Robert Louis Stevenson, Gesammelte Werke - Robert Louis Stevenson - E-Book

Robert Louis Stevenson, Gesammelte Werke E-Book

Robert Louis Stevenson

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Beschreibung

Stevensons Abenteuerroman »Die Schatzinsel« um den jungen Schatzsucher Jim Hawkins und die schillernde Figur des Piraten Long John Silver gehört zu den meistgelesenen Werken der Weltliteratur. Mit der meisterhaften Kriminalerzählung »Dr. Jekyll und Mr Hyde«, die von der Persönlichkeitsspaltung des angesehenen Arztes Dr. Henry Jekyll erzählt, legt der schottische Schriftsteller den Grundstein für die moderne Horrorliteratur. Makaber, wendungsreich und unterhaltsam geht es in acht weiteren Erzählungen zu, die dieser große Band enthält, darunter »Ein Nachtquartier«, »Der Selbstmordklub«, »Die krumme Janet« und »Der Leichenräuber«.

  • Einzige Ausgabe mit Stevensons Erzählungen
  • »Ich werde mich stets des Vergnügens erinnern, mit welchem ich seine frühen Geschichten im Cornhill Magazine las, längst noch, ehe mir der Name des Autors ein Begriff war.« Sir Arthur Conan Doyle
  • »Glaub mir, Stevensons Father Damien-Brief tut in jeder einzelnen Minute mehr Wirkung – und das wird mit Sicherheit auch in Zukunft so bleiben – als alles, was ich je geschrieben habe und jemals schreiben werde.« Jack London
  • »Eine Erfindung allerersten Ranges.« Bertolt Brecht über den »Junker von Ballantrae«

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Seitenzahl: 963

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Robert Louis Stevenson

Gesammelte Werke

Übersetzt von Heinrich Conrad,Max Pannwitz und Marguerite Thesing

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2024 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Unbekannter Künstler, Portrait of Robert Louis Stevenson (1850-1894),Bridgeman Images / Giancarlo Costa

Umschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Bad Honnef

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-31429-3V002

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Eines Dichters Nachtquartier

Der Selbstmordklub

Die krumme Janet

Die Schatzinsel

Der Leichenräuber

Markheim

Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr Hyde

John Nicholson, der Pechvogel

Das Flaschenteufelchen

Die Stimmeninsel

Quellenverzeichnis

Eines Dichters Nachtquartier

Ein Erlebnis François Villons

Es war spät im November 1456. Der Schnee fiel mit strenger, unbarmherziger Ausdauer über Paris. Manchmal machte der Sturm einen Angriff und trieb den Schnee in kreisenden Wirbeln herum; manchmal war es windstill, und Flocke auf Flocke fiel vom schwarzen Nachthimmel herab – lautlos, lückenlos, endlos.

Arme Menschen, die unter nassen Augenbrauen emporblickten, dünkte es ein Wunder, woher all der Schnee käme. Meister François Villon hatte diesen Nachmittag an einem Schänkenfenster eine Streitfrage aufgeworfen: War es nur der Heidengott Jupiter, der auf dem Olympus Gänse rupfte? Oder mauserten die heiligen Engel sich? Er sei ja nur ein armer Magister der freien Künste, fuhr er fort; und da die Frage einigermaßen von theologischer Art sei, so dürfe er sich nicht erkühnen, sie zu entscheiden. Ein lustiger alter Priester von Montargis, der bei der Gesellschaft war, lud zum Dank für den Spaß und für die Fratzen, die ihn begleiteten, den jungen Schuft zu einer Flasche Wein ein und schwor bei seinem eigenen weißen Bart: In Villons Alter sei er gerade so ein ruchloser Bengel gewesen.

Die Luft war rau und scharf, aber es war eigentlich kein Frost, sondern die Schneeflocken waren groß, feucht und ballten sich zusammen. Die ganze Stadt lag wie unter einem Leintuch. Ein Heer hätte von einem Ende zum anderen hindurchmarschieren können, ohne dass man einen Schritt gehört hätte. Wenn noch einige verspätete Vögel hoch oben in der Luft gewesen wären, so hätten sie die ›Insel‹ wie einen großen weißen Fleck und die Brücken wie dünne weiße Sparren auf dem schwarzen Grund des Stroms gesehen. Hoch oben über den Häuptern der Menschen setzte der Schnee sich in das Fenstermaßwerk der Domtürme. Manche Nische war vollgeweht; manches Standbild trug eine hohe weiße Mütze auf seinem wunderlich verzerrten oder heiligen Haupt. Die Wasserspeier der Dachrinnen hatten sich in große falsche Nasen verwandelt, von deren Spitzen es herabtropfte. Die Kragsteine glichen aufrecht stehenden Kissen, die sich an der einen Seite herauswulsteten. In den Pausen zwischen den einzelnen Windstößen tröpfelte es mit dumpfem Klang rings um die Kirche herum.

Der Kirchhof von St. Johannes hatte seinen gebührenden Anteil vom Schnee erhalten. Alle Gräber waren säuberlich zugedeckt; hohe weiße Giebel standen feierlich in der Runde; ehrsame Bürger lagen längst in ihren Betten, ihre Köpfe weiß behaubt wie ihre Häuser. In der ganzen Nachbarschaft war kein Licht außer dem schwachen Schimmer der Lampe im Kirchenchor, die leise sich hin und her schwang und deren Schatten jede Schwingung begleitete. Kurz vor zehn ging die Nachtrunde mit Hellebarden und einer Laterne durch die Straßen; die Männer schlugen in der Kälte ihre Hände zusammen, und sie sahen nichts Verdächtiges am Johanneskirchhof.

Aber ein Häuschen, gegen die Friedhofmauer gelehnt, war noch wach in dem schnarchenden Viertel und war zu bösen Dingen wach. Von außen war ihm nicht viel anzusehen: Nur ein warmer Luftstrom, der aus dem Schornstein kam, hatte einen Fleck von dem Schnee auf dem Dach hinweggeschmolzen, und an der Haustür sah man ein paar halb verwehte Fußstapfen; aber drinnen, hinter den geschlossenen Fensterläden saßen Meister François Villon, der Poet, und einige von dem Diebsgesindel, mit dem er verkehrte, und hielten Nachtwache und ließen die Flasche kreisen.

Ein großer Haufen glühender Kohlen verbreitete einen starken, rötlichen Schein um den gewölbten Kamin. Vor ihm saß mit gespreizten Beinen Dom Nicolas, der picardische Mönch; er hatte seine Kutte hochgenommen und seine fetten Beine entblößt, um sie der behaglichen Wärme teilhaftig werden zu lassen. Der lange Schatten seiner Gestalt teilte den Raum in zwei Hälften, und der Schein des Kaminfeuers drang nur zu beiden Seiten seiner breiten Gestalt vorbei und bildete zwischen seinen gespreizten Füßen einen kleineren Fleck. Sein Gesicht war gerötet, geschwollen und verwittert – das Gesicht eines Gewohnheitstrinkers; es war von einem Netzwerk von Adern durchzogen, die für gewöhnlich purpurrot, jetzt aber blassviolett waren; denn wenn auch das Feuer seinen Rücken wärmte, so zwickte ihn auf der anderen Seite der Frost. Seine Kapuze war zurückgesunken und bildete seltsame Wülste zu beiden Seiten seines Stiernackens. So saß er, vor sich hin knurrend, in seiner ganzen Breite da und teilte mit dem Schatten seiner stattlichen Gestalt das Zimmer in zwei Hälften.

In der rechten Hälfte hockten Villon und Guy Tabary nebeneinander über einem Pergamentstreifen; Villon machte eine Ballade, die er »Die Ballade vom Bratfisch« nennen wollte, und Tabary begleitete, an seine Schulter gelehnt, die Verse mit Ausrufen der Bewunderung. Der Dichter war ein Fetzen von einem Mann – dunkel, klein und dürr, mit hohlen Wangen und dünnen schwarzen Locken. Er trug seine vierundzwanzig Jahre mit fieberiger Lebhaftigkeit. Gier hatte Falten um seine Augen gegraben; böses Lächeln hatte seine Lippen verzerrt. In seinem Gesicht stritten sich Wolf und Schwein. Es war ein beredtes, scharfes, hässliches, irdisches Gesicht. Seine Hände waren klein und griffig, mit Fingern wie geknoteten Stricken, und sie zuckten beständig in lebhaften und ausdrucksvollen Gebärden. Von Tabarys breiter Nase und schlabbrigen Lippen strömte eine breite, behagliche, den genialen Dichter bewundernde Dummheit aus; er war ein Dieb geworden und hätte geradeso gut der ehrsamste Bürger werden können. Der gebieterische Zufall hatte es so gefügt, der die Lebensläufe menschlicher Gänse und menschlicher Esel lenkt.

Zur Linken von dem Mönch würfelten Montigny und Theve­nin Pensete miteinander. Um Montigny schwebte noch ein Hauch von guter Geburt und Erziehung, wie um einen gefallenen Engel; etwas Edelmännisches war an seiner hohen, schlanken Gestalt, etwas Finsteres, Adlerhaftes an seinem Gesicht. ­Thevenin, die gute Seele, hatte einen großen Glückstag; er hatte am Nachmittag im Faubourg Saint-Jacques gute Beute gemacht und hatte den ganzen Abend von Montigny gewonnen. Sein Gesicht strahlte von einem dummen Lächeln; seine kahle Glatze schien rosig durch einen Kranz von roten Locken; sein vorstehendes Bäuchlein schepperte, als er mit einem stillen Kichern seinen Gewinn einstrich.

»Doppelt oder quitt?«, sagte Thevenin.

Montigny nickte mit einem grimmigen Gesicht.

»’s gibt Protzen, die lieber mit stolzem Rüssel«, schrieb Villon, »Brot und Käse essen von silberner Schüssel. Oder – oder – hilf mir doch, Guido!«

Tabary kicherte.

»Oder Rettich schneiden mit goldenem Messer«, kritzelte der Dichter.

Der Wind draußen frischte auf; er trieb den Schnee vor sich her und erhob zuweilen seine Stimme zu einem Siegesgeheul, und manchmal fuhr er mit Grabestönen durch den Schornstein. Die Kälte wurde schärfer, je weiter die Nacht vorschritt. Villon streckte seine Lippen vor und ahmte das Geheul des Sturms mit einem Geräusch nach, das halb ein Pfeifen, halb ein Stöhnen war. Es war ein ekliges, ungemütliches Kunststück des Dichters, das dem picardischen Mönch sehr verhasst war.

»Hört ihr’s nicht am Galgen klappern?«, sagte Villon. »Sie tanzen alle umsonst des Teufels Tanz da oben. Tanzt nur, meine Burschen, davon werdet ihr auch nicht wärmer! Puh! Was für eine Puste! Da hat’s jetzt einen hinuntergeweht! Eine Mispel weniger am dreibeinigen Mispelbaum! Was, Dom Nicolas? Heute Nacht wird’s kalt sein auf der Straße nach Saint-Denis?«

Dom Nicolas zwinkerte mit seinen beiden großen Augen und schien an einem Kloß in der Kehle zu würgen. Montfaucon, der grausige Pariser Galgenberg mit dem hohen Gerüst stand hart an der Straße nach Saint-Denis, und des Dichters Spaß traf den Mönch an einer wunden Stelle. Tabary lachte unmäßig über die Mispeln; etwas Eleganteres hatte er nie gehört, und er hielt sich die Seiten und krähte. Villon gab ihm einen Nasenstüber, worauf seine Lustigkeit sich in einen Hustenanfall verwandelte.

»Lass doch das Getöse«, sagte Villon, »und denke an Reime auf ›Messer‹.«

»Doppelt oder quitt!«, sagte Montigny verbissen.

»Von Herzen gern!«, sprach Thevenin.

»Ist noch was in der Flasche da?«, fragte der Mönch.

»Macht noch eine auf!«, sagte Villon. »Aber wie kannst du jemals hoffen, das große Stückfass, deinen Bauch, mit kleinen Dingelchen wie Flaschen zu füllen? Und wie kannst du erwarten, jemals in den Himmel zu kommen? Denkst du etwa, es könnten so viele Engel entbehrt werden, um einen einzelnen Mönch von der Picardie he­raufzuschleppen? Oder hältst du dich vielleicht für einen zweiten Elias und denkst, sie werden dir eine Kutsche schicken?«

»Hominibus impossibile«, antwortete der Mönch und füllte sein Glas.

Tabary war vor Entzücken außer sich.

Villon gab ihm wieder einen Nasenstüber und sagte:

»Lach über meine Witze, wenn ich bitten darf.«

»Er war sehr gut«, warf Tabary ein.

Villon schnitt ihm ein Gesicht und sagte:

»Denke du an Reime auf ›Messer‹! Was hast du mit Latein zu tun? Am großen Gerichtstag wirst du wünschen, du verständest kein Wort Latein – wenn der Teufel den Guido Tabary, Klerikus, aufruft – der Teufel mit dem Buckel und den rot glühenden Fingernägeln. Übrigens, da wir vom Teufel sprechen«, setzte er flüsternd hinzu: »Seht doch den Montigny!«

Alle drei spähten heimlich nach dem Spieler hinüber. Er schien mit seinem Glück nicht zufrieden zu sein. Sein Mund war etwas nach der Seite verzogen, das eine Nasenloch beinahe geschlossen, das andere weit aufgebläht. Der schwarze Hund saß ihm im Nacken, wie die Kinderstubenredensart lautet, und er keuchte schwer unter der harten Last.

»Er sieht aus, wie wenn er ihn erdolchen könnte«, flüsterte Tabary mit runden Augen.

Der Mönch schauderte zusammen, drehte sich um und spreizte seine geöffneten Hände über den glühenden Kohlen aus. Aber es war nur die Kälte, die auf Dom Nicolas so tief einwirkte, nicht etwa eine übergroße Empfindlichkeit seines sitt­lichen Gefühls.

»Na, nun mal weiter mit der Ballade!«, sagte Villon. »Wie lautet sie denn bis jetzt?«

Und er gab mit der Hand das Versmaß an und las seinem Freund Tabary laut das Gedicht vor.

Beim vierten Reim wurden sie unterbrochen. Unter den Spielern gab es eine kurze, aber böse Bewegung. Das Spiel war aus, und Theve­nin wollte gerade den Mund öffnen, um abermals einen Sieg zu verkünden, da fuhr, schnell wie eine Natter, Montigny empor und stieß ihm den Dolch ins Herz. Der Stoß traf Thevenin, bevor dieser Zeit gehabt hatte, auch nur aufzuschreien oder eine Bewegung zu machen. Ein Zittern fuhr krampfartig durch seinen Körper; seine Hände öffneten und schlossen sich, seine Absätze klapperten auf dem Fußboden; dann fiel sein Haupt mit weit aufgerissenen Augen nach rückwärts auf die eine Schulter. Und Thevenin Pensetes Seele war zu ihm zurückgekehrt, der sie geschaffen hatte.

Alle sprangen auf; aber die Geschichte war in zwei Bewegungen schon vorüber. Die vier Lebenden sahen mit entsetzten Gesichtern einander an; der Tote aber sah mit einem widerlich starren Blick nach der einen Ecke der Zimmerdecke hinauf.

»Mein Gott!«, sagte Tabary; und dann begann er, ein lateinisches Gebet zu sprechen.

Villon brach in ein hysterisches Gelächter aus, er trat einen Schritt vor, machte vor Thevenin eine lächerlich tiefe Verbeugung und lachte noch lauter. Und dann setzte er sich plötzlich, ganz zusammengesunken, auf einen Stuhl und lachte unaufhörlich, bitterlich, wie wenn er sich selber in Stücke schütteln wollte.

Montigny war der Erste, der seine Fassung zurückgewann.

»Lass uns mal sehen, was er bei sich hat«, bemerkte er; und er räumte mit geübter Hand dem Toten die Taschen aus und zählte das Geld in vier gleiche Teile auf den Tisch. Dann sagte er:

»Da habt ihr euren Teil.«

Der Mönch empfing seinen Anteil mit einem tiefen Seufzer und warf einen einzigen verstohlenen Blick auf den toten Thevenin, der in sich selber zusammenzusinken begann und seitlings vom Stuhl herunterzufallen drohte.

»Wir sind alle vier bei der Geschichte beteiligt!«, rief Villon, indem er gewaltsam sein Lachen unterdrückte. »Es geht uns allen, die wir hier sind, an den Hals – gar nicht zu reden von denen, die nicht hier sind.«

Bei diesen Worten machte er mit erhobener rechter Hand eine unanständige Gebärde in der Luft, streckte seine Zunge heraus und ließ den Kopf auf die eine Seite sinken, auf diese Weise einen Gehängten darstellend. Dann steckte er seine Beute ein und machte eine scharrende Bewegung mit den Füßen, wie wenn er den Blutumlauf wiederherstellen wollte.

Tabary war der Letzte, der zugriff; mit einem Sprung riss er das Geld an sich und ging dann damit in die andere Ecke des Zimmers.

Montigny setzte Thevenin aufrecht auf den Stuhl und zog den Dolch aus der Wunde; ein Blutstrahl schoss sofort hervor. Er wischte die Klinge am Rockfutter seines Opfers ab und sagte:

»Ihr Burschen macht euch besser aus dem Staub!«

»Das glaube ich auch«, antwortete Villon mit einem krampfhaften Schlucken. Plötzlich brach er los: »Hol der Teufel sein feis­tes Gesicht! In meiner Kehle steckt ein Kloß. Welches Recht hat ein Mensch, rotes Haar zu haben, wenn er tot ist?«

Und plötzlich sank er wieder auf dem Stuhl zusammen und bedeckte sein ganzes Gesicht mit den Händen.

Montigny und Dom Nicolas lachten laut; sogar Tabary stimmte mit einem etwas schwächlichen Gelächter ein.

»Eiapopeia, mein Kindchen!«, höhnte der Mönch.

»Ich hab’s immer gesagt: Er ist ein altes Weib!«, sagte Montigny mit spöttisch verzogenem Mund. Und dann schüttelte er noch einmal den Leichnam des Ermordeten und sagte:

»Kannst du nicht hübsch gerade sitzen?«

Und dann zum Mönch:

»Tritt das Feuer aus, Nickel!«

Aber Bruder Nickel wusste eine bessere Beschäftigung; er zog in aller Ruhe dem Dichter, der zitternd und bebend auf dem Stuhl saß, auf dem er vor kaum drei Minuten eine Ballade gedichtet hatte, die Börse aus der Tasche. Montigny und Tabary verlangten in Gebärdensprache einen Anteil an der Beute, den der Mönch ihnen ebenso stumm durch ein Zeichen versprach, während er das Beutelchen in den Busen seiner Kutte schob. – Eine Künstlernatur macht den Menschen auf gar mannigfache Weise ungeschickt für das praktische Leben.

Kaum war der Diebstahl vollzogen worden, da schüttelte Villon sich, sprang auf die Füße und half den anderen, die Kohlen im Kamin auszutreten und zu löschen. Mittlerweile öffnete Montigny die Tür und spähte vorsichtig auf die Straße hinaus. Die Luft war rein; keine lästige Nachtrunde war in Sicht. Trotzdem hielten die vier Gesellen es für klüger, sich einzeln davonzumachen; und da Villon es eilig hatte, aus der Nähe des toten Thevenin zu kommen, und da die anderen es noch eiliger hatten, ihn loszuwerden, bevor er den Verlust seines Geldes bemerkte, so war er mit allgemeiner Zustimmung der Erste, der auf die Straße hinaustrat.

Der Wind hatte die Oberhand behalten und alle Wolken vom Himmel gefegt. Nur ein paar Dunstschleier, dünn wie Mondschein, flogen schnell über die Sterne hin. Es war bitterlich kalt, und alle Gegenstände hoben sich beinahe klarer ab als bei hellem Tageslicht – eine gewöhnliche optische Wirkung scharfen Frostes. Die schlafende Stadt war totenstill: eine Versammlung weißer Kappen, ein Feld voll von kleinen Alpen, unter den flimmernden Sternen.

Villon fluchte. Verdammt schlechtes Glück! Wollte, es schneite noch! Jetzt ließ er, wohin er auch ging, eine unverwischbare Spur hinter sich auf den schimmernden Straßen; wohin er auch ging, er hing überall mit dem Haus am Johannesfriedhof zusammen; wohin er auch ging, er musste mit seinen eigenen stapfenden Füßen den Strick zusammendrehen, der ihn an den Galgen brachte. Der starre Blick des Toten fiel ihm wieder ein und brachte ihn auf neue Gedanken. Er schnippte mit den Fingern, wie wenn er sich selber aufmuntern wollte, trat kühn in den Schnee hinaus und ging die erstbeste Straße entlang.

Zwei Dinge beschäftigten ihn, während er so auf gut Glück dahinging: das Bild des Galgens bei Montfaucon in dieser hellen windigen Nacht und zweitens der stiere Blick des Toten mit seiner Glatze und dem Kranz roter Locken. Bei diesen beiden Gedanken wurde ihm das Herz kalt, und er beschleunigte seine Schritte, wie wenn er flüchtigen Fußes solchen unliebsamen Gedanken entrinnen könnte. Ab und zu blickte er mit einem plötzlichen, ängst­lichen Ruck über seine Schulter zurück; aber er war das einzige Ding, das sich auf den weißen Straßen bewegte, außer wenn der Wind plötzlich um eine Ecke fuhr und den Schnee, der jetzt zu gefrieren begann, wie glitzernden Staub aufblies.

Plötzlich sah er, ein gutes Stück Weges vor ihm, einen schwarzen Klumpen und ein paar Laternen. Der Klumpen bewegte sich, und die Laternen schwankten hin und her, wie wenn sie von gehenden Menschen getragen würden. Es war eine Nachtrunde der Scharwache; und obwohl sie seine eigene Bewegungslinie nur kreuzte, hielt er es doch für klüger, ihr so schnell wie möglich aus den Augen zu kommen.

Er hatte keine Lust, sich anrufen zu lassen, und er wusste nur zu gut, dass er eine sehr auffällige Spur im Schnee hinterließ. Unmittelbar zur linken Hand stand ein großer Palast, mit mehreren Türmen und einer großen Vorhalle vor der Tür. Er erinnerte sich, dass der Palast halb verfallen war und seit langer Zeit leer stand; so machte er drei Sprünge und schlüpfte in das Versteck des Torbogens hinein. Drinnen war es im Vergleich mit der Helligkeit der schneebedeckten Straßen ziemlich dunkel; daher tastete er sich mit ausgestreckten Händen vorwärts, bis er plötzlich über irgendetwas stolperte, das seinen Füßen einen sonderbaren Widerstand leistete. Es war eine Berührung, die sich schwer beschreiben lässt: Der Gegenstand war hart und zugleich weich, fest und zugleich lose.

Dem Dichter stand das Herz still; er sprang zwei Schritte zurück und starrte ängstlich auf das Hindernis. Dann fühlte er sich erleichtert und lachte leise.

Es war nur ein Weib, noch dazu ein totes. Er kniete an ihrer Seite nieder, um sich dieses letzteren Umstands genau zu versichern. Sie war eiskalt und stocksteif gefroren. Ein bisschen zerlumptes Putzwerk flatterte im Wind um ihr Haar, und ihre Wangen waren an demselben Nachmittag hochrot geschminkt worden.

Ihre Taschen waren ganz leer; aber in ihren Strümpfen, unterhalb der Strumpfbänder, fand Villon zwei von den kleinen Münzen, die man Weißlinge nannte.

Es war wenig genug; aber es war immerhin etwas, und der Dichter empfand es tief, dass sie hatte sterben müssen, bevor sie ihr Geld ausgegeben hatte. Dies erschien ihm als ein dumpfes, bemitleidenswertes Geheimnis, und er blickte von den Münzen in seiner Hand auf die tote Frau und von dieser wieder auf die Münzen und schüttelte den Kopf über das Rätsel des menschlichen Lebens. König Heinrich der Fünfte von England, der in Vincennes gerade in dem Augenblick starb, als er Frankreich erobert hatte – und diese arme Dirne, die in dem Torweg eines großen Herrn erfroren war, bevor sie Zeit gehabt hatte, ihre beiden Weißlinge auszugeben – es schien ihm traurig zu sein, auf welche Art das Schicksal mit der Welt umspringt!

Zwei Weißlinge – die wären so schnell ausgegeben gewesen; und doch hätten sie einen guten Geschmack im Mund verschafft; die Lippen hätten noch einmal schmatzen können, bevor der Teufel die Seele bekam und der Leib den Vögeln und Würmern zum Fraß wurde. Er hätte doch gerne gewollt, dass all sein Talg verbrannt wäre, bevor sein Licht ausgeblasen und die Laterne zerbrochen würde.

Während diese Gedanken ihm durch den Sinn gingen, fühlte er halb mechanisch nach seinem Geldbeutel. Plötzlich stand ihm das Herz still; eine Gänsehaut lief ihm über die Beine, und er hatte das Gefühl, wie wenn eine eiskalte Faust ihm einen Schlag auf den Kopf gäbe.

Einen Augenblick stand er wie versteinert da; dann fühlte er mit einer fieberhaften Bewegung noch einmal in seiner Tasche nach; und dann wurde ihm plötzlich sein Verlust klar und der Schweiß brach ihm aus allen Poren heraus.

Für einen Verschwender ist Geld etwas so Lebendes und Wirkliches – es ist solch ein dünner Schleier zwischen ihm und seiner Lust! Sein Glück kennt nur eine einzige Grenze – die der Zeit; und ein Verschwender, der bloß ein paar Krontaler besitzt, ist der Kaiser von Rom, bis diese ausgegeben sind. Für solch einen Menschen ist es ein furchtbares Unglück, sein Geld zu verlieren; er stürzt in einem Nu aus dem Himmel in die Hölle; er hatte alles und hat plötzlich nichts. Und erst recht wenn er um dieses Geldes willen seinen Kopf in die Schlinge gesteckt hat; wenn er vielleicht wegen dieser umso teuren Preis erworbenen, so töricht wieder verlorenen Börse morgigen Tages gehängt werden kann!

Villon stand da und fluchte; er warf die beiden Weißlinge auf die Straße; er drohte dem Himmel mit geballten Fäusten; er stampfte mit dem Fuß, und es war ihm gleichgültig, als er merkte, dass er auf der armseligen Leiche herumgetrampelt war.

Dann begann er, mit schnellen Schritten nach dem Haus am Kirchhof zurückzulaufen. Alle Furcht vor der Nachtrunde war vergessen; die war jedenfalls längst vorüber, er aber hatte keinen anderen Gedanken als an seinen Geldbeutel.

Vergeblich suchte er nach rechts und links auf dem Schnee: Nichts war zu sehen. Also hatte er den Beutel nicht in den Straßen verloren. War er ihm im Haus aus der Tasche gefallen? Überaus gern wäre er hineingegangen und hätte nachgesehen; aber der Gedanke an den grausigen Gast drinnen lähmte ihn. Außerdem sah er, als er näher kam, dass ihre Versuche, das Feuer auszutreten, keinen Erfolg gehabt hatten; im Gegenteil, es war zu einer hellen Lohe aufgeflammt, und der flackernde Schein drang durch Tür- und Fensterritzen und erfüllte ihn mit neuer Angst vor den Behörden und dem Pariser Galgen. Er ging wieder nach dem Palast mit dem Torbogen zurück und tastete auf dem Schnee nach dem Geld, das er in seinem kindischen Ärger weggeworfen hatte. Aber er konnte nur einen einzigen Weißling finden; der andere war wahrscheinlich auf die Seite geflogen und tief in den Schnee gesunken.

Einen einzigen Weißling in der Tasche – da verflüchtigten sich alle seine Pläne, ein wildes nächtliches Gelage in irgendeiner wüsten Schänke zu feiern. Und nicht genug daran, dass das Vergnügen lachend vor seiner Umarmung entfloh: Wirkliches Unbehagen, wirklicher Schmerz packten ihn an, während er traurig vor dem Torbogen stand. Der Schweiß war an seinem Leib getrocknet, und obgleich der Wind eingeschlafen war, wurde der Frost von Stunde zu Stunde schärfer; seine Glieder waren wie erstarrt und er fühlte sich unwohl.

Was sollte er tun? So spät die Stunde war, so unwahrscheinlich ein Erfolg war – er wollte es versuchen, im Haus seines Adoptiv­vaters, des Kaplans von Saint-Benoît Einlass zu finden.

Er ging nicht, sondern rannte den ganzen Weg dorthin; dann klopfte er schüchtern an die Tür. Keine Antwort. Er klopfte ­immer und immer wieder und fasste bei jedem Schlag sich ein Herz, noch lauter zu klopfen, und schließlich hörte er Schritte, die sich drinnen im Haus näherten. Ein vergittertes Guckloch in der eisenbeschlagenen Tür öffnete sich und sandte einen Strahl gelben Lichts nach draußen.

»Haltet euer Gesicht dicht an das Guckloch!«, sagte der Kaplan drinnen.

»Ich bin’s nur«, winselte Villon.

»Oh, du bist es bloß? So?«, antwortete der Kaplan; und dann schimpfte er mit unflätigen, unpriesterlichen Flüchen auf den Dichter, der zu solcher Stunde ihn störe, und sagte ihm, er sollte sich in die Hölle scheren, von wo er käme.

»Meine Hände sind blau gefroren bis an die Gelenke!«, flehte Villon. »Meine Füße sind wie abgestorben und es sticht darin wie mit Nadeln; meine Nase schmerzt mir von der scharfen Luft; die Kälte schnürt mir das Herz zu. Vielleicht sterbe ich noch vor morgen. Nur dies einzige Mal, Vater! Und bei Gott, ich will niemals wieder bitten!«

»Du hättest früher kommen sollen!«, sagte der Geistliche kühl. »Junge Leute müssen ab und zu einen Denkzettel haben.«

Er schloss das Guckloch und ging langsam in das Innere des Hauses.

Villon war außer sich; er schob mit Händen und Füßen gegen die Tür und brüllte mit heiserer Stimme den Namen des Ka­plans.

»Wurmiger alter Fuchs!«, schrie er. »Könnte ich dir nur an den Kragen, du solltest kopfüber in die bodenlose Hölle fliegen!«

Eine Tür wurde im Inneren geschlossen; der Dichter hörte das leise Klappern durch die langen Gänge hindurch. Mit einem Fluch wischte er sich den Mund ab. Und dann ging ihm das Komische der Lage auf: Er lachte und sah lustig zum Himmel empor, wo die Sterne sich wegen seines Missgeschicks anzublinzeln schienen.

Was war zu tun? Es sah danach aus, als ob er eine Nacht in den kalten Straßen verbringen müsste. Der Gedanke an die tote Frau schoss ihm wieder durch die Fantasie und jagte ihm Furcht ein: Was ihr früh am Abend zugestoßen war, das konnte sehr wohl auch ihm geschehen, bevor es Morgen wurde. Und er war so jung! Er hatte noch so unermessliche Möglichkeiten liederlicher Belustigungen vor sich! Er wurde ganz gerührt über sein eigenes Schicksal, wie wenn es das eines anderen Menschen gewesen wäre, und entwarf ein lebhaftes kleines Bildchen von der Szene, wenn man am Morgen seine Leiche finden würde.

Er musterte alle seine Aussichten und drehte dabei den Weißling zwischen Daumen und Zeigefinger. Unglücklicherweise stand er sich gerade in diesem Augenblick nicht gut mit einigen alten Freunden, die sich sonst in solcher Klemme seiner erbarmt haben würden. Er hatte sie in Versen verspottet, er hatte sie misshandelt und betrogen. Aber jetzt, da es ihm so erbärmlich schlecht ging, fiel ihm ein, dass wenigstens einer von ihnen vielleicht seinen Groll fahren lassen würde. Es war eine Möglichkeit. Jedenfalls konnte er es einmal versuchen; er wollte zu ihm gehen und das Weitere abwarten.

Unterwegs hatte er zwei kleine Erlebnisse, die seinen Gedanken sehr verschiedene Richtungen gaben. Erstens traf er auf die Fußstapfen der Scharwache und folgte ihr mehrere Hundert Schritte, obgleich sie außerhalb seiner Richtung führte. Er fasste etwas mehr Mut: Wenigstens hatte er jetzt seine Spur verwischt; denn immer noch beherrschte ihn der Gedanke, dass man seinen Spuren im Schnee durch ganz Paris nachgehen und am nächsten Morgen, bevor er erwachte, ihn am Kragen packen würde.

Das andere Erlebnis war ganz anderer Art. Er kam bei einer Straßenecke vorbei, wo vor gar nicht so langer Zeit eine Frau und ihr Kind von Wölfen gefressen worden waren. In dieser Nacht war gerade das richtige Wetter, dachte er bei sich selber, um Wölfe auf den Gedanken zu bringen, mal wieder Paris zu besuchen; und ein einsamer Mensch in diesen öden Straßen würde wohl kaum mit einer bloßen Schramme davonkommen.

Er blieb stehen und sah mit einer unbehaglichen Teilnahme sich den Ort an. Es war ein Kreuzungspunkt, wo mehrere Gassen zusammentrafen; er spähte eine nach der anderen hinunter und lauschte mit angehaltenem Atem, ob er nicht schwarze Gestalten über den Schnee galoppieren sähe oder zwischen diesem Platz und dem Fluss ein Geheul hörte. Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihm die Geschichte erzählte und ihm die Stelle zeigte; er war damals noch ein Kind gewesen. Seine Mutter! Wenn er nur wüsste, wo sie wohnte; dann hätte er wenigstens ein Obdach gehabt. Er beschloss, gleich am Morgen sich zu erkundigen; ja, er wollte gleich zu ihr gehen und sie besuchen, die gute Alte!

Unter solchen Gedanken kam er an seinem Ziel an, das seine letzte Hoffnung für die Nacht war.

Das Haus lag still und dunkel, wie die Nachbarhäuser; aber nachdem er ein paarmal geklopft hatte, hörte er eine Bewegung über seinem Haupt; eine Tür ging auf und eine vorsichtige Stimme fragte, wer da sei.

Der Dichter nannte seinen Namen, so laut er es konnte, ohne über ein Flüstern hinauszugehen, und erwartete nicht ohne ein gewisses Zittern und Zagen den Erfolg. Er brauchte nicht lange zu warten. Ein Fenster wurde plötzlich geöffnet und ein Eimer voll Spülicht klatschte auf die Treppe herab. Villon war nicht unvorbereitet auf ein Ereignis solcher Art gewesen und hatte sich so nahe wie möglich an die Wand gedrückt; trotzdem aber wurde er unterhalb seines Gürtels erbärmlich durchnässt. Fast augenblicklich begannen seine Hosen zu gefrieren. Tod infolge von Kälte und Erschöpfung starrte ihm ins Gesicht; er erinnerte sich, dass er Anlage zur Schwindsucht hatte, und begann versuchsweise zu husten. Aber der Ernst der Gefahr stärkte seine Nerven. Ein paar Hundert Schritte von der Tür, wo er so übel empfangen worden war, blieb er stehen, legte den Finger an die Nase und dachte nach. Er konnte nur eine Möglichkeit sehen, ein Nachtquartier zu bekommen: Er musste sich eins nehmen.

Nicht weit entfernt hatte er ein Haus bemerkt, das so aussah, wie wenn man leicht einbrechen könnte. Dorthin begab er sich mit schnellen Schritten; unterwegs träumte er von einem Zimmer, das noch warm war, von einem Tisch, worauf noch die Überreste eines Abendessens standen, von einem Ort, wo er den Rest der schwarzen Nachtstunden zubringen konnte und den er am Morgen mit einem Arm voll wertvollen Silbergeschirrs verlassen würde. Er überlegte sich sogar, welche Speisen und welche Weine er vorziehen würde, und indem er in Gedanken die Liste seiner Leibgerichte durchging, fiel ihm Bratfisch ein und erfüllte seine Gedanken mit einer Mischung von Belustigung und Grauen.

Diese Ballade vom Bratfisch werde ich niemals vollenden, dachte er bei sich selber. Und dann kam ihm plötzlich wieder eine Erinnerung; er sagte:

»Oh, hol der Teufel sein fettes Gesicht!«

Er wiederholte noch einmal diese Worte und spie auf den Schnee.

Das Haus, das er sich ausersehen hatte, sah auf den ersten Blick völlig dunkel aus; aber als Villon es zunächst untersuchte, um den besten Angriffspunkt zu finden, bemerkte sein Auge einen schwachen Lichtschimmer, der zwischen den Vorhängen eines Fensters herausdrang.

Zum Teufel auch!, dachte er. Da sind Leute wach. Irgendein Gelehrter oder ein Frommer – hol der Geier die Bande! Können sie sich nicht besaufen und in ihren Betten schnarchen wie ihre Nachbarn? Welchen Zweck hat denn das Abendläuten, und warum müssen arme Teufel von Glöcknern an einem Seilende in Kirchtürmen in die Höhe hüpfen? Wozu ist denn der Tag, wenn Leute die ganze Nacht aufsitzen? Die Pest über sie!

Er grinste, als er sah, wohin sein Gedankengang ihn geführt hatte, und sprach weiter:

»Nun, jeder Mensch muss sein eigenes Geschäft besorgen; und wenn sie wach sind, Herrgott noch einmal, da kann ich vielleicht für diesmal auf ehrliche Weise zu einem Nachtessen kommen und den Teufel betrügen.«

Er schritt kühn an die Tür und klopfte mit dreister Hand. Die beiden vorigen Male hatte er schüchtern geklopft, mit einer gewissen Furcht, Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt aber, da er den Plan eines Einbruchs aufgegeben hatte, schien es etwas ganz Einfaches und Unschuldiges zu sein, dass er an eine Tür klopfte. Seine Schläge tönten mit gespenstischen Schwingungen durch das Haus, wie wenn es ganz leer wäre; aber kaum waren sie verklungen, so näherte sich ein abgemessener Schritt, ein paar Riegel wurden zurückgeschoben und der eine Flügel der Tür wurde weit geöffnet, wie wenn die Bewohner des Hauses keine Hinterlist kennten und keine Hinterlist fürchteten.

Ein hochgewachsener Mann, kräftig und breitschulterig, aber mit etwas gebeugtem Rücken, stand vor Villon. Der Kopf war massig, aber fein gemeißelt; die Nase am unteren Ende stumpf, aber sie verfeinerte sich nach oben zu, wo ein paar dichte, ehrwürdig aussehende Augenbrauen sich an sie anschlossen; Mund und Augen waren von feinen Fältchen umgeben, und das ganze Gesicht ruhte auf einem dichten viereckigen weißen Bart, der unten breit abgeschnitten war. Im Schein einer flackernden Handlampe sah es vielleicht edler aus, als es in Wirklichkeit war; aber es war ein schönes Gesicht, mehr ehrenhaft als klug – stark, einfach und rechtschaffen.

»Ihr klopft spät, Herr«, sagte der alte Mann höflich mit einer tiefen Stimme.

Villon machte tiefe Verbeugungen und entschuldigte sich mit vielen unterwürfigen Worten. In einer kritischen Lage von solcher Art hatte der Bettler die Oberhand in ihm und verbarg der geniale Dichter verwirrt sein Haupt.

»Ihr seid kalt und hungrig?«, begann der alte Mann wieder. »Nun, tretet ein!«

Und er forderte ihn mit einer sehr edlen Gebärde auf, das Haus zu betreten.

Irgendein großer Herr, dachte Villon, während sein Wirt die Lampe auf die Fliesen der Eintrittshalle setzte und dann die Riegel wieder zuschob.

»Ihr werdet verzeihen, wenn ich vorausgehe«, sagte er, als er damit fertig war. Und er ging dem Besucher voran die Treppe hinauf und in ein großes Gemach, das durch eine Kohlenpfanne erwärmt und durch eine große, von der Decke herabhängende Lampe erleuchtet wurde. Es war sehr spärlich mit Hausgerät ausgestattet: Auf einem Anrichtetisch an der Wand stand einiges goldenes Geschirr; mehrere Foliobände lagen herum und zwischen den Fenstern stand eine Rüstung. An den Wänden hingen schöne gewirkte Tapeten; eine große in einem Stück stellte die Kreuzigung unseres Heilands dar; eine andere eine Gruppe von Schäfern und Schäferinnen am Ufer eines Baches. Über dem Kamin befand sich ein Wappenschild.

»Wollet Platz nehmen«, sagte der Alte, »und vergeben, wenn ich Euch allein lasse. Ich bin heute Nacht allein in meinem Haus, und wenn Ihr etwas essen sollt, muss ich selber es Euch besorgen.«

Kaum war sein Wirt hinausgegangen, so sprang Villon von dem Stuhl auf, auf den er sich soeben gesetzt hatte, und begann, leise und gewandt wie eine Katze das Zimmer zu untersuchen. Er wog die goldenen Becher in seiner Hand, öffnete alle Folianten, besah des Wappen auf dem Schild und untersuchte den Stoff, mit dem die Stühle bezogen waren. Er hob die Fenstervorhänge auf und sah, dass die Scheiben bemalt waren; es waren Kriegsszenen, soviel er sehen konnte. Dann trat er in die Mitte des Zimmers, tat einen tiefen Atemzug, blies die Backen auf und sah sich rundum, wie wenn er jede Einzelheit des Gemachs seinem Gedächtnis einprägen wollte.

Sieben Geschirre, sagte er vor sich hin; wären’s zehn gewesen, so hätte ich’s gewagt. Ein schönes Haus und ein schöner alter Herr, so wahr mir alle Heiligen helfen mögen!

Da hörte er die Schritte des alten Mannes, der wieder den Gang hinunterkam; er schlich sich zu seinem Stuhl zurück und begann, in demütiger Haltung seine nassen Beine vor der Kohlenpfanne zu wärmen.

Sein Wirt hielt in der einen Hand einen Teller mit kaltem Fleisch, in der anderen einen Krug mit Wein. Er setzte den Teller auf den Tisch, indem er Villon einen Wink gab, seinen Stuhl nahe he­ran­zuziehen; dann ging er an den Anrichtetisch und brachte zwei Becher, die er füllte.

»Ich trinke auf besseres Glück für Euch«, sagte er, indem er ernst Villons Becher mit seinem eigenen berührte.

»Auf bessere Bekanntschaft«, sagte der Dichter. Er wurde kühn. Ein gewöhnlicher Mann aus dem Volk würde durch die Höflichkeit des alten Herrn verlegen geworden sein; aber Villon war abgebrüht; er hatte früher schon für große Herren den Spaßmacher gespielt und hatte gefunden, dass sie ebenso dunkle Schufte waren wie er selbst. Er fiel mit heißhungriger Lust über das Essen her, während der alte Mann sich in seinem Stuhl zurücklehnte und ihn mit neugierigen Blicken fest ansah.

»Ihr habt Blut auf Eurer Achsel, mein Mann«, sagte er.

Montigny musste seine nasse rechte Hand auf seine Schulter gelegt haben, als er das Haus verließ. Er verwünschte Montigny in seinem Herzen und stotterte:

»Es ist nicht von mir vergossen worden.«

»Das hatte ich auch nicht angenommen«, erwiderte der alte Herr ruhig. »Eine Rauferei?«

»Nun ja, so was Ähnliches«, gab Villon mit einem Zittern der Lippen zu.

»Vielleicht wurde einer ermordet?«

»O nein, nicht ermordet!«, sagte der Dichter, der immer verlegener wurde. »Es ging ganz ehrlich dabei zu – er wurde zufällig erstochen. Ich hatte nichts dabei zu tun – Gott erschlage mich auf der Stelle, wenn ich meine Hand darin hatte!«, setzte er aufgeregt hinzu.

»Vielleicht darf ich sagen: ein Spitzbube weniger«, bemerkte der Hausherr.

»Das dürft Ihr ruhig sagen!«, gab Villon zu. Er fühlte sich ungeheuer erleichtert. »Ein so großer Spitzbube, wie es nur einen zwischen hier und Jerusalem gibt. Er streckte seine Zehen in die Luft wie ein Lamm. Aber es war eklig anzusehen. Vermutlich habt Ihr zu Eurer Zeit auch Tote gesehen, mein Herr Ritter?«, sagte er, mit einem Blick auf die Rüstung zwischen den Fenstern.

»Viele«, sagte der Alte. »Ich war im Krieg, wie Ihr Euch denken könnt.«

Villon legte Messer und Gabel, die er gerade wieder aufgenommen hatte, auf den Tisch zurück und fragte:

»Waren auch Kahlköpfe unter ihnen?«

»O ja, und mit Haaren so weiß wie die meinen.«

»Ich glaube, aus weißen Haaren würde ich mir nicht so viel machen«, sagte Villon; »seine waren rot.«

Und wieder schauderte er zusammen, und es kam über ihn eine Lust, laut aufzulachen; aber er ertränkte sie mit einem großen Schluck Wein und fuhr fort:

»Es regt mich noch ein bisschen auf, wenn ich daran denke. Ich kannte ihn – hol ihn der Teufel! Und dann – man bekommt von der Kälte sonderbare Gedanken. Oder die sonderbaren Gedanken machen einem kalt. Ich weiß nicht, ob das eine zutrifft oder das andere.«

»Habt Ihr Geld?«, fragte der Alte.

»Ich habe einen einzigen Weißling«, antwortete der Dichter lachend. »Ich nahm ihn einer toten Vettel aus dem Strumpf. Sie lag in einem Torbogen. Sie war so tot wie Cäsar, das arme Luder. Und so kalt wie eine Kirche, und in ihrem Haar hatte sie ein paar Finzelchen Band. Für Wölfe und Dirnen und arme Spitzbuben wie mich ist es eine harte Welt bei solcher Winterszeit.«

»Ich bin«, sagte der Alte, »Enguerrand de la Feuillée, Herr auf Brisetout, Landvogt von Patatrac. Und wer und was seid Ihr wohl?«

Villon stand auf, machte eine geziemliche Verbeugung und sagte:

»Ich werde François Villon geheißen, ein armer Magister der freien Künste von hiesiger Hochschule. Ich verstehe ein bisschen Latein und viel Laster. Ich kann Lieder machen: Balladen, Ringelgedichte, Rundreime – und ich bin ein großer Freund vom Wein. Ich wurde in einer Dachkammer geboren, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich am Galgen sterbe. Vielleicht darf ich noch hinzufügen, mein Herr Ritter, dass ich von heute Nacht an Eurer Herrlichkeit allergehorsamster Diener bin.«

»Nicht mein Diener«, sagte der Ritter; »mein Gast für heute Abend und weiter nichts.«

»Ein sehr dankbarer Gast!«, sagte Villon höflich; und er hob seinen Becher und trank seinem Wirt zu.

»Ihr seid gescheit«, begann der alte Herr, indem er mit dem Finger auf seine Stirn tippte, »sehr gescheit; Ihr habt Gelehrsamkeit; Ihr seid ein Kleriker; und trotzdem nehmt Ihr einem toten Weib auf der Straße ein kleines Geldstück ab. Ist das nicht eine Art von Diebstahl?«

»Es ist eine Art von Diebstahl, die in Kriegen viel zur Anwendung kommt. Euer Herrlichkeit.«

»Der Krieg ist das Feld der Ehre«, antwortete der Alte stolz. »Da setzt einer sein Leben ein; er streitet im Namen seines Herrn, des Königs, seines Herrgotts und aller Ihrer Herrlichkeiten, der Heiligen und Engel.«

»Nehmt an, ich wäre wirklich ein Dieb; setze ich da nicht auch mein Leben ein, und wage ich nicht mehr dabei?«

»Um Gewinn, aber nicht um Ehre.«

»Gewinn?«, wiederholte Villon mit einem Achselzucken. »Gewinn! Der arme Kerl braucht ein Abendessen, und er nimmt sich’s. Genauso macht es der Soldat im Feld. Was sind denn diese Requisitionen, von denen wir so viel hören? Wenn sie für die, die sie nehmen, kein Gewinn sind, so sind sie jedenfalls für die anderen Verlust genug. Die Krieger zechen bei einem guten Feuer, während der Bürgersmann sich die Nägel abbeißt, um ihnen Wein und Holz zu kaufen. Ich habe eine gute Menge Ackersleute rings im Land an Bäumen baumeln sehen; ei, ich sah dreißig an einer einzigen Erle, und recht kläglich sahen sie aus; und als ich jemanden fragte, warum alle diese Leute gehängt werden, da sagte man mir den Grund: weil sie nicht genug Krontaler hätten zusammenkratzen können, um die Kriegsleute zu befriedigen.«

»Diese Dinge sind eine Kriegsnotwendigkeit, die der Niedriggeborene standhaft ertragen muss. Es ist wahr, einige Feldherren treiben es etwas hart; in jedem Rang und Grad gibt es Herzen, die sich nicht leicht von Mitleid bewegen lassen; und die Waffen führen allerdings viele, die nicht besser als Räuber sind.«

»Seht Ihr?«, sagte der Dichter. »Ihr könnt den Soldaten nicht vom Räuber trennen; und was ist ein Dieb anders als ein vereinzelter Räuber mit vorsichtigem Benehmen? Ich stehle ein paar Hammelkeulen, ohne dabei einem Menschen den Schlaf zu stören; der Bauer schimpft ein bisschen, isst aber trotzdem, was übrig bleibt, und es bekommt ihm. Ihr kommt daher mit glorreichem Trompetenschall, nehmt das ganze Schaf mit und gebt obendrein dem Bauern jämmerliche Prügel. Ich habe keine Trompete; ich bin nur Hans, Heinz oder Kunz; ich bin ein Spitzbube und ein Hund, und der Galgen ist noch zu gut für mich. Meinetwegen – von Herzen gern; aber fragt nur den Bauern, welchen von uns er vorzieht; hört nur mal, auf wen er flucht, wenn er in kalten Nächten wach liegt!«

»Seht uns beide an!«, sagte der Edelmann. »Ich bin alt, stark und geehrt. Würde ich morgen von Haus und Hof vertrieben, so würden Hunderte stolz sein, mir Obdach gewähren zu dürfen. Arme Leute würden ihre Häuser räumen, würden mit ihren Kindern die Nacht auf der Straße verbringen, wenn ich nur einen Wink gäbe, dass ich allein sein möchte. Und Euch sehe ich als einen obdachlosen Wanderer toten Weibern am Straßenrand Pfennige wegnehmen! Ich fürchte niemanden und nichts; Euch aber sah ich bei einem bloßen Wort zittern und die Fassung verlieren. Ich warte zufrieden in meinem Haus, bis Gott mich ruft; oder wenn es dem König gefallen sollte, mich wieder hinaus­zurufen, so möge der Tod auf dem Schlachtfeld kommen. Ihr guckt nach dem Galgen aus – nach einem gewaltsamen, plötz­lichen Tod, ohne Hoffnung noch Ehre. Ist zwischen zwei solchen kein Unterschied?«

»Ein Unterschied so weit wie von der Erde zum Mond«, gab Villon zu. »Aber wenn ich nun als Herr auf Brisetout geboren wäre, und Ihr wäret der fahrende Schüler François – wäre da der Unterschied weniger groß gewesen? Hätte ich nicht meine Knie an dieser Kohlenpfanne gewärmt? Und hättet Ihr nicht nach Pfennigen im Schnee gesucht? Wäre ich nicht der Krieger gewesen und Ihr der Dieb?«

»Ein Dieb«, rief der alte Mann. »Ich ein Dieb! Wenn Ihr Eure Worte verständet, würdet Ihr sie bereuen.«

Villon drehte mit einer unnachahmlich unverschämten Gebärde die Handflächen nach oben und sagte:

»Wenn Eure Herrlichkeit mir die Ehre erwiesen hätten, meinem Gedankengang zu folgen –«

»Ich erweise Euch zu viel Ehre, indem ich mir Eure Gegenwart gefallen lasse«, sagte der Ritter. »Lernt Eure Zunge zügeln, wenn Ihr zu alten und ehrenwerten Männern sprecht – einer, der hitziger wäre als ich, möchte Euch sonst schärfer zurechtweisen!«

Und er stand auf und schritt, mit Zorn und Ekel kämpfend, am anderen Ende des Gemachs auf und ab. Villon füllte verstohlen seinen Becher wieder, setzte sich bequemer auf seinen Stuhl, schlug die Beine übereinander, stützte den Kopf in die eine Hand und den Ellbogen gegen die Stuhllehne. Er war jetzt satt und warm, und er hatte nicht die geringste Angst vor seinem Wirt, den er so richtig beurteilte, wie es einem Mann von so verschiedenem Charakter möglich war. Die Nacht war zum größten Teil – und schließlich doch noch recht behaglich – verbracht, und er war innerlich fest überzeugt, dass er am Morgen in Ruhe und Sicherheit von dannen gehen werde.

»Sagt mir nur eines!«, sagte der alte Mann, indem er plötzlich stehen blieb. »Seid Ihr wirklich ein Dieb?«

»Ich nehme die heiligen Rechte der Gastfreundschaft in Anspruch«, antwortete der Poet. »Und so antworte ich Euch: Ich bin’s, Herr Ritter.«

»Ihr seid sehr jung«, fuhr der Ritter fort.

»Ich wäre nie so alt geworden«, antwortete Villon und zeigte seine ausgespreizten Finger, »wenn ich mir nicht mit diesen zehn Talenten geholfen hätte; sie waren die Eltern, die mich nährten.«

»Ihr könnt immer noch bereuen und Euch ändern.«

»Ich bereue täglich«, sagte der Dichter. »Es gibt wenig Menschen, die mehr zum Bereuen neigen als der arme François. Ich kann mich ändern, meint Ihr – möge doch nur einer meine Verhältnisse ändern! Ein Mensch muss täglich essen, wäre es auch nur, damit er täglich bereuen kann.«

»Die Änderung muss im Herzen beginnen«, antwortete der Alte feierlich.

»Mein werter Ritter«, antwortete Villon, »bildet Ihr Euch wirklich ein, ich stehle zum Vergnügen? Ich hasse das Stehlen, wie ich jede andere Arbeit oder Gefahr hasse. Mir klappern die Zähne, wenn ich an den Galgen denke. Aber ich muss essen, ich muss trinken, ich muss irgendwelche Gesellschaft haben. Zum Teufel noch mal! Der Mensch ist nicht zur Einsamkeit geschaffen – cui Deus feminam tradit: Drum gibt ihm Gott das Weib zur Gesellin. Macht mich zu des Königs Haushofmeister – macht mich zum Abt von Saint-Denis – macht mich zum Landvogt von Patatrac: Dann freilich werde ich ein anderer sein! Aber solang Ihr mich den armen fahrenden Schüler François Villon bleiben lasst, ohne einen Heller in der Tasche – nun, solange bleibe ich natürlich derselbe.«

»Gottes Gnade ist allmächtig.«

»Ich wäre ein Ketzer, wenn ich dies bezweifeln wollte«, sagte François. »Euch hat Gottes Gnade zum Herrn von Brisetout und zum Landvogt von Patatrac gemacht; mir hat sie nichts gegeben als den flinken Witz unter meiner Kappe und diese zehn Finger an meinen Händen. Darf ich mir noch einen Becher Wein einschenken? Ich danke Euch untertänigst. Bei Gottes Gnade – Ihr habt einen ausgezeichneten Keller.«

Der Herr von Brisetout ging auf und ab, die Hände hinter seinem Rücken gefaltet. Vielleicht war er sich innerlich noch nicht ganz klar über den Vergleich zwischen Dieben und Soldaten; vielleicht hatte Villon eine im Geheimen verwandte Saite bei ihm angeschlagen; vielleicht war ihm einfach etwas wirr im Kopf von so vielen Worten und Begriffen, die ihm nicht vertraut waren. Was aber immer die Ursache sein mochte – er hatte den geheimen Wunsch, den jungen Mann zu einer besseren Denkungsart zu bekehren, und konnte sich nicht dazu entschließen, ihn wieder auf die Straße hinaus­zujagen.

»Es ist etwas dabei, was ich nicht verstehen kann«, sagte er schließlich. »Euer Mund ist voll von Spitzfindigkeiten, und der Teufel hat Euch sehr weit in die Irre geführt; aber der Teufel ist nur ein sehr schwacher Geist angesichts von Gottes Wahrheit, und alle seine Spitzfindigkeiten verschwinden vor einem Wort voll echter Ehre, wie Finsternis vor dem Morgenlicht. Hört noch ein Wort von mir! Ich lernte vor langer Zeit, ein Edelmann solle ritterlich und in Liebe seinem Gott, seinem König und seiner Dame dienen; und obgleich ich manches Seltsame geschehen sah, habe ich doch stets mich bestrebt, nach dieser Vorschrift meine Wege zu wandeln. Sie steht nicht nur in allen edlen Geschichten geschrieben, sondern auch in jedes Menschen Herzen, wenn er sich nur die Mühe nehmen will, sie zu lesen. Ihr sprecht von Speise und Wein, und ich weiß recht wohl, dass Hunger eine schwer zu bestehende Prüfung ist; aber Ihr sprecht nicht von anderen Bedürfnissen: Ihr sagt nichts von Ehre, von Treue zu Gott und anderen Menschen, von Ritterlichkeit, von makelloser Liebe. Es mag sein, dass ich nicht sehr weise bin – indessen glaub ich doch, ich bin’s –, aber Ihr kommt mir vor wie ein Mensch, der vom Weg abgekommen ist und dessen Leben ein großer Irrtum ist. Ihr kümmert Euch um die kleinen Bedürfnisse und habt gänzlich der großen und einzig wirklichen Bedürfnisse vergessen – wie ein Mensch, der am Tag des Jüngsten Gerichts sich um einen hohlen Zahn kümmern würde. Denn Ehre und Liebe und Treue sind nicht nur edlere Dinge als Speis und Trank, sondern ich glaube auch in allem Ernst: Wir begehren ihrer mehr und leiden schmerzlicher, wenn sie uns fehlen. Ich spreche zu Euch so, weil ich glaube, so werdet Ihr mich am leichtesten verstehen. Vergesst Ihr nicht, während Ihr Euch sorgt, wie Ihr Euren Wanst füllen könnt, eines anderen Hungers in Eurem Herzen, der Euch alle Freude Eures Lebens verdirbt und Euch immerdar unglücklich sein lässt?«

Villon wurde offenbar von dieser langen Predigt unangenehm berührt. Er rief:

»Ihr denkt, ich habe kein Ehrgefühl! Ich bin, weiß Gott, arm genug. Es ist hart für einen Armen, reiche Leute mit warmen Handschuhen zu sehen, während er selber sich in die Finger bläst. Ein leerer Magen ist ein böses Ding, wenn Ihr auch so leichthin darüber redet. Hättet Ihr so oft einen leeren Magen gehabt wie ich, vielleicht würdet Ihr in einer anderen Tonart singen. Jedenfalls bin ich im schlimmsten Fall ein Dieb – aber ich bin kein Teufel aus der Hölle, Gott straf mich! Ich möcht Euch zu wissen geben: Auch ich habe meine Ehre, so gut wie Ihr Eure, wenn ich auch nicht den ganzen Tag darüber predige, wie wenn es ein Wunder Gottes wäre, überhaupt eine zu haben. Mir scheint es ganz natürlich zu sein, Ehre zu haben: Ich lasse meine im Kasten, bis ich sie brauche. Hört mal zu: Wie lange bin ich mit Euch in diesem Zimmer gewesen? Seht Euch Euer Goldgeschirr an! Ihr seid stark – meinetwegen. Aber Ihr seid alt und unbewaffnet, und ich habe mein Messer. Was wäre weiter nötig gewesen? Ein Stoß aus dem Handgelenk – und hier hättet Ihr gelegen mit dem kalten Stahl in Eurem Leib, und dort wäre ich durch die Straßen gelaufen mit einem Arm voll goldener Becher! Bildet Ihr Euch ein, ich hätte nicht Witz genug, das zu sehen? Und doch wies ich solche Tat von mir. Da sind Eure verdammten Becher, so sicher wie in der Kirche; da seid Ihr, und Euer Herz schlägt, wie wenn’s nagelneu wäre; und hier bin ich, bereit, so arm wieder hinaus­zugehen, wie ich hereingekommen bin, mit meinem einzigen Weißling, über den Ihr mir Reden hieltet! Und Ihr meint, ich hätte kein Ehrgefühl – Gott straf mich!«

Der alte Mann streckte seinen rechten Arm aus und sagte:

»Ich will Euch sagen, was Ihr seid. Ihr seid ein Spitzbube, mein Mann, ein unverschämter und dreckig denkender Spitzbube und Landstreicher. Ich habe eine Stunde mit Euch verbracht. Oh, glaubt mir, ich fühle mich besudelt! Und Ihr habt an meinem Tisch gegessen und getrunken. Aber jetzt hab ich genug von Euch; Euer Anblick macht mir übel. Der Tag ist da, und der Nachtvogel mag zur Rüste gehen. Wollt Ihr vorangehen oder hinter mir?«

»Ganz wie es Euch beliebt«, erwiderte der Dichter und stand auf. »Ich glaube, Ihr seid durch und durch ehrenhaft.«

Nachdenklich leerte er seinen Becher und fuhr fort, indem er mit den Fingerknöcheln an seine Stirn schlug:

»Ich wollte, ich könnte hinzusetzen, dass Ihr auch klug seid. Das Alter, das Alter! Das Hirn wird steif und gichtisch.«

Der Alte ging ihm voran; ein Gefühl von Selbstachtung veranlasste ihn dazu. Villon folgte ihm pfeifend, die Daumen in seinen Gürtel gesteckt.

»Gott erbarme sich Eurer!«, sagte der Herr von Brisetout an der Tür.

»Lebt wohl, Papa!«, antwortete Villon mit einem Gähnen. »Vielen Dank für den kalten Hammelbraten.«

Die Tür schloss sich hinter ihm. Über den weißen Dächern zog die Dämmerung herauf. Ein kühler unbehaglicher Morgen führte den Tag auf die Erde. Villon stand mitten auf der Straße und streckte sich und streckte sich wieder.

Ein sehr stumpfsinniger alter Herr, dachte er bei sich selber. Ich möchte wohl wissen, wie viel seine Becher wert sind.

Der Selbstmordklub

Erstes Kapitel

Die Geschichte von dem jungen Mann mit dem Cremetörtchen

Während seines Londoner Aufenthalts gewann sich der hochgebildete Prinz Florizel von Böhmen durch seine bestechenden Umgangsformen wie durch seine wohlangebrachte Freigebigkeit die Zuneigung aller Klassen. Schon durch das, was man von ihm wusste – und das war nur ein kleiner Teil seiner wirklichen Taten –, war er eine durchaus bemerkenswerte Persönlichkeit. Für gewöhnlich ein Mann von gelassenem Temperament, der die Welt mit der Ruhe eines Philosophen betrachtete, empfand der Fürst doch auch manchmal Verlangen nach einem abenteuer­licheren und ungebundeneren Leben als das, wozu ihn seine Geburt bestimmt hatte. War seine Stimmung einmal nicht auf ihrer gewöhnlichen Höhe, versprach er sich keine Unterhaltung von dem Besuch eines Londoner Theaters, und erlaubte die Jahreszeit keinen Sport, in dem er es allen zuvortat, so ließ er seinen Vertrauten und Oberstallmeister, den Obersten Geraldine, zu sich entbieten und trug ihm auf, die Vorbereitungen für einen abendlichen Ausflug zu treffen. Der Stallmeister war ein junger Offizier, mutig bis zur Verwegenheit. Der Auftrag erfüllte ihn mit Vergnügen, und eiligst machte er alles bereit. Infolge langer Übung und mannigfaltiger Lebenserfahrung hatte sich sein angeborenes schauspielerisches Talent noch mehr entwickelt, sodass er nicht nur in Gebärden und Haltung, sondern auch in der Stimme und fast auch in seinen Gedanken jede Gesellschaftsklasse, jeden Charakter und jede Nation darstellen konnte; dadurch lenkte er die Aufmerksamkeit von seinem fürstlichen Begleiter auf sich, und es gelang dem Paar, manchmal zu ganz absonderlichen Gesellschaften Zutritt zu erhalten. Von diesen geheimnisvollen Abenteuern drang nichts an die Öffentlichkeit. Die Unerschrockenheit des einen und die unermüdliche Erfindungsgabe und ritterliche Ergebenheit des andern hatten sie so manche Gefahr glücklich bestehen lassen, und so wurde auch ihr Selbstvertrauen immer größer.

Eines Märzabends trieb sie ein eisiger Regen in eine Austernschenke am Leicester Square. Oberst Geraldine hatte sich als he­runtergekommenen Journalisten verkleidet, während sich der Prinz wie gewöhnlich durch einen falschen Backenbart und lang herabhängende Augenbrauen unkenntlich gemacht hatte. In dieser Vermummung vor jeder Entdeckung sicher, schlürften sie unbesorgt ihren Brandy mit Sodawasser.

Die Kneipe war voll von Gästen beiderlei Geschlechts; aber wenn sich auch mehr als einmal Gelegenheit zur Anknüpfung eines Gesprächs bot, schien doch in keinem Fall die nähere Bekanntschaft der Mühe wert zu sein. Nur der gewöhnliche Typus gemeiner Gesellschaft war vertreten. Der Prinz fing schon an zu gähnen, und es hatte den Anschein, als sollte diesmal der Streifzug ohne jede interessante Ausbeute verlaufen, als die Eingangstür heftig aufgestoßen wurde und ein junger Mann mit zwei Dienstmännern hinter sich hereinstürzte. Jeder Dienstmann trug eine große Schüssel, die sich mit Rahmtörtchen gefüllt zeigte. Der junge Mann wandte sich mit ausgesuchter Höflichkeit an jeden einzelnen Gast und lud ihn dringend ein zuzugreifen. Manche taten es lachend, andere wiesen ihn ohne Weiteres oder mit groben Worten zurück. In diesem Fall verspeiste der Ankömmling jedes Mal mit einer mehr oder minder witzigen Bemerkung das Törtchen selbst.

Zuletzt wandte er sich an den Prinzen Florizel.

»Mein Herr«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung und präsentierte dabei das Törtchen zwischen Daumen und Zeigefinger, »wollen Sie mir als einem ganz Unbekannten die Ehre geben? Ich stehe für die Güte des Gebäcks, da ich seit fünf Uhr selbst zwei Dutzend und drei Stück gegessen habe.«

»Ich pflege«, erwiderte der Prinz, »weniger auf die Gabe als auf den Geist, in dem sie gereicht wird, zu sehen.«

»Was diesen Geist anbetrifft«, entgegnete der junge Mann mit einer zweiten Verneigung, »so handelt es sich um einen Spaß.«

»Spaß?«, wiederholte Florizel. »Wem soll der Spaß gelten?«

»Ich kann mich darüber hier nicht weiter auslassen, sondern habe nur diese Rahmtörtchen zu verteilen. Wenn ich erwähne, dass ich das Lächerliche in der Sache zum guten Teil auf meine Person nehme, so hoffe ich, Sie werden es nicht unter Ihrer Würde finden und sich herablassen. Sonst nötigen Sie mich, Nummer achtundzwanzig zu verzehren, und ich muss gestehen, ich habe schon gerade genug.«

»Sie rühren mein Herz«, sagte der Prinz, »und ich will Sie mit größtem Vergnügen aus diesem Dilemma retten, aber unter einer Bedingung. Wenn mein Freund und ich Ihre Kuchen, nach denen wir an und für sich gar kein Verlangen tragen, essen, so erwarten wir, dass Sie dafür an unserm Abendessen teilnehmen.«

Der junge Mann schien nachzudenken.

»Ich habe noch verschiedene Dutzend hier«, sagte er endlich; »und ich werde daher zur Vollendung meines großen Werks noch verschiedene Wirtschaften besuchen müssen. Das wird ziemlich viel Zeit kosten, und wenn Sie hungrig sind …«

Der Prinz unterbrach ihn mit einer höflichen Handbewegung.

»Mein Freund und ich wollen Sie begleiten«, sagte er, »denn Ihre geniale Art, einen Abend zu verbringen, hat bereits in hohem Grad unser Interesse erweckt. Und nun lassen Sie mich, da wir über die Friedenspräliminarien einig sind, den Vertrag für beide unterzeichnen.«

Und dabei verschluckte der Prinz eins von den Törtchen.

»Sie sind ausgezeichnet«, bemerkte er.

»Ich sehe, Sie sind Kenner«, versetzte der junge Mann.

Oberst Geraldine erwies dem Gebäck die gleiche Ehre, und der junge Mann machte sich auf den Weg zu einer andern ähnlichen Wirtschaft. Hinter ihm gingen die beiden Dienstmänner, und der Fürst und Geraldine machten Arm in Arm und einander verstohlen zulächelnd den Beschluss. So besuchten sie noch zwei ähnliche Kneipen, in denen sich beim Rundgang des jungen Mannes die oben beschriebenen Szenen mit geringen Abweichungen wiederholten.

Als sie die dritte Wirtschaft verließen, zählte der junge Mann seinen Vorrat, es waren nur noch neun übrig.

»Meine Herren«, sagte er zu seinen neuen Begleitern gewendet, »ich will Sie nicht länger von Ihrem Abendessen trennen, sicher sind Sie hungrig. Ich bin Ihnen ein besonderes Opfer schuldig. Heute, an diesem für mich so bedeutungsvollen Tag, da ich eine tolle Laufbahn mit der größten Tollheit beschließen will, möchte ich mir niemand gegenüber etwas zuschulden kommen lassen. Meine Herren, Sie sollen nicht länger warten. Mit Gefahr des Lebens ziehe ich die Bilanz.«

Und mit diesen Worten stopfte er die neun Törtchen in den Mund und schluckte heroisch eins nach dem andern hinunter. Dann reichte er jedem Dienstmann ein paar Goldstücke, sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre außerordentliche Geduld«, und entließ sie mit einer Verbeugung.

Hierauf warf er noch einen Blick auf die Börse, aus der er die Goldstücke genommen hatte, schleuderte sie lachend mitten auf die Straße und erklärte sich zum Abendessen bereit.

Die drei Genossen traten in ein unweit gelegenes kleines französisches Speisehaus besserer Klasse und nahmen in einem Sonderzimmer des zweiten Stocks ein vorzügliches Mahl ein, das sie mit drei oder vier Flaschen Champagner und einem lebhaften Gespräch über alle möglichen Gegenstände würzten. Der junge Mann zeigte sich gewandt und heiter, aber sein Lachen war für einen wohlerzogenen Menschen überlaut, seine Hände zitterten heftig, und seine Stimme nahm oft unwillkürlich einen ganz sonderbaren Klang an. Der Nachtisch war abgetragen, und alle drei hatten ihre Zigarren angezündet, als sich der Prinz mit folgenden Worten an den jungen Mann wandte:

»Sie werden sicher meine Neugier entschuldigen. Was ich von Ihnen gesehen habe, hat meinen Beifall gefunden, aber noch mehr mein Erstaunen erregt. Und obwohl mir jede Indiskretion verhasst ist, muss ich Ihnen doch bemerken, dass bei meinem Freund und mir jedes Geheimnis wohl bewahrt ist. Und wenn die Geschichte, die Sie zu erzählen haben, wie ich voraussetze, manche Dummheit enthält, so brauchen Sie sich deshalb vor uns, die wir schon das tollste Zeug in England ausgeführt haben, keinen Zwang anzutun. Mein Name ist Godall, Theophilus Godall; mein Freund ist der Major Hammersmith, oder dies ist wenigstens der Name, den er sich beilegt. Wir sind auf der Suche nach Abenteuern, und das Ungewöhnlichste erregt unser Interesse am meisten.«

»Sie gefallen mir, Mr Godall«, erwiderte der junge Mann; »ich fühle von vornherein Vertrauen zu Ihnen; und ich habe nicht das Geringste gegen ihren Freund, den Major, den ich für einen verkleideten Edelmann halte. Wenigstens ist er sicher kein Soldat.«

Der Oberst lächelte zu diesem Kompliment, und der junge Mann fuhr lebhafter fort: