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Jules Verne bei Null Papier Komplett neu überarbeitet; reichhaltig illustriert und kommentiert Ein Verein begeisterter Amateur-Luftschiffer plant den Bau eines lenkbaren Luftschiffes. Auf einer ihrer Versammlungen kommt es zu einem unerhörten Zwischenfall: Ein Fremder namens Robur tritt auf. Dieser Robur spuckt große Töne: Er allein habe das Geheimnis des Fliegens gelüftet und er allein besäße eine Flugmaschine, die alle bisherigen Apparate weit in den Schatten stellen würde. Bald darauf werden die Vorstandsmitglieder des Vereins entführt und finden sich auf dem »Albatros« wieder – einer sagenhaften Flugmaschine. Hat Robur also die Wahrheit gesagt? Die Reise mit der ungeheuren Maschine führt quer durch die Vereinigten Staaten über den Pazifischen Ozean nach China, von dort aus über den Himalaja nach Indien. Eine Flucht aus dieser Maschine scheint unmöglich. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 314
Jules Verne
Robur der Eroberer
Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung
Jules Verne
Robur der Eroberer
Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung
(Robur le Conquérant)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: George RouxÜbersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze 2. Auflage, ISBN 978-3-962814-83-0
null-papier.de/angebote
Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Erstes Kapitel – Worin die gelehrte Welt sich ebensowenig Rat weiß, wie die ungelehrte.
Zweites Kapitel – In welchem die Mitglieder des Weldon-Instituts miteinander streiten, ohne zu einer Übereinstimmung zu gelangen.
Drittes Kapitel – In dem eine neue Persönlichkeit nicht besonders vorgestellt zu werden braucht, da sie das selbst besorgt.
Viertes Kapitel – In dem der Verfasser infolge einer Bemerkung des Dieners Frycollin den Mond wieder zu Ehren zu bringen versucht.
Fünftes Kapitel – In dem die Einstellung der Feindseligkeiten zwischen dem Vorsitzenden und dem Schriftführer des Weldon-Instituts beschlossen wird.
Sechstes Kapitel – Welches Ingenieure, Mechaniker und andere Gelehrte vielleicht am besten überschlagen.
Siebtes Kapitel – In welchem Onkel Prudent und Phil Evans sich noch immer nicht überzeugen lassen wollen.
Achtes Kapitel – Worin man sehen wird, dass Robur sich entschließt, auf die ihm vorgelegte wichtige Frage zu antworten.
Neuntes Kapitel – In dem der »Albatros« fast zehntausend Kilometer zurücklegt und das mit einem merkwürdigen Sprunge endigt.
Zehntes Kapitel – Worin man sehen wird, wie und warum der Diener Frycollin ins Schlepptau genommen wurde.
Elftes Kapitel – In dem die Wut des Onkel Prudent mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zunimmt.
Zwölftes Kapitel – In dem der Ingenieur Robur handelt, als ob er sich um einen der Monthyon-Preise bewerben wollte.
Dreizehntes Kapitel – In dem Onkel Prudent und Phil Evans einen ganzen Ozean durchfahren, ohne die Seekrankheit zu bekommen.
Vierzehntes Kapitel – In dem der »Albatros« etwas ausführt, was man vielleicht niemals dürfte ausführen können.
Fünfzehntes Kapitel – Worin Dinge geschehen, deren Schilderung sich gewiss der Mühe lohnt.
Sechzehntes Kapitel – Welches den Leser in einer vielleicht beklagenswerten Ungewissheit lässt.
Siebzehntes Kapitel – Worin der Leser um zwei Monate rückwärts und auch um neun Monate vorwärts geführt wird.
Achtzehntes Kapitel – Welches diese wahrhafte Geschichte zu Ende führt, ohne sie zu beendigen.
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze null-papier.de/kontakt
Reise um die Erde in 80 Tagen
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Eine Idee des Doktor Ox
Eine Überwinterung im Eis
Schwarz-Indien – Oder: Die Stadt unter der Erde
Fünf Wochen im Ballon
Robur der Eroberer
Der Herr der Welt
Von der Erde zum Mond
und weitere …
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Robur der Sieger, alternativer Titel
Paff! … Paff!
Zwei Pistolenschüsse knallten zu gleicher Zeit. Eine Kuh, welche eben in der Entfernung von 50 Schritten vorübertrabte, bekam eine Kugel ins Rückgrat … und sie ging die Sache doch gar nichts an.
Von den beiden Gegnern war keiner getroffen worden.
Wer waren jene beiden Herren? Niemand weiß es, und gerade hier wäre ja Gelegenheit gewesen, ihre Namen der Nachwelt zu überliefern. Es lässt sich über sie nichts weiter sagen, als dass der ältere ein Engländer, der jüngere Duellant ein Amerikaner war. Desto leichter lässt sich die Örtlichkeit bestimmen, an der jener unschuldige Wiederkäuer eben sein letztes Grasbündelchen abgeweidet hatte; diese ist nämlich am rechten Ufer des Niagara und unweit der Hängebrücke zu suchen, welche drei Meilen unterhalb der berühmten Fälle das kanadische Ufer mit dem amerikanischen verbindet.
Der Engländer schritt jetzt auf den Amerikaner zu. »Ich bleibe nichtsdestoweniger dabei, dass es die Melodie von Rule Britannia war«, sagte er.
»Nein, der Yankee Doodle!« versetzte der andere.
Der Streit schien aufs neue entbrennen zu sollen, als sich einer der Zeugen – ohne Zweifel im Interesse des weidenden Viehs – mit den Worten einmischte:
»Nehmen wir an, es wäre der Rule Doodle und der Yankee Britannia gewesen und begeben wir uns nun zum Frühstück.«
Dieser Kompromiss zwischen den beiden Nationalgesängen Amerikas und Großbritanniens wurde zur allgemeinen Befriedigung angenommen. Längs des linken Niagara-Ufers zurückwandelnd, beeilten sich Amerikaner und Engländer, an der einladenden Tafel des Hotels auf Goat Island – einem neutralen Gebiete zwischen den beiden Fällen – Platz zu nehmen. Während ihrer Beschäftigung mit gekochten Eiern und dem landesüblichen Schinken mit kaltem Roastbeef, einem Zwischengericht von im Munde fast brennenden Pickles und mit Hochfluten von Tee, welche die weltbekannten Wasserfälle eifersüchtig machen könnten, wollen wir sie nicht weiter stören, zumal kaum anzunehmen ist, dass von ihnen im Laufe dieser Erzählung noch ferner die Rede sein wird.
Wer hatte nun recht – der Engländer oder der Amerikaner? Es wäre schwer gewesen, diese Frage zu entscheiden. Jedenfalls liefert jenes Duell den Beweis für die leidenschaftliche Erregung der Geister nicht allein in der Neuen, sondern auch in der Alten Welt, und zwar über ein Ereignis oder eine unerklärliche Erscheinung, welche seit etwa einem Monat alle Köpfe verwirrte.
»Os homini sublime dedit, coelumque tueri«1 hat Ovid einst zu Ehren der Menschheit gesungen. In der Tat hatte man seit dem Erscheinen des ersten Menschen auf der Erdkugel noch niemals den Himmel so vielfach betrachtet.
Gerade in der vorhergegangenen Nacht hatte nämlich eine Trompete aus der Luft ihre metallenen Töne herabgeschmettert über denjenigen Teil von Kanada, der sich zwischen dem Ontario- und dem Erie-See ausdehnt. Die einen hatten daraus den Yankee Doodle, die anderen das Rule Britannia zu hören vermeint, daraus entstand auch obiger angelsächsische Zweikampf, der mit dem Frühstück auf Goat Island endigte. Vielleicht war es weder der eine, noch der andere Nationalgesang gewesen; nur darüber herrschte bei niemand ein Zweifel, dass die betreffenden Töne die Eigentümlichkeit gehabt hatten, als schienen sie vom Himmel zur Erde herniederzusteigen.
Sollte man etwa gar an eine Himmelsposaune denken, die ein Engel oder ein Erzengel geblasen hätten? … Waren es nicht vielmehr lustige Luftschiffer gewesen, die sich des sonoren Instrumentes bedienten, von dem die Reklame so ausgebreiteten Gebrauch macht? Nein, von einem Ballon, von Luftschiffern konnte nicht die Rede sein. In hohen Himmelsregionen vollzog sich ein außergewöhnliches Ereignis, dessen Natur und Ursprung kein Mensch zu enträtseln vermochte. Heute zeigte sich dasselbe über Amerika, 24 Stunden später über Europa, acht Tage später in Asien über dem Himmlischen Reiche. Wenn die Trompete, welche das Vorüberziehen jener Erscheinung ankündigte, nicht die des Jüngsten Gerichtes war, welche, ja, welche war es dann?
In allen Landen der Erde, in Königreichen wie in Republiken, entstand deshalb eine gewisse Unruhe, welche gestillt werden musste. Vernimmt einer in seinem Hause eigentümliche und unerklärliche Geräusche, würde er nicht schnellstens die Ursache derselben zu ermitteln suchen, und wenn das vergeblich wäre, würde er nicht sein Haus verlassen, um ein anderes zu bewohnen? Ganz sicherlich! Hier war das Haus freilich die Erdkugel, und es gab doch kein Mittel, diese zu verlassen und etwa mit dem Monde, Mars, Venus, Jupiter oder einem anderen Planeten des Sonnensystems zu vertauschen.
Es galt demnach unbedingt, aufzuklären, was im unendlichen leeren Raume, doch innerhalb der Erdatmosphäre, vorging. Ohne Luft ist ja ein Geräusch unmöglich, und da man hier ein solches vernahm – immer jene fast sagenhafte Trompete – musste die Erscheinung auch in der Lufthülle stattfinden, deren Dichtigkeit sich nach oben zu immer mehr vermindert und die sich über unserem Sphäroid2 nur wenige Meilen hoch verbreitet.
Natürlich bemächtigten sich die Tagesblätter der vorliegenden Frage, behandelten sie unter allen Gesichtspunkten, beleuchteten oder verdunkelten dieselbe, berichteten falsche oder wahre Tatsachen, erregten oder beruhigten ihre Leser im Interesse der Höhe ihrer Auflage – und wiegelten endlich die schon halb verwirrten Massen nicht wenig auf. Welch Wunder! Die Politik hatte den Laufpass erhalten und die Geschäfte gingen deshalb doch nicht schlecht. Aber um was handelte es sich überhaupt?
Man befragte alle großen Observatorien der ganzen Welt. Wenn diese keine Antwort gaben, wozu nützten dann solche Observatorien eigentlich? Wenn die Astronomen, welche selbst in der Entfernung von hunderttausend Millionen Meilen noch einen Lichtpunkt zu zwei und drei Sternen aufzulösen vermögen, nicht imstande waren, den Ursprung einer kosmischen Erscheinung zu ergründen, die nur wenige Kilometer über ihnen auftrat, wozu hatte man Astronomen?
Man könnte auch in der Tat kaum schätzungsweise angeben, wie viel Teleskope, Brillen, Fernrohre, Lorgnetten, Binokels oder Monokels während der schönen Sommernacht nach dem Himmel gerichtet waren, noch wie viele Augen sich vor die Okulare und Instrumente von jeder Art und Vergrößerung hefteten. Vielleicht mehrere Hunderttausend, und das ist nur gering angeschlagen. Zehnmal mehr, als man am Firmament mit unbewaffnetem Auge sichtbare Sterne zählt. Nein, noch keiner, auf allen Punkten der Erdkugel gleichzeitig beobachteten Sonnenfinsternis hatte man solche Ehre angetan!
Die Observatorien antworteten, aber unzulänglich. Jedes gab seine Meinung ab, die stets von der aller anderen abwich, sodass sich daraus während der letzten Wochen des April und der ersten des Mai ein wirklicher Bürgerkrieg unter der Gelehrtenwelt entwickelte.
Das Observatorium von Paris erwies sich sehr zurückhaltend. Keine seiner Abteilungen sprach sich entschieden aus. In der Abteilung für mathematische Astronomie hatte man es für unter seiner Würde gehalten, Beobachtungen anzustellen; in der für die Meridianmessung hatte man nichts entdeckt; in der für physikalische Beobachtungen hatte man nichts wahrgenommen; in der für Geodäsie nichts bemerkt; in der für Meteorologie war niemand etwas aufgefallen; in der für die Berechnungen hatte man nichts gesehen. Das war wenigstens ein offenes Geständnis. Dieselbe Offenherzigkeit bekundete das Observatorium von Montsoucis, wie die magnetische Station im Park Saint-Maur. Dieselbe Achtung vor der Wahrheit bewies das Längenbüro. Nun ja, Frankreich heißt ja das Land, wo man »frank«, d.h. offen spricht.
Die Provinz war etwas entschiedener in ihrer Äußerung. Etwa in der Nacht zwischen dem 6. und 7. Mai hatte sich ein Lichtschein elektrischen Ursprunges gezeigt, der 20 Sekunden nicht überdauerte. Am Pic-du-Midi3 war derselbe zwischen 9 und 10 Uhr abends beobachtet worden; im meteorologischen Observatorium des Puy-de-Dôme hatte man ihn zwischen 1 und 2 Uhr morgens bemerkt; auf dem Mont Ventoux in der Provence zwischen 2 und 3 Uhr; in Nizza zwischen 3 und 4 Uhr; auf den Semnoz-Alpen endlich zwischen Annecy, le Bourget und dem Genfer See im Augenblicke, als der Tagesschimmer sich eben bis zum Zenit erhob.
Von den beiden Gegnern war keiner getroffen worden.
Offenbar konnte man diese Beobachtungen unmöglich in Bausch und Bogen verwerfen. Es unterlag keinem Zweifel, dass der Lichtschein an verschiedenen Punkten, und zwar im Verlauf einiger Stunden, wahrgenommen worden war. Derselbe ging also entweder von mehreren Herden aus, die sich durch die Erdatmosphäre hinbewegten, oder, wenn er nur einem einzigen solchen angehörte, so musste dieser sich mit einer Schnelligkeit fortbewegen, welche nahezu 200 Kilometer in der Stunde erreichte.
Hatte man denn aber im Laufe des Tages niemals etwas besonderes in der Luft bemerkt?
Nein, niemals.
Erklang nicht wenigstens jene Trompete einmal durch die Luftschichten?
Nein, zwischen Aufgang und Untergang der Sonne hatte man nicht den leisesten Ton gehört.
Im vereinigten Königreich Großbritannien wusste man nicht mehr aus noch ein. Die Observatorien gelangten zu keinerlei Übereinstimmung. Greenwich konnte sich nicht mit Oxford verständigen, obwohl beide die Behauptung aufstellten, »an der ganzen Sache sei nichts«.
»Eine Gesichtstäuschung!« meinte das eine.
»Eine Gehörstäuschung!« erwiderte das andere.
Darüber lagen sie im Streit; auf eine Täuschung lief es jedoch allemal hinaus. Die Verhandlungen zwischen den Sternwarten zu Berlin und der zu Wien drohten zu internationalen Verwicklungen zu führen. Russland bewies ihnen in der Person des Vorstehers seiner Sternwarte zu Pulkowa, dass sie beide recht hätten, das hänge nur von den Gesichtspunkten ab, auf die sie sich bezüglich Bestimmung der Natur jener Erscheinung stellten, die in der Theorie unmöglich schien und in der Praxis möglich war.
In der Schweiz, auf der Sternwarte zu Säntis, im Kanton Appenzell, auf dem Rigi, im Gäbris, in den Beobachtungsstationen des St. Gotthard, St. Bernhard, des Julier, des Simplon, in denen von Zürich und des Sonnblick in den Hohen Tauern, befleißigte man sich einer ganz besonderen Zurückhaltung gegenüber einer Tatsache, die bisher niemand zu bekräftigen vermocht hatte – was gewiss recht vernünftig zu nennen ist.
In Italien dagegen, auf den meteorologischen Stationen des Vesuvs und des Ätna, welch letzere sich in der alten Casa Inglese befindet, wie auf dem Monte Cavo, zögerten die Beobachter nicht im geringsten, die Wirklichkeit jener Erscheinung anzuerkennen, und das aufgrund des Umstandes, dass sie dieselbe einmal am Tage in Form eines kleinen Dampfwölkchens und einmal in der Nacht in Gestalt einer Sternschnuppe hatten wahrnehmen können. Über die eigentliche Natur derselben wussten sie freilich ebenfalls nichts.
In der Tat begann dieses Geheimnis allmählich die Vertreter der Wissenschaft zu ermüden, erregte dagegen und erschreckte desto mehr die Einfältigen und Unwissenden, welche, dank einem hochweisen Naturgesetze, von jeher in dieser Welt die ungeheure Mehrzahl gebildet haben, noch bilden und in aller Zukunft bilden werden. Die Astronomen und Meteorologen hatten also schon darauf verzichtet, sich mit der Sache zu beschäftigen, als in der Nacht vom 26. zum 27. auf der Sternwarte zu Cantokeino in Finnland, in Norwegen, in der Nacht vom 28. zum 29. auf der des Isfjord und auf Spitzbergen, die Norweger auf einer und die Schweden auf der anderen Seite in der Anschauung übereingestimmt hatten, dass inmitten einer Art Nordlichtscheines etwas wie ein gewaltiger Vogel oder ein Luftungeheuer sichtbar gewesen sei. War es auch nicht gelungen, dessen Struktur genauer zu bestimmen, so unterlag es doch keinem Zweifel, dass derselbe kleine Körper ausgeworfen habe, welche gleich Bomben mit einem Knalle zersprangen.
In Europa neigte man wohl dazu, die Beobachtungen der Stationen von Finnmarken und Spitzbergen nicht anzuzweifeln. Ganz besonders merkwürdig erschien freilich, dass die Schweden und die Norweger doch einmal über einen Punkt einig zu sein schienen.
Man lachte und spottete über die angebliche Entdeckung auf allen Sternwarten Südamerikas, in Brasilien und Peru, ebenso wie in La Plata, auf denen von Australien, in Sidney, Adelaide, wie in Melbourne, und das australische Lachen ist bekanntlich sehr ansteckend.
Nur ein einziger Vorsteher einer meteorologischen Station verhielt sich zustimmend bei dieser Frage, trotz der Spötteleien, welche seine Erklärung derselben hervorrufen mochte. Das war ein Chinese, der Direktor der Sternwarte zu Zi-Ka-Wey, die sich inmitten einer ausgedehnten Ebene, mindestens 10 Lieues4 vom Meere, erhebt und welche bei ungemeiner Klarheit der Luft ein grenzenlos weiter Horizont umschließt.
»Es könnte ja sein«, sagte er, »dass der Gegenstand, um den es sich handelt, ein besonders konstruierter Apparat, eine fliegende Maschine wäre.«
Welcher Scherz!
Waren die vielfachen Widersprüche nun schon in der Alten Welt sehr lebhaft, so begreift man leicht, wie sie sich in jenem Teile der Neuen Welt gestalten mussten, von dem die Vereinigten Staaten das weitaus größte Gebiet einnehmen.
Ein Yankee liebt bekanntlich keine Umwege – er wählt gewöhnlich den, der am schnellsten zum Ziele führt. So zögerten auch die amerikanischen Bundesstaaten nicht im mindesten, ihre Ansichten gegenseitig auszusprechen. Wenn sie sich dabei nicht gleich die Objektive ihrer Fernrohre an den Kopf warfen, so kam das nur daher, dass sie dieselben jetzt, wo sie gerade am meisten gebraucht wurden, erst hätten wieder ersetzen müssen.
In dieser so viel Staub aufwirbelnden Frage standen die Sternwarten von Washington im Distrikt Columbia und die von Cambridge im Staate Duna denen des Darmouth Kollegs in Connecticut und von Ann Arbor in Michigan feindlich gegenüber. Ihr Streit betraf übrigens nicht die Natur des beobachteten Körpers, sondern die genaue Zeit der Beobachtung, denn alle behaupteten, ihn in derselben Nacht, zu derselben Stunde, zur gleichen Minute und Sekunde wahrgenommen zu haben, obwohl die Flugbahn des geheimnisvollen Wanderers der Lüfte nur in mäßiger Höhe über dem Horizont liegen sollte. Von Connecticut bis Michigan, von Duna nach Columbia ist aber die Entfernung eine so große, dass eine doppelte Beobachtung zu ein und demselben Zeitpunkt als unmöglich angesehen werden konnte.
Dudley in Albany, Staat New York, und West-Point, die Militärakademie, gaben allen ihren Kollegen unrecht in einer Zuschrift, welche die gerade Aufsteigung und die Deklination des bewussten Körpers bestimmte.
Später stellte sich jedoch heraus, dass diese Beobachter einem Irrtume unterlegen waren und dass der betreffende Körper nur eine Feuerkugel gewesen war, welche durch die mittleren Luftschichten hinblitzte. Um diese Feuerkugel handelte es sich aber offenbar nicht. Wie könnte auch eine solche Feuerkugel eine Trompete geblasen haben?
Was nun die erwähnte Trompete anging, versuchte man vergeblich deren schmetternden Ton als eine einfache Gehörstäuschung hinzustellen. Jedenfalls hatten sich bei dieser Gelegenheit die Ohren der Leute ebensowenig getäuscht wie deren Augen. Unzählige Beobachter hatten vielmehr entschieden etwas gesehen und gleichzeitig gehört. In der sehr dunklen Nacht – vom 12. zum 13. Mai – war es den Beobachtern des Yale-Kollegs an der Hochschule von Sheffield sogar gelungen, einige Takte eines musikalischen Satzes in A-dur und im Viervierteltakte in Noten zu fixieren, welche vollkommen mit einem Teile der Melodie des bekannten Chant du départ – eines Soldatenliedes beim Auszug zum Kampfe – übereinstimmten.
»Sehr schön!« riefen dazu die Witzbolde, »da hätten wir ja ein französisches Orchester, das seine Weisen mitten in der Luft ertönen lässt!«
Scherzen heißt aber nicht antworten. Diese Bemerkung machte auch das von der Atlantic Iron Works Company gegründete Observatorium zu Boston, dessen Anschauungen in Fragen der Astronomie und Meteorologie für die gelehrte Welt allmählich schon die Bedeutung von Gesetzen gewannen.
Ferner gab auch noch das, dank der Freigebigkeit des Mr. Kilgoor im Jahre 1870 auf dem Berge Lookout entstandene Observatorium von Cincinnati eine Erklärung ab, jenes Institut, das sich durch seine mikrometrischen Messungen der Doppelsterne so vorteilhaft bekanntgemacht hat. Sein Direktor sprach sich in vollem guten Glauben dahin aus, dass den weitverbreiteten Gerüchten unzweifelhaft etwas zugrunde liege, dass sich zu nahe aneinanderliegenden Zeiten an sehr verschiedenen Stellen in der Atmosphäre ein in Bewegung befindlicher Körper zeige, dass über dessen Natur, Größenverhältnisse, Geschwindigkeit und Flugbahn aber kein Urteil möglich sei.
Da erhielt ein Journal von allergrößter Verbreitung, der New York Herald, von einem Abonnenten folgende anonyme Mitteilung:
»Noch dürfte der Wettkampf unvergessen sein, der vor einigen Jahren herrschte zwischen den beiden Erben der Begum von Ragginahra, dem französischen Arzt Sarrasin in seiner Stadt Franceville und dem deutschen Ingenieur Herrn Schulze in seiner Stadt Stahlstadt, welche beide im südlichen Teile von Oregon, Vereinigte Staaten, angelegt waren.
Man kann auch nicht vergessen haben, dass Herr Schulze in der Absicht, Franceville zu zerstören, ein ungeheures Geschoss, schon mehr eine Maschine, auf letztere Stadt schleuderte, welche dieselbe mit einem Schlage vernichten sollte.
Noch weniger kann der Vergessenheit verfallen sein, dass dieses Geschoss, dessen Ausgangsgeschwindigkeit beim Verlassen der Mündung der Monsterkanone falsch berechnet war, mit einer 16mal größeren Geschwindigkeit, als gewöhnliche Geschosse – nämlich 50 Lieues5 in der Stunde – hinweggetragen wurde, dass es auf die Erde nicht niedergefallen ist und nach seinem Übergang in den Zustand etwa einer Feuerkugel noch jetzt um unseren Planeten kreist und in alle Ewigkeit kreisen muss.
Warum sollte dieses Riesengeschoss, dessen Vorhandensein nicht anzuzweifeln ist, nicht der in Frage stehende Körper sein?«
Das war recht scharfsinnig von dem Abonnenten des New York Herald … aber die Trompete …? In dem Projektil des Herrn Schulze hatte sich bestimmt keine Trompete befunden.
Alle bisherigen Erklärungen erklärten also nichts, alle Beobachter beobachteten also einfach falsch.
Es blieb sonach nur noch die von dem Direktor von Zi-Ka-Wey aufgestellte Hypothese. Aber, mein Gott, der Mann war ja Chinese!
Man darf nicht etwa glauben, dass sich der Bevölkerung der Alten und der Neuen Welt endlich ein gewisser Überdruß bemächtigt hätte. Im Gegenteil, die Erörterungen dauerten in gleicher Lebhaftigkeit fort, ohne dass irgendwo eine Übereinstimmung erzielt wurde. Gleichwohl trat einmal eine Art Pause ein. Es vergingen nämlich einige Tage, ohne dass etwas von dem fraglichen Gegenstande, von der Feuerkugel oder was es sonst war, gemeldet wurde und ohne dass sich der bekannte Trompetenton aus der Luft hören ließ. War jener Körper also irgendwo auf die Erde niedergefallen, vielleicht an einem Punkte, der sein Wiederauffinden besonders erschwerte – etwa gar ins Meer? Lag er jetzt in der unendlichen Tiefe des Atlantischen, des Pazifischen oder des Indischen Ozeans? Wer hätte das sagen können?
Da vollzog sich aber zwischen dem 2. und dem 9. Juni eine neue Reihe von Tatsachen, deren Erklärung durch die Annahme eines rein kosmischen Phänomens schlechterdings unmöglich war.
Im Laufe jener acht Tage fand man nämlich auf den entlegensten Punkten eine Fahne gerade an den schwerst zugänglichen Stellen von Kirchen usw. befestigt; so wurden die Hamburger überrascht durch eine solche an der Spitze des Turmes von St. Michael, die Türken auf dem höchsten Minaret der heiligen Sophien-Moschee, die Einwohner von Rouen an der metallenen Turmspitze ihrer Kathedrale, die Straßburger am obersten Punkte des Münsters, die Amerikaner auf dem Kopfe ihrer Bildsäule der Freiheit am Eingange des Hafens und am Gipfel des Washington-Denkmals in Boston, die Chinesen an der Spitze des Tempels der fünfhundert Geister in Kanton, die Hindus am 16. Stockwerk der Pyramide des Tempels zu Tanjur, die Römer am Kreuz des St. Peters-Domes, die Engländer am Kreuz der St. Pauls-Kirche in London, die Ägypter an der obersten Spitze der Pyramide von Gizeh, die Wiener an dem Reichsadler auf der Spitze des St. Stephansturmes, die Pariser am Blitzableiter des 300 Meter hohen eisernen Turmes der Ausstellung von 1889 und noch andere mehr.
Diese Fahne aber zeigte ein schwarzes Flaggentuch, das in der Mitte eine goldene Sonne und ringsum verstreut einzelne Sterne enthielt.
»Und der erste, der das Gegenteil behauptet …«
»Oho, das wird man behaupten, wenn ein Grund dafür vorliegt!«
»Und auch trotz Ihrer Drohungen! …«
»Achten Sie auf Ihre Worte, Bat Fyn!«
»Und Sie auf die Ihren, Onkel Prudent!«
»Ich bleibe dabei, dass sich die Schraube nur am Hinterteil befinden darf!«
»Wir auch! Wir auch!« erschallten fünfzig Stimmen wie aus einer Kehle.
»Sie muss am Vorderteil sein!« rief Phil Evans.
»Am Vorderteil!« brüllten fünfzig andere Stimmen ebenso stark, wie jene früheren.
»Wir werden nie zu ein und derselben Ansicht kommen!«
»Niemals! … Niemals!«
»Nun, warum streiten wir dann überhaupt noch?«
»Das ist kein Streit … es ist nur eine Erörterung!«
Das hätte freilich kein Mensch geglaubt, der die scharfe Entgegnung, die Vorwürfe und das Geschrei hörte, welche den Sitzungssaal seit einer guten Viertelstunde erfüllten.
Gedachter Saal war nämlich der größte des Weldon-Instituts … und jenes vor allen berühmten Clubs in der Walnut Street zu Philadelphia, Pennsylvania, Vereinigte Staaten von Nordamerika.
In genannter Stadt war es erst am Vortage bei Gelegenheit der Wahl eines Gaslaternenanzünders zu öffentlichen Kundgebungen, geräuschvollen Versammlungen und zu reichlich ausgeteilten Schlägen gekommen. Daher rührte eine noch nicht besänftigte Reizbarkeit und stammte wohl auch jene außergewöhnliche Erregung, welche die Mitglieder des Weldon-Instituts eben zeigten. Und hierbei handelte es sich nur um eine einfache Vereinigung von »Ballonisten«, welche über die noch heutigentags brennende Frage der Lenkbarkeit der Ballons verhandelten.
Der Vorgang aber spielte sich in einer Stadt der Vereinigten Staaten ab, welche an schneller Entwickelung selbst New York, Chicago, Cincinnati und San Francisco überholt hat – einer Stadt, welche weder ein Hafenplatz, noch der Mittelpunkt von Petroleum- oder Steinkohlenbergwerken, auch kein Brennpunkt der Industrie, sowenig wie der Kreuzungspunkt eines vielstrahligen Bahnnetzes ist – in einer Stadt, die an Größe schon Manchester, Edinburgh, Liverpool, Wien, Petersburg und Dublin übertrifft – einer Stadt, die einen Park besitzt, in dem die sieben Parks der Hauptstadt von England zusammen Platz finden – einer Stadt endlich, welche jetzt nahezu 1.200.000 Einwohner zählt und sich nach London, Paris, New York und Berlin als die fünfte Stadt der Welt betrachtet.
Philadelphia ist fast eine Stadt aus Marmor mit seinen vielen monumentalen Gebäuden und öffentlichen Anstalten, welche ihresgleichen nirgends finden. Das bedeutendste aller Kollegs der Neuen Welt ist das Kolleg Girard, und das hat seinen Sitz in Philadelphia. Die größte Eisenbrücke der Erde ist die, welche den Schuylkill überspannt, und diese befindet sich in Philadelphia. Der schönste Tempel der Freimaurerei ist der Maurertempel in Philadelphia; endlich besteht der größte Club von Freunden und Beförderern der Luftschifffahrt ebenfalls in Philadelphia, und wer Gelegenheit gehabt hätte, diesen am Abend des 12. Juni zu besuchen, der würde sich dabei ausgezeichnet unterhalten haben.
Onkel Prudent stach seine Nadel ein.
In erwähntem großen Saale bewegten, drängten sich, gestikulierten, sprachen, verhandelten und stritten – alle den Hut auf dem Kopfe – wohl hundert Ballonisten unter dem hohen Vorsitz eines Präsidenten, dem ein Schriftführer und ein Schatzmeister zur Seite standen. Es waren das keine Ingenieure vom Fach; nein, einfache Liebhaber alles dessen, was mit der Aerostatik in Beziehung stand, aber begeisterte Liebhaber, und vor allem Feinde derjenigen, welche den Aerostaten Apparate, »schwerer als die Luft«, fliegende Maschinen, Luftschiffe u. dgl. entgegenzustellen beabsichtigen. Dass diese wackeren Leute nimmermehr die Lenkbarkeit des Ballons erfinden würden, war gewiss mehr als wahrscheinlich. Auf jeden Fall hatte ihr Vorsitzender Not genug, um sie selbst gehörig zu lenken und zu leiten.
Dieser in Philadelphia sattsam bekannte Präsident war der Onkel Prudent – Prudent seinem Familiennamen nach. Was die weitere Bezeichnung »Onkel« betrifft, so braucht man sich in Amerika über diese nicht zu wundern, wo jeder zum Onkel werden kann, ohne einen Neffen oder eine Nichte zu haben. Man sagt dort ebenso Onkel, wie anderwärts Vater von Leuten, welche auf eine Vaterschaft nicht den geringsten Anspruch haben.
Onkel Prudent war eine gewichtige Persönlichkeit und trotz seines Namens oft genannt gerade wegen seiner Kühnheit, daneben sehr reich, was selbst in den Vereinigten Staaten nicht von Nachteil sein soll. Wie hätte er das auch nicht sein sollen, da er einen großen Teil der Niagarafall-Aktien sein eigen nannte? Jener Zeit hatte sich nämlich in Buffalo eine Gesellschaft von Ingenieuren zur Ausbeutung der berühmten Fälle gegründet. Die 7500 Kubikmeter, welche der Niagara jede Sekunde hinabwälzt, können sieben Millionen Dampfpferdekräfte erzeugen. Diese ungeheure, in einem Umkreise von 500 Kilometer nach allen Fabriken und Werkstätten verteilte Kraftmenge lieferte eine jährliche Ersparnis von 1200 Millionen Mark, von dem ein Teil in die Kassen der Gesellschaft – speziell in die Taschen des Onkel Prudent – zurückfloss. Übrigens war er Junggeselle, lebte höchst einfach und hatte als häuslichen persönlichen Beistand niemand anderen, als seinen Diener Frycollin, der eigentlich am allerwenigsten verdiente, im Dienste eines so kühnen, unternehmenden Herrn zu stehen. Aber es gibt einmal Regelwidrigkeiten.
Dass der Onkel Prudent Freunde hatte, da er so reich war, versteht sich ja von selbst; aber er hatte auch Feinde, weil er Vorsitzender jenes Clubs war – unter allen alle die, welche selbst nach diesem Amte strebten; und als der hitzigsten einer ist hier der Schriftführer des Weldon-Instituts zu erwähnen.
Es war das der ebenfalls sehr reiche Phil Evans, der Direktor der Walton Watch Company, einer gewaltigen Uhrenfabrik, welche tagtäglich 500 Stück Zeitmesser erzeugt und Produkte liefert, die sich den besten der Schweiz an die Seite stellen können. Phil Evans hätte also für einen der glücklichsten Menschen der Welt selbst in den Vereinigten Staaten gelten können, wenn man von jener Stellung des Onkel Prudent absah. Wie letzterer, war auch er 45 Jahre alt, von scheinbar unerschütterlicher Gesundheit, wie jener von unzweifelhafter Kühnheit, und sorgte er sich wenig darum, die gewissen Vorzüge des Junggesellenstandes gegen die oft zweifelhaften Vorteile der Ehe zu vertauschen. Wahrlich, das waren zwei Männer, wie geschaffen, einander zu verstehen, die sich doch nicht verstanden, und beide, was wohl zu bemerken ist, von ungemein stark entwickeltem Charakter, der eine, Onkel Prudent, hitzig, der andere, Phil Evans, eiskalt bis zum Übermaße.
Und woher kam es, dass Phil Evans nicht zum Vorsitzenden des Clubs ernannt worden war? Die Stimmenzahl für Onkel Prudent und für ihn war die genau gleiche gewesen. Wohl zwanzigmal wurde die Abstimmung wiederholt, aber auch zwanzigmal ergab sich eine Majorität weder für den einen, noch für den anderen. Das war eine peinliche Lage, welche wahrscheinlich die Lebenszeit der beiden Kandidaten hätte überdauern können.
Da schlug ein Mitglied des Clubs ein Mittel vor, die Stimmengleichheit aufzuheben. Es war Jem Cip, der Schatzmeister des Weldon-Instituts. Jem Cip war eingefleischter Vegetarier, mit anderen Worten, ausschließlicher Gemüseesser, einer der Leute, die jede Fleischnahrung, wie alle gegorenen Getränke verwarfen – halb Brahmanen und halb Muselmänner – der Rivale eines Nievmann, Pitmann, Ward und Davie, welche der Sekte dieser unschuldigen Toren einen gewissen Namen gemacht haben.
Bei vorliegender Gelegenheit wurde Jem Cip von einem anderen Mitglied des Clubs unterstützt, von William T. Forbes, dem Direktor einer großen Anstalt, in der Glucose durch Behandlung von Lumpen mit Schwefelsäure hergestellt wurde – ein Verfahren, nach dem man also Zucker aus alter Wäsche zu erzeugen vermag. Es war ein gut situierter Mann, dieser William T. Forbes, und Vater von zwei reizenden, bejahrteren Töchtern, der Miss Dorothee, genannt Doll, und der Miss Martha, genannt Mat, die in der besten Gesellschaft von Philadelphia den Ton angaben.
Der von William T. Forbes nebst einigen anderen unterstützte Vorschlag Jem Cips ging nun dahin, den Vorsitzenden des Clubs durch den Mittelpunkt zu bestimmen.
Wahrlich, dieser Wahlmodus könnte in allen Fällen angewendet werden, wo es sich darum handelt, den Würdigsten zu erwählen, und sehr viele, höchst vernünftige Amerikaner dachten auch schon daran, denselben bei der Ernennung des Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Anwendung zu bringen.
Auf zwei tadellos weiße Tafeln wurde hierzu je eine schwarze Linie gezogen. Die Länge beider war mathematisch genau die gleiche, denn man hatte dieselbe mit ebensoviel Sorgfalt abgemessen, als handelte es sich dabei um die Grundlinien des ersten Dreiecks einer Triangulationsarbeit. Hierauf wurden beide Tafeln am nämlichen Tage inmitten des Sitzungssaales der Gesellschaft aufgestellt; die beiden Wettbewerber versahen sich jeder mit einer sehr feinspitzigen Nadel und gingen wieder gleichzeitig auf die, jedem durch das Los zugefallene Tafel zu. Derjenige der beiden Rivalen aber, welcher seine Nadel am nächsten dem Mittelpunkte der Linie einstechen würde, sollte damit zum Vorsitzenden des Weldon-Instituts gewählt sein.
Es versteht sich von selbst, dass hierbei jedes Hilfsmittel, jedes Umhertappen verboten und nur die Sicherheit des Blicks entscheidend war. Es galt, nach volkstümlichem Ausdruck, den Zirkel im Auge zu haben.
Onkel Prudent stach seine Nadel ein und zu gleicher Zeit Phil Evans. Darauf wurde nachgemessen, welcher der beiden Konkurrenten sich dem Mittelpunkte am meisten genähert hatte.
Welches Wunder! Die beiden Männer hatten so vortreffliches Augenmaß entwickelt, dass die Messungen keinen schätzenswerten Unterschied ergaben. War von ihnen auch nicht genau der mathematische Mittelpunkt getroffen worden, so erwies sich der Raum zwischen diesem und den beiden Nadeln kaum merkbar und schien bei beiden obendrein noch gleich groß zu sein.
Die Versammlung befand sich nun in neuer Verlegenheit.
Zum Glück bestand eines der Mitglieder, Truk Milnor, darauf, die Messungen mit Hilfe eines mit Perreaux’ mikrometrischer Maschine geteilten Lineals noch einmal vorzunehmen, welche die Möglichkeit gewährt, noch ein Fünfzehnhundertstel eines Millimeters abzulesen. Auf dem Lineal waren in der Tat fünfzehnhundert Abteilungen auf einem solchen kleinen Raum mittels Diamant eingeritzt, und bei Abmessung der Entfernung der Stiche von den betreffenden Mittelpunkten erhielt man folgendes Resultat:
Onkel Prudent hatte sich dem Mittelpunkt auf weniger als sechs fünfzehnhundertstel Millimeter genähert, Phil Evans auf nahezu neun fünfzehnhundertstel.
Daher kam es, dass Phil Evans nur Schriftführer des Weldon-Instituts wurde, während Onkel Prudent die Würde des Präsidenten desselben erhielt.