dem Diebsinstrument die Kasse des Vaters zu erbrechen!
Durch den Zaun sah im letzten Tagesschimmer das blasse Gesicht des Seilers. Georg winkte leicht mit der Rechten.
Robert nickte heiß errötend. Es war ihm, als sähe der andere sein Zaudern. Schnell entschlossen eilte er in das Wohnzimmer, öffnete den Kasten und griff hinein. Seine Sparbüchse stand auch darin – wie schwer fühlte sie sich an! – aber das war zu weitläufig, er hatte keine Zeit zu verlieren. »Ob ich diese Taler nehme oder jene«, dachte er, »das ist ja gleichviel.« Eins – zwei – drei –
Die Münzen klirrten in seiner zitternden Hand, er gab daher das Zählen auf und griff nur noch einmal hinein, dann schloss er den Kasten. Das Geraubte war schnell in der Tasche verborgen worden.
Robert hatte nur halbes Bewusstsein; er handelte wie im Traum ohne viel zu überlegen. Pfeifend schlenderte er in den Hof, wo immer noch der Seiler am Zaune stand, und winkte hinüber. »Komm!«, flüsterte er.
Georg verschwand und erschien in der nächsten Minute an einer Lücke hinter dem Hühnerstall. »Schnell,« raunte Robert, ihm die gestohlenen Taler zusteckend, »da verbirg es, bei mir könnte es gefunden werden.«
Der Seiler versteckte mit der größten Geschwindigkeit, was ihm sein junger Freund darbot. »Wie viel ist es?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht, aber genug wird's sein, auch zu Stiefeln für dich. Kaufe dir welche und komme später wieder hierher.«
Der Seiler nickte nur, dann verschwand er geräuschlos, während Robert sich am Hühnerstall zu schaffen machte. Als nach einiger Zeit die Mutter zu ihm kam, erschreckte sie sein blasses Gesicht. »Fehlt dir etwas?«, war die bange Frage.
Robert wusste kaum, was er antwortete. »Ich habe Kopfschmerz«, sagte er.
»Nun, so leg dich ins Bett, Kind«, ermahnte die besorgte Frau. »Der Vater lässt dich zu viel sitzen«, fuhr sie fort, »du hast nicht Bewegung, nicht Luft genug.«
Robert ergriff begierig die gute Gelegenheit. »Das ist es ja gerade, Mutter«, schmeichelte er, »und darum fühle ich mich auch nicht mehr so wohl wie früher. Ach, wenn du mir einen rechten Gefallen tun wolltest –«
Er zögerte absichtlich und sah nur mit seinen fieberhaft glänzenden Augen in das Gesicht der Mutter. »Aber du erlaubst es doch nicht«, fügte er bei.
»Nun«, lächelte die alte Frau, »erst lass einmal hören, was du auf dem Herzen hast.«
»Nur ganz wenig«, bat der Knabe, »einen einzigen freien Tag – morgen. Was mir der Vater zu tun hingelegt hat, das mache ich fertig, du kannst es mir glauben.«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Wieder den ganzen Tag auf dem Wasser liegen, nicht wahr? Das geht nimmer, Junge. Was sollte ich dem Vater sagen, wenn ein Unglück geschähe?«
»Ich denke nicht an den Mühlenteich«, rief hastig der Knabe. »Nur ein bisschen herumstreifen wollte ich, weiter nichts.«
»Auch nicht den Kahn des Holzhändlers besteigen?«, forschte die Mutter.
»Ganz gewiss nicht.«
»Nun, dann lauf. Musst aber vor Nacht zurück sein, das sage ich dir.«
Wer war froher als Robert? Kaum ließ er sich Zeit, dem Seiler noch durch die Hecke ein paar Worte zuzuflüstern, dann ging es an die Vorbereitungen zur Reise. Die Stiefel blank gebürstet, den Konfirmationsanzug von jedem Stäubchen gesäubert und das weißeste Hemde hervorgesucht – auch das Taschentuch durfte nicht vergessen werden.
Aber einen Stich durchs Herz gab es ihm doch, als er die Mutter an dem geringen Wirtschaftsgelde zählen und rechnen sah, bis sie ihm endlich vier Groschen in die Hand drückte.
»Da, nimm's hin, mein Junge«, sagte sie gutmütig lächelnd, »und kaufe dir einen guten Bissen dafür. Ich komme schon zurecht, bis der Vater wieder hier ist.«
Robert wurde dunkelrot vor Scham, dennoch aber drängte es ihn unwiderstehlich, gerade jetzt von dem Geldkasten des Vaters zu sprechen. Er wusste nicht weshalb, aber er musste es tun.
»Du hast ja die ganze Kasse zu Gebote«, sagte er mit möglichst sorglosem Tone, »wie könntest du also in Verlegenheit kommen, Mutter?«
Die alte Frau nahm ihre Brille ab und sah ihn voll Erstaunen an. »Du meinst das Geld des Vaters, Robert? – Wie dürfte ich das ohne seine Einwilligung berühren!«
»O«, murmelte etwas fassungslos der Knabe, »warum denn nicht? Was dem Vater gehört, das ist ja auch dein Eigentum, Mutter.«
»Freilich«, nickte die Alte, »aber Vater ist doch der Herr im Hause, und was er mir anvertraut, das muss ich heilig halten. Billige Wünsche versagt er mir nie.«
Robert seufzte. »Mir versagt er alle, Mutter. Ich wollte, dass mit ihm so gut umzugehen wäre wie mit dir, dann –«
Er stockte. Das, was er im Begriff war, hinzuzufügen, durfte ja niemand wissen, aber er gab seiner Mutter einen herzhaften Kuss und schlich sich dann zu Bette um heimlich zu weinen. Er wusste selbst nicht weshalb, aber die Tränen kamen so von ungefähr, und das Vergnügen des andern Tages schien ihm, nun er dicht davor stand, nicht mehr halb so verlockend wie früher.
Am andern Morgen gingen er und Georg in aller Frühe fort, um erst auf der nächsten Station, dem benachbarten Testorf, den Eisenbahnzug zu besteigen. Da war denn freilich im hellen Sonnenlicht und während der Fahrt nach Altona aller Kleinmut des vergangenen Abends total vergessen.
Robert hatte nie eine Reise gemacht, sich nie in einem Eisenbahnwagen befunden und überhaupt vom Leben noch nichts gesehen als nur das kleine Pinneberg; er war daher vor Entzücken ganz außer sich. Seine Fragen nahmen kein Ende, besonders als man sich der Stadt näherte. Er wollte alles sehen, alles wissen.
»Du, Georg, wo ist denn hier die Elbe? Wo sind die Schiffe?«, fragte er.
Der Seiler zog den Geschwätzigen so schnell wie möglich in die nächste Straße hinein. »Erst will ich mir einmal Stiefel kaufen«, antwortete er. »Und höre, Junge, du darfst hier nicht so laut sprechen, alle Menschen sehen nach dir.«
Robert stolperte jeden Augenblick über seine eigenen Füße. Er konnte sich an all dem Ungewohnten, Großartigen gar nicht satt sehen. Jeder Omnibus, jedes Schaufenster erregte seine Neugier im höchsten Maße.
Als Georg die neuen Stiefel gekauft hatte, ging es hinab zur Hafengegend. Der Seiler spielte immer den Kassenmeister. »Du, es waren im ganzen neun Taler«, sagte er mit einem prüfenden Blick auf Roberts glühendes Gesicht, »kannst du dich dessen erinnern?«
Der Knabe schüttelte den Kopf. »Das ist ja gleichgültig, Georg«, antwortete er, »wenn nur genug übrig bleibt, um uns für diesen Tag zu sättigen. Ach – da sehe ich die Elbe!«
Georg nickte. »Wir haben Glück, mein Junge. Gestern ist das preußische Kanonenboot ›Blitz‹ bei Neumühlen vor Anker gegangen – dahin wollen wir zuerst.«
Robert jubelte laut. »Der ›Blitz‹ – ach Georg, der ›Blitz‹!, welcher damals bei der Insel Föhr den Dänen die ganze kleine Flottille wegnahm, an dessen Bord sich Kapitän Hammer als Gefangener stellte? Und dieses Schiff sollen wir besehen dürfen? Unmöglich.«
Georg lachte. »Er ist derselbe ›Blitz‹«, sagte er, »und wir werden an Bord gelangen, verlass dich darauf. Das Ding ist sehenswert.«
Robert antwortete nicht mehr, aber er hatte die größte Lust, in den belebten Straßen der Hafengegend einen echt dörflichen Trab anzuschlagen, um nur desto eher das Wasser zu erreichen.
Der Seiler hielt ihn lachend am Arm. »Du, du, wir müssen uns vorerst einen Mann von der Besatzung des Kanonenbootes aufpicken«, sagte er. »So ohne Weiteres an Bord kommen, das geht nicht.«
Robert stand vor Schreck plötzlich still. »Aber wenn wir keinen finden, Georg!«
»Ach, dummes Zeug! Was keinen Dienst hat, das nimmt Urlaub und besieht sich die Stadt«, sagte er. »Hab's ja selbst überall so gemacht.«
Die beiden wanderten weiter, und wirklich sollte sich Georgs Prophezeiung schon sehr bald erfüllen. Vor der offenen Tür eines Wirtshauses mit dem Schilde »Zur Seemannsheimat« saßen zwei Matrosen in Marineuniform mit den blanken Knöpfen auf ihren blauen Jacken und den keck in den Nacken geschobenen Mützen, deren flatternde Seidenbänder die goldenen Buchstaben »Königliche Marine« trugen. Die viereckigen, weißumsäumten Kragen und der halbentblößte Hals dieser jungen Leute gefielen Robert ganz außerordentlich.
»Du«, flüsterte er, »du – was sind das für ein Paar?«
Der Seiler sah hinüber. »Aha, da wäre ja, was wir suchen«, rief er. »Komm, lass uns einstweilen Anker werfen; durstig bin ich auch schon.«
Er zog seinen jüngeren Gefährten mit sich in die offene Tür des Wirtshauses hinein und bestellte zwei Gläser Bier.
Es war dem Knaben wie ein Traum, besonders als ihn der Kellner mit »Herr« anredete. Er in einem Wirtshause – das schien ja unerhört.
Die Bekanntschaft mit den beiden Matrosen war bald gemacht, und einer derselben erklärte sich bereit, die neuen Freunde an Bord zu führen.
»Unser Leutnant ist auf Urlaub«, fügte er hinzu, »aber der Obersteuermann erlaubt schon, dass ich euch das Ding zeige. Die feine Welt von Hamburg-Altona kommt ja doch späterhin in Schwärmen an Bord, also warum solltet ihr's nicht tun?«
Er schob das Priemchen von einer Backe in die andere und musterte halb lachend unseren jungen Freund.