Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mit alphabetischem Index Die Werke auf 3391 Seiten Robert Louis Balfour Stevenson war ein schottischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Er wurde nur 44 Jahre alt; jedoch hinterließ er ein umfangreiches Werk von Reiseerzählungen, Abenteuerliteratur und historischen Romanen sowie Lyrik und Essays. Bekannt geworden sind vor allem der Jugendbuchklassiker »Die Schatzinsel« sowie die Schauernovelle »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde«. Eine Reihe seiner Romane ist heute noch populär und zum Teil verfilmt worden. Null Papier Verlag
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 3559
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Robert Louis Stevenson
Robert Louis Stevenson
Gesammelte Werke
Robert Louis Stevenson
Robert Louis Stevenson
Gesammelte Werke
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Jürgen Schulze 2. Auflage, ISBN 978-3-954186-61-7
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Robert Louis Stevenson
Reiseberichte
In der Südsee -- Zweiter Band
In der Südsee -- Erster Band
Romane
Die Schatzinsel
Entführt
Catriona
Die Herren von Hermiston
Der Schatz von Franchard
Der Strand von Falesa
Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und des Herrn Hyde
Der Junker von Ballantrae
Erzählungen
Das Flaschenteufelchen
Der Selbstmordklub -- Detektivgeschichten
Des Rajahs Diamant
Die tollen Männer
Markheim
Will von der Mühle
Die krumme Janet
Die Stimmeninsel
Die Insel der Stimmen
Index
Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlag entschieden haben.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze
Edgar Allan Poe - Gesammelte Werke
Franz Kafka - Gesammelte Werke
Stefan Zweig - Gesammelte Werke
E. T. A. Hoffmann - Gesammelte Werke
Georg Büchner - Gesammelte Werke
Joseph Roth - Gesammelte Werke
Mark Twain - Gesammelte Werke
Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke
Rudyard Kipling - Gesammelte Werke
Rilke - Gesammelte Werke
und weitere …
Der Newsletter informiert Sie über:
die Neuerscheinungen aus dem Programm
Neuigkeiten über unsere Autoren
Videos, Lese- und Hörproben
attraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr
https://null-papier.de/newsletter
Robert Louis Balfour Stevenson (* 13. November 1850 in Edinburgh; † 3. Dezember 1894 in Vailima, nahe Apia, Samoa) war ein schottischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Stevenson, der an Tuberkulose litt, wurde nur 44 Jahre alt; jedoch hinterließ er ein umfangreiches Werk von Reiseerzählungen, Abenteuerliteratur und historischen Romanen sowie Lyrik und Essays.
Bekannt geworden sind vor allem der Jugendbuchklassiker »Die Schatzinsel« sowie die Schauernovelle »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde«. Eine Reihe seiner Romane ist heute noch populär und zum Teil verfilmt worden.
Robert Louis Stevenson wurde als einziger Sohn des Ingenieurs und Leuchtturmbauers Thomas Stevenson und der Margaret Isabella Stevenson, geborene Balfour, in Howard Place, Edinburgh, geboren.
Das schottische Klima mit kühlen Sommern und regnerischen, nebligen Wintern war für Mutter und Sohn äußerst ungünstig, die beide zeit ihres Lebens von geschwächter Konstitution waren. Lang Jahre erhielt Stevenson als Kind und Jugendlicher Privatunterricht, da er zu oft krank war, um einem regelmäßigen Schulbesuch nachgehen zu können.
Während seiner Kindheit schrieb Stevenson ständig Essays und Geschichten. Das erste historische Buch des jungen Stevenson »Pentland Rising«, das er in der Tradition der Romane von Sir Walter Scott verfasste, erschien im Jahr 1866. Der Roman war von geringem literarischem Wert.
1867 immatrikulierte sich Stevenson an der Universität Edinburgh, studierte zunächst Technik und wechselte aufgrund seines labilen Gesundheitszustands 1871 zum Studium der Rechtswissenschaft. Der hochgewachsene schmalschultrige Louis gab sich als Bohemien, trug eine blaue Samtjacke, schulterlanges Haar und einen Schnurrbart und erregte mit seinem Auftreten Aufsehen in seiner Heimatstadt. Seine Diskutierfreude, die Hinwendung zum Atheismus und die Auflehnung gegen die sozialen Verhältnisse im viktorianischen Königreich entfremdeten ihn dem konservativen Elternhaus.
Am 19. Mai 1880 heiratete Stevenson die 10 Jahre ältere und geschiedene Fanny Osbourne, die zwei Kinde mit in die Ehe brachte. Wider Erwarten verstanden sich der streng konservative calvinistische Vater Thomas Stevenson und die geschiedene, Zigaretten rauchende Schwiegertochter ausgezeichnet.
1880 diagnostizierten Ärzte bei Stevenson eine beginnende Tuberkulose.
Während einer Schlechtwetterperiode in Braemar, einem kleinen Hochlanddorf in Schottland, in das sich die Familie mittlerweile zurückgezogen hatte, zog Stevenson sich eine starke Erkältung zu, musste seine Wanderungen aufgeben und widmete sich seinem Stiefsohn Lloyd. Er half ihm beim Malen: »Bei dieser Gelegenheit fertigte ich die Landkarte einer Insel an. Die Gestalt dieser Insel befruchtete meine Phantasie außerordentlich. Da waren Hafenplätze, die mich entzückten wie Sonette, und im Bewußstsein einer Schicksalsbestimmung nannte ich mein Erzeugnis ›Die Schatzinsel‹«. Auf diese Weise entstand die Anregung zu Stevensons erstem Roman, »Treasure Island« (»Die Schatzinsel«), der für seinen Stiefsohn geschrieben und ihm gewidmet wurde. Der Protagonist Jim Hawkins sollte in Lloyds Alter sein; William Ernest Henley, Stevensons Mitherausgeber des London Journal, war als fußamputierter trinkfester Schotte das Vorbild für den Piraten Long John Silver.
»Die Schatzinsel« erschien ab Ende des Jahres 1881 in mehreren Fortsetzungen in der Jugendzeitschrift Young Folks, fand jedoch wenig Beachtung. Als im Jahr 1883 der Roman mit dem Titel »Treasure Island« in Buchform bei Cassel & Company in London veröffentlicht wurde, ausgestattet mit zahlreichen Holzschnitten von Georges Roux und der abgedruckten Schatzkarte, wurde er ein Bestseller; bereits nach wenigen Jahren waren 75.000 Exemplare verkauft.
Im Jahr 1886 schrieb Stevenson »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, eine Schauernovelle, die auf einem authentischen Fall beruht.
1887 lernte Stevenson den amerikanischen Schriftsteller Henry James kennen, der sich als einer der ersten Kritiker ernsthaft, zugleich begeistert, mit seinem Werk auseinandersetzte.
Der Vater Thomas Stevenson verstarb am 8. Mai 1887 in Edinburgh.
Während eines Besuchs in New York im Jahr 1888 traf Stevenson Mark Twain, dessen »Huckleberry Finn« ihn begeistert hatte; im Washington Square Park saßen beide lange auf einer Bank und diskutierten. Ein Briefwechsel schloss sich daraufhin an.
Im Dezember 1898 besuchte Stevenson erstmals Samoa, wo er ein Anwesen am Fuß des Mount Vaea, unweit Apia auf der Insel Upolu erwarb. Der Plantage, die Stevenson für 400 Pfund erworben hatte, und dem Wohnhaus, das ab Januar 1891 in zweijähriger Bauzeit errichtet wurde, gab er den Namen »Vailima« (»Wasser aus der Hand«).
Zeitweise lebten auf der Plantage ein ganzer Familien-Clan: Großmutter, Mutter, Vater, Kinder, Angeheiratete und Enkel.
Am Abend des 3. Dezember 1894 brach Stevenson bewusstlos zusammen. Herbeigerufene Ärzte konnten nicht mehr helfen. Im Beisein der Familie, der Diener und Geistlichen starb Stevenson, erst 44-jährig, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Als Todesursache wurde eine Intrazerebrale Blutung vermerkt. Die Einheimischen defilierten am Totenbett vorbei und hielten die Totenwache. Stevenson wurde am Gipfel des Mount Vaea begraben, wie er es sich gewünscht hatte.
Robert Louis Stevenson hat ein umfangreiches Werk von Romanen, Novellen, Reisebeschreibungen, Theaterstücken, Gedichten, Essays und Briefen hinterlassen. Es ist dem häufigen Ortswechsel Stevensons geschuldet, dass sein Nachlass weit verstreut archiviert ist.
Zu Lebzeiten war Stevenson sehr bekannt, doch als die Literatur der klassischen Moderne nach dem Ersten Weltkrieg aufkam, wurde er in Großbritannien als Autor zweiter Klasse angesehen, begrenzt auf das Genre der Kinder- und Horrorliteratur. Erst das späte 20. Jahrhundert würdigte Stevenson wieder als einen Autor ersten Ranges, als Literaturtheoretiker, Essayisten und Sozialkritiker, als Humanisten und als Zeugen der Geschichte der pazifischen Inseln.
Titel der englischen Originalausgabe »The South Seas«, 1890
Aus dem Englischen von Marguerite Thesing
Nein, ich wußte nichts von dem Grauen, das diese Männer beseelte. Und doch hatte ich auch damals schon einen Fingerzeig erhalten, nur hatte ich den Wink nicht verstanden. Das war bei Gelegenheit eines Begräbnisses.
Etwas abseits, aber dennoch in der Hauptstraße von Rotoava gelegen, steht inmitten einer kleinen Einfriedung eine niedrige Laubhütte, die indes einem Schweinestall in einer Hürde gleicht, und dort wohnten ganz allein ein uralter Mann und seine uralte Frau. Vielleicht waren sie schon zu alt, um mit der übrigen Bevölkerung auszuwandern, vielleicht waren sie auch zu arm und nannten überhaupt keinen Besitz ihr eigen, um den sie sich hätten streiten können. Wie dem auch sei, sie waren zurückgeblieben, und so kam es, daß sie zu meinem Feste geladen wurden. Wahrscheinlich fanden in dem Schweinestall langwierige politische Erörterungen statt, ob man nun hingehen sollte oder nicht, und der Gatte schwankte lange zwischen Neugier und seinem hohen Alter, bis endlich die Neugier siegte und sie kamen. Und da, mitten in ihrem letzten Gelage, erschien der Tod und klopfte dem Alten auf die Schulter. Ein paar Tage lang, während der Himmel hell und der Wind erfrischend waren, lag seine Matte mitten auf der Hauptstraße des Dorfes, und man konnte ihn dort liegen sehen, apathisch, nur noch eine Handvoll von einem Menschen, und seine Frau saß nicht minder apathisch zu seinen Häupten. Beide schienen sowohl unseren Bedürfnissen wie den gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten entrückt zu sein; sie sprachen weder, noch lauschten sie, wenn man mit ihnen sprach; sie ließen uns vorübergehen, ohne auch nur ein einziges Mal aufzublicken; die Frau fächelte ihren Mann nicht, noch schien sie ihm irgendwie aufzuwarten. So ruhten die beiden armen Überbleibsel von Menschen dicht nebeneinander unter dem hohen Palmenbaldachin, die menschliche Tragödie auf ihre nacktesten Elemente zurückgeführt, ein Anblick, der jenseits von Mitleid lag und nur ein Gefühl von Neugierde erregte. Und doch berührte mich etwas tragisch: der Gedanke, daß selbst in diesen verschrumpften Adern vor kurzem noch so viel jugendliche Erwartung pulsiert und der Mann die Neige seines Lebens auf einem Fest vergeudet hatte.
Am Morgen des 17. Septembers starb der Kranke endlich und wurde, da die Zeit drängte, noch am gleichen Tage um vier Uhr nachmittags begraben. Der Friedhof liegt nach dem Meere zu hinter dem Regierungsgebäude; geschotterte Koralle bildet, ähnlich wie unser Wegschotter, den Boden, ein paar hölzerne Kreuze, wenige unscheinbare Steine bezeichnen die Gräber, eine mit Beton verkittete Mauer, hoch genug, um sich daran lehnen zu können, schließt ihn ein, und üppiges Strauchwerk umgibt ihn mit seinen hellgrünen Blättern. Hier beim Gekreisch der Meeresvögel wurde an jenem Morgen das Grab gegraben, ohne Zweifel von recht ängstlichen Totengräbern, während der Tote in seinem Hause wartete und die Witwe zusammen mit noch einem anderen uralten Weiblein vor dem Tore an der Mauer lehnte, kein Wort auf ihren Lippen und ihre Blicke leer.
Pünktlich auf die Minute setzte sich die Prozession in Bewegung; der Sarg war in Weiß gehüllt und wurde von vier Trägern getragen. Das Trauergefolge war nicht groß, denn nur wenige waren in Rotoava zurückgeblieben, und die wenigsten kamen in Schwarz, denn alle waren arm. Die Männer trugen Strohhüte, weiße Röcke und blaue Hosen oder grellbunte, teilweise gefärbte Parius, das tahitische Hochlandsröckchen; die Frauen waren mit geringen Ausnahmen in helle Farben gekleidet. Als letzte folgte die Witwe, mühsam des Toten Schlafmatte hinter sich schleppend, ein Geschöpf über das Menschenmögliche hinaus gealtert und am ehesten noch dem »missing link« vergleichbar.
Der Tote war Mormone gewesen, da aber der mormonische Geistliche mit den anderen nach der Nachbarinsel gezogen war, um sich über die Grenzen seiner Grundstücke zu zanken, übernahm ein Laie für ihn das Predigeramt. Da stand er zu Häupten des Grabes in einem weißen Rock und einem blauen Pariu, seine tahitische Bibel in der Hand und das eine Auge mit einem roten Taschentuch verbunden. Feierlich las er das Kapitel aus Hiob vor, das schon über so manchen Überresten unserer Väter gelesen worden ist, und sprach mit lauter Stimme zwei Gebete. Wind und Brandung bildeten den Chor. Am Friedhofseingang säugte eine Mutter in Rot ein Kind in blauen Windeln. In unserer Mitte saß die Witwe auf dem Erdboden und scheuerte mit einem Stückchen Koralle eine der Tragstangen blank, etwas später drehte sie dem Grabe den Rücken und begann mit einem Blatte zu spielen. Verstand sie etwas von alledem? Gott allein weiß es. Der Offiziant hielt einen Augenblick inne, bückte sich und warf ehrfurchtsvoll eine Handvoll rasselnder Korallen auf den Sarg. Staub zu Staub, nur daß hier die Staubkörnchen groß wie Kirschen waren und daß der wahre Staub, der dem anderen bald folgen sollte, dicht daneben saß, einzig durch ein Wunder in die tragische Gestalt einer Äffin gebannt.
Soweit glich alles, ob mormonisch oder nicht, einem christlichen Begräbnis. Die altbekannte Stelle aus Hiob war verlesen worden, das Gebet gesprochen, das Grab aufgefüllt, und die Leidtragenden begaben sich einzeln nach Hause. Abgesehen von der etwas gröberen Erddecke, der etwas aufdringlicheren Stimme des Ozeans, dem stärkeren Sonnenlicht, das über der primitiven Einfriedung spielte, und den ein wenig deplazierten Farben der Trauerkleider, hatte man wohlbekannte alte Formen eingehalten.
Von rechtswegen hätte es ganz anders kommen sollen. Die Matte hätte eigentlich mit dem Besitzer begraben werden müssen, da die Familie aber sehr arm war, sparte man sie klugerweise bis zu dem nächsten Begräbnis auf. Die Witwe hätte sich über das Grab hinwerfen sollen, um die offizielle Totenklage zu erheben, in die die Nachbarn dann eingestimmt hätten, und die schmale Insel hätte eine Weile von ihren Lamentationen widergehallt. Aber die Witwe war alt; vielleicht hatte sie ihre Rolle vergessen, vielleicht sie auch niemals richtig begriffen, statt dessen spielte sie wie ein Kind mit Blättern und Tragstangen. In allen Punkten war der Ritus, mit dem mein Gast begraben wurde, verstümmelt worden. Seltsam, dieser Gedanke, daß seine letzte bewußte Freude die »Casco« und mein Fest gewesen waren, seltsam, daß er wie ein altes Kind dorthin gehumpelt kam auf der Suche nach neuen guten Dingen. Und das Beste von allen guten Dingen, Ruhe, war ihm gewährt worden.
Aber obwohl die Witwe vieles vernachlässigt hatte, eine Sache durfte sie nicht außer acht lassen. Auch sie ging mit dem sich auflösenden Trauergefolge hinweg, doch blieb des Toten Matte auf dem Grabe zurück, und ich erfuhr, daß sie bei Sonnenuntergang wiederkommen müßte, um dort zu schlafen. Diese Nachtwache ist einfach unerläßlich. Von Sonnenuntergang bis zum Aufstieg des Morgensternes ist der Paumote verpflichtet, über der Asche seiner Verwandten zu wachen. Zahlreiche Freunde leisten dem Wachthabenden dabei Gesellschaft, wenn der Tote ein Mann von Rang und Bedeutung war; man versorgt sie gut mit Decken gegen die Unbilden des Wetters; ich glaube, sie bringen auch ihr Essen mit, und diese Zeremonie wird zwei Wochen lang eingehalten. Unsere arme Überlebende, falls man sie wirklich noch als Überlebende bezeichnen kann, hatte jedoch nur wenige Decken, unter denen sie sich verkriechen konnte, und noch weniger Freunde, mit ihr zu wachen. In der Nacht nach dem Begräbnis trieb ein starker Sturm sie von dem Grabe hinweg, tagelang blieb das Wetter unbeständig und rauh, und noch vor der siebenten Nacht hatte sie die Sache aufgegeben und war zum Schlafen unter ihr niedriges Dach zurückgekehrt. Daß sie sich die Mühe machte, zu so kurzem Besuch in ein so einsames Haus zurückzukehren, daß dieser Mensch, so hart am Rande des Grabes, ein wenig Wind und eine nasse Decke so fürchten konnte, gab mir seinerzeit viel zu denken. Ich kann nicht einmal behaupten, daß sie gleichgültig war; sie stand in allem so gänzlich außerhalb des Bereichs meiner Erfahrungen, daß meine Kritik vor ihr versagte, aber ich erdichtete für sie allerlei Entschuldigungen, indem ich mir selbst erklärte, sie hätte vielleicht wenig zu beweinen gehabt, vielleicht auch viel gelitten und verstände nun nichts mehr davon. In Wahrheit spielten bei der Sache Pietät und Zärtlichkeit überhaupt nicht mit, die unerschrockene Rückkehr des alten Weibleins unter das heimatliche Dach war ein Anzeichen entweder von ungewöhnlicher Vernunft oder von ungewöhnlicher Willensstärke.
Eine einzige Sache ereignete sich, die mir etwas Klarheit brachte. Ich sagte schon, daß das Begräbnis im großen und ganzen so verlief wie bei uns zu Hause. Als jedoch alles vorbei war und wir alle miteinander in schicklichem Schweigen von dem Friedhofseingang den Weg zum Dorfe hinuntergingen, schreckte uns ein plötzlicher und vielleicht peinlicher Mißton aus unserer Stimmung auf. Zwei Menschen schritten nicht weit voneinander in der Prozession einher: mein Freund Mr. Donat -- Donat-Rimarau, »Donat, der Vielhändige«, der stellvertretende Vizegouverneur, der gegenwärtige Beherrscher des Archipels, bei weitem die wichtigste Persönlichkeit der ganzen Szene, der außerdem wegen seiner unerschütterlichen Gutmütigkeit bekannt war, und eine hübsche, robuste junge Paumotin, die hübscheste, aber hoffentlich nicht die tapferste und höflichste der ganzen Insel. Ganz plötzlich, ehe noch das feierliche Schweigen des Begräbnisses gebrochen war, sprang sie auf den Gouverneur zu, zeigte mit dem Finger auf ihn, schrie ihm ein paar Worte ins Gesicht und trat, in unnatürliches Gelächter ausbrechend, wieder zurück. »Was hat sie Ihnen gesagt?« fragte ich. »Sie hat gar nicht zu mir gesprochen«, entgegnete ein wenig beunruhigt Donat, »sie sprach zu dem Geiste des Toten.« Und der Inhalt ihrer Rede war etwa folgender: »Sieh da! Donat wird heut Nacht einen fetten Bissen für dich abgeben!«
»Mr. Donat nannte es einen Scherz«, schrieb ich damals in mein Tagebuch. »Mir erschien es aber weit eher einer aus Angst geborenen Beschwörung zu gleichen, als ob sie dadurch des Geistes Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken versuchte. Ein Kannibalenvolk kann sehr wohl auch kannibalische Gespenster besitzen. Gemeinhin scheinen die Vermutungen von Reisenden von vornherein dazu verurteilt, auf Irrtümern zu beruhen, die meinige hatte diesmal jedoch den Nagel auf den Kopf getroffen. Das Weib hatte voller Entsetzen dem Begräbnis beigewohnt, da sie sich in jenem Augenblick zufällig an einem gefürchteten Ort, dem Kirchhof, befand. Mit Entsetzen sah sie der kommenden Nacht entgegen, in der jener Dämon, der neue Geist, auf die Insel losgelassen werden sollte. Die Worte, die sie Donat ins Gesicht schleuderte, waren in der Tat eine angsterfüllte Beschwörung, in der niedrigen Absicht, sich selbst zu schützen und gemeinerweise den anderen an ihre Stelle zu setzen. Das eine läßt sich zu ihrer Entschuldigung anführen. Sicherlich hatte sie Donat teils wegen seiner übergroßen Gutmütigkeit gewählt, teils aber auch, weil er ein Halbblut war. Denn soviel ich weiß, halten alle Eingeborenen das Blut der Weißen für einen Talisman gegen die Mächte der Hölle. Auf keine andere Art vermögen sie die ungestrafte Tollkühnheit der Europäer zu erklären.«
Meinen abergläubischen Freunden, den Polynesiern gegenüber, bin ich, fürchte ich, nicht immer ganz aufrichtig gewesen, denn häufig gab ich als erster irgendeine Mär zum besten, und stets war ich ein ernsthafter, mitunter aber auch ein aufgeregter Zuhörer. Allein dieser kleine Betrug dürfte nicht sehr schwer wiegen, da es mir ebenso viel Freude machte, zuzuhören, wie ihnen, zu erzählen, und da ich so viel Gefallen an den Geschichten fand, wie sie an ihrem Aberglauben. Außerdem ist ein derartiger Betrug durchaus notwendig, denn es ist kaum möglich, die Vielseitigkeit und Macht ihres Aberglaubens zu übertreiben. Er formt ihr ganzes Leben und beeinflußt ihr Denken von Grund aus. Wenn sie nicht von Gespenstern, Göttern und Teufeln sprechen, spielen sie die Heuchler und reden nur mit den Lippen. Angesichts einer so völlig verschiedenen Gedankenwelt ist man gezwungen, auf die anderen Rücksicht zu nehmen, und mir ist es lieber, ich pflege ihren Aberglauben, als daß sie meine Ungläubigkeit nähren. Von einem bin ich außerdem überzeugt: mag ich ihnen noch so sehr nachgehen, niemals werde ich den ganzen Umfang ihres Aberglaubens kennenlernen, denn stets sind sie vor Leuten meinesgleichen auf der Hut, und ihre Sagenwelt ist schier unerschöpflich.
Ich will hier nur einige willkürliche Beispiele anführen, die ich in der Hauptsache auf meiner eigenen Türschwelle auf Upola im vergangenen Monat (Oktober 1890) erfuhr. Einer meiner Arbeiter wurde kürzlich nach dem Bananenhain geschickt, um dort zu graben. Der Hain lag in einer Senke zwischen den Bergen tief in den Wäldern verborgen, außer Sicht- und Rufweite von Menschen, und lange vor der Abenddämmerung stand Lafaele mit verlegener Miene bereits wieder neben der Küche: er hätte nicht gewagt, länger zu bleiben, er fürchte sich vor den Geistern im Busch. Es scheint, daß es die Seelen der unbegrabenen Toten sind, die sich dort aufhalten, wo sie starben, und jetzt die Formen von allerlei Waldgetier annehmen, von Ebern, Vögeln oder Insekten. Der Busch soll von ihnen wimmeln, sie essen anscheinend überhaupt nicht, sondern töten den einsamen Wanderer nur aus Bosheit, und mitunter ziehen sie auch in Menschengestalt ins Dorf hinab, um sich dort, unentdeckt zu den Lebenden zu gesellen. Das erfuhr ich wenige Tage später, als ich mit einem sehr intelligenten jungen Burschen, einem Eingeborenen, im Busch spazierenging. Es war kurz vor Mittag an einem grauen, stürmischen Tage, und ich hatte vielleicht etwas leichtfertig gesprochen. Da barst eine dunkle Wolke zwischen den Bergen, die Wälder bebten und ächzten, die welken Blätter stoben in Schwärmen wie Schmetterlinge dahin und mein Gefährte blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Er hätte Furcht, erklärte er, daß die Bäume stürzen könnten; kaum hatten wir jedoch unser Thema gewechselt, als er wieder munter drauflosschritt. Einige Tage zuvor war ein Bote mit einem Brief von Apia den Berg hinaufgekommen: ich war damals gerade im Busch gewesen, und er hatte meine Rückkehr sowie die Antwort abwarten müssen. Ich war noch nicht fertig, da brach er schon in schrille Klagen über die hereinbrechende Dunkelheit und den langen Weg durch den Wald aus. Das ist nun das gemeine Volk. Aber nehmen wir die Häuptlinge. In unserer Gruppe herrscht gerade ein großes Kommen und Gehen von Zeichen und Omina. Der eine Fluß führt Blut mit sich, in einem anderen fängt man rote Aale; ein unbekannter Fisch wurde in unserer Gegend an Land geworfen und auf seinen Schuppen stand ein verhängnisvolles Wort geschrieben. Das gleiche hätten wir noch ebensogut in irgendeiner mittelalterlichen Mönchschronik lesen können: jetzt kommt aber eine frische, zugleich moderne und polynesische Note. Die Götter von Upolu und Sawaii, unseren beiden Hauptinseln, haben erst kürzlich insgeheim einen Krickettmatch ausgefochten. Seitdem liegen sie miteinander im Kriege. Der Lärm der Schlacht rollt mitunter die ganze Küste entlang. Ein Weib sah einen Mann aus dem offenen Meer an das Ufer schwimmen und im Busch verschwinden; er stammte nicht irgendwoher aus der Nachbarschaft, nein, man wußte, es war einer der Götter auf dem Wege zu einer Ratsversammlung. Und, was das Auffallendste von allem ist, ein Missionar aus Sawaii, der gleichzeitig Arzt ist, wurde erst kürzlich in der Nacht durch Klopfen geweckt. Es war gar nicht die Zeit seiner Sprechstunde, aber schließlich wachte er doch auf und schickte jemanden hin, um nachzufragen. Als der Diener aus dem Fenster schaute, sah er eine große Menge Menschen, alle schwerverletzt, mit abgerissenen Gliedern, eingeschlagenen Köpfen und blutenden Schußwunden; aber als das Tor geöffnet wurde, waren sie alle verschwunden. Selbstverständlich waren es die Götter, die von dem Kampfplatz heimkehrten.
Diese Gerüchte haben natürlich ihre Bedeutung; unschwer lassen sie sich auf politisch Mißvergnügte zurückführen und leicht kann man in ihnen Anzeichen kommender Gefahren lesen; von dieser rein menschlichen Seite aus betrachtet, fand ich sie auch nicht ungefährlich. Doch wurde gerade ihre geistige Seite in geheimen Beratungen von höher gestellten Personen meiner Bekanntschaft erörtert. Am besten lassen sich die verschiedenen Gesichtspunkte des Polynesiers in zwei miteinander zusammenhängenden Vorfällen schildern. Ich wohnte einmal in einem Dorfe, dessen Namen ich nicht zu nennen brauche. Der Häuptling und seine Schwester waren durchaus kluge Menschen: adlig und sehr redegewandt. Die Schwester war streng religiös, eine eifrige Kirchenbesucherin, die mir Vorwürfe machte, wenn ich dem Gottesdienste fernblieb. Später erfuhr ich, daß sie insgeheim einen Hai anbetete. Der Häuptling selbst war etwas von einem Freidenker, zum mindesten ein toleranter Mann; dabei besaß er zahlreiche europäische Kenntnisse und Fertigkeiten sowie eine passive, philosophische Ironie. Ebensogut hätte ich in Herbert Spencer irgendeinen Aberglauben vermuten können. Nun aber kommt die Fortsetzung. Durch untrügliche Zeichen war ich darauf aufmerksam geworden, daß man die Leute auf dem Friedhof nicht tief genug verscharrte, und ich sprach mit meinem Freunde als mit der zuständigen Amtsperson darüber. »Etwas ist mit Ihrem Friedhof nicht in Ordnung«, sagte ich, »Sie müssen sich darum kümmern, sonst kann es sehr üble Folgen haben.« »Nicht in Ordnung? Was denn nur?« lautete seine Frage, die mit einer Erregung ausgesprochen wurde, welche mich in Erstaunen setzte. »Falls Sie mal an irgendeinem Abend so gegen neun Uhr da vorbeikommen wollen, können Sie sich selbst davon überzeugen«, erwiderte ich. Er wich einen Schritt zurück. »Ein Gespenst!« schrie er.
Kurz und gut, in der ganzen Südsee hat keiner das Recht, dem anderen Vorwürfe zu machen. Ob Halbblut oder ganz schwarz, ob fromm oder lasterhaft, intelligent oder dumm, alle glauben an Geister, alle verbinden mit ihrem jungen Christentum die Furcht vor den alten Inselgottheiten und den zähen Glauben an sie. So sind auch in Europa die Götter des Olymps allmählich zu Dorfpopanzen zusammengeschrumpft; so stiehlt sich auch heute noch der kirchengläubige Hochländer vor den Augen des Geistlichen hinweg, um an irgendeinem heiligen Brunnen sein Opfer niederzulegen.
Ich suche den ganzen Fragenkomplex an dieser Stelle zu behandeln, weil der paumotische Aberglaube von ganz besonderer Art ist. Allerdings lernte ich ihn auch durch einen Menschen kennen, der ein ausgesprochenes Talent für derartige Geschichten besitzt. Abends, eng um unsere Lampe geschart, das Geräusch der Brandung in unseren Ohren, hingen wir aufgeregt an seinen Lippen. Meine Leser, in einer so ganz anderen Umgebung, müssen scharf aufpassen, um ein leises Echo hiervon zu vernehmen.
Der ganze Kreis unheimlicher Geschichten entsprang dem Begräbnis und der egoistischen Beschwörung jener Frau. Ich war unbefriedigt von dem, was man mir gesagt hatte, kam immer wieder auf diese Fragen zu sprechen und stieß endlich auf eine ergiebige Ader. Von Sonnenuntergang bis etwa vier Uhr morgens müssen die Verwandten des Toten auf dem Grabe Wache halten, denn dies sind die Stunden, in denen der Geist umgeht. Jederzeit in der Nacht -- früher oder später -- kann man in der Erde ein Geräusch hören, das das Zeichen seiner Befreiung ist; pünktlich um vier Uhr folgt ein zweites Geräusch, das seine Rückkehr in die Gefangenschaft ankündigt, dazwischen treibt der Geist sein Unwesen. »Haben Sie je einen bösen Geist gesehen?« fragte ich einmal einen Paumoten. »Ein einziges Mal.« »In welcher Gestalt?« »In der Gestalt eines Kranichs.« »Und woher wußten Sie, daß der Kranich ein Geist war?« »Das werde ich Ihnen sagen«, erwiderte er, und erzählte folgende konfuse Geschichte. Sein Vater war vor etwa vierzehn Tagen gestorben, die anderen hatten das Wachen satt bekommen und als die Sonne unterging, befand er sich allein auf dem Grabe. Noch war es nicht dunkel, der Widerschein spendete noch etwas Helle, da bemerkte er auf einer Korallenbank einen schneeweißen Kranich. Allmählich kamen immer mehr Kraniche dazu, weiße und schwarze, dann verschwanden sie wieder und an ihrer Stelle sah er eine weiße Katze. Zu dieser Katze gesellte sich eine ungeheure Menge Katzen von jeder nur möglichen Farbe, bis auch diese verschwanden, und er verwundert zurückblieb.
Das war eine tröstliche Erscheinung. Nehmen wir statt dessen das Erlebnis Rua-a-mariterangis von der Insel Katiu. Rua brauchte einige Pandanen und ging auf die andere Seite der Insel, an den Meeresstrand, wo sie in Mengen wachsen. Der Tag war windstill, daher wunderte sich Rua, im Busch ein krachendes Geräusch und den Fall eines großen Baumes zu hören. Hier muß einer am Werke sein, sich ein Kanoe zu bauen, dachte er, und er betrat den Saum des Waldes, um mit seinem zufälligen Nachbarn einen kleinen Schwatz zu halten. Das Krachen klang immer näher, und dann merkte er, wie etwas aus den Baumwipfeln rasch auf ihn zu kam. Das Etwas baumelte mit dem Kopf nach unten und hielt sich wie ein Affe mit den Zehen fest, so daß seine Hände für jede Mordtat frei waren; es hing auch an den dünnsten Zweigen noch sicher, die Schnelligkeit mit der es sich näherte, war kaum zu glauben und bald erkannte Rua, daß es eine Leiche war, furchtbar durch ihr Alter, der die Eingeweide aus dem Leibe hingen. Gebet war das Mittel, zu dem unsere Christen im Mittelalter bei Geistererscheinungen ihre Zuflucht nahmen, und dem Gebet schreibt auch Rua-a-mariterangi seine Rettung zu. Eine rein irdische Waffe hätte ihm niemals helfen können.
Der Dämon war, kein Zweifel, dem Grabe entstiegen, obwohl es, wie man bemerkt haben wird, heller Tag war. Und wenn die Erscheinung auch im Widerspruch steht zu dem, was man über die Stunden der Nachtwache und den immer wieder erwähnten Morgenstern erzählt, so bildet sie doch durchaus nicht die einzige Ausnahme. Zwar habe ich niemals wieder gehört, daß jemand diesem mittäglichen Baumgeist begegnet wäre, andere aber haben den Sturz des Baumes vernommen, der das Signal seines Kommens zu sein scheint. Mr. Donat nahm einmal an einer Perlenfischerei auf der unbewohnten Insel Haraiki teil. Es war ein vollkommen ruhiger Tag, wie er in dem ganzen Archipel mit Tagen rauhen Windes abwechselt. Die Taucher befanden sich in der Mitte der Lagune bei der Arbeit, der Koch, ein zehnjähriger Junge, hantierte im Lager mit seinen Töpfen herum. So waren sämtliche Anwesende bis auf einen Eingeborenen, der Mr. Donat auf der Suche nach Vogeleiern begleitete, beschäftigt. Da hörten sie ganz plötzlich in der großen Stille den Fall eines mächtigen Baumes. Donat wollte weitergehen, um die Ursache zu ergründen, aber sein Begleiter rief: »Nein, das war kein Baum. Da stimmt etwas nicht, wir wollen in das Lager zurückkehren.« Am nächsten Sonntag wurden sämtliche Taucher ausgeschickt, um die Insel zu durchsuchen, und tatsächlich war auch kein Baum gefallen. Kurz danach sah Mr. Donat auf der nämlichen Insel einen seiner Taucher vor einem ähnlichen Geräusch in ähnlicher, echter Panik fliehen. Aber keiner wollte sich näher erklären, und erst später, als er mit Rua zusammenkam, erfuhr Donat den Grund ihres Schreckens.
Indessen bleibt der Zweck, den die Toten mit ihrem furchtbaren Wirken verfolgen, einerlei ob sie bei Tage oder in der Nacht erscheinen, stets der gleiche. Mein Gewährsmann auf Samoa hatte keine Ahnung, wovon die Buschgeister sich nährten; auf den Paumotu herrscht jedoch in dieser Beziehung keinerlei Unklarheit. In jenem stets hungrigen Archipel müssen die Toten wie die Lebenden um ihre Nahrung kämpfen, und da die Rasse in der Vergangenheit kannibalisch war, sind die Geister es auch heute noch. Da doch die Lebenden die Toten verzehrten, folgerte die erschreckte mitternächtliche Phantasie daraus, daß auch die Toten die Lebenden essen könnten. Zweifellos töten, ja verstümmeln die Geister die Menschen manchmal aus schierer Bosheit. Die marquesanischen Gespenster reißen zum Beispiel den Reisenden die Augen aus. Aber selbst das beruht vielleicht auf konkreteren Tatsachen, als man auf den ersten Blick annehmen möchte, denn das Auge gilt überall bei Kannibalen als ein Leckerbissen, und ohne Frage ist das Grundmotiv dieser Toten, die des Nachts umherstreifen, die Jagd nach Nahrung. Auch jenes Weib bei der Beerdigung pries Donat als einen delikaten Bissen an. Außerdem gibt es noch Geister, die es sich zur Spezialität machen, sich nicht von den Leibern, sondern von den Seelen der Toten zu ernähren. Das geht klar aus einer tahitischen Geschichte hervor. Ein Kind erkrankte, siechte schnell dahin und zeigte endlich alle Anzeichen des nahenden Todes. Da eilte die Mutter zu einem Zauberer, der in der Nähe wohnte. »Du kommst gerade noch zur rechten Zeit«, meinte der, »eben ist ein Geist an meiner Tür vorbeigelaufen, der die Seele deines Kindes in ein Puraoblatt gewickelt forttrug; aber ich habe einen Geist, der stärker ist und noch schneller läuft als er; der wird ihn einholen, bevor er Zeit hat, sie zu essen.« -- In ein Blatt gewickelt: Wie alle eßbaren und dem Verfall ausgesetzten Dinge!
Oder nehmen wir einen Vorfall, der Mr. Donat auf der Insel Anaa zustieß. Es war in einer sehr stürmischen Nacht, der Wind fegte in Böen daher; das Kind war schwer krank, und der Vater lag, obwohl er zu Bett gegangen war, wach und lauschte auf den Sturm. Ganz plötzlich wurde eines seiner Hühner heftig gegen die Wand des Hauses geschleudert. In der Annahme, daß er vergessen hätte, es mit den anderen unter Dach und Fach zu bringen, stand Donat auf, fand das Tier (einen Hahn) auf der Veranda liegen und tat es in den Hühnerstall, dessen Tür er fest hinter ihm verriegelte. Fünfzehn Minuten später wiederholte sich die Geschichte mit dem einzigen Unterschied, daß das Tier diesmal, als es gegen die Wand geschleudert wurde, aufkrähte. Wieder brachte Donat es in den Stall, wobei er diesen genau untersuchte und feststellte, daß alles in Ordnung war. Während er noch damit beschäftigt war, blies der Wind das Licht aus und er mußte sich, ziemlich nervös geworden, zur Tür zurücktasten. Noch ein drittes Mal wurde der Vogel gegen die Wand geworfen, und zum drittenmal brachte Donat ihn in halbtotem Zustande zu dem übrigen Geflügel zurück. Kaum hatte er aber das Haus wieder erreicht, als irgend etwas mit der Kraft eines starken Mannes gegen die Tür stürmte und ein Pfeifen rings um das Haus ertönte, so laut wie von einer Lokomotive. Der skeptische Leser wird hierin nur die Anzeichen des wütenden Sturmes erkennen, die Frauen jedoch glaubten, alles wäre verloren und saßen wehklagend aneinandergedrängt auf den Betten. Nichts weiter geschah, und ich nehme an, daß das Unwetter allmählich nachließ, denn nach einer Weile kam ein Häuptling zu Besuch. Er war ein kühner Mann, daß er so spät noch auf den Beinen, war und trug zweifellos eine helle Laterne. Jedenfalls war er ein weiser Mann, denn kaum hatte er die Einzelheiten dieser Störungen gehört, als er sie auch schon erklärte. »Dein Kind«, sagte er, »wird sicherlich sterben. Das ist der böse Geist unserer Insel, der auf der Lauer liegt, um die Geister der soeben Verstorbenen zu verschlingen.« Und dann fuhr er fort, sich über das seltsame Benehmen des Geistes zu wundern. Gewöhnlich, meinte er, wäre er gar nicht so offen in seinen Angriffen, meist säße er stumm auf dem Dache auf der Lauer, und zwar in Gestalt eines Vogels, während die Insassen, ohne an irgend eine Gefahr zu denken, die Sterbenden pflegten oder die Toten beweinten. Wenn dann aber der Tag graute, die Türen geöffnet würden und die Menschen ausgingen, verrieten Blutflecke an der Wand die schreckliche Tragödie.
Hier findet sich das wieder, was ich an den paumotischen Sagen bewundere. Auf Tahiti soll der Seelenfresser eine Erscheinungsform wählen, die zwar viel pompöser, aber weit weniger grausig ist. Menschen jeder Art und jedes Standes, Eingeborene wie Ausländer, haben ihn gesehen; nur behaupten die letzteren, daß er ein Meteor sei. Mein Gewährsmann war dessen aber nicht ganz so sicher. Einst war er mit seiner Frau um zwei Uhr morgens auf einem Ritt unterwegs; beide kämpften gegen den Schlaf an, und den Pferden ging es auch nicht viel besser. Es war eine strahlend helle, stille Nacht, und der Weg führte sie über den Berg dicht an einem verödeten Marae (alten tahitischen Tempel) vorbei. Plötzlich zog die Erscheinung in Form eines gewissen Lichts mit rundem, grünlich schimmerndem Kopf, langem roten Schweif und einem Brennpunkt von noch tieferer Röte in seinem Inneren über ihre Köpfe hinweg. Ein surrendes Geräusch begleitete dies Fliegen, und die Erscheinung bewegte sich direkt von dem einen Marae auf einen anderen tiefer am Berge gelegenen zu. Das aber, behauptete mein Gewährsmann, sei überaus vielsagend. Denn weshalb sollte ein bloßer Meteor die Altäre der verruchten Götter heimsuchen? Ich muß noch hinzufügen, daß die Pferde nicht weniger erschrocken waren als die Reiter. Ich dagegen bin nicht im geringsten, nicht einmal angenehm erschreckt. Da ziehe ich schon den Vogel aus dem Dachfirst und die morgendlichen Blutspritzer an der Wand vor.
Die Toten sind in ihrer Nahrung durchaus nicht wählerisch. Insbesondere nehmen sie ins Grab die polynesische Vorliebe für Fische mit, und manchmal lassen sie sich sogar mit den Lebenden auf eine Partnerschaft im Fischen ein. Rua-a-mariterangi ist hier wiederum mein Gewährsmann; ich fühle zwar, daß dies das Gewicht der von mir zu schildernden Tatsachen vermindert, wie wundervoll baut diese Geschichte indes die Gestalt jenes unverbesserlichen alten Geistersehers auf! Rua gehört zu der jämmerlich armen Insel Taenga, trotzdem war seines Vaters Haus stets reichlich mit Fischen versorgt. Als Rua erwachsen war, wurde er endlich aufgefordert, mit seinem Glückspilz von Vater fischen zu gehen. So ruderten sie denn in der Abenddämmerung an eine abgelegene Stelle der Lagune, der Junge streckte sich am Heck aus und der Vater begann vor seinen Augen die Angelschnur auszuwerfen. Es ist anzunehmen, daß Rua jetzt einschlief. Jedenfalls saß, als er erwachte, eine fremde Gestalt neben seinem Vater, und sein Vater war dabei, so schnell er nur konnte Fische über Fische an Bord zu ziehen. »Wer ist jener Mann, Vater?« fragte Rua. »Das geht dich nichts an«, antwortete sein Vater, und Rua nahm an, der Fremde wäre vom Ufer her zu ihnen herübergeschwommen. Nacht für Nacht fuhren sie nun auf die Lagune zu den einsamsten Stellen hinaus; Nacht für Nacht tauchte der Fremde plötzlich unter ihnen auf, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden, und Morgen für Morgen kam das Kanoe mit Fischen beladen heim. »Mein Vater ist wirklich ein Glückspilz«, dachte Rua. Endlich, eines schönen Tages, erhielten sie Besuch von einer, dann einer zweiten Schiffsgesellschaft, die bewirtet werden mußten; Vater und Sohn brachen später als gewöhnlich nach der Lagune auf, und ehe das Kanoe an Ort und Stelle war, war es bereits vier Uhr geworden und der Morgenstern stand dicht unter dem Horizont. Da schien der Fremde von einem plötzlichen Unbehagen befallen; er drehte sich um und wandte zum erstenmal Rua das Gesicht eines Menschen zu, der lange schon tot ist, mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen. Dann starrte er lange Zeit nach Osten, blies auf seine Fingerspitzen wie einer, den es friert, stieß einen seltsamen, schauerlichen Ton aus, der halb ein Pfeifen, halb ein Stöhnen war, und bei dem einem das Blut in den Adern gerann, und zerfloß, gerade in dem Augenblick als der Morgenstern aus dem Meere auftauchte, plötzlich in Nichts. Jetzt verstand Rua, weshalb es seinem Vater so gut ging, weshalb seine Fische in der Morgenfrühe verfaulten und weswegen immer etliche davon auf den Friedhof getragen und auf die Gräber gelegt wurden. Nun war zwar mein Gewährsmann ganz entschieden kein Feind des Aberglaubens, trotzdem blieb er stets nüchtern und bezeugte für derartige Dinge ein gewisses überlegenes Interesse, das ich mit gutem Recht als wissenschaftlich bezeichnen kann. Da also der letzte Punkt ihn an einen ähnlichen Brauch auf Tahiti erinnerte, fragte er Rua, ob die Fische auf den Gräbern liegen gelassen wurden, oder ob man sie nur scheinbar opferte und dann wieder mit sich nähme? Es stellte sich heraus, daß der alte Mariterangi beides tat; manchmal brachte er seinem schattenhaften Partner lediglich ein Scheinopfer dar, mitunter ließ er seine Fische aber auch ganz ehrlich auf dem Grabe vermodern.
Es ist klar, daß wir in Europa ähnliche Geschichten kennen: der polynesische »varua ino« oder »aitu o le vao« ist offenbar ein naher Verwandter des transsylvanischen Vampyrs. Aus der nachstehenden Geschichte gehen die nahen Beziehungen beider deutlich hervor. Auf dem damals zum Teil noch unzivilisierten Atoll Penrhyn lebte einst ein Häuptling, der lange Zeit ein heilsamer Schrecken der Eingeborenen war. Er starb und wurde begraben; kaum hatten jedoch seine bisherigen Nachbarn die Süßigkeit ihrer Freiheit gekostet, als auch schon sein Geist im Dorfe umging. Furcht packte sie alle; aus den wichtigsten Männern und Zauberern wurde ein Rat gebildet und mit Genehmigung Rarotongans, des Missionars, der nicht minder ins Bockshorn gejagt war als die anderen, sowie in Gegenwart verschiedener Weißer -- darunter auch meines Freundes Mr. Ben Hird -- wurde das Grab geöffnet, vertieft, bis man auf Wasser stieß, und die Leiche mit dem Gesicht nach unten neu eingegraben. Das Pfählen von Selbstmördern in England, wie es vor kurzem noch Sitte war, sowie das Köpfen der Vampyre im östlichen Europa bilden enge Parallelen hierzu.
Auf Samoa fürchtet man sich nur vor den unbegrabenen Toten. Während des letzten Krieges sind viele im Busch gefallen; ihre Leichen wurden mitunter geköpft, von den eingeborenen Pastoren eingeholt und begraben; das genügte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht, jeder Geist fuhr fort, auf dem Schauplatz seines Ablebens zu spuken. Als der Friede erklärt wurde, spielten sich an manchen Orten, hauptsächlich aber in der Nähe der hochgelegenen Schluchten von Lotoanuu, wo die Kämpfe sich konzentriert hatten und die Verluste am heftigsten gewesen waren, merkwürdige Szenen ab. Die weiblichen Verwandten der Toten kamen, von den Überlebenden des Kampfes begleitet, mit Matten oder Laken beladen. Die Stellen, wo die Betreffenden gefallen waren, wurden sorgfältig erforscht, dann wurde das Laken auf dem Boden ausgebreitet und die Frauen hielten, von pietätvoller Sorge getrieben, daneben Wacht. Wenn irgendein Lebewesen sich darauf niederließ, wurde es die ersten beiden Male verscheucht, das drittemal jedoch wußte man, daß es der Geist des Toten war; es wurde daher eingefangen, nach Hause gebracht und neben der Leiche begraben. Damit hatte der Aitu seine Ruhe gefunden. Diese Zeremonie entsprang sicherlich den schlichtesten, frommsten Motiven; sie hatte zum Ziel den Frieden der Seele, der Beweggrund war pietätvolle Liebe. Der gegenwärtige König will jedoch nichts von den gefährlichen Aitus wissen; er erklärt, die Seelen der Unbegrabenen wanderten lediglich im Fegefeuer umher, unglücklich wohl, ohne die Möglichkeit, das eigentliche Totenland zu erreichen, aber in keiner Hinsicht schädlich. Diese streng klassische Auffassung spiegelt zweifellos den Standpunkt der Aufgeklärten wider, während die Flucht meines Lafaeles die gröberen Schrecken der Unwissenden zum Ausdruck bringt.
Der Glaube an die exorzierende Kraft der Grabriten erklärt vielleicht die an sich sonst erstaunliche Tatsache, daß kein Polynesier das Grauen des Europäers vor menschlichem Gebein und Mumien teilt. Aus dem einen stellte er früher die geschätztesten Schmuckstücke her; man pflegte es in den Häusern oder in Gräberhöhlen aufzubewahren, ja, die Wächter des königlichen Grabes wohnten mit ihren Kindern unter den Gebeinen zahlreicher Generationen von Verstorbenen. Die Mumien wurden selbst während der Herstellung ebensowenig gefürchtet. Auf den Marquesas, in den Siedlungen unmittelbar an der Küste, wurden sie von den Mitgliedern des Haushaltes eigenhändig wiederholt geölt und dem Sonnenlicht ausgesetzt, um sie herzurichten; auf den Karolinen werden sie auch heute noch in dem Rauchfang des Familienherdes konserviert. Außerdem ist die Kopfjägerei noch hart an der Türschwelle meines Hauses auf Samoa zu Hause, und zehn Jahre ist es her, daß auf den Gilbertinseln die Witwe verpflichtet war, den Schädel ihres toten Gatten eigenhändig auszugraben, zu reinigen, zu polieren und dann Tag und Nacht mit sich herumzutragen. In allen diesen Fällen können wir annehmen, daß der Vorgang, entweder des Trocknens oder des Reinigens, den Aitu völlig exorziert.
Der paumotische Glaube ist jedoch weniger klar. Hier wird der Mann ordnungsgemäß begraben und muß von nun an bewacht werden. Er wird auch bewacht, trotzalledem geht sein Geist um. In der Tat ist es nicht der Zweck dieser Wachen, derartige Wanderungen zu verhüten; sie sollen vielmehr durch höfliche Aufmerksamkeit die inhärente Bosheit des Toten besänftigen. Vernachlässigung kann -- so nimmt man an -- ihn ärgern und seine Verfolgungen heraufbeschwören, daher wägen die Alten und Schwachen das Risiko mitunter ab und ziehen es vor, zu Hause zu bleiben. Man vergesse nicht, daß es des Toten eigene Sippe und nächste Freunde sind, die so seinen bösen Willen durch ihre Nachtwachen milde stimmen. Selbst diese beschwichtigende Zeremonie gilt als gefährlich, es sei denn, daß zahlreiche Personen daran teilnehmen; in Rotoava wurde mir eines Tages ein Junge eigens deshalb vorgeführt, weil er ganz allein neben seines Vaters Grab gewacht hatte. Weder die verwandtschaftlichen Bindungen des Toten noch sein im Leben bewiesener Charakter vermögen den Ausgang zu beeinflussen. Einer der verflossenen Gouverneure, der auf Fakarava an den Folgen eines Sonnenstichs starb, war zu seinen Lebzeiten sehr beliebt und steht auch heute noch im liebevollen Andenken der Leute, trotzdem geht sein Geist, mit allen Schrecken des Todes bekleidet, auf der Insel um, so daß die Nachbarschaft des Regierungssitzes in der Dunkelheit ängstlich gemieden wird. Ja, diese heitere Lehre läßt sich wie folgt zusammenfassen: Alle Menschen werden Vampyre, und die Vampyre verschonen niemanden. Aber hier stehen wir plötzlich einer gewinnenden Ausnahme gegenüber: die Geister der Pfeifer sind ausgesprochene Stammesgeister. Wenn ich mich nicht irre, umgeben und unterrichten sie einzig ihre Stammesverwandten, und das Medium ist stets von dem Geschlecht des sich mitteilenden Geistes. So sehen wir denn einerseits die Bande der Familie mit dem Tode abgeschnitten, andererseits aber auch in hilfreicher Weise über ihn hinaus weiterbestehen.
Nach der tahitischen Sage war die Seele des Kindes in Blätter eingepackt. Die Geister der Frischverstorbenen gelten nämlich als besondere Delikatesse. Wenn sie getötet werden, wird das Haus mit Blut bespritzt. Ruas toter Fischer befand sich in der Auflösung; zersetzt -- und zwar in furchtbarer Weise zersetzt -- war auch sein Baumgeist. Die Geister sind also materielle Wesen, und nur durch die materiellen Anzeichen der Verwesung unterscheiden sie sich von den lebenden Menschen. Diese so weit verbreitete Ansicht gesellt dem stark Grausigen, das in den widerwärtigsten polynesischen Sagen zum Ausdruck gelangt, noch einen besonders abstoßenden Zug hinzu, den manchmal auch die liebenswürdigsten Einzelheiten nicht zu mildern vermögen. Ich führe zu diesem Zweck zwei ziemlich weit auseinanderliegende Beispiele aus Tahiti und Samoa an.
Zuerst das tahitische. Ein Mann ging einst auf Besuch zu dem Gatten seiner Schwester, die schon seit längerer Zeit verstorben war. Zu ihren Lebzeiten war die Schwester nach Inselart stets zierlich gekleidet gegangen mit einem Blumenkranze auf dem Kopf. Mitten in der Nacht wachte nun der Bruder durch einen überirdisch lieblichen Duft auf, der im Hause hin und her schwebte. Die Lampe wird wohl ausgebrannt gewesen sein, denn kein Tahitier würde sich im Dunkeln niedergelegt haben. Eine Weile lag er so voller Entzücken, dann rief er auch die anderen herbei. »Riecht keiner von euch den Blumengeruch?« erkundigte er sich. »O ja«, erwiderte sein Schwager, »daran sind wir hier gewöhnt.« Am folgenden Morgen gingen die beiden Männer spazieren, und der Witwer gestand seinem Schwager, daß seine Frau ständig das Haus besuche, ja, daß er sie einmal sogar gesehen hätte. Sie hätte die gleiche Gestalt und Kleidung wie zu ihren Lebzeiten gehabt, und sei auch mit Blumen geschmückt gewesen: nur hätte sie sich leicht schwebend ein paar Zoll über dem Erdboden bewegt und sei auch trockenen Fußes über den Flußspiegel geglitten. Und jetzt kommen wir zu dem fraglichen Punkte: Stets habe sie nur ihre Rückseite gezeigt, und die Schwäger wurden sich, während sie die Sache erörterten, einig, das hätte seinen Grund darin, daß sie die Spuren der Verwesung verbergen wolle.
Und nun meine samoanische Geschichte. Ich verdanke sie der Freundlichkeit des Herrn Dr. F. Otto Sierich, dessen Sammlung folkloristischer Erzählungen ich mit Spannung entgegensehe. Ein Mann auf Manu’a hatte zwei Frauen geehelicht, ohne Kinder von ihnen zu bekommen. Er ging daher nach Sawaii, heiratete dort ein drittes Mal und hatte mehr Glück. Als seine Frau ihre Stunde kommen fühlte, erinnerte er sich, daß er hier in einem fremden Lande nur ein armer Mann sei, und daß er sich, wenn das Kind geboren würde, wegen der Geringfügigkeit seiner Geschenke schämen müßte. Vergeblich suchte seine Frau ihn von dem Gegenteil zu überzeugen. Er kehrte zu seinem Vater nach Manu’a zurück, um bei ihm Hilfe zu suchen, und machte sich mit dem, was er in der Eile erraffen konnte, noch in der gleichen Nacht auf den Rückweg. Nun hatten aber seine Frauen von seinem Kommen erfahren; sie waren zornig, daß er nicht blieb, um sie zu besuchen, fingen ihn am Strande bei seinem Kanoe ab und töteten ihn. Währenddessen lag seine dritte Frau in Sawaii im Schlaf; ihr Kind war inzwischen geboren worden und schlummerte an ihrer Seite; da wurde sie von dem Geiste ihres Gatten geweckt. »Stehe auf«, sagte er, »mein Vater liegt krank auf Manu’a, wir müssen ihn besuchen.« »Gut«, sagte sie, »nimm du das Kind, während ich die Matten trage.« »Ich kann das Kind nicht nehmen«, antwortete der Geist, »ich bin vom Meere her zu kalt.« Als sie an Bord waren, roch die Frau den Leichengeruch. »Wie kommt das?« fragte sie. »Was hast du in dem Kanoe, denn ich spüre Leichengeruch?« »Nichts ist in dem Kanoe«, entgegnete der Geist. »Es ist nur der Landwind, der von den Bergen weht, wo irgendein Tier verendet ist.« Es scheint noch dunkel gewesen zu sein, als sie Manu’a erreichten -- wohl die rascheste Überfahrt, die je gemacht wurde -- denn als sie in das Innere des Riffes einfuhren, sahen sie die Totenfeuer im Dorfe brennen. Wieder bat sie ihn, das Kind zu tragen, jetzt aber brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. »Ich kann dein Kind nicht tragen«, sagte er, »denn ich bin tot, und die Feuer, die du brennen siehst, sind die Feuer meines Begräbnisses.«
Wer neugierig ist, kann in Dr. Sierichs Buch den unerwarteten Ausgang dieser Geschichte lesen. Das Obige genügt für meine Zwecke. Obwohl der Mann eben erst gestorben war, war sein Geist doch schon verwest, als ob Verwesung das Merkmal, ja die Quintessenz der Geister sei. Die Totenwache auf den Paumotu dauert nur zwei Wochen, und man sagte mir, dieses sei die Zeit, die eine Leiche zur Auflösung brauche. Der Geist, der stets die Zeichen der Verwesung an sich trägt -- Gefahr, die mit dem Zerfallsprozeß ihr Ende zu nehmen scheint -- hier bieten sich verführerische Möglichkeiten von Kombinationen für einen Liebhaber von Theorien. Doch all solche Theorien sind unhaltbar. Die Dame mit den Blumen war schon lange tot und ihr Geist trug angeblich immer noch die Zeichen der Vergänglichkeit an sich. Der Gouverneur war weit über vierzehn Tage in der Erde verscharrt und ging als Vampyr noch immer um.
Von dem Herumirren der Toten im Fegefeuer, von der wüsten mangaischen Sage zu erzählen, nach der es infernalische Gottheiten gibt, die die Seelen aller Verstorbenen verzaubern und vernichten, von den verschiedenen submarinen und ätherischen Zwischenwelten zu berichten, wo die Toten schwelgen, müßig umherschweben oder die Beschäftigungen ihres Daseins auf Erden wieder aufnehmen, würde ermüdend sein. Nur eine Geschichte möchte ich noch anführen, denn sie ist nicht nur an sich recht sonderbar und auf Tahiti weit verbreitet, sondern hat das Interessante für sich, daß sie aus der nachchristlichen Ära stammt, also erst wenige Jahre alt ist. Eine Prinzessin aus regierendem Hause war gestorben und wurde nach der Nachbarinsel Raiatea überführt. Dort verfiel sie der Herrschaft eines Geistes, der ihr befahl, den ganzen Tag über auf Kokospalmen herumzuklettern und ihm Nüsse zu pflücken; eines Tages aber wurde sie von einem zweiten Geist aus ihrer eigenen Familie in dieser elenden Sklaverei entdeckt und auf ihre Klagen hin nach Tahiti zurückgebracht, wo ihr Leib zwar immer noch bewacht wurde, sie ihn aber durch die herannahende Verwesung aufgedunsen vorfand. Ein lebendiger Zug an dem Märchen ist die Tatsache, daß die Prinzessin beim Anblick ihres so entstellten und entehrten Tabernakels bat, doch lieber endgültig unter die Toten gerechnet zu werden. Dafür war es aber anscheinend schon zu spät, ihr Geist wurde durch den wenigst würdevollen Eingang in den Leib zurückbefördert, und ihre erschrockenen Verwandten sahen, wie der Körper sich bewegte. Die scheinbar dem Fegefeuer zugehörigen Arbeiten, die die Prinzessin verrichten mußte, sowie ihr Grauen vor dem faulenden Leichnam sind beides recht auffallende Einzelheiten.
Die Wahrheit ist, daß alle diese Geschichten einander in vielen Punkten widersprechen, und sie werden außerdem noch für den Fremden durch eine geheimnisvolle Sprache verdunkelt. Gespenster, Vampyre, Geister und Götter werden miteinander verwechselt. Und doch glaube ich zu erkennen, daß (mit einigen Ausnahmen) jene, die wir unter die Götter rechnen können, die wenigst boshaften sind. Zwar geht eine Reihe von Dauergeistern, die auch Morde verüben, in einigen Winkeln Samoas um, aber jene legitimen Götter von Upolu und Sawaii, deren Kriege und Kricketturniere vor kurzem erst die Gesellschaft erschütterten, waren, soweit ich ersehen konnte, nicht besonders oder zum mindesten nicht in dem Maße gefürchtet. Der Geist von Anaa, der sich von Seelen nährte, ist zwar entschieden ein etwas unbehaglicher Zeitgenosse, aber die hohen Götter des Archipels erscheinen doch im ganzen hilfreich. Mahinui -- nach dem unser Sträflingskatechet getauft war -- Gott des Meeres und wie Proteus mit einer endlosen Menge von dienenden Gottheiten umgeben -- pflegt zum Beispiel Schiffbrüchigen zu Hilfe zu kommen und sie in Gestalt eines Regenbogenfisches an Land zu tragen. Die gleiche Gottheit trug auch die Priester von einer Insel des Archipels zur anderen, ja, noch in diesem Jahrhundert hat man Menschen mit seiner Hilfe fliegen sehen. Die Titulargottheit jeder Insel ist gleichfalls hilfsbereit und kündet durch eine bestimmte keilförmige Wolke am Horizont das Kommen eines Schiffes an.
Wer diese Atolle richtig vor sich sieht, so schmal, so unfruchtbar, so allseits hart vom Meere bedrängt, dem will es scheinen, als herrsche hier ein Überreichtum an gespensterhaften Einwohnern. Aber mit denen, die ich aufgezählt habe, ist ihre Zahl noch nicht erschöpft. Aus den verschiedenen salzigen Tümpeln und Teichen kann man schöne Frauen mit langem roten Haar aufsteigen und sich baden sehen, nur sind sie furchtsam wie die Mäuse und tauchen, sowie sie einen Schritt auf der Koralle herannahen hören, auf Nimmerwiedersehen im Wasser unter. Man kennt sie als gesunde, harmlose Lebewesen, Bewohner einer unterirdischen Welt; die gleiche Vorstellung herrscht auch auf Tahiti, wo sie ebenfalls rote Haare haben. Tetea ist ihr tahitischer, Mokurea ihr paumotischer Name.
In Honululu hatte wir der ›Casco‹ und Kapitän Otis Lebewohl gesagt, unsere nächste Ausreise fand daher unter veränderten Umständen statt. Plätze wurden für mich, meine Frau, Mr. Osbourne und meinen Chinesenboy, Ah Fuh, auf einem winzigen Handelsschoner, der »Äquator«, Kapitän Dennis Reid, belegt; und eines schönen Junitages 1889 stachen wir, nach hawaiischer Sitte mit Abschiedskränzen geschmückt, in See und segelten bei günstigem Winde gen Mikronesien.
Die ganze weite Südsee ist, was Schiffe anbetrifft, eine Wüste, vor allem jener Teil, auf den wir jetzt zuhielten. Zwischen diesen Inseln gibt es keine Post; die vorhandenen Verbindungen sind rein zufälliger Art; wohin man zu fahren beabsichtigt, ist eine Sache für sich -- wo man schließlich landet, eine ganz andere Sache. So war es zum Beispiel meine Hoffnung, die Karolinen zu erreichen und zur zivilisierten Welt über Manila und die chinesischen Häfen zurückzukehren; statt dessen sollten wir in Samoa auftauchen und dort endlich von neuem durch den Anblick der Berge erfrischt werden. Seitdem jene Abendröte auf den Gipfeln von Oahu verblaßte, waren sechs Monate vergangen, und wir hatten nirgends einen Fleck Erde erblickt, der auch nur so hoch wie ein gewöhnliches kleines Haus gewesen wäre. Unser Weg hatte uns unausgesetzt über die flache See geführt, unsere Wohnungen waren auf der nackten Koralle aufgeschlagen gewesen, unser Essen hatte aus dem bestanden, was wir dem Pökeltopf oder den Konservenbüchsen entnehmen konnten. Ich hatte gelernt, selbst Haifischfleisch als Abwechslung zu begrüßen, und ein Berg, eine Zwiebel, eine irische Kartoffel oder gar ein Beefsteak waren alles Genüsse, deren Geschmack wir fast verlernt hatten, und nach denen wir uns in unseren Träumen sehnten.
Die beiden Orte, an denen wir uns am längsten aufhielten, waren Butaritari und Apemama; beide liegen in der Nähe des Äquators, die letztere Siedelung nur dreißig Meilen davon entfernt. Beide erfreuen sich des herrlichsten Seeklimas, Tage blendender Sonne und frischer Winde, Nächte von überirdischem Glanz. Beide sind etwas breiter als Fakarava und messen (an ihrer breitesten Stelle) rund eine Viertelmeile von Strand zu Strand. Auf beiden gedeiht eine grobe Art Taro, dessen Kultur die Haupttätigkeit der Eingeborenen bildet, und die vielen Gräben und Hügel, die so entstehen, schaffen eine Art Miniaturszenerie, die das Auge ergötzt. In jeder anderen Hinsicht zeigen die beiden Inseln die gewöhnlichen Eigenschaften eines Atolls: den niedrigen Horizont, die weite Fläche der Lagune, den schilfartigen Saum von Palmenwipfeln, die Eintönigkeit und geringe Ausdehnung des Landes, die ins Ungeheure vergrößerte Weite und Bedeutung von Meer und Himmel. Das Leben auf einer derartigen Insel verläuft in mancher Beziehung wie das Leben an Bord. Das Atoll wird bald wie das Schiff zur Selbstverständlichkeit; auf die Inselbewohner konzentriert sich wie auf die Leute an Bord das ganze Interesse. Die beiden Eilande selbst sind dicht bevölkert, unabhängig, die Sitze von kleinen Königen, erst kürzlich zivilisiert und infolgedessen noch wenig besucht. In den letzten zehn Jahren hat sich dort manches unmerklich verändert; die Weiber gehen nicht mehr bis zu ihrer Verheiratung vollständig nackt; die Witwe schläft nachts nicht mehr neben dem Schädel ihres verstorbenen Gatten und braucht ihn am Tage nicht länger mit sich herumzutragen, und seitdem Feuerwaffen eingeführt wurden, werden Speere und die Schwerter aus Haifischzähnen nur noch als Kuriositäten verkauft. Vor zehn Jahren dagegen waren alle diese Dinge und Gebräuche noch im Schwange, nach weiteren zehn Jahren wird die ganze alte Lebensordnung völlig verschwunden sein. Wir hatten Glück, ihre Einrichtungen noch lebendig oder (wie in Apemama) kaum angetastet zu finden.
Dicht bevölkert und unabhängig -- Unterschlupfe von Menschen, die mit einigem rustikalen Pomp regiert wurden -- das war der erste und auch dauernde Eindruck dieser winzigen Eilande. Während wir in der Lagune auf Butaritari zuhielten, sahen wir einen Teil des flachen Ufers von einem Meer niedriger brauner Dächer bedeckt; die des Palastes und des königlichen Sommersaals waren aus Wellblech und glänzten grell in der Sonne; die Königsflagge flatterte dicht davor an einer hohen Fahnenstange; gegenüber lag ein künstliches Inselchen, auf dem das Gefängnisgebäude als Alarmturm emporragte. Selbst bei diesem ersten und aus der Ferne gewonnenen Blick erweckte der Ort kaum den Eindruck dessen, was er wirklich war, eines Dorfes; vielmehr glich er einer Miniaturresidenz, einer ländlichen, aber dennoch königlichen Hauptstadt, und auch das entsprach ja seinem Charakter.
Die Lagune ist seicht. Bei Ebbe konnten wir rund eine Viertelmeile weit in dem lauwarmen Wasser über Sandbänke waten, um endlich in eine grelle Glut von Sonnenlicht und Schwüle zurückzukehren. Die Binnenseite einer Äquatorinsel ist nachmittags in der Tat ein ziemlich erdrückender Ort; an der Meeresküste weht wenigstens noch der stürmische, kühlende Passat; auf der Lagune ist auch noch Wind, der die Kanoes beflügelt, aber der schirmende Busch hält ihn vollständig vom Lande ab, und Stille sowie Schwärme von Mücken senken sich brütend auf die Stadt hernieder.
Wir konnten also behaupten, Butaritari gewissermaßen überrascht zu haben, denn nur wenige Einwohner waren noch am Nordende der Niederlassung unterwegs, als wir landeten. Im Weitergehen nahmen auch diese Begegnungen ein Ende, es schien, als durchschritten wir eine Totenstadt. Nur zwischen den Pfosten der offenen Häuser sahen wir die Bewohner ihre Siesta halten, mitunter ganze Familien unter einem Moskitonetz, mitunter auch einen einzelnen Schläfer, wie einen Toten auf der Bahre ausgestreckt.
Die Häuser waren in allen Dimensionen gebaut, von Spielzeuggröße an bis zum Umfange einer Kirche. Einige hätten ein ganzes Bataillon beherbergen können, andere waren so winzig, daß kaum ein liebendes Paar darin Platz gefunden hätte; nur noch in einem Kinderzimmer, wo Spielzeug aller Art durcheinandergeworfen ist, finden wir derartige Gegensätze. Manche Bauten waren nichts als offene Schuppen, andere glichen einer Bühne mit einem Dach darüber, wieder andere waren von Mauern umschlossen, in die man kleine Fenster eingebrochen hatte. Einige waren auf Pfählen in die Lagune hineingebaut; die übrigen standen beliebig auf dem Anger herum, durch den die Straße ein Band aus weißem Sande zog, oder auf den Dämmen eines Binnengewässers, das einem flachen Dock glich. Alle miteinander waren die Geschöpfe eines einzigen Baumes: Palmholz und Palmblätter waren das Baumaterial; kein Nagel war eingetrieben, kein Hammerschlag geführt worden, als man sie errichtete, denn zusammengehalten wurden sie durch Palmfasern.
In der Mitte dieser Hauptstraße steht wie eine Insel die Kirche, ein hohes, dämmeriges Gebäude mit einer Reihe von Fenstern. Das Dach ruht auf reichem Gebälk, und durch beide Türen hat man einen weiten Blick auf die Straße. Die Proportionen sowie das Baumaterial wirkten in dieser Umgebung einfach imponierend, und wir durchschritten das Mittelschiff mit einem Gefühl, wie es uns sonst nur in Kathedralen überkommt. An beiden Seiten waren Bänke aufgereiht; in der Mitte auf erhöhtem, wackeligen Postament standen zwei Stühle für den König und die Königin, für den Fall, daß sie am Gottesdienste teilzunehmen geruhten; darüber hing an roten Baumwollschnüren ein alter Reifen, vermutlich von einem Schnapsfaß, und der Reifen, der recht schief baumelte, war mit roten und weißen Wimpeln aus dem gleichen Stoffe geschmückt.
Das war das erste Anzeichen königlicher Würde, dem wir begegneten, und bald standen wir vor ihrem Hauptsitz und Mittelpunkt. Der Palast ist aus importierten, europäischen Hölzern gebaut; das Dach ist aus Wellblech, der Hof wird von Mauern umschlossen, und das Tor ist von einer Art Wächterhäuschen gekrönt. Man kann den Palast nicht einmal geräumig nennen; mancher Arbeiter in den Vereinigten Staaten hat eine bessere Wohnung; als wir jedoch Gelegenheit erhielten, ihn von innen zu besichtigen, waren wir erstaunt, ihn über alle polynesische Erwartung hinaus durch farbige Plakate und Ausschnitte aus illustrierten Zeitungen geschmückt zu finden. Schon vor dem Tor ist ein Teil des Kronschatzes ausgestellt: eine Glocke von ansehnlicher Größe, zwei Stück Kanonen und eine einzige Granate. Die Glocke kann nicht geläutet, die Kanonen können nicht abgefeuert werden; sie sind nichts als Kuriositäten, Zeichen von Reichtum, ein Teil des königlichen Pomps, und stehen hier wie bei uns die Statuen auf öffentlichen Plätzen, um bewundert zu werden. Ein gerader, kanalähnlicher Wasserarm führt fast bis an das Tor des Palastes; die Seitendämme sind aus festem Korallengestein, und an seiner Mündung liegt, gleichsam als ein Effekt der Landschaftsgärtnerei gedacht, den Spiegel der Lagune unterbrechend, das Inselchen mit dem Gefängnis. Vasallenhäuptlinge, ihren Tribut einhändigend, benachbarte Monarchen auf ihren Vergnügungsfahrten, können hier bis dicht vor das Portal fahren, mit Verwunderung die ausgedehnten Anlagen besichtigen und sich von den Mündungen dieser stummen Kanonenrohre imponieren lassen. Unmöglich konnte man sich hier umsehen, ohne zu merken, daß das Ganze nur auf Wirkung berechnet war. Damals jedoch stand diese pompöse Anlage leer; das königliche Haus war verödet, weit aufgerissen starrten seine Türen und Fenster, das ganze Stadtviertel lag in Schweigen versunken. Nur auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals schlief auf einer überdachten Bretterbühne in aller Öffentlichkeit ein betagter Herr, der alleinige sichtbare Bewohner, und im Hintergrunde der Lagune trug ein Kanoe ein buntgestreiftes lateinisches Segel, der einzige Gegenstand, der Leben und Bewegung zeigte.