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Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Es bestand – wie Verhaeren so schön sagte – ›Gefahr, ihn zu lieben‹, und die meisten scheuten die Gefahr«, bekennt Stefan Zweig in seiner Biographie Romain Rollands: Galten frühe Äußerungen noch ganz dem heroischen Idealismus des literarischen Werkes, so war ein Teil dieses Buchs Rolland als dem »Gewissen Europas« gewidmet, das dem »Haß den Kampf« angesagt hatte. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Rolland aus humanistischem Bewusstsein zum überzeugtesten und überzeugendsten Pazifisten seiner Generation geworden. Stefan Zweig wurde auch in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht müde, seine großen Lebenshaltung und -leistung zu rühmen, obwohl er Rollands Parteinahme für den Bolschewismus mit seinem eigenen Weltbild nicht vereinigen konnte. Seine Bereitschaft, in einer Freundschaft allen Widrigkeiten zu trotzen, war letzten Endes stärker.
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Seitenzahl: 469
Stefan Zweig
Romain Rolland
Fischer e-books
Mit einem Nachwort von Knut Beck.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Nicht privatim auf einem geschlossenen Briefblatt, sondern öffentlich, vor vielen und zu vielen möchte ich Sie heute, lieber, verehrter Romain Rolland, zur Vollendung Ihres großen Werkes beglückwünschen. Der zehnte abschließende Band Ihres monumentalen Romanzyklus ›Jean Christophe‹ ist nun in die Welt gegangen, in die kleine, glühende, junge, die ihn mit Liebe erwartet, in die große beschäftigte, eilfertige und mondäne, die noch nichts von ihm weiß und die er sich dennoch erobern wird. Damals, als die ersten Bände erschienen, wie wenige waren’s, die zu Ihnen standen, aber schon bei dem vierten und fünften Bande verwandelte sich Erwartung in Stolz, Freude in Ungeduld, und nun, da der letzte, zehnte Band Ihres edlen und verantwortungsvollen Werkes erschienen ist, rüstet sich die ganze ernste französische Jugend zur Feier. Die großen, die würdigen Blätter, die aus dem Zuspätkommen schon ein Prinzip gemacht haben, sie sind freilich noch stumm, aber all die kleinen Revuen, in denen der neufranzösische Idealismus lebt und sich nicht nur im tönenden Wort, sondern durch die Tatsache bestätigt, daß dort die jungen Leute ohne Honorar, fast ohne Publikum, ja oft sogar mit materiellen Opfern ihre Ideen vertreten, – sie alle bereiten Sonderhefte, Enqueten und Ehrungen vor, indes das andere Frankreich, das laute der Arrivierten, schweigt. Aber auch Deutschland soll nicht stumm sein an diesem Tage, denn wie kein Franzose haben Sie, Romain Rolland, gerecht und gütig die deutsche Seele, die deutsche künstlerische Kultur den französischen Intellektuellen nahezubringen gesucht. Nie ist, nicht vor und nicht nach dem »furchtbaren Jahre« von einem einzelnen der Versuch geistiger Versöhnung so liebevoll, so unprogrammatisch gestaltet worden, und ich weiß keinen in Frankreich, dem die deutsche Kunst heute dankbarer zu sein hat als Ihnen, Sie stiller Meister, der diesen Dank ebenso abwehren wird wie all den Ruhm, den man Ihnen bereiten will.
Die Vollendung Ihres ›Jean Christophe‹ ist für mich noch mehr ein ethisches Ereignis als ein literarisches. In einer unruhigen Zeit, da alles zum raschen Erfolg hindrängt, ungeduldig von der Arbeit zur Wirkung aufschaut – einem Schützen vergleichbar, der nach jedem Schuß den Schießstand und die Waffe läßt, um eitel die Scheibe zu beschauen – haben Sie, ein einzelner, ein Einsamer, keiner Gruppe zugehörig, beinahe Ihre ganze Jugend an ein Werk gewandt, dem schon durch die bloße äußere Form jede eilige, stürmische Wirkung versagt sein mußte. Zehn Bände – wie oft habe ich’s selbst erlebt, bei Verlegern, bei Freunden, die ich auf das Werk hinwies, daß sie ängstlich abwehrten, ihre Zeit an ein so ausgebreitetes Werk zu wenden. »Wie beschäftigt sie sind«, höhnte immer Dostojewski, »sie haben keine Zeit zu leben, haben keine Zeit, an Gott zu denken. Sie haben Zeit für alles, nur nicht für das Wichtige.« So war dieses Werk von vornherein nur für die wenigen Leser bestimmt, für die ruhigen, die treuen, die mit einem Buche leben, die es nicht schlingen wie eine hastige Mahlzeit; ohne sie zu kauen und zu verdauen. Aber dieser äußere Widerstand scheint mir noch gering gegen den anderen, noch größeren, den Sie sich freiwillig geschaffen haben. Sie haben, inmitten eines chauvinistischen Frankreichs, es sich zur Aufgabe gestellt, einen imaginären deutschen Musiker, Beethoven redivivus zum Helder. Ihres ethischen Werkes zu machen und durchaus nicht zu einem ironischen, nicht zur komischen Figur, die der Deutsche in den französischen Romanen selbst bei Balzac fast immer zu stellen hat, sondern einen wahren, makellosen Helden des Genies und der Gesinnung. Sie haben Frankreich und Deutschland einander gegenübergestellt, aber nicht feindlich mehr, sondern in einer so hohen Sphäre der Gerechtigkeit, wo es nur Vergleich mehr gibt und nicht mehr Kampf. Sie haben gegen Ihre eigene Zeit, gegen das öffentliche Leben in Frankreich, seine Lügen, seine Eitelkeiten und die Korruption seiner Zeitungen, seiner Kunst gesprochen, und doch immer für Ihre Nation, weil Sie unter all dem Lärm und den emphatischen Gebärden das wirkliche Frankreich aufdecken wollten, das stille und schaffende, weil Sie all den Schutt wegräumen mußten, um diese heilige Blüte, die verborgene, zu zeigen.
Denn tatsächlich, es gibt zwei Frankreich, heute stärker als je, das lärmende und das stille. Dieser Zwiespalt geht durch alle Kreise, durch alle Bestrebungen. Es gibt ein Frankreich der Tagesjournale, der Theaterfabrikanten, der Bernstein, Croisset, Bataille, der eitlen Gelehrten, der dekorationsgierigen Politiker, ein Frankreich, das die Nation überschreit und für die naive Masse das Wirkliche ist. So sehen die Fremden Paris als eine Stadt der ungeheuerlichsten Verschwendung und ahnen nicht, eine wie sehr sparende und verdienende sie ist, die Kokotte ist ihnen die französische Frau, überall sehen sie nur Fassaden, diese schreienden, mit grellen Affichen überladenen Fassaden von Frankreich, und ahnen nichts von dem großen geistigen Leben hinter den Mauern. Falsch ist Deutschland wie über das Leben auch über die Literatur informiert. Jeder Schrei, jedes Stöhnen aus der Wochenstube des Herrn Rostand wird eiligst herübertelegraphiert, aber die Dichter, die wahre Werke schaffen, wann hören wir von ihnen, von jener jungen glühenden Generation von Charles Louis Philipp, Romains, Suarès, Claudel, um nur ein paar Namen zu nehmen, und den Ihren vor allem, Romain Rolland? Freilich wäre es nicht unsere Verpflichtung, gerecht zu sein, wo die Franzosen selbst zu träge sind, aber hier sollte es unser Stolz sein, ihnen voraus zu sein. Gobineau, Maeterlinck, Verhaeren und selbst Verlaine haben in Deutschland ihren lebendigen Ruhm, ihre wahrhafte Wirkung eher gehabt als in Frankreich, und nichts wäre gerechter, als daß auch Sie bei uns früher voll gewürdigt würden als in Ihrer Heimat, denn wie keines gehört Ihr Buch nach Deutschland, in das Land der Musik. Es ist in vielem ein deutsches Buch, ein Entwickelungsroman wie der ›Grüne Heinrich‹, wie der ›Wilhelm Meister‹, und doch wieder ein französisches, denn Sie schließen sich damit an die große Tradition derer an, die mit einem Romanwerk nicht ein einzelnes Schicksal und sein Merkwürdiges umreißen, sondern einen Querschnitt durch die ganze zeitgenössische Gesellschaft legen wollen. Die Linie geht geradeaus von Jean Jacques Rousseau über Balzac und Zola, über die ›Histoire Contemporaine‹ des Anatole France bis zu Ihnen, und während die weisen Herren von der Sorbonne über den Niedergang des modernen Romans in Frankreich klagen, daß er nicht mehr seine Zeit, nicht mehr die ganze Gegenwart umfasse, haben Sie im stillen, unter ihren Augen und doch unbemerkt im ›Jean Cristophe‹ dieses Werk vollbracht. Denn das ganze Leben, alle Probleme unserer Zeit sind darin aufgehäuft, die ästhetischen wie die politischen, die antimilitaristische und die Judenfrage, das Theater und der Hof. Alle Formen des Lebens gestreift, aus allen Ländern Bild und Menschen gebracht. Ihr Roman spielt durch alle Kreise von Paris, von den fürstlichen bis zu den proletarischen, drei Bände gehören Deutschland, einer der Schweiz und einer Italien, und in dieser ungeheuren Vielfalt ist nur eines einheitlich als Bindung des überwältigenden Materials, Jean Cristophe, der Held, der sichtbare, und jener andere, eigentliche, unsichtbare Held des Werkes, die Musik, sie ein höchstes Symbol der Bindung aller Gegensätze.
Musik, sie nährt diesen Roman mit ihrer ewigen Quelle. Sprache über den Sprachen, überfliegt sie die Grenzen der nationalen Beschränktheiten, Stimme des Gefühls, macht sie sich auch verständlich, wo der Intellekt nicht mehr sich zu ergänzen weiß. Jean Cristophe oder, wie sein guter deutscher Name heißt, Johann Christoph Krafft, er ist, so lebendig er auch in diesen Büchern lebt, nur ein Symbol. Seine Jugend ist die Beethovens oder Mozarts, seine Flucht aus Deutschland, sein Kampf in Paris eine verwandelte Geschichte Richard Wagners, und unschwer wird man in den Ideen seiner Musik gewisse letzte Tendenzen Richard Straussens und vor allem Gustav Mahlers entdecken. Es war edel und gerecht von Ihnen, Romain Rolland, einen deutschen Künstler gerade in jener Form zu gestalten, in der Deutschland zu allen Zeiten am größten war, in der einzigen, wo Frankreich niemals seine Superiorität äußerlich aufrechtzuerhalten wagte, in der Musik: als Schöpfer seines eigenen überströmenden Gefühls. Die deutsche Musik, die Deutschland die Welt gewonnen hat, hat auch Sie zum Fürsprecher gekürt, sie war es, die Sie zur deutschen Sprache führte und Sie Goethe lieben ließ, dem Sie in Ihrem Werke vielfach ein Denkmal der Liebe und Verehrung gesetzt haben.
Aber es war wohl nicht schwer, Sie zu gewinnen, denn die schöpferische Größe Ihres Wesens wurzelt im Willen zur Bewunderung. Ihr erstes literarisches Werk feierte die Helden der französischen Revolution in kühnen und heißen Dramen, und später, schon als Musikhistoriker bekannt und berühmt, haben Sie jene drei großen Werke der Lebensbewunderung, die dichterischen Biographien Beethovens, Michelangelos und Tolstois geschaffen. Sie wissen, daß Bewundern beglückt, daß man in jeder Hingebung sich nicht verliert, sondern zehnfach im Gefühl gewinnt, Sie fühlen jene Freudigkeit des Weltrausches, den Walt Whitman und Verhaeren in Verse gegossen haben und der heute freudig in der Jugend glüht. Und dieser Wille zur Bewunderung und diese Güte machte Ihr Werk groß, das gerecht sein will in einem höheren Sinne als dem der Kritik und das von sich aus eine neue Generation schafft, weil es die frühere so sehr geliebt hat, weil es alles Gute von ihr nahm, das noch unreif und verworren in ihr wuchs, um es der nächsten, der neuen schon als Frucht, als Besitz zu spenden.
Ich finde mich selbst verwirrt, wie vielfach ich Ihnen eigentlich danken muß. Der Mensch, der Genießer, der Künstler, der Deutsche, der Weltfrohe in mir, jeder drängt sich vor und will Ihnen ein Wort sagen. Aber ein andermal soll der Künstler über diesen Roman sprechen, ein andermal der Genießer, und der Mensch will warten, bis er Ihnen wieder die Hand drücken darf. Heute soll nur der Deutsche danken, denn ich habe das Gefühl, die französische Jugend ist uns näher geworden durch dieses Buch, das mehr getan hat als alle Diplomaten, Bankette und Vereine. Ein Land kann man in seinem Wertvollsten immer nur durch einen Menschen verstehen. Das haben Sie so tiefsinnig in Jean Christophes Schicksal selbst dargestellt. Er kommt nach Paris, ist dort einsam und liebt es nicht. Er sieht nur das falsche Frankreich, die Ohren tun ihm wehe vom Lärm der Journale, die Augen brennen ihm vom lauten Haß, der den Deutschen begegnet, das Herz ist ihm wund von der Falschheit der Worte. Da lernt er in der tiefsten Einsamkeit des Herzens (wie groß, wie ergreifend ist dies im fünften Bande geschildert) einen Franzosen kennen, einen jungen, wahrhaften Franzosen, und wird sein Freund. Und da, in den Gesprächen, aus der liebevollen Erklärung werden ihm die wahren Werte bewußt, die Flamme glüht auf unter dem Qualm, er ahnt den großen Idealismus, der heute wie immer in Frankreich wirkt und nur keusch sich verbirgt, um nicht verwechselt zu werden mit den Phrasen der Marktschreier, er lernt Frauen kennen mit der Fähigkeit grenzenlosester Aufopferung, und mit einemmal spürt er den Zwiespalt zwischen sich und seiner Welt schwinden. Er weiß nur, es ist hüben und drüben eine Elite, Menschen, die sich verstehen, über allen Irrtum und alle Ereignisse der Nationen hinweg, weil sie sich nur in den edelsten Werten suchen und nicht in den kleinen mesquinen Erscheinungen. Sie haben Deutschland groß gesehen, weil Sie auf Goethe und Beethoven blickten, und mit Ihren Augen wollen und müssen wir Frankreich sehen und dürfen ihm schon darum vertrauen, weil es noch heute Menschen schafft von einer so hohen Gerechtigkeit wie der Ihren, von einer so reinen Aufopferung, wie sie Ihr Werk bedeutet. Liebe hat immer nur eine Antwort: Liebe. Und so wird die Antwort Deutschlands sein, seien Sie dessen sicher, wenn nun im Frühjahr die ersten Bände Ihres Werkes auch bei uns erscheinen werden und man erstaunt einen unbekannten Freund jenseits der Grenze erkennen wird.
Wie froh bin ich dieses Tages, wie froh der Vollendung Ihres Werkes! Man weiß es ja immer, daß die Stille über den Lärm siegt, die reine Anspannung über die eifrige Geschäftigkeit. Aber immer ist es schön, dies aufs neue zu erleben, wie die reinen Werke siegen, wie bei uns in Deutschland heute die Bewunderung für Gerhart Hauptmanns Werke gleich einem Dom das ganze Land umspannt, wie die Stillsten, Rainer Maria Rilke, nun Stimme haben und Wort, wie das Leise laut wird in den Herzen. Wie rasch sind doch diese Verwandlungen! Vor ein paar Jahren in Paris entsinne ich mich noch, wie Verlaine als verkommenes Talent betrachtet wurde und im ›Figaro‹ ein entrüsteter Protest erschien, als die Jugend ihm ein Denkmal errichten wollte. Verhaeren galt als pathetischer Decadent und verkaufte kaum ein Viertel seiner Auflagen, Namen wie der Ihre, wie der des Claudel und Suarès waren nie genannt. Und doch, wir wußten alle – denn die Jugend hat immer recht –, wo die wirklichen Werte waren, schon damals waren wir alle überzeugt, ohne Sie zu kennen, daß von Ihnen ein Werk kommen würde, und hinter diesem Werke der Ruhm. Man weiß es ja immer, aber es ist schön, die Bekräftigung seiner Überzeugungen zu erleben.
Der ›Jean Christophe‹ ist nun vollbracht, aber Sie sind, Romain Rolland, zu jung, um zu feiern, zu ernst, um sich eines Geschaffenen zu freuen, zu heiß, um Ihren Überzeugungen nicht immer noch neue Menschen gewinnen zu wollen. Das eine Mal, als ich die Ehre hatte, Ihnen begegnen zu dürfen, sagten Sie mir, Sie wollten nach der Vollendung des ›Jean Christophe‹ zum Theater zurückkehren, weil dort die Stimme stärker und unmittelbarer zu den Menschen dringe. Ich würde mich dessen freuen, denn nichts hat das französische Theater von heute notwendiger als einen Menschen von Überzeugung und Ehrlichkeit, der keine Puppen hinstellt und keine künstlichen Probleme, der auch in Frankreich im gleichen Sinne wirkt, in dem wir uns mit vielleicht noch unzulänglichen Kräften bemühen: die rein gesellschaftlichen Probleme, die erotischen und politischen wieder zu ersetzen durch die ethischen und rein menschlichen. Vielleicht wird das Publikum Ihnen nicht so emsig folgen wie dem wackeren Automatenfabrikanten Bernstein oder dem Explosionstechniker Bataille, vielleicht wird auch Ihnen die Kritik vorhalten, Sie seien zu wortreich und zu künstlich (die ahnungslose, die selbst nur vom Wort lebt), aber da und dort wird die Flamme hinüberschlagen und bei einzelnen den inneren Brand entfachen. Ihr Glaube ist ja der an eine Elite, an eine ganz kleine, oberste Schicht der bewußten Güte und Gerechtigkeit, und ganz weit unten wieder an die breite proletarische Masse der unbewußten Güte: zwischen diesen beiden über die ganze morsche, mondäne Welt hinüber die Brücke zu spannen – vielleicht gelingt es Ihnen. Ich weiß keinen Besseren heute in Frankreich.
Und nun noch einmal Dank für das geschaffene Werk, Gruß und Glückwunsch.
Endlich ist »Jean Christophe« von seiner zehnjährigen Weltwanderschaft wieder in die Heimat zurückgekehrt und hat seinen französischen Namen gegen den altväterischen Johann Christof vertauscht. (Romain Rolland, ›Johann Christof. Kindheit und Jugendjahre.‹ Übertragen von Otto und Erna Grautoff. Verlag Rütten & Loening, Frankfurt. Dieser eine umfangreiche Band umfaßt die vier ersten der französischen Ausgabe: ›L’aube‹, ›Le matin‹, ›L’adolescent‹, ›La révolte‹. Die anderen sechs Bände der französischen Ausgabe, die Jean Christophe in Paris, in der Schweiz und Italien, sein Werk und sein Ende darstellen, werden in zwei weiteren Bänden der deutschen Ausgabe sich anschließen.) Ein Kreislauf eigenster Art ist damit zu Ende, denn ungewöhnlich, wenn nicht ohne Beispiel, ist die Tatsache, daß ein französischer Dichter sich einen deutschen Helden zum Mittelpunkt seines grandios angelegten zyklischen Werkes wählte. Einer fremden Nation längst vertraut, Liebling und Freund einer ganzen geistigen Generation, tritt Jean Christophe jetzt endlich in die heimatliche Welt, um sein Evangelium der Kunst und den Genius der deutschen Musik zu verkünden.
Aber nicht vom künstlerischen Wert und Makel dieses einzigartigen Werkes, dieser Dekalogie von zehn Romanen möchte ich heute sprechen, in denen ein einzelnes Schicksal episch in den vielfältigsten Konflagrationen gegen unsere ganze neuzeitliche Welt gestellt ist, nicht das Kunstwerk seiner Gestaltung betrachten, sondern das nicht mindere Kunstwerk der moralischen Tat, die es verlebendigt. Die Tatsache, daß mitten in unserer zielstrebigen und zweckdienlichen Zeit ein solches weitausschauendes, breitausladendes Werk entstehen konnte, ein Epos, das noch einmal versucht, Gesamtheit zu sein in einer spezialisierten und nationalisierten Welt, ist ein Triumph persönlicher Energie und sein Ruhm die höchste Bestätigung der beglückenden Paradoxie, daß in der Kunst die anscheinend aussichtslose Aufgabe, die zweckbefreite, im letzten immer die dankbarste ist. Von dieser Tat allein möchte ich darum nur sprechen, solange erst ein Drittel des Werkes deutsch vorliegt, und von Romain Rolland, seinem Schöpfer. Gerade bei einem Werk wie diesem, dessen höchster, zwingendster Reiz ein moralischer ist, der einer immanenten Gerechtigkeit, einer Fähigkeit also, die nicht der Genialität allein verstattet ist, sondern auch dem Geringsten von uns anheimgegeben, wird es dem Leser Bedürfnis werden, nach dem seltsamen Menschen zu fragen, der dichterisch sich an die höchste Aufgabe gewagt hat, im Kunstwerke nicht bloß Einzelschicksal darzustellen, sondern die ganze Zeit. Gerade bei uns wird bewundernde Neugier fragen, wie der Mensch beschaffen war, der die Kühnheit wagte, in einer chauvinistischen Epoche, inmitten eines national überreizten Volkes just einen Deutschen zum Helden eines Lebenshymnus zu erwählen, sich allein mit unbewehrter Brust gegen den Strom der Zeit zu stellen. Von ihm, von Romain Rolland, möchte ich darum heute sprechen, denn das ungewöhnliche Werk verrät hier zu deutlich einen ungewöhnlichen Menschen.
Romain Rolland, bis vor etwa zwei Jahren nur einem engen Kreise vertraut, ist keiner der Jüngsten mehr. Er ist 1866 geboren in Clamecy, einem kleinen Städtchen der Bourgogne, aber früh schon nach Paris übersiedelt. Auf der Schulbank, im Lyzeum Louis le Grand, wird ihm der erste Freund. Auch sein Name ist seit einem Jahre berühmt: es ist Paul Claudel. Durch eines jener merkwürdigen Sinnspiele des Zufalls sind die beiden Dichter, die heute die divergentesten Gruppen Frankreichs vertreten, die fast zu gleicher Stunde Weltruhm und Macht gewonnen haben, auf einer Schulbank zusammen, genau wie zehn Jahre vorher im Jesuitengymnasium von Gent die vier großen Belgier Verhaeren, Maeterlinck, Rodenbach und Lerberghe. Ein Dritter schließt sich ihnen bald an: André Suarès, der größte Sprachkünstler des gegenwärtigen Frankreich. In leidenschaftlichen Gesprächen tauschen sie Pläne und Erwartungen, aber unentschieden, wie bei Claudel und Suarès, ist bei Romain Rolland die Lebensrichtung. Seit frühester Kindheit verlockt ihn die Musik in gleicher Weise wie die Dichtung, ein philologischer Trieb gesellt sich in der strengen Zucht der Ecole Normale bald hinzu. Aber typisch ist für den Studenten schon die merkwürdig bewußte Abkehrung von den bloß literarischen Größen. Seine ganze Liebe wendet sich den Weltheroen aller Zeiten zu: Mozart und Beethoven, Shakespeare und Goethe beherrschen einzig seine Jugend. Von allen Lebenden bedeutet ihm nur einer viel, aber nicht Victor Hugo ist es, der Doyen des literarischen Frankreich, sondern Tolstoi, der ferne Heros in Rußland, dem er sich verbunden fühlt. Noch weiß der schöpferische Wille in Romain Rolland sich nicht zu entladen, aber alles in ihm glüht ungestüm der Kunst entgegen, der Kunst im letzten höchsten Sinne. Der Student schon begreift die Kunst nur als religiöses Lebensbekenntnis, als den schöpferischen Lebensglauben, als die geistige Frucht eines täglichen menschlichen Heroismus.
Da geschieht diesem jungen ungeduldigen Menschen plötzlich etwas, das ihn gänzlich verwirrt und unsicher macht. Ein neues Buch von Tolstoi ist erschienen. Gierig greift er es auf und fühlt sich vernichtet. Es ist ›Die Kreutzer-Sonate‹, jenes Buch, das ein zorniges Anathema gegen die Musik schleudert, sie, die Romain Rolland bisher als die höchste spendende Lebensmacht empfunden hatte. Ein zweites Buch von Tolstoi, fast gleichzeitig erschienen, ›Wohin wandern wir?‹, zerstört mit bilderstürmischerer Hand ihm alle anderen Ideale. Shakespeare der Große wird verdammt von dieser fast mönchischen Moral, Goethe abgetan und gleichzeitig kleine einfältige Werke nur um ihrer demütigen Enge willen hoch über alles gestellt, was der Jüngling wie Evangelien verehrte. Die beiden Bücher erzeugen in Romain Rolland einen gefährlichen Zwiespalt. Der Mensch, der ihm der Höchste war unter allen Lebenden, der Meister seiner Jugend, verwehrt ihm mit einem Male die Andacht vor der Kunst; er fühlt sich bezwungen von seiner Autorität und wagt doch nicht, ihr ganz zu vertrauen. Eine moralische Krise bemächtigt sich des Zwanzigjährigen. Sein Leben, das schon straff der Kunst entgegengespannt war, scheint ihm plötzlich zerrissen, sinnlos und ohne Zweck die ganze zukünftige Existenz.
In dieser Krise des Herzens tut nun der junge Romain Rolland das Einfachste und gleichzeitig das Unsinnigste. Er setzt sich eines Abends in seiner Verzweiflung hin und schreibt einen Brief an Tolstoi, den fernen Großen irgendwo in Rußland, und bittet ihn um Rat. Er erwartet keine Antwort. Er weiß, daß Tolstoi zu weit ist und zu groß, um die Sorgen des kleinen Pariser Studenten zu den seinen zu machen. Es ist nur ein Schrei, irgendein verzweifelter Appell, der ihm aus der Brust bricht, jenes fanatische Gebet um das Wunder, das die Verlorenen fast unbewußt in den Augenblicken der höchsten Gefahr auf den Lippen finden. Aber er kommt nicht zur Ruhe dadurch. Er stürzt sich in die Arbeit, um sich zu betäuben, um die zwiespältigen Stimmen in sich zu überschreien. … Eines Tages nun, nach Wochen, findet er, nach Hause kommend, auf dem Tisch einen Brief, eher ein Paket, einen Brief, den eine fremde Marke ihm seltsam macht. Er öffnet ihn verwundert – es ist ein Brief von Tolstoi. Ein Brief von achtunddreißig Seiten in französischer Sprache, beginnend mit dem demütigen Worte »Cher frère«, ein Brief, in dem Tolstoi mit der ganzen Kraft seiner einseitigen Logik ihm seine Überzeugung persönlich zu vermitteln sucht. … Das Schreiben selbst – späterhin als Privatdruck Romain Rollands für seine Freunde erschienen – ist weder dichterisch bedeutend, noch neu in seinen Anschauungen, aber doch überwältigend durch die bloße Tatsache seines Geschriebenseins. Für Romain Rolland ist es eine Entscheidung. Er fühlt, daß damit in seine Mansarde, irgendwo in einer Vorstadt von Paris, eine gewaltige prophetische Lebensmacht gedrungen ist, eine nicht zu überhörende Mahnung zur Selbsthingebung und Aufopferung. Denn daß dieser weltberühmte Dichter einen ganzen Tag von seinem Leben, von seinem Werk weggenommen hat und ihn der Mühe hingegeben, in fremder, nicht vollkommen beherrschter Sprache an irgendeinen Verzweifelten viele Stunden lang zu schreiben, diese Tatsache empfindet Rolland als eine Lehre, die stärker ist als alle einzelnen Worte und Meinungen des Briefes. Er weiß nun, daß es einen Zusammenhang gibt über die Nationen hinaus, eine menschliche Hilfsbereitschaft, die alle Grenzen des Ruhmes und der Rasse zwingend zu zerbrechen weiß, wenn sie die Angstglocke der Seelennot hört. Und er begreift nun den Dichter in seiner höchsten Berufung: daß er der Menschlichste der Menschen sein müsse. Er lernt aus dieser einen Tatsache für sein ganzes späteres Werk, daß keine Kunst im letzten bedeutsam und spendend sein könne, die nicht im letzten auf den Zusammenhang abziele, auf eine seelische Vereinigung. Aus dem Rausch dieser Stunde ist ihm eine ethische Befeuerung dauernd im Blute geblieben. Und die heroische Leistung des ›Jean Christophe‹, diese postume Wirkung weit hinter der eigenen Lebenszeit und dem eigenen Werke, bezeugt in erhabener Gerechtigkeit des Schicksals, daß auch dieser Brief, dieser Tag, diese Stunden, die Tolstoi von seinem eigenen dichterischen Werke wegnahm, um sie einem unbekannten Einzelnen zu geben, schließlich doch wieder zu einer ganzen Welt zurückgefunden haben. Sie bezeugt für alle Zeit, daß keine Tat der Aufopferung im letzten vergebens ist und im moralischen Kosmos wie im materiellen kein Atom von Kraft jemals verlorengehen kann.
So früh schon war der Ruf zur Größe an den jungen Romain Rolland ergangen, und eine zweite Begegnung führt ihn neuerdings empor in die heroische Atmosphäre seiner Generation. Er hat seine Studien mit glänzendem Erfolg bestanden, die französische Regierung gewährt ihm ein Stipendium und sendet ihn nach Rom, damit er dort die Vorarbeiten zu seinem großen musiktheoretischen Werke ›Die Geschichte der Oper vor Lully‹ beginnen könne. In Rom gewinnt er die Freundschaft einer alten Dame, die dort still in einer kleinen, aber edeln Geselligkeit lebt. Es ist Malvida v.Meysenbug, die Verfasserin der ›Memoiren einer Idealistin‹, die vielleicht nicht die bedeutendste war durch ihre Künstlerschaft, groß eigentlich nur durch Güte und emporgesteigert in ihrer Existenz aus dem eigenen Maß durch schicksalsträchtige Begegnungen und ihre wundervolle Fähigkeit zur Freundschaft. Sie war Wagners Vertraute gewesen und die Friedrich Nietzsches, die beide ihre Genialität frauenhafter Empfänglichkeit dankbar zu verehren wußten. In den Gesprächen mit ihr lernt Romain Rolland, der junge Franzose, Deutschland, das fremde, verstehen und Deutschland im höchsten Sinne. Aus ihren Erzählungen belebt sich ihm die heroische Welt Wagners und Nietzsches. Er darf mit ihr nach Bayreuth pilgern, im Hause Wahnfried die geistige Gegenwart des verewigten Meisters noch einmal gleichsam lebendig empfinden. Sein Blick ist nun ganz aufwärts gewendet, und an diesen Beispielen vermag er Kunst nicht mehr anders zu verstehen als im höchsten Sinne der Schöpfung, in einer Weite der Wirkung, die über die Heimat hinaus, über die Grenzen der Nation, die ganze Menschheit umspannt.
Aber noch fühlt er sich nicht reif zum Werk. So will er dienen, ehe er schafft. Alle seine Arbeiten aus jener Zeit sind dem Heroenkultus, der Heldenverehrung im Carlyleschen Sinne gewidmet. Er verfaßt eine Reihe von Dramen, um den Aufschwung der französischen Revolution zu feiern, Dramen, die für ein Arbeitertheater gedacht sind[1] und beginnt jene Serie der Lebensdarstellung großer Männer, von denen bisher Beethoven, Michelangelo, Tolstoi erschienen sind und für die er, der Franzose, ein Lebensbild Goethes plant. »Respirons le souffle des héros« (»Laßt uns wieder mit dem Atem der Helden atmen«) steht auf dem ersten Blatt seines ›Beethoven‹, und sein ganzes damaliges Werk ist ein einziger Appell an die Zeitgenossen, selbst wieder Kraft zu gewinnen aus den großen, aus den heroischen Anstrengungen der Vergangenheit. Er will mit Bildern der Bühne die Massen zu einer ethischen Erregung wieder entflammen, er will die Künstler durch die Beispiele der Meister von den kleinen Zwecken abrufen und ins Ewige zurücklenken, er deutet überallhin zurück, wo in den Vergangenheiten sich Größe findet, um sie seiner eigenen Zeit zum Bewußtsein zu bringen.
Zu Vergangenheiten blickt er zurück, um Heroismus zu zeigen. Aber da belehrt ihn ein Geschehnis, daß Größe niemals auslischt in unserer Menschheit und jede Zeit nur bewußter Anspannung bedürfe, um sie in sich selbst zu entdecken. Die Affäre Dreyfus ist es, die ihn zur Besinnung der Gegenwart bringt. Für uns in der Erinnerung heute nur eine Spionageaffäre, eine politisch-chauvinistische Angelegenheit, hat sie vielen der damaligen Jugend in Frankreich eine Entscheidung bedeutet. Denn es galt für jeden einzelnen damals zu wählen zwischen den inneren Kräften des Stolzes, des engherzigen Nationalbewußtseins und jener höheren inneren Macht der Gerechtigkeit, der Demütigung vor einer Welt um der ewigen Wahrheit willen. In ›Jean Christophe‹ hat später Romain Rolland geschildert, wie das Wirklichkeitsbewußtsein damals eindrang bis in die kleinste Stube Frankreichs, wie das zeitgenössische Empfinden zwingend zur Parteinahme gereizt und in jedem einzelnen Menschen die aktuelle Überzeugung zur vitalen gehärtet wurde. Und nun erst fühlte er sich berufen zu seiner wirklichen Tat.
Mit fast vierzig Jahren beginnt er sein eigentliches Werk, sein dichterisches Lebensbekenntnis, den ›Jean Christophe‹. Er ist ganz unbekannt damals als Schriftsteller, nur als Meister der Musikwissenschaft kennt ihn Paris. Seine Vorlesungen in der Sorbonne sind überfüllt wie heute die Bergsons. Literarisch aber steht er außerhalb aller Gemeinschaften, niemand hilft ihm, niemand muntert ihn auf. Alle Möglichkeiten sprechen seinem Beginnen Hohn. Der Roman eines Unbekannten in zehn Bänden hat keine Aussicht auf Erfolg, und die Tatsache, daß er in einer Zeit der Germanophobie einen Deutschen zum Helden erwählt, macht ihn seiner Nation von vornherein unmöglich. Aber Romain Rolland beginnt mit jener unverwirrbaren Energie, die seinen Lebensweg von allem Anbeginn charakterisiert; ohne Publikum, ohne Namen, ohne Freunde, ohne Verleger beginnt er das Epos der Zeit.
Den ersten Keim dieses Werkes hat seltsamerweise Bayreuth in ihn gesenkt, Wagners ›Parsifal‹, die Gestalt des reinen Toren inmitten einer wissenden Welt, der Triumph des Intuitiven gegenüber aller Weisheit und Wissenschaft. Was Romain Rolland nun gestalten wollte, war, diesen reinen Menschen statt wie im ›Parsifal‹ in eine mythische, mitten in unsere Wirklichkeitswelt zu stellen, aus dem Zauberwald auf die Boulevards, in die Salons und Konzertsäle, aus der christlich-mystischen Welt in eine neue Gläubigkeit. Sein Gralswunder ist eines der Kunst: Romain Rolland zeigt uns den reinen Toren als Künstler unserer Welt, und zwar nicht als spekulativen, als Ideologen, sondern als den Künstler, der nur durch Gefühl wissend ist, durch das Erleiden des Lebens. Und er bildet ihn als Musiker, weil die Musik nicht an Sprache gebunden, sondern frei über den Grenzen der Nationen im Gefühle schwebt. Alle Vielfalt stellt er ihm entgegen, durch alle Klassen, vom deutschen Fürstenhofe bis zu den proletarischen Anarchisten, durch alle Religionen, das protestantische Deutschland, das katholische Frankreich, die calvinistische Schweiz, durch alle Berufe, alle Stände treibt er das Schicksal seines Helden, damit in seiner klaren Seelenfläche die ganze Welt sich spiegle. Mit Musikern, Dichtern, Diplomaten, Schauspielerinnen, Kaufleuten und Propheten drängt er ihn zusammen, alle aktuellen Fragen unserer Zeit sind in gelegentlichen Diskussionen erörtert, wodurch ja selbstverständlich der künstlerische Rahmen vielfach gelockert, der Fluß der Erzählung oft gedämmt und in Mäandern abgetrieben wird. Aber dieser Roman war ja schon von Anfang an nicht im Sinne Flauberts als reines Kunstwerk geplant, sondern als Erziehungsroman im Sinne Rousseaus oder Tolstois, als Erziehung unserer ganzen Generation zur Ehrfurcht vor dem einzelnen und Ehrfurcht vor den Gesamtheiten. Beethoven nochmals in unsere Zeit, seine Wirkung auf sie und ihre Wirkung auf ihn, das ist seine Idee. Wie würden wir ihn empfangen, wie er uns verstehen. In dem deutschen Musiker Jean Christophe hat Romain Rolland gleichsam alle große Musik aller Zeiten zusammengedrängt, denn Beethoven ist bloß das Rückgrat von Jean Christophes Persönlichkeit. So erinnert des Großvaters Figur an die mächtige Johann Sebastian Bachs, die seines Vaters an Friedemann Bach, den Säufer, das vertrunkene Genie, seine Kindheit an die Mozarts, seine Flucht nach Paris an die Wagners, und vieles in den Einzelzügen des modernen Musikers gemahnt an Hugo Wolf und Gustav Mahler (deren Leben und Leistung Romain Rolland als einziger in Frankreich schon zu einer Zeit bewunderte, als unsere Beckmesser ihnen noch die Tafel mit Fehlern und Spott vollkreideten). Und ebenso verknüpft jede Episodenfigur immer einen vielfachen zeitlichen Typus. In der Schauspielerin meint man für einen Augenblick die Silhouette der Duse zu erkennen, doch verschattet wieder ein fremder Zug ihr Antlitz, jede Figur überwindet das Persönliche und Zufällige durch einen synthetischen Zusatz des Typischen. Eine unendliche Fülle von Menschen und Tatsachen strömt zu, nicht immer architektonisch bezwungen, aber auch nicht chaotisch zerfließend, ordnungslos und doch thematisch gebändigt wie Musik. Denn nicht als Denkmal, steinern und unveränderlich vor dem Blick der Zeiten, nur als Symphonie mit Auf- und Niederschwung des Gefühls läßt sich dieses Werk begreifen.
Zehn Jahre und länger hat Romain Rolland an diesem Werk geschaffen,. ganz abseits, ganz in der Stille. Die ersten Bände weckten keinerlei Widerhall. Laue Freundlichkeit spülte sie an, und auch die schwand bald hin, als die Erzählung im fünften Bande sich nach Frankreich selbst wendete und Jean Christophe mit seinem klaren unbarmherzigen Blick die Defekte des modernen Frankreich, die schlecht gemalten Kulissen des Ruhms bloßlegte, die Korruption der Presse und die Venalität der Kunst anprangerte. Der Chauvinismus der Franzosen, betroffen von diesem elementaren mitleidslosen Gerechtigkeitsgefühl, wandte sich ab. Und eisiges Schweigen verleugnete von nun ab in Frankreich das wachsende Werk.
Aber da geschah ein Seltsames. Mit diesem Schweigen zugleich war eine stumme Bewegung im Werden. Ein paar Menschen schritten still hinter dem Werk her, langsam formten sich Reihen, leise bildete sich eine Gemeinschaft ferner Freunde, und das Wunderbare geschah, daß mitten in diesem beharrlichen Schweigen die Wirkung Jean Christophes mächtig wuchs und sich gleichsam unterirdisch entfaltete. Ein paar Menschen, in allen Ländern verstreut, spürten, daß hier ein Werk entstanden war, nicht für sich allein, sondern für eine Gemeinschaft, für eine Gemeinschaft, die noch nicht sichtbar war und doch schon latent. Aus der Gruppe wurde allmählich eine Schar, eine Masse irgendwo im Unsichtbaren. Plötzlich schnellten die Auflagen der einzelnen Bände empor zu vierzig- und fünfzigtausend, ohne ein Wort der Öffentlichkeit nur durch die schweigsame und darum doppelt wirksame Kraft der Begeisterung. Von Band zu Band wurde die Gefolgschaft stärker von Menschen, die fühlten, daß hier ein Künstler an einem großen Werke der Gerechtigkeit baue, daß hier in unserer zerspaltenen Zeit der Gegensätze ein einzelner für sich und die Welt noch einmal eine Einheit versuche, an der mitzubauen Ehre und Pflicht für jeden Mitfühlenden war.
So wuchs still dieses Werk seinem Ende zu. Im Vorjahre erschien der letzte, der zehnte Band. Und plötzlich stand es inmitten von Rede und Ruhm. Wir, die wir selbst seit Jahren Freunde des werdenden Werkes waren, vermögen kaum zu sagen, wie das geschehen ist. Wie unsere Liebe zu diesem Werk gewachsen ist und sich vertiefte an seinem Gelingen, wissen wir dankbar, aber nicht, wie plötzlich der Lärm um den Einsamen entstand. Es war, wie wohl immer, das gleiche: ein paar sind überzeugt, sie wagen vorerst nicht zu sprechen aus der Scheu, laut in einen leeren Raum zu schreien. Dann erst, wenn sie eine Gemeinschaft spüren, erheben sie die Stimme. Ein paar Neugierige laufen zu, dann kommt die Gruppe jener professionellen Mitschreier, die immer dabei sein wollen beim neuesten Ruhm, bei der letzten Mode, und plötzlich wird es ein Lärm. Mit einem Male blinkten die hellen Bände des ›Jean Christophe‹ in allen Pariser Buchhandlungen, und selbst die offiziellen Literaturkreise fühlten, daß ihr Schweigen nun verdächtig war. Das offizielle Frankreich konnte sich gegen den Erfolg nicht länger wehren: trotz des verzweifelten Widerstandes der Rationalisten Barrès und Lemaître erkannte in diesem Jahre die Académie Romain Rolland den höchsten Preis von zehntausend Francs für den wertvollsten Roman der Dekade, für ›Jean Christophe‹, zu. Und zur gleichen Stunde fast erschien schon eine große Biographie Romain Rollands von Professor Seippel[2], ein Werk, das in eindringlichster und wirklich mustergültiger Weise die Entstehung des Werkes und seine ethische Bedeutung für unsere Zeit auseinandersetzt, ein Buch, das jedem Freunde ›Jean Christophes‹ zugeeignet ist und ihm auch wirklich zugehört. Und nun erst nach allem Lärm und Ruhm wandert ›Jean Christophe‹ nach Deutschland zurück, um hier in seiner eigenen Sprache die Lebensfahrt nochmals zu beginnen.
Mit fast fünfzig Jahren ist also jetzt Romain Rolland, der Stillste der Stillen, vom Weltruhm erreicht worden. Nicht zu spät für sein Schaffen, aber auch nicht zu früh, um ihm gefährlich zu werden. Einen jungen Menschen mag der Ruhm manchmal wehrlos überfallen wie ein Tier aus dem Dunkel, ein Mann wie Romain Rolland weiß sich gegen ihn zu wehren und gegen seine Verführung. Er hat in seiner ›Foire sur la place‹ (›Der Jahrmarkt‹) alle Masken und Mätzchen des Ruhms zu grausam enthüllt, um ihn noch zu begehren, Popularität hat keine Verlockung für einen, der seinerzeit auf der Sorbonne, als der Zudrang zu seinen Vorlesungen zu stürmisch wurde, sie für immer sistierte, Geldgier, die mit dem Ruhm nur wachsende Gefahr des zeitgenössischen Dichters, über ihn keine Gewalt. Wie ein Student lebt er an einem Boulevard des Quartier Latin in zwei Nußschalen von Zimmern hoch über dem rauschenden Grün eines alten Klostergartens, einsam zwischen Büchern und Musik. Unter ihm brandet die Stadt, ohne ihn zu erreichen. Aber in diese Einsamkeit strömt Botschaft von allen geistigen Bemühungen und Anspannungen unserer Zeit. Die feinsten Oszillationen unserer Kultur zittern an ihn heran und, Weltbürger im schönsten Sinne, lebt er in schöpferischer Anteilnahme mit allem, was nicht nur in Frankreich allein, sondern in ganz Europa sich gestalten will. Den meisten wohl ein französischer Romancier, ist er uns heute schon ein unschätzbarer menschlicher Wert, weil über allem Dichterischen hinaus, ein Muster schöpferischer Gerechtigkeit, eine moralische und ethische Gewalt, deren Wirksamkeit nicht irgendwo im Sichtbaren, aber in einer inneren Veredlung jedes einzelnen wirksam werden muß. Er hat im Sinne seines Meisterwerkes unserer ganzen Generation das schönste Beispiel geboten, wie ein Ruhm durch Beharrlichkeit, Hingebung und Geduld schön gewonnen, wie ein großes Werk gegen den Widerstand einer Welt gebaut wird. Nun hat er noch der nächsten das Beispiel zu bieten, wie man sein Werk verteidigt gegen die Welt, einen Ruhm gegen seine Verführung und sich die Stille, die alle großen Schöpfungen umwittert, immer wieder von neuem um sein Leben schafft. Und ich weiß keinen, dem unser Gefühl inniger solche Tat vertraute als diesem Meister des heimlichen Heroismus, dem Dichter des ›Jean Christophe‹.
1921/1926
Dieses Buch will nicht nur Darstellung eines europäischen Werkes sein, sondern vor allem Bekenntnis zu einem Menschen, der mir und manchem das stärkste moralische Erlebnis unserer Weltwende war. Gedacht im Geiste seiner heroischen Biographien, die Größe eines Künstlers immer am Maße seiner Menschlichkeit und in der notwendigen Wirkung auf die sittliche Erhebung aufzeigen – gedacht in diesem Geiste, ist es geschrieben aus dem Gefühl der Dankbarkeit, mitten in unserer verlorenen Zeit das Wunder einer solchen reinen Existenz erlebt zu haben. Ich widme es im Gedenken der Einsamkeit jener Tat den wenigen, die in der Stunde der Feuerprobe Romain Rolland und unserer heiligen Heimat Europa treu geblieben sind.
»Bei Behandlung einer mannigfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte kommen wir, um gewisse Ereignisse faßlich und lesbar zu machen, in den Fall, einiges, was in der Zeit sich verschlingt, notwendig zu trennen, anderes, was nur durch eine Folge begriffen werden kann, in sich selbst zusammenzuziehen und so das Ganze in Teile zusammenzustellen, die man sinnig überschauend beurteilen und sich manches zueignen mag.«
Goethe (›Wahrheit und Dichtung‹)
»Des Herzens Woge schäumte nicht
so schön empor und würde Geist,
wenn nicht der alte stumme Fels,
das Schicksal, ihr entgegenstünde.«
Hölderlin
Von dem Leben, das hier erzählt werden soll, stehen die ersten fünfzig Jahre ganz im Schatten einsam und namenlos erhobenen Werkes, die Jahre danach im Weltbrand leidenschaftlicher europäischer Diskussion. Kaum hat ein Künstler unserer Zeit unbekannter, unbelohnter, abseitiger gewirkt als Romain Rolland bis kurz vor dem apokalyptischen Jahr und gewiß keiner seitdem umstrittener: die Idee seiner Existenz wird eigentlich erst sichtbar im Augenblick, da sich alles feindlich verbündet, sie zu vernichten.
Aber dies ist des Schicksals Neigung, gerade den Großen ihr Leben in tragischen Formen zu gestalten. An den Stärksten erprobt es seine stärksten Kräfte, stellt steil den Widersinn der Geschehnisse gegen ihre Pläne, durchwirkt ihre Jahre mit geheimnisvollen Allegorien, hemmt ihre Wege, um sie im rechten zu bestärken. Es spielt mit ihnen, aber erhabenes Spiel: denn Erlebnis ist immer Gewinn. Den letzten Gewaltigen dieser Erde, Wagner, Nietzsche, Dostojewski, Tolstoi, Strindberg, ihnen allen hat das Schicksal zu ihren eigenen Kunstwerken noch jenes dramatischen Lebens gegeben.
Auch das Leben Romain Rollands versagt sich solcher Frage nicht. Es ist im doppelten Sinn heroisch, denn erst spät, von der Höhe der Vollendung gesehen, offenbart sich das Sinnvolle seines Baues. Langsam ist hier ein Werk gebildet, weil gegen große Gefahr, spät enthüllt, weil spät vollendet. Tief eingesenkt in den festen Grund des Wissens, dunkle Quadern einsamer Jahre als Fundament, trägt reiner Guß alles Menschlichen, im siebenfachen Feuer der Prüfung gehärtet, die erhobene Gestalt. Aber dank solchen Wurzelns in der Tiefe, der Wucht seiner moralischen Schwerkraft, kann gerade dies Werk dann unerschüttert bleiben im Weltensturme Europas, und indes die andern Standbilder, zu denen wir aufblickten, stürzen und sich neigen mit der wankenden Erde, steht es frei, »au dessus de la mêlée«, über dem Getümmel der Meinungen, ein Wahrzeichen für alle freien Seelen, ein tröstender Aufblick im Tumult der Zeit.
Romain Rolland ist in einem Kriegsjahr, dem Jahr von Sadowa, am 29. Januar 1866 geboren. Clamecy, schon die Vaterstadt eines anderen Dichters, Claude Tilliers (des Autors von ›Mon oncle Benjamin‹), hat er zur Heimat, ein sonst unberühmtes Städtchen im Burgundischen, uralt und still geworden mit den Jahren, leise lebendig in behaglicher Heiterkeit. Die Familie Rolland ist dort altbürgerlich und angesehen, der Vater zählt als Notar zu den Honoratioren der Stadt, die Mutter, fromm und ernst, lebt seit dem tragischen und nie ganz verwundenen Verlust eines Töchterchens einzig der Erziehung zweier Kinder, des zarten Knaben und seiner jüngeren Schwester. Sturmlose, abgekühlte Atmosphäre geistiger Bürgerlichkeit umschließt den täglichen Lebenskreis; aber im Blute der Eltern begegnen einander noch nicht versöhnt uralte Gegensätze französischer Vergangenheit. Väterlicherseits sind Rollands Ahnen Kämpfer des Konvents, Fanatiker der Revolution, die sie mit ihrem Blute besiegelt haben; mütterlicherseits erbt er Jansenistengeist, Forschersinn von Port Royal (berühmtes Bernhardinerinnen-Kloster); von beiden also gleiche Gläubigkeit zu gegensätzlichen Idealen. Und dieser jahrhundertealte urfranzösische Zwiespalt der Glaubensliebe und der Freiheitsideen der Religion und der Revolution, blüht später fruchtbar in dem Künstler auf.
Von seiner ersten Kindheit, die im Schatten der Niederlage von 1870 wächst, hat Rolland einiges in ›Antoinette‹ angedeutet: das stille Leben in der stillen Stadt. Sie wohnen in einem alten Hause am Ufer eines müde gewordenen Kanals; nicht aus dieser engen Welt aber kommen die ersten Entzückungen des trotz seiner körperlichen Zartheit so leidenschaftlichen Kindes. Aus unbekannter Ferne, unfaßbarer Vergangenheit, hebt ihn gewaltiger Aufschwung, früh entdeckt er sich, Sprache über den Sprachen, die erste große Botschaft der Seele: die Musik. Seine sorgliche Mutter unterrichtet ihn am Klavier, aus den Tönen baut sich unendliche Welt des Gefühls, früh schon die Grenzen der Nationen überwachsend. Denn indes der Schüler die verstandesklare Sphäre der französischen Klassiker neugierig und verlockt betritt, schwingt deutsche Musik in seine junge Seele. Er selbst hat es am schönsten erzählt, wie diese Botschaft zu ihm kam. »Es gab bei uns alte Hefte mit deutscher Musik. Deutscher? Wußte ich, was das Wort sagen wollte? In meiner Gegend hatte man, glaube ich, nie einen Menschen aus diesem Lande gesehen … Ich öffnete die alten Hefte, buchstabierte sie tastend auf dem Klavier … und diese kleinen Wasseradern, diese Bächlein von Musik, die mein Herz netzten, sogen sich ein, schienen in mir zu verschwinden wie das Regenwasser, das die gute Erde getrunken hat. Liebesseligkeit, Schmerzen, Wünsche, Träume von Mozart und Beethoven, ihr seid mir Fleisch geworden, ich habe euch mir einverleibt, ihr seid mein, ihr seid ich … Was haben sie mir Gutes getan! Wenn ich als Kind krank war und zu sterben fürchtete, so wachte irgendeine Melodie von Mozart an meinem Kissen wie eine Geliebte … Später in den Krisen des Zweifels und der Zernichtung hat eine Melodie von Beethoven (ich weiß sie noch gut) in mir die Funken des ewigen Lebens wieder erweckt … In jedem Augenblick, wenn ich den Geist und das Herz verdorrt fühlte, habe ich mein Klavier nahe und bade in Musik.«
So früh hebt in dem Kinde die Kommunion mit der wortlosen Sprache der ganzen Menschheit an: schon ist die Enge der Stadt, der Provinz, der Nation und der Zeiten durch das verstehende Gefühl überwunden. Die Musik ist sein erstes Gebet an die dämonischen Mächte des Lebens, täglich in andern Formen wiederholt, und heute noch, nach einem halben Jahrhundert, sind die Wochen, sind die Tage selten, da er nicht Zwiesprache hält mit Beethovens Musik. Und auch der andere Heilige seiner Kindheit, Shakespeare, kommt aus der Ferne: mit seiner ersten Liebe ist der unbewußte Knabe schon jenseits der Nationen. In der alten Bibliothek, zwischen dem Gerümpel eines Dachstuhls, hat er die Lieferungen seiner Werke entdeckt, die sein Großvater als Student in Paris – es war die Zeit des jungen Victor Hugo und der Shakespearemanie – gekauft hatte und seitdem verstauben ließ. Ein Band verblichener Gravüren, ›Galerie des Femmes de Shakespeare‹ (›Galerie der Frauen bei Shakespeare‹), lockt mit fremd seltsamen, lieblichen Gesichtern und den zauberischen Namen Perdita, Imogen, Mirando die Neugier des Kindes. Aber bald entdeckt er sich lesend die Dramen selbst, wagt sich, für immer verloren, in das Dickicht der Geschehnisse und Gestalten. Stundenlang sitzt er in der Stille des einsamen Schuppens, wo nur manchmal unten aus dem Stalle der Hufschlag der Pferde oder vom Kanal vor dem Fenster das Rasseln einer Schiffskette herauftönt, sitzt, alles vergessend und selbst vergessen, in einem großen Fauteuil mit dem geliebten Buche, das wie jenes Prosperos alle Geister des Weltalls ihm dienstbar gemacht. Vor sich hat er in weitem Kreise Stühle mit unsichtbaren Zuhörern gestellt: sie sind ihm ein Wall seiner geistigen Welt gegen die wirkliche Welt.
Wie immer beginnt hier ein großes Leben mit großen Träumen. Am gewaltigsten, an Shakespeare und Beethoven, entzündet sich seine erste Begeisterung, und dieser leidenschaftlich erhobene Blick zur Größe empor ist dem Jüngling, ist dem Mann von dem Kinde vererbt geblieben. Wer solchen Ruf gespürt, kann schwer in engem Kreise sich begrenzen. Schon weiß die kleinstädtische Schule den aufstrebenden Knaben nichts mehr zu lehren. Den Liebling allein nach der Großstadt zu lassen können sich die Eltern nicht entschließen, so bringen sie in heroischer Entsagung lieber die eigene geruhige Existenz zum Opfer. Der Vater gibt seine einträgliche unabhängige Stellung als Notar, die ihn zum Mittelpunkt des Städtchens machte, auf und wird einer von den unzähligen Angestellten einer Bank in Paris: das altvertraute Haus, die patriarchische Existenz, alles opfern sie auf, um des Knaben Studienjahre und Aufstieg in Paris begleiten zu können. Eine ganze Familie blickt einzig auf den Knaben; und so lernt er schon früh, was andere erst den Mannesjahren abgewinnen: Verantwortlichkeit.
Der Knabe ist noch zu jung, um die Magie von Paris zu erfassen: fremd und fast feindlich mutet den Verträumten diese lärmende und brutale Wirklichkeit an, irgendein Grauen, einen geheimnisvollen Schauer vor dem Sinnlosen und Seelenlosen der großen Städte, ein unerklärliches Mißtrauen, daß hier alles nicht ganz wahr und nicht ganz echt sei, trägt er von diesen Stunden noch weit mit in sein Leben. Die Eltern schicken ihn in das Lycée Louis le Grand, das altberühmte Gymnasium im Herzen von Paris: viele der Besten, der Berühmtesten Frankreichs sind unter den kleinen Jungen gewesen, die man dort mittags, summend wie ein Bienenschwarm, aus der großen Wabe des Wissens herausdrängen sah. Er wird dort in die klassische, französisch-nationale Bildung eingeführt, um ein »bon perroquet cornelien« (»ein guter Papagei nach Art Pierre Corneilles«) zu werden, aber seine wirklichen Erlebnisse sind außerhalb dieser logischen Poesie oder poetischen Logik, seine Begeisterungen glühen längst in lebendiger Dichtung und in der Musik. Aber dort auf der Schulbank findet er seinen ersten Kameraden.
Seltsames Spiel des Zufalls: auch dieses Freundes Name hat zwanzig Jahre Schweigen benötigt zu seinem Ruhm, und die beiden – die größten Dichter des Frankreich von heute –, die dort gemeinsam die Schwelle der Schule betreten, treten fast gleichzeitig nach zwei Jahrzehnten in den weiten europäischen Ruhm. Paul Claudel, der Dichter der ›Annonce faite à Marie‹ (›Verkündigung‹) ist jener Gefährte. In Glaube und Geist hat dies Vierteljahrhundert ihre Ideen und Werke weit entfremdet, des einen Weg führt in die mystische Kathedrale der katholischen Vergangenheit, der des andern über Frankreich hinaus einem freien Europa entgegen. Damals aber gingen sie täglich ihren Schulweg zusammen und tauschten in unendlichen Gesprächen, gegenseitig sich befeuernd, ihre frühe Belesenheit und jugendliche Begeisterung aus. Das Sternbild ihres Himmels war Richard Wagner, der damals über die französische Jugend zauberische Macht gewann: immer hat nur der universale weltschöpferische Mensch, nie der Kunstdichter auf Rolland Einfluß gehabt.
Die Schuljahre sind schnell verflogen, schnell und ohne viel Freude. Zu plötzlich war der Übergang aus der romantischen Heimat in das allzu wirkliche, allzu lebendige Paris, von dem der zarte Knabe vorläufig nur die Härte der Abwehr, die Gleichgültigkeit und den rasenden, wirbelnden, mitreißenden Rhythmus fast ängstlich fühlt. Das Jünglingsalter wird für ihn zu schwerer, beinahe tragischer Krise, deren Widerschein man in mancher Episode des jungen Johann Christof nachleuchten sehen kann. Er sehnt sich nach Anteil, nach Wärme, nach Aufschwung, und wieder bleibt ihm Erlöserin »die holde Kunst in so viel grauen Stunden«. Seine Beglückungen sind – wie schön ist dies in ›Antoinette‹ geschildert – die seltenen Sonntagsstunden in den populären Konzerten, wo die ewige Welle der Musik sein zitterndes Knabenherz aufhebt. Auch Shakespeare hat nichts verloren von seiner Gewalt, seit er seine Dramen auf der Bühne schauernd und ekstatisch gesehen, im Gegenteil, ganz gibt der Knabe ihm seine Seele hin: »Er überfiel mich, und ich warf mich ihm wie eine Blüte hin, zur selben Zeit überflutete mich gleich einer Ebene der Geist der Musik, Beethoven und Berlioz noch mehr als Wagner. Ich mußte es büßen. Unter diesen überströmenden Blüten war ich ein oder zwei Jahre wie ertrunken, gleichsam eine Erde, die sich vollsaugt bis zu ihrem Verderben. Zweimal wurde ich bei der Aufnahmeprüfung in die École Normale (Lehrerseminar) dank der eifersüchtigen Gesellschaft Shakespeares und der Musik, die mich erfüllten, zurückgewiesen.« Einen dritten Meister entdeckt er sich später, einen Befreier seines Glaubens, Spinoza, den er an einem einsamen Abend in der Schule liest und dessen mildes geistiges Licht nun für immer seine Seele erhellt. Immer sind die Größten der Menschheit ihm Vorbilder und Gefährten.
Hinter der Schule gabelt sich der Weg ins Leben zwischen Neigung und Pflicht. Rollands glühendster Wunsch wäre, Künstler zu sein im Sinne Wagners, Musiker und Dichter zugleich, Schöpfer des heroischen Musikdramas. Schon schweben ihm einige Tondichtungen vor, deren Themen er im nationalen Gegensatz zu Wagner dem französischen Legendenkreis entnehmen will und von denen er eines, das Mysterium des Saint Louis, später bloß im schwingenden Worte gestaltet hat. Aber die Eltern widerstreben dem zu frühen Wunsche, sie fordern praktische Betätigung und schlagen die »École Polytechnique«, die Technik vor. Endlich wird zwischen Pflicht und Neigung ein glücklicher Ausgleich geschaffen, man wählt das Studium der Geisteswissenschaften, die »École Normale«, in die Rolland 1886 nach schließlich glänzend bestandener Prüfung aufgenommen wird und die durch ihren besonderen Geist und die historische Form ihrer Geselligkeit seinem Denken und Schicksal entscheidende Prägung gibt.
Zwischen Feldern und freien Wiesen burgundischen Landes hat Rolland seine Kindheit verlebt, die erste Jugend der Gymnasiumsjahre in den brausenden Straßen von Paris: die Studienjahre schließen ihn noch enger ein, gleichsam in luftleeren Raum, in das Internat der École Normale. Um jede Ablenkung zu vermeiden, werden die Schüler dort abgesperrt gegen die Welt, ferngehalten vom wirklichen Leben, um das historische besser zu begreifen. Ähnlich wie im Priesterseminar, das Renan so wundervoll in seinen ›Souvenirs d’enfance et de jeunesse‹ (›Jugenderinnerungen‹) beschrieben hat, die jungen Theologen und in St. Cyr die zukünftigen Offiziere, so wird hier ein besonderer Generalstab des Geistes herangezogen, die »Normaliens«, die zukünftigen Lehrer zukünftiger Generationen. Traditioneller Geist und bewährte Methode vererben sich in fruchtbarer Inzucht, die besten Schüler sind bestimmt, an derselben Stelle als Lehrer wieder zu wirken. Es ist eine harte Schule, die unermüdlichen Fleiß fordert, weil sie sich Disziplinierung des Intellekts zum Ziele setzt, aber eben durch die angestrebte Universalität der Bildung gibt sie Feiheit in der Ordnung und vermeidet die gerade in Deutschland so gefährliche methodische Spezialisierung. Nicht durch Zufall sind gerade die umfassendsten Geister Frankreichs, wie Renan, Jaurès, Michelet, Monod und Rolland, aus der École Normale hervorgegangen.
So sehr in diesen Jahren die Leidenschaft Rollands auf Philosophie gerichtet ist – er studiert leidenschaftlich die Vorsokratiker und Spinoza –, so wählt er sich doch im zweiten Jahre Geschichte und Geographie als Hauptfach. Sie bietet ihm die meiste geistige Freiheit, indes die philosophische Sektion das Bekenntnis zum offiziellen Schulidealismus, die literarische zum rhetorischen Ciceronianismus erfordert. Und diese Wahl wird für seine Kunst Segnung und Entscheidung. Hier lernt er zum erstenmal für seine spätere Dichtung die Weltgeschichte als eine ewige Ebbe und Flut von Epochen zu betrachten, für die gestern, heute und morgen eine einzige lebendige Identität bedeuten. Er lernt Überblick und Ferne, und jene seine eminente Fähigkeit, Historisches zu verlebendigen und andererseits die Gegenwart als Biologe des Zeitorganismus kulturell zu betrachten, dankt seine Jugend diesen harten Jahren. Kein Dichter unserer Zeit hat auch nur annähernd ein ähnlich solides Fundament von tatsächlichem und methodischem Wissen auf allen Gebieten, und vielleicht ist im gewissen Sinne sogar seine beispiellose Arbeitsfähigkeit, sein dämonischer Fleiß ein Erlerntes aus jenen Jahren der Klausur.
Auch hier im Prytaneum – das Leben Rollands ist reich an solchen mystischen Sinnspielen – findet der Jüngling einen Freund, und wiederum ist es einer der zukünftigen Geister Frankreichs, wieder einer, der gleich Claudel und ihm selbst erst nach einem Vierteljahrhundert in das Licht des großen Ruhmes trat. Es wäre klein gedacht, dies bloß Zufall nennen zu wollen, daß die drei großen Vertreter des Idealismus, der neuen dichterischen Gläubigkeit in Frankreich, daß Paul Claudel, André Suarès, Charles Peguy gerade in ihren entscheidenden Schuljahren die täglichen Kameraden Romain Rollands gewesen sind und fast zu gleicher Stunde nach langen Jahren des Dunkels Gewalt über ihre Nation gewannen. Hier war längst aus Gesprächen, aus geheimnisvoll glühender Gläubigkeit eine Sphäre gewoben, die den Dunst der Zeit nicht sogleich zu durchdringen vermochte: ohne daß jedem dieser Freunde das Ziel deutlich geworden wäre – und in wie verschiedener Richtung hat der Weg sie getrieben! –, wurde das Elementare der Leidenschaft, der unerschütterliche Ernst zu großem Weltgefühl in ihnen doch gegenseitig bestärkt. Sie fühlten die gemeinsame Berufung, durch Aufopferung des Lebens, durch Verzicht auf Erfolg und Ertrag, ihrer Nation in Werk und Anruf die verlorene Gläubigkeit zurückzugeben; und jeder der vier Kameraden hat – Rolland, Suarès, Claudel, Peguy, jeder aus einer andern Windrichtung des Geistes – ihr Erhebung gebracht.
Mit Suarès verbindet ihn, so wie schon im Gymnasium mit Claudel, die Liebe zur Musik, besonders jener Wagners, dann die Leidenschaft für Shakespeare. »Diese Leidenschaft«, schrieb er einmal, »war erstes Band unserer langen Freundschaft. Suarès war damals noch ganz, was er heute, nachdem er durch die vielen Phasen seines reifen und vielfältigen Wesens gegangen, wieder geworden ist – ein Renaissancemensch. Er hatte diese Seele, diese stürmischen Leidenschaften, ja, er sah mit seinen langen schwarzen Haaren, seinem blassen Gesicht und brennenden Augen selbst wie ein Italiener, gemalt von Carpaccio oder Ghirlandajo, aus. In einer der Schulaufgaben stimmte er einen Hymnus auf Cesare Borgia an. Shakespeare war sein Gott, wie er der meine war, und oft kämpften wir Seite an Seite für ›Will‹ gegen unsere Professoren.« Aber bald überflutet eine andere Leidenschaft jene für den großen Engländer, die »invasion scythe« (»der skythische Überfall«), die begeisterte und wieder durch ein ganzes Leben weitergetragene Liebe zu Tolstoi. Diese jungen Idealisten, abgestoßen von dem allzu täglichen Naturalismus Zolas und Maupassants, Fanatiker, die nur zu einer großen heroischen Umspannung des Lebens aufblickten, sahen endlich über eine Literatur des Selbstgenusses (wie Flaubert und Anatole France) und der Unterhaltung eine Gestalt sich erheben, einen Gottsucher, der sein ganzes Leben auftat und hingab. Ihm strömten alle ihre Sympathien zu, »die Liebe zu Tolstoi vereinte alle unsere Widersprüche. Jeder liebte ihn zweifellos aus anderen Motiven, denn jeder fand in ihm nur sich selbst, aber für uns alle war er ein Tor, ins unendliche Weltall aufgetan, eine Verkündigung des Lebens.« Wie immer seit den frühesten Kinderjahren ist die Spannung Rollands einzig auf die äußersten Werte eingestellt, auf den heroischen Menschen, den allmenschlichen Künstler.
In Jahren der Arbeit türmt der Fleißige in der École Normale Buch auf Buch, Schrift auf Schrift: schon haben seine Lehrer, Brunetière und vor allem Gabriel Monod, seine große Begabung für die historische Darstellung erkannt. Der Wissenszweig, den Jacob Burckhardt damals gewissermaßen erst erfindet und benennt, die Kulturgeschichte, das geistige Gesamtbild der Epoche, fesselt ihn am meisten, und unter den Zeiten ziehen ihn vor allem jene der Religionskriege an, in denen sich – wie früh doch die Motive seines ganzen Schaffens eigentlich klar sind! – das Geistige eines Glaubens mit dem Heroismus der persönlichen Aufopferung durchdringt; er verfaßt eine ganze Reihe von Studien und plant gleich ein Riesenwerk, eine Kulturgeschichte des Hofes der Katharina von Medici. Auch im Wissenschaftlichen hat der Beginner schon jene Kühnheit zu äußersten Problemen: nach allen Seiten spannt er sich, aus Philosophie, Biologie, Logik, Musik, Kunstgeschichte, aus allen Bächen und Strömen des Geistigen trinkt er gierig Fülle in sich. Aber die ungeheure Last des Gelernten erdrückt ebensowenig den Dichter in ihm, als ein Baum seine Wurzeln erdrückt. Der Dichter schreibt in weggestohlenen Stunden poetische und musikalische Versuche, die er aber verschließt und für immer verschlossen hat. Und ehe er, im Jahre 1888, die École Normale verläßt, um dem Leben als Erfahrung gegenüberzutreten, verfaßt er ein merkwürdiges Dokument, gewissermaßen ein geistiges Testament, ein moralisch philosophisches Bekenntnis ›Credo quia verum‹, das auch heute noch nicht veröffentlicht ist, aber nach Aussage eines Jugendfreundes schon das Wesentliche seiner freien Weltanschauung zusammenfaßt. Im spinozistischen Geist geschrieben, fußend nicht auf dem »Cogito ergo sum«, sondern einem »Cogito ergo est«, baut es die Welt auf und darüber ihren Gott: für sich allein legt er Rechenschaft ab, um nun frei zu sein von aller metaphysischen Spekulation. Wie ein versiegeltes Gelübde trägt er dies Bekenntnis hinaus in den Kampf und braucht nur sich selbst treu zu bleiben, um ihm treu zu sein. Ein Fundament ist geschaffen und tief in die Erde gesenkt: nun kann der Bau beginnen.
Das sind seine Werke in jenen Lehrjahren. Aber über ihnen schwebt noch ungewiß ein Traum, der Traum von einem Roman, der Geschichte eines reinen Künstlers, der an der Welt zerbricht. Es ist ›Johann Christof‹ im Puppenstadium, erste verwölkte Morgendämmerung des späten Werks. Aber noch unendlich viel Schicksal, Begegnung und Prüfung ist vonnöten, ehe sich die Gestalt, farbig und beschwingt, dem dunklen Zustand der ersten Ahnung entringen mag.
Die Schuljahre sind zu Ende. Und wieder erhebt sich die alte Frage der Lebenswahl. So sehr ihn Wissenschaft bereichert und begeistert, den tiefsten Traum erfüllt sie dem jungen Künstler noch nicht: mehr als je neigt seine Leidenschaft zu Dichtung und Musik. Selbst aufzusteigen in die erhabene Reihe derer, die mit ihrem Wort, ihrer Melodie die Seelen aufschließen, ein Gestaltender, ein Tröstender zu werden, bleibt Rollands brennende Sehnsucht. Aber das Leben scheint geordnetere Formen zu verlangen. Disziplin statt Freiheit, Beruf statt Berufung. Unschlüssig steht der Zweiundzwanzigjährige am Scheidewege des Lebens.