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IN JENEM SOMMER IN SPANIEN von CATHY WILLIAMS Alexandra ist schockiert! Ihr charmanter Herzensbrecher Lucio, der sie damals in Spanien verführt hat, ist niemand anderes als Millionär Gabriel Cruz. Zwar fühlt Alexandra sich noch immer zu ihm hingezogen, doch Gabriel ist vergeben und will heiraten – standesgemäß! MEIN SPANISCHER GELIEBTER von HELEN BROOKS Georgies Welt steht kopf, nachdem der glutäugige Matt de Capistrano in ihrem Leben aufgetaucht ist. Mit Händen und Füßen wehrt sie sich dagegen, dass der stolze Spanier die Firma ihres Bruders kauft! Ebenso vehement versucht sie, dieses sinnliche Knistern zu ignorieren … VERFÜHRT IM SCHLOSS DES STOLZEN SPANIERS von KIM LAWRENCE Schockiert erfährt Santiago Silva, dass sein Bruder sich in die berüchtigte Femme fatale Lucy verliebt hat. Er muss ihn vor ihr retten! Auch wenn er selbst zu diesem Zweck Lucy eiskalt verführen muss …
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Seitenzahl: 548
Cathy Williams, Helen Brooks, Kim Lawrence
ROMANA SOMMEREDITION BAND 4
IMPRESSUM
ROMANA SOMMEREDITION erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage in der Reihe ROMANA SOMMEREDITION, Band 4 08/2023
© 2010 by Cathy Williams Originaltitel: „The Secret Spanish Love-Child“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Marion Koppelmann Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 1979
© 2001 by Helen Brooks Originaltitel: „A Spanish Affair“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Doris Märtin Deutsche Erstausgabe 2003 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe ROMANA, Band 1493
© 2012 by Kim Lawrence Originaltitel: „Santiago’s Command“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Susanne Hartmann Deutsche Erstausgabe 2013 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 366
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751517614
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, TIFFANY
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Erleichtert hörte Gabriel das forsche Klopfen seiner Sekretärin. Seine Verlobte saß seit zwanzig Minuten auf seinem Schreibtisch, wie immer in High Heels und einem besonders kurzen Rock, und redete ohne Punkt und Komma.
Sie müsse jetzt unbedingt mit dem Shoppen beginnen, der Hochzeitstermin rücke näher, alles solle perfekt sein, und man könne auf keinen Fall die Details diesem lächerlichen Hochzeitsplaner überlassen, den seine Mutter engagiert hatte.
Bei jeder Bemerkung warf sie den Kopf mit den langen, blonden Locken zurück, fuchtelte mit ihrem manikürten Zeigefinger und beugte sich dabei absichtlich weit vor, damit Gabriel auch ganz sicher ihren tiefen Ausschnitt wahrnahm und die vollen Brüste unter dem eng anliegenden Seidentop.
Cristobel wusste genau, wie sie ihre weiblichen Reize einsetzen musste, um ihr Ziel zu erreichen. Doch jetzt wollte Gabriel nur noch, dass sie sein Büro verließ und endlich in einem dieser exquisiten Läden verschwand. Welcher, war ihm egal. Er musste telefonieren und Unterlagen durchsehen, außerdem bereitete ihm ihr schrilles beharrliches Stakkato Kopfschmerzen.
Beinah hätte er seiner Sekretärin applaudiert, als sie ihm mitteilte, sie habe eine spanisch sprechende Angestellte gefunden, die gern mit seiner Verlobten in Londons Edelläden shoppen ginge.
„Ich will aber, dass du mich begleitest“, maulte Cristobel, beugte sich noch weiter zu ihm und fegte dabei einige Unterlagen vom Tisch. „Du sollst in die Planung einbezogen werden.“
„Das willst du nicht wirklich. Du weißt doch, was ich von all dem Pipapo halte. Überladene Hochzeiten sind nicht mein Ding.“ Hochzeiten an sich waren eigentlich nicht seine Sache, zumindest soweit sie ihn persönlich betrafen. Das hatte sich erst vor einem Jahr geändert, als er aus taktischen Erwägungen dem liebevollen Drängen seiner Eltern nachgab. Die beiden wollten Großeltern werden, solange sie noch jung genug waren, um sich an Enkelkindern zu erfreuen, und er wollte verhindern, sich vom begehrten Junggesellen zum alternden Casanova zu entwickeln. Jetzt war er Anfang dreißig, und das Leben raste nur so voran.
Cristobel wäre genau die Richtige für ihn. Der Stammbaum ihrer Familie war so alt wie seiner und ihr Bankkonto ebenso üppig. Sie kannte seine unausgesprochene Lebensregel: Er würde ihr jeden materiellen Wunsch erfüllen, dafür akzeptierte sie, dass seine Arbeit absoluten Vorrang hatte. Außerdem war sie schön, zierlich und immer nett zurechtgemacht.
„Mit einer Frau hast du beim Shoppen viel mehr Spaß“, meinte Gabriel jetzt und nahm ein Telefonat entgegen. Wieder ganz auf die Arbeit konzentriert, bekam er nur am Rande mit, wie Cristobel von seinem Schreibtisch rutschte, sich den kurzen Rock glatt strich und ihn schmollend ansah. Gerade als sie ihre Handtasche holen wollte, öffnete sich die Tür, und herein kam Gabriels spanisch sprechende Rettung: irgendeine Mitarbeiterin, deren Name man ihm gar nicht mitgeteilt hatte, weil er völlig nebensächlich war. Aber dieses Gesicht …
Einen Augenblick lang war Gabriel sprachlos.
„Alex McGuire“, stellte seine Sekretärin die junge Frau vor. Aber das wäre nicht nötig gewesen, der Name war ihm sofort wieder eingefallen, auch wenn er Alex schon Jahre nicht mehr gesehen hatte. Sie war genauso groß, wie er sie in Erinnerung hatte, und besaß noch immer dieselbe jungenhafte Anmut, mit ihren dunklen, kurzen Haaren und der knabenhaften Figur. Lange Locken, Stilettos, Push-up-BH und roter Lippenstift waren nicht ihr Stil. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er sie noch nie besonders gestylt gesehen. Jetzt trug sie ein ordentliches graues Kostüm, wenn auch zu flachen Schuhen, und etwas Make-up.
„Und“, fragte Cristobel auf Spanisch, während sie sich die Lippen nachzog, „ist das etwa die Frau, die mit mir shoppen gehen soll?“
Gabriel hatte sich wieder gefasst. Auf keinen Fall würde er sich jetzt auf irgendwelche Spielchen mit Cristobel einlassen. „Sie spricht spanisch, und ich kann heute einfach keine Zeit erübrigen.“
„Sieh sie dir doch bloß an! Woher soll die denn wissen, wo ich einkaufen will?“
Alex, die eigentlich Alexandra hieß, räusperte sich. War sie etwa eine Sache, über die man reden konnte, während sie sich in unmittelbarer Nähe befand?
„Entschuldigung?“, begann sie, ohne den Mann hinter dem Schreibtisch anzusehen. Sie wusste nur, dass sie sein Büro so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. Sonst müsste sie sich überlegen, was geschah, wenn dieser Gabriel Cruz tatsächlich ihr Lucio … Aber nein, das wäre nicht auszudenken. Sie rang sich ein Lächeln ab. „Wenn Sie mir sagen, wonach Sie suchen …“
„Ich brauche etwas zum Anziehen“, zischte Cristobel, „ein paar Kleinigkeiten als Gastgeschenke für die Hochzeitsgesellschaft und einige ganz exquisite Teile für die Flitterwochen.“ Cristobel stellte sich hinter Gabriel und legte ihm die Arme um die Schultern. „Und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Frau in der Lage ist, mir zu helfen. Bisher hat sie kaum ein Wort gesprochen, Darling!“
Als sie ihn auf den Nacken küsste, entzog sich ihr Gabriel höflich, aber bestimmt.
„Gibt es hier denn sonst keinen, der spanisch spricht?“, gurrte Cristobel. „Ich brauche jemanden, der auf meiner Wellenlänge ist. Die da weiß ja nicht einmal, wie man sich anzieht!“
Alex biss die Zähne zusammen. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich bisher so wortkarg gewesen bin …“ Zögerlich ließ sie den Blick über Gabriel gleiten. „… aber für einen Moment, Mr. Cruz, Sir, haben Sie mich an jemanden erinnert, den ich einmal gut kannte.“ Dann wandte sie sich an Cristobel. „Ich neige dazu, mich alltagstauglich zu kleiden, aber ich weiß, wo die In-Boutiquen sind.“
„Ich suche nicht nach trendiger, sondern nach stilvoller Bekleidung.“
„Wo man die findet, weiß ich auch.“
„Na, wahrscheinlich muss ich mich mit Ihnen zufriedengeben. Mein Mantel hängt im Schrank.“
Widerwillig holte Alex das Kleidungsstück. Dann eilte sie Cristobel hinterher, die herunterratterte, was sie außerdem brauchte. Dabei hörte Alex nur mit halbem Ohr zu. Noch immer war sie ganz gefangen genommen von der plötzlichen Begegnung mit Lucios Doppelgänger, die so viele ungebetene Emotionen und Erinnerungen in ihr wachrief: wie es gewesen war, mit Lucio zu schlafen, zu lachen, zu reden, bis der Morgen graute, um dann noch einmal mit ihm zu schlafen, sodass sie bei ihrem Aushilfsjob in der Hotelküche wie erschlagen war.
Damals, mit achtzehn, hatte sie nach der Schule ein Jahr ins Hotelfach hineinschnuppern, nebenbei ihr Spanisch aufbessern und auch ein bisschen die Freizeit genießen wollen. Doch dummerweise verliebte sie sich dann in den bestaussehenden, tollsten Mann der Welt. Mit Jungen hatte sie nie Probleme gehabt. Immerhin besaß sie vier Brüder! Sie wusste, wie man auf sie zuging, mit ihnen über Fußball, Rugby und Autos sprach.
Sie hatte auch schon einige feste Freunde gehabt, Bier mit ihnen getrunken und sich Frostbeulen geholt, wenn sie sich ihnen zuliebe mitten im Winter ein Fußballspiel ansah. Aber nichts hatte sie auf Lucio vorbereitet. Er war ein absoluter Traumtyp, sexy und unglaublich männlich, mit rabenschwarzem Haar und dunklen Augen. Kein Junge, sondern ein Mann, der ihr die Unschuld und Unerfahrenheit nahm und sie in die Welt der Erwachsenen einführte.
Nach der sechseinhalbstündigen Shoppingtour mit Cristobel kehrte Alex fix und fertig an ihren Schreibtisch zurück. Die ganze Zeit über hatte sie an Lucio gedacht. Etwas, das sie sich die letzten fünf Jahre verboten hatte. Glücklicherweise musste sie sich nun dermaßen beeilen, um rechtzeitig zu ihrem kleinen Reihenhaus im Westen Londons zu kommen, dass sie die unliebsamen Erinnerungen in der Eile zumindest für einen Augenblick vergaß.
Rasch kramte sie in ihrer großen Handtasche nach ihrer Monatsfahrkarte, um sie nicht in der U-Bahn suchen zu müssen, mit einer Schlange genervter Pendler hinter sich. Da klingelte das Telefon. Sie nahm ab und klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter, um die Suche fortsetzen zu können.
Gabriel Cruz’ tiefe Stimme, der nur ein leichter Akzent anhaftete, ließ sie in der Bewegung erstarren und gleichzeitig ihren Herzschlag in die Höhe schnellen. Sie hatte bei seiner Verlobten doch nichts falsch gemacht? Dass er sie sprechen wollte, weil er sie von früher kannte, schloss sie inzwischen aus. Er war sicher niemals mittellos gewesen und hatte sich deshalb auch nicht Land auf Land ab mit Hoteljobs über Wasser halten müssen. Gabriel Cruz hatte immer massenweise Geld besessen. Seine Familie konnte ihre Wurzeln bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Das zumindest hatte sie Cristobel entlocken können. Doch als sie nun seine laszive Stimme hörte, fühlte sie sich schlagartig in das kleine Hotel in Spanien zurückversetzt.
„Kommen Sie in mein Büro. Jetzt.“
„Es … Es tut mir leid, Mr. Cruz, Sir. Ich bin gerade dabei, Feierabend zu machen. Vielleicht könnte ich ja Montagmorgen gleich zu Ihnen kommen?“
„Wie lange arbeiten Sie schon für mich?“
„Seit drei Wochen“, sagte Alex kleinlaut und sah hektisch zwischen Tür und Armbanduhr hin und her.
„Das ist zumindest lange genug, um zu wissen, dass ich es nicht schätze, wenn meine Mitarbeiter beim Arbeiten auf die Uhr sehen. Und damit wir uns ganz klar verstehen: Das gerade eben war keine Einladung zum Tee, es war eine Anweisung vom Chef.“
„Heute Nachmittag ist alles wunderbar gelaufen. Ich glaube, Ihre Verlobte konnte die meisten Dinge finden, die sie …“
„In mein Büro! Sie haben fünf Minuten.“ Gabriel legte auf und schob den Stuhl zurück. Er ärgerte sich, dass er die ganze Zeit über an Alex gedacht hatte und daran, was zwischen ihnen gewesen war. Dabei hatte er schon viele Frauen gehabt, und es hatte ihm nie Probleme bereitet, sie zu vergessen, sobald sie nicht mehr zu seinem Leben gehörten. Wieso fiel es ihm dann bei dieser Alex so schwer? Etwa, weil sie so unverhofft wieder aufgetaucht war? Oder weil sie als Einzige nichts von seinem Reichtum gewusst hatte? Er vermochte es nicht zu sagen, wusste nur, dass er sich seit dem unerwarteten Wiedersehen am Morgen nicht mehr konzentrieren konnte. Und das vier Monate vor seiner Hochzeit mit Cristobel!
Ungeduldig trommelte er auf die glänzende Schreibtischoberfläche. Es war Freitagabend, kurz vor achtzehn Uhr. Er hatte seine Sekretärin in den Feierabend geschickt. Die meisten Angestellten waren auch schon gegangen. Nur die Mitglieder der Führungsebene arbeiteten noch. Das sollte er auch tun. Aber sein Kopf funktionierte nicht richtig, und das ging jetzt schon seit Stunden so. Deshalb hatte er dann irgendwann einfach die hausinterne Telefonliste überflogen und Alex’ Nummer gewählt. Wenn sie wirklich dachte, er habe lediglich Ähnlichkeit mit jemandem aus ihrer Vergangenheit, musste er diesen Irrtum aufklären. Schließlich arbeitete sie jetzt für ihn, und da hatte man als Chef eine gewisse moralische Verantwortung. Außerdem wollte er Alex unbedingt noch einmal sehen.
Endlich wurde an seine Tür geklopft.
„Herein.“
„Sie wollten mich sprechen.“ Alex spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, während sie fluchtbereit auf der Türschwelle verharrte.
„Ja.“ Gabriel lehnte sich zurück und musterte sie. Wie wenig sie sich verändert hatte! Wie alt war sie jetzt? Dreiundzwanzig? Vierundzwanzig? Sie kam ihm unheimlich vertraut vor, und er spürte, dass seine Wangen vor Aufregung ein wenig gerötet waren. Eigentlich hatte er gedacht, dass er jede nachhaltige Erinnerung an sie aus seinem Gedächtnis verbannt hätte, aber da hatte er sich wohl getäuscht. Plötzlich sah er alles wieder vor sich, bis hin zum kleinsten Detail. Da waren die winzigen Sommersprossen auf ihrer Schulter, der Duft nach Kernseife und dieses wunderbare Seufzen, wenn er sie am ganzen Körper streichelte. Doch jetzt schüttelte er die Bilder energisch ab.
„Kommen Sie herein, und nehmen Sie Platz. Ich würde Ihnen einen Kaffee anbieten, aber Janet, meine Sekretärin, ist schon gegangen“, sagte er und lächelte entschuldigend.
„Ich … ich kann sowieso nicht bleiben“, stammelte Alex und fragte sich, ob ein Mann in seiner Position nicht einmal in der Lage war, eine Kaffeemaschine zu bedienen.
Gabriel runzelte die Stirn. „Vielleicht haben Sie mich am Telefon nicht richtig verstanden, aber es gefällt mir nicht, wenn jemand beim Arbeiten ständig auf die Uhr sieht.“
„Doch, das habe ich, und ich bin nur allzu bereit, Überstunden zu machen. Aber das muss ich einen Tag im Voraus wissen. Und heute bin ich sowieso schon zu spät dran, um …“
Gabriel machte eine ungeduldige Handbewegung. „Das interessiert mich nicht. Ihre Verabredung wird warten müssen. Es gibt ein paar Dinge, über die wir sprechen sollten.“
„Worüber denn?“
„Sie sagten, ich würde Sie an jemanden erinnern. Erzählen Sie mir von ihm!“
„Wie bitte?“
„Jetzt klammern Sie sich nicht an die Türklinke, als stünden Sie kurz vorm Zusammenbruch. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen reinkommen und sich setzen.“
Alex fiel es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Blut kochte ihr in den Adern, und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sich vor ihr der Boden auftat. Trotzdem redete sie sich auch weiterhin ein, dass alles in Ordnung sei. Diese Unterhaltung war unangenehm, aber mehr auch nicht.
„Ich … Ich muss jetzt wirklich gehen, Mr. Cruz, Sir. Ich habe … Verpflichtungen. Ich weiß, dass Sie Flexibilität von ihren Angestellten erwarten, aber …“
„Sagen Sie Ihre Verabredung ab! Das ist viel leichter, als Sie denken.“ Er grinste unverfroren, und Alex versuchte, nicht verärgert zu wirken.
„Okay.“ Sie setzte sich zögernd und überlegte, wie sie ihm die Situation erklären könnte, natürlich verbrämt und mit tausend Entschuldigungen.
„Und“, fragte Gabriel ungeduldig, „was ist jetzt mit diesem Kerl, an den ich Sie erinnere?“
„Das ist nicht wichtig. Ich habe gedacht, Sie wollten wissen, wie mein Nachmittag mit Ihrer Verlobten gewesen ist.“
„Gut, nehmen wir das als Ausgangspunkt für unsere Unterhaltung. Sie können ganz offen sein. Das schätze ich an meinen Mitarbeitern.“
Tatsächlich? dachte Alex. Als sie offen gewesen war und gesagt hatte, sie habe jetzt keine Zeit, hatte ihm das gar nicht gefallen. „Der Nachmittag ist gut gelaufen. Ich glaube, Ihre Verlobte konnte einige Besorgungen erledigen, auch wenn sie sehr anspruchsvoll ist.“
„Ich kann mir vorstellen, dass Sie Cristobel ein wenig anstrengend fanden. Was halten Sie sonst von ihr?“
„Es steht mir nicht zu, meine Meinung über sie zu äußern, Sir.“
„Sie müssen nicht ständig ‚Sir‘ sagen. Ihrer Antwort entnehme ich, dass Sie nicht besonders gut mit Cristobel ausgekommen sind, hm?“
„Ich glaube, Ihre Verlobte fand es sehr praktisch, dass ich für sie übersetzen konnte.“ Alex spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Bestimmt wollte ihr Mr. Cruz mit seinen Fragen eine Falle stellen. Aber wie sah die aus? Und wenn sie hineintappte, wäre das dann das Ende ihrer Karriere? Frauen hatten einen großen Einfluss auf ihre Männer. Wenn diese nervtötende Society-Tante beschlossen hatte, sie anzuschwärzen, würde sie sich vielleicht bald einen neuen Job suchen müssen. Aber es kam für Alex nicht infrage, ein einvernehmliches Miteinander zu heucheln, wo es keinerlei Gemeinsamkeiten gegeben hatte. Sie konnte sich auch nicht überwinden, Mr. Cruz anzusehen, während sie ihre Antwort formulierte, und hielt den Blick gesenkt. Nicht gerade das Kommunikationsverhalten einer dynamischen neuen Kraft.
Es entstand eine unangenehme Pause, bis Alex wieder aufsah. Als sich ihre Blicke trafen, ging ihr das durch und durch, und die Vorstellung, dass es sich bei diesem Mann womöglich um denselben handelte, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, wurde beinah zur Gewissheit.
„Hieß der Mann vielleicht ‚Lucio‘?“
Alex machte große Augen. „Wo… woher wissen Sie das?“
Eigentlich kannte sie die Antwort längst, doch Alex legte sich verzweifelt Erklärungen zurecht, wieso der Mann vor ihr nicht derselbe sein konnte, den sie vor Jahren kennengelernt hatte. Lucio war keiner alteingesessenen, namhaften spanischen Familie entsprungen und ganz bestimmt nicht so reich und mächtig gewesen wie Gabriel Cruz!
„Ich habe dich sofort wiedererkannt, als du heute Morgen in mein Büro gekommen bist. Ich bin erstaunt, dass es dir mit mir nicht genauso ging, Alex. Irgendwie befremdet mich das ein bisschen, aber ich stehe darüber.“
„Aber … aber Sie heißen doch gar nicht Lucio … Sie heißen …“
„Lucio ist mein zweiter Vorname“, antwortete er, und wieder tat sich vor Alex ein Abgrund auf, während sie sich bemühte, ihre Erinnerung an Lucio mit dem vor ihr sitzenden Gabriel in Einklang zu bringen, die ein und dieselbe Person waren. Etwas anderes anzunehmen, war natürlich total verrückt gewesen. Dieses Gesicht vergaß man nicht, und wenn sie damals gedacht hatte, er würde gut aussehen, war er jetzt einfach umwerfend attraktiv. Aus dem Sechsundzwanzigjährigen war ein perfekter Mann Anfang dreißig geworden.
Der verlobt war.
„Ich verstehe das nicht“, stammelte Alex völlig verwirrt.
„Was verstehst du nicht?“
„Hast du mich damals belogen? Als ich dich heute Morgen wiedergesehen habe, dachte ich einfach nur, dass du Lucio ähnlich siehst. Jetzt sagst du, du seiest er. Aber Lucio hatte kaum Geld und liebte die einfachen Dinge des Lebens. Wer bist dann du?“
Gabriel presste die Lippen zusammen. Alex war immer schon ehrlich und direkt gewesen. Keine Spielchen, keine Ausflüchte, keine Andeutungen. Das war etwas, das ihm besonders an ihr gefallen hatte. Sicher würde sie seine Notlüge nicht verstehen. Plötzlich kam er sich ganz mies vor, und das gefiel ihm gar nicht, denn normalerweise war er immer ziemlich von sich überzeugt.
„Ich habe mich da ein wenig hinreißen lassen“, erklärte er schließlich schulterzuckend. „Alles ganz harmlos.“ Schon in jungen Jahren war er davon genervt, wie sich ihm die Frauen an den Hals warfen, nur weil er Geld und Einfluss besaß. Da war es einfach zu verlockend gewesen, Alex glauben zu machen, er sei ein ganz normaler Kerl, der zufällig in einem schicken Hotel in der Nähe arbeitete. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er seinen goldenen Käfig verlassen und eine gewisse Freiheit genießen dürfen. Nur ganz vage registrierte er jetzt, dass er die Erinnerung daran wie einen Schatz gehütet hatte. Doch er gehörte nicht zu den Menschen, die in sich hineinhörten.
„Ein wenig hinreißen lassen? Ganz harmlos? Was ist denn harmlos daran, jemanden absichtlich hinters Licht zu führen?“ Alex hielt inne, so geschockt war sie darüber, wie Gabriel sein Tun herunterspielte. Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt und ihm alles von sich preisgegeben. Dabei war seine Wertschätzung für sie nicht einmal so weit gegangen, ihr zu sagen, wer er wirklich war. „Ich habe jedes Wort von dem geglaubt, was du mir über dich erzählt hast.“
„Da täuschst dich jetzt aber deine Erinnerung. Ich habe dir nie etwas von mir erzählt.“
„Du hast mich glauben lassen, du seiest ein ganz normaler Mensch! Du bist mit mir am Strand spazieren gegangen, wir haben in kleinen, gemütlichen Lokalen gegessen, und du hast so getan, als seiest du genauso mittellos wie ich. Aber in Wirklichkeit warst du der superreiche Gabriel Cruz und hast überhaupt nicht im Tivoli gearbeitet!“ Das war rückblickend betrachtet natürlich egal, aber sie schreckte davor zurück, ihr wahres Dilemma anzusprechen.
„Doch, ich habe im Tivoli gearbeitet. Gewissermaßen.“
„Was soll das denn heißen?“
„Mir gehört das Hotel. Zumindest inzwischen. Damals war ich dabei, es zu kaufen.“
Alex schwirrte der Kopf. Warum hatte sie sich bloß nie über seine selbstsichere Art gewundert? Über seinen lässigen Charme? Ob er wohl mit ihr in diese billigen Restaurants gegangen war, damit er keine Bekannten traf? In den Tapas-Bars verkehrten keine Multimillionäre, nur ortsansässige Fischer.
„Du magst reich und mächtig sein, aber das ist kein Grund, andere Menschen zu benutzen. Ich habe dir vertraut.“
„Ich habe dich nicht benutzt“, sagte Gabriel leise, „und ich habe nichts mit dir getan, das dir nicht gefallen hätte.“ Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, und Alex beobachtete ihn hingerissen. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, wie sehr sie die Zeit mit ihm genossen hatte. Ihr großer Fehler war es gewesen, ihm ihre Liebe zu gestehen, denn kurz darauf hatte er sich aus dem Staub gemacht. Aber womöglich hätte er sie so oder so irgendwann verlassen. Einfach, weil er in Wirklichkeit Gabriel Cruz war, der sich nicht auf Dauer mit einem Niemand abgab. „Ich hätte einfach gern gewusst, mit wem ich es zu tun habe.“
„Warum? Hättest du dich dann anders verhalten? Hättest du ein bisschen mehr verlangt? Sex in der Fünf-Sterne-Hotelsuite?“
„Das ist gemein!“
„Wieso? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Frauen bei einem wohlgefüllten Bankkonto immer nach dem gleichen Muster reagieren.“
„Sagst du mir jetzt endlich, warum du mich herzitiert hast?“
„Weil du aufhören musst, dir einzureden, dass du mich nicht kennst, wenn du weiter für mich arbeiten willst!“
Alex bemühte sich, seinem Blick standzuhalten. Dabei überlegte sie, was seine plötzliche Rückkehr in ihr Leben für Folgen haben würde. Auf keinen Fall durfte sie wieder auf ihn hereinfallen. Aber es war unwahrscheinlich, dass er erneut mit ihr anbändeln wollte. Schließlich heiratete er bald. Doch was, wenn er sich bis dahin nur ein bisschen die Zeit vertreiben wollte? Das durfte sie in gar keinem Fall zulassen.
„Es hat mich viele schlaflose Nächte gekostet, um dich aus meinem Gedächtnis zu verbannen, nachdem du mich so plötzlich verlassen hast.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Als du mir eben sagtest, wer du wirklich bist, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Falls ich deswegen ein bisschen überreagiert haben sollte, tut es mir leid, und ich entschuldige mich …“
„Entschuldigung angenommen“, sagte er leichthin, auch wenn Alex kein bisschen so aussah, als würde ihr irgendetwas leid tun. Er hatte ganz vergessen, wie streitbar diese Frau war und wie erfrischend anders. Endlich jemand, der ihm nicht nach dem Mund redete. Mit ihr hatte er seinen Zynismus überwinden und endlich einmal er selbst sein können. Doch daran durfte er jetzt nicht denken.
„Wenn das alles ist …?“ Alex stand auf und nahm ihre Handtasche.
Auch Gabriel erhob sich in der üblich lässigen Art und folgte ihr zur Tür. „Wie … Wie kann ich dich erreichen?“
„Wie meinst du das?“ Alex wurde blass und blieb wie angewurzelt stehen.
„Ich meine, in welcher Abteilung du arbeitest.“
„Wieso willst du das wissen?“
Ihre abweisende Art ärgerte ihn. Offenbar hatte sie noch nicht verstanden, dass es von ihm abhing, ob sie ihren Job behielt. „Weil ich vielleicht noch einmal deine Dienste in Anspruch nehmen muss. Cristobel kommt regelmäßig nach London. Es wäre hilfreich, wenn du ihr auch weiterhin als Fremdenführerin zur Verfügung stehen könntest.“ Hatte er das wirklich sagen wollen? Nein, er wollte nur nicht, dass sie schon ging.
Alex sah ihn fassungslos an. So unsensibel konnte man doch nicht sein und einen permanenten Kontakt zwischen seiner Exgeliebten und seiner Verlobten herstellen wollen. Aber hatte Gabriel nicht schon einmal bewiesen, dass er sich ohnehin nur für sein eigenes Wohlergehen interessierte? Vor fünf Jahren hatte er sich eine Auszeit von seinem Millionärsdasein genommen und sie, Alex, belogen und benutzt. Jetzt brauchte er eine Spanischübersetzerin und verlangte wieder ihre Dienste, ganz egal, wie unpassend sie dieses Arrangement finden mochte.
Doch Alex wusste bereits einen Ausweg aus dieser Situation. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel. Sie hob den Kopf und versuchte zu ignorieren, dass ihr Puls schneller schlug, während Gabriel sie ansah.
„Das wird nicht passieren“, sagte sie dann aber ganz ruhig. „Ich werde nicht dafür bezahlt, um Babysitter bei deiner Verlobten zu spielen. Der Einsatz heute hat mir gereicht. Du magst verrückt nach dieser Frau sein, aber ich lasse mir bestimmt nicht noch einmal befehlen, mit ihr einkaufen zu gehen. Wir haben keinerlei Gemeinsamkeiten, und wir sind auch nicht miteinander ausgekommen. Wir haben uns lediglich toleriert, weil wir keine andere Möglichkeit hatten.“ Sie atmete tief durch und verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken, um zu verbergen, wie sehr sie zitterten. „Der heutige Tag war so etwas wie ein Schock für mich. Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass ich ausgerechnet in deinem Unternehmen gelandet bin. Doch es gibt keinen Grund, warum wir weiterhin Kontakt miteinander haben sollten. Ich wünsche dir alles Gute, aber nachdem ich dieses Zimmer verlassen habe, will ich dich auf keinen Fall wiedersehen.“
Mit diesen Worten floh sie regelrecht aus dem Raum und nahm dann sogar die Treppe, um nicht am Aufzug warten zu müssen.
Alex hatte sich immer wieder gefragt, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wäre es ihr damals gelungen, ihn zu erreichen … und ihm von Luke zu erzählen. Jetzt würde Lucio – Gabriel – heiraten, da war es besser, an bestimmten Themen nicht zu rühren.
Gleich am nächsten Morgen reichte Alex ihre fristlose Kündigung ein. Die Kolleginnen reagierten erstaunt, und um weiteren Fragen zu entgehen, schob Alex familiäre Gründe vor. Als sie ihren Schreibtisch räumte, tat es ihr leid. Aber sie konnte nicht weiter mit Lucio beziehungsweise Gabriel in einer Firma arbeiten und seine Verlobte auf Shoppingtouren begleiten.
Die finanzielle Auswirkung ihrer Kündigung bedachte sie an diesem Morgen kaum, Hauptsache es gelang ihr, das Bürogebäude zu verlassen, ohne Gabriels Aufsehen zu erregen.
Eine Woche später konnte sie ihren früheren Job wieder antreten. Es war ein schmerzlicher Rückschritt, aber sie brauchte das Geld. Ihr ehemaliger Boss stellte keine Fragen, und sie bekam sogar ihren angestammten Arbeitsplatz im Empfangsbereich der Firma zurück. Dort saß sie auch, als eine weitere Woche später Gabriel erschien. Sie sah ihn nicht, viel zu sehr war sie damit beschäftigt, kurz vor Feierabend eiligst die letzten Korrekturen an einem Dokument vorzunehmen.
Das Büro bestand nur aus einem großen Raum, den man provisorisch mit Stellwänden unterteilt hatte. Draußen war es kalt geworden, und offenbar funktionierte die Heizung nicht. Gabriel blickte sich suchend um, und als er Alex entdeckte, trug sie Wollmütze und Handschuhe, die ihre Fingerspitzen frei ließen. Das schicke graue Kostüm hatte sie gegen Jeans und Pulli getauscht. Wahrscheinlich hat sie dazu Turnschuhe an, dachte Gabriel, dem Alex einmal erzählt hatte, sie habe mit siebzehn, zur Beerdigung ihres Großvaters, ihr einziges Paar Pumps gekauft.
Gabriel war nicht ganz klar, warum er diese Fahrt quer durch London unternommen hatte, er wusste nur, dass Alex ihm ständig im Kopf herumspukte. Dabei redete er sich ein, dass er lediglich sehen wollte, ob es ihr auch gut ging. Schließlich war sie einmal seine Geliebte und dann seine Angestellte gewesen. Diese hohen moralischen Beweggründe erlaubten es ihm auch, seine Termine für den späten Nachmittag abzusagen, etwas, das sonst undenkbar gewesen wäre.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ihn jemand bemerkte. Dann aber breitete sich die Kunde über seine Anwesenheit rasch aus, mit Getuschel und Gekicher. Schließlich kam eine Frau auf ihn zu, wahrscheinlich die Abteilungsleiterin. Inzwischen waren alle auf ihn aufmerksam geworden, nur Alex nicht, die in ihre eigene Welt abgetaucht schien.
Gabriel bedeutete der Abteilungsleiterin, dass er zu Alex wollte. Als sie aufsah und ihn entdeckte, wurde sie blass. Unter den Blicken aller Anwesenden zog sie rasch Mütze und Handschuhe aus, während Gabriel weiterhin lässig im Türrahmen lehnte. Nachdem sich Alex im Flüsterton mit der Abteilungsleiterin besprochen hatte, kam sie errötend auf ihn zu.
„Was machst du hier?“
„Weißt du eigentlich, dass ich ganz vergessen habe, wie lang deine Beine sind?“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“
„Ich unterhalte mich nicht gerne zwischen Tür und Angel.“
„Und ich mag es nicht, unter Beobachtung zu stehen.“
„Warum gehen wir dann nicht irgendwohin, wo wir den Blicken deiner Kolleginnen nicht so ausgesetzt sind? Man könnte fast meinen, sie hätten noch nie einen Mann gesehen.“
Das haben sie auch nicht, dachte Alex wehmütig, zumindest nicht so einen wie ihn. Sie blieb absichtlich auf Distanz und versuchte sich einzureden, sie sei verärgert. Doch in Wirklichkeit war sie sich vor allem seiner Anwesenheit bewusst und der unterschwelligen Stärke, die er in seinem teuren Maßanzug ausstrahlte. Dass sie den Körper darunter einmal so gut gekannt hatte, brachte ihren Schutzwall gegen Gabriel noch zusätzlich ins Wanken.
„Was willst du?“, fragte sie mit Blick auf die Uhr, als sie in die Abenddämmerung hinaustraten.
„Ich möchte wissen, warum du bei mir gekündigt hast.“
„Was glaubst du wohl, warum?“
„Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich dir noch immer so viel bedeute?“
„Mal nicht so eingebildet, Lucio! Oder wie immer du dich jetzt nennst.“ Sie wollte sich abwenden, doch er hielt sie fest.
„Mein Name ist Gabriel!“
„Du tust mir weh!“
Er ließ los, und Alex rieb sich das Handgelenk, obwohl es nicht schmerzte. Ganz im Gegenteil: Die Berührung hatte sie regelrecht unter Strom gesetzt. Entsetzt spürte sie, wie sich ihre Brustknospen unter dem Pulli aufrichteten und pulsierend gegen den BH drückten.
„Also, warum hast du bei mir gekündigt. Hast du dich nach diesem Loch zurückgesehnt?“
„Und wenn schon?“, entgegnete Alex, klang aber irgendwie resigniert und blieb stehen.
Gabriel sah sie nur an. Es war fast fünf Uhr, und auf dem Bürgersteig eilten Angestellte von der Arbeit und Kinder von ihren Nachmittagsaktivitäten nach Hause. Gabriel zog Alex zur Seite.
„Als du mein Büro verlassen hast, warst du ziemlich aufgelöst.“
„Machst du mir daraus einen Vorwurf?“
„Das zwischen uns ist doch schon so lange her.“
Und er denkt, er geht mir immer noch unter die Haut, überlegte Alex und eilte weiter zur Bushaltestelle.
„Wohin musst du? Ich fahre dich.“
Wieder keine Antwort. Ungeduldig schnalzte Gabriel mit der Zunge. Er war es gewohnt, auf die kleinsten Stimmungsschwankungen seiner Gesprächspartner zu achten und spürte jetzt etwas bei Alex, das ihn nervös machte. Aber er tat es ab und wunderte sich stattdessen, dass er dieser Frau immer noch so viel zu bedeuten schien. Warum sonst hätte sie ihren Job kündigen sollen? Bei ihm hatte sie doppelt so viel verdient. Ein solches Gehalt schlug man nicht einfach aus, da musste noch ganz viel Gefühl im Spiel sein. Das schmeichelte ihm irgendwie.
„Ich muss mal eben telefonieren“, sagte Alex da unvermittelt.
„Wen rufst du denn ausgerechnet jetzt an?“
„Ist es etwa verboten, in deiner Anwesenheit zu telefonieren?“
„Seit wann bist du so streitsüchtig?“
Alex zuckte die Schultern. „Da um die Ecke ist ein Café. Ich kann mich einfach nicht auf der Straße unterhalten.“
Nachdem Alex sich abgewandt und rasch ihren Anruf getätigt hatte, gingen sie zu dem Lokal. Gabriel wusste nicht, welchen Empfang er sich erwartet hatte, aber dass Alex ihr Wiedersehen alles andere als begeistert aufnahm, war ihm inzwischen klar geworden. Dabei wollte er doch nur sein schlechtes Gewissen beruhigen, weil sie ihren gut bezahlten Job seinetwegen aufgegeben hatte.
„Ich verstehe, dass du ein bisschen sauer bist“, begann er, als die Bedienung ihnen den Kaffee an ihrem kleinen Tisch serviert hatte. „Du glaubst, ich hätte dich angelogen …“
„Das hast du auch!“ Alex wagte nicht, die Beine zu bewegen, aus Angst, sie könnte Gabriel berühren.
„Versteh doch, dass man es als Multimillionär auch nicht leicht hat.“
„Weil man nicht ungestraft Spielchen mit den Leuten treiben kann? Bisher konntest du doch tun und lassen, was du wolltest. Und jetzt, nachdem ich dir dein damaliges Verhalten vorgeworfen habe, behauptest du allen Ernstes, du hättest es schwerer als andere, weil du reich bist?“
„Wie auch immer, ich finde, du verdienst eine Entschuldigung, und die will ich dir nicht vorenthalten.“
„Warum bist du hergekommen?“
„Um dir deinen Job zurückzugeben“, sagte er und war selbst überrascht. Doch dann war er ganz zufrieden mit sich: Gabriel, der großzügige, nachsichtige Arbeitgeber!
Alex sah ihn erstaunt an. „Warum solltest du das tun?“
„Weil du meinetwegen eine super bezahlte Stelle mit zahlreichen Extras aufgegeben hast.“ Er trank einen Schluck Kaffee und beobachtete Alex über den Tassenrand hinweg.
Mütze und Handschuhe hatte sie in ihrer übergroßen Handtasche verschwinden lassen. Sie trug kaum Make-up, von Wimperntusche und einem Rest Lipgloss einmal abgesehen. Ihre Fingernägel waren unlackiert, und sie hatte tatsächlich Turnschuhe an, nicht sehr feminin, aber wahnsinnig praktisch.
Wieder einmal fragte er sich, was er eigentlich an ihr gefunden hatte. Sie war so ganz anders als die Frauen, mit denen er sonst ausging. Nicht nur äußerlich, auch was ihre Art und ihr Denken betraf. Sie arbeitete in einem Büro, sah aber so aus, als würde sie irgendwo auf dem Land Ställe ausmisten. Unwillkürlich überlegte er, welches Haus wohl zu ihr passen würde – wahrscheinlich ein altes Cottage, das mit viel Glück auch über fließend Wasser verfügte.
„Ich bin sogar bereit, dein Gehalt zu erhöhen, als Wiedergutmachung sozusagen.“
„Wann wirst du heiraten?“
„Wie bitte?“
„Deine Verlobte hat kein Datum genannt. Ich glaube, sie war zu sehr damit beschäftigt, den passenden Blumenschmuck auszusuchen.“
Gabriel runzelte die Stirn. Er hatte nicht ein einziges Mal an Cristobel gedacht, seitdem sie vor drei Tagen nach Spanien zurückgekehrt war. „Im Juli.“
„Eine Sommerhochzeit. Wie nett. Kennst du sie schon lange?“
„Ich bin nicht hergekommen, um über Cristobel zu sprechen.“
„Wo hast du sie kennengelernt?“
„Ist das wichtig?“
„Ich bin neugierig.“
„Auf … Auf einem Empfang, den ihre Eltern gegeben haben.“ Das entsprach im weitesten Sinne der Wahrheit. Doch wenn er ehrlich war, hatte es sich dabei um ein erstes Treffen zur Eheanbahnung gehandelt. Seine Eltern wollten unbedingt Enkelkinder, und da er inzwischen die Dreißig überschritten hatte, glaubte auch Gabriel, dass es an der Zeit war, eine Familie zu gründen. Er hatte einige der schönsten Frauen zu seinen Geliebten zählen dürfen, sich jetzt an jemanden zu binden, der vom gleichen gesellschaftlichen Stand war, erschien ihm durchaus akzeptabel. Darüber hinaus wollte er sich keine Gedanken über diese arrangierte Hochzeit machen.
„Wann hast du sie kennengelernt?“
„Das ist doch lächerlich!“ Gabriel rutschte auf seinem Platz hin und her und bestellte noch einen Kaffee. Dann ärgerte er sich darüber, dass Alex schon wieder auf ihre Uhr sah. „Ich habe sie vor einem Jahr kennengelernt.“
„Und, war es Liebe auf den ersten Blick?“
Seitdem Alex wusste, dass ihr Lucio in Wirklichkeit Gabriel Cruz war, erschien ihr Cristobel als die perfekte Frau für ihn. Sie konnte schon sehen, wie die kleine Spanierin auf ihren High Heels in irgendeinem überdimensionierten Herrenhaus schlecht gelaunt Befehle an die Angestellten erteilte, weil ihr Ehemann Überstunden machte, um das ohnehin schon riesige Vermögen weiter zu mehren.
Irgendwie war es schwer vorstellbar, dass das der gleiche Mann sein sollte, der in Jeans und T-Shirt mit ihr, Alex, in einer unscheinbaren Strandbar Paella von Plastiktellern gegessen hatte. Doch dann schob sie den Gedanken von sich. Er hatte ihre letzte Frage noch nicht beantwortet. Bestimmt dachte er inzwischen, sie wollte immer noch etwas von ihm. Was nicht der Fall war, auch wenn es furchtbar wehtat, nach der Art seiner Beziehung zu Cristobel zu fragen. Was würde wohl passieren, wenn Gabriel den wahren Grund für ihre Neugier erfuhr?
„Worauf willst du mit deinen Fragen hinaus, Alex?“
„Ich möchte gerne wissen, wie du jetzt lebst“, antwortete sie ausweichend.
„Warum fangen wir da nicht bei dir an? Wieso, zum Beispiel, hast du schon sechs Mal auf die Uhr gesehen, seitdem wir hier sitzen?“ Er tippte auf einen anderen Mann. Alex mochte nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, aber sie hatte definitiv etwas Anziehendes. Vor all den Jahren hatte ihn das so in ihren Bann gezogen, dass er sogar darüber nachgedacht hatte, sich dauerhaft über alle Konventionen hinwegzusetzen. Am Ende siegten dann die Vernunft und seine strenge Erziehung.
Alex errötete erneut, und es gefiel Gabriel gar nicht, dass er offenbar mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Wie dieser andere Mann wohl war? Viel verdienen konnte er nicht, sonst hätte Alex nicht in ihren alten Job zurückkehren müssen. Andererseits war Geld für sie nie wichtig gewesen. Aber welcher Typ Mann zwang seine Freundin dazu, eine Arbeit zu machen, die sie unmöglich ausfüllen konnte? Jemand, der selbst nichts zustande brachte. Womöglich war Alex sogar diejenige, die für den gemeinsamen Unterhalt sorgte.
„Und“, hakte Gabriel nun nach, „ist da jemand in deinem Leben?“
„Ja, es gibt jemanden.“
Jetzt war Gabriel doch sprachlos und wünschte, er hätte das Thema nicht angeschnitten. Schließlich ging ihn ihr Privatleben nichts an. Außerdem hatte er mit seinem eigenen schon genug Probleme: Seine Verlobte mit ihren überzogenen Hochzeitsplänen machte ihn noch ganz verrückt.
„Es freut mich, dass du wieder jemanden hast“, sagte er schließlich. „Was mein Jobangebot betrifft …“
„Ich denke, ich werde bleiben, wo ich bin. Aber danke.“
„Es bringt doch nichts, den Märtyrer zu spielen. Offenbar brauchst du ja das Geld.“
„Wie kommst du denn darauf?“
Während Gabriel nach einer unverfänglichen Erklärung suchte, verlor er sich einmal mehr in Alex’ Anblick. Sie hatte ganz erstaunliche Augen – groß und dunkel. Ihre Lippen waren voll und rot. Und wie gerne sie immer gelacht hatte! Lebhaft erinnerte er sich auch noch an ihre kleinen, festen Brüste, die jetzt unter dem dicken Pulli überhaupt nicht zu sehen waren. Und wie gut sie sich angefühlt hatten! Bei der Vorstellung wurde ihm ganz heiß, und er bemühte sich, an etwas anderes zu denken.
„Wenn du das Geld nicht brauchen würdest, hättest du dir Zeit gelassen, um einen ordentlichen Job zu finden. Außerdem kann ich mich erinnern, dass du diese Turnschuhe schon damals hattest. Oder trägst du sie aus nostalgischen Gründen?“
„Ich finde es sehr unangemessen, mich so auf unsere gemeinsame Zeit hinzuweisen.“ Mit zitternden Fingern suchte Alex nach ihrem Portemonnaie. Dabei sah sie Gabriel nicht an, und es war ihr auch egal, was er von ihrem spontanen Entschluss hielt, das Café zu verlassen. „Immerhin bist du verlobt und willst bald heiraten!“
Wenn sie gehofft hatte, ihn dadurch zur Räson zu bringen, hatte sie sich getäuscht. Lachend warf er den Kopf zurück. „Du hast immer schon hinreißend ausgesehen, wenn du sauer warst. Und wo wir gerade von ‚unangemessen‘ sprechen. Ist es das nicht auch, eifersüchtig zu sein, während du selbst jemand anderen in deinem Leben hast?“
„Bilde dir bloß nichts ein“, stieß Alex mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Deshalb brauchst du nicht gleich selbst zu bezahlen!“ Gabriel gab der Bedienung ein Zeichen.
„Doch, dafür gibt es sogar gleich mehrere Gründe!“ Alex wusste, dass ihre Reaktion übertrieben war, aber sie war einfach so wütend, dass sie am liebsten gegen ihr ungerechtes Schicksal angeschrien hätte.
Als sie das Café verließen und Gabriel zielsicher auf das größte Auto in der Straße zusteuerte, meinte Alex: „Das ist ja mal wieder typisch!“
„Willst du mir jetzt eine Standpauke zum Thema ‚Globale Erwärmung‘ halten?“
„Angebracht wäre es schon!“
Eigentlich hätte er über die meisten Dinge, die sie seit ihrem unverhofften Wiedersehen gesagt hatte, außer sich sein müssen. Aber das Gegenteil war der Fall: Er fühlte sich davon angezogen und genoss ihre herausfordernde Art. Die Alex, die er gekannt hatte, war immer geradeheraus gewesen, aber ihre scharfe Zunge hatte sich niemals gegen ihn gerichtet. Im Gegenteil, ihm gegenüber war sie sanft und willig gewesen.
„In Ordnung, ich gestehe, das spritschluckende Ungeheuer gehört mir.“ Er öffnete die Zentralverriegelung und war erstaunt, als Alex neben der Beifahrertür stehen blieb. „Willst du, dass ich dich nach Hause fahre?“
„Vorhin hast du es mir doch angeboten.“
„Stimmt, ich dachte nur, du wolltest lieber den Bus nehmen.“
Sie schüttelte den Kopf, und Gabriel war richtig neugierig darauf, wo sie wohnte. Ob das alles Verzögerungstaktiken waren, bevor sie sein enorm großzügiges Angebot annahm? Stolz war ja schön und gut, aber dafür konnte man sich nichts kaufen, besonders nicht, wenn man so einen nichtsnutzigen Faulenzer unterhalten musste.
„Dann steig ein und gib mir deine Adresse fürs Navi.“
„Hast du dieses Auto schon gehabt, als wir uns damals kennenlernten? Stand der Wagen irgendwo in der Garage, wenn du mit dem Motorrad gefahren bist, um dir die Zeit mit einer Küchenhilfe zu vertreiben?“
Gabriels gute Laune verflog im Nu. „Es gefällt mir nicht, wenn du dich so runtermachst.“
Alex war selbst erschrocken, wie verbittert sie klang. Dabei hatte sie gedacht, sie sei über die Sache hinweg. Offenbar nicht. Sonst hätte sie ja auch längst jemand anderes gefunden. Hätte sich für einen neuen Lebensabschnitt geöffnet. Das tat man doch im Allgemeinen, wenn man seine Lektion gelernt hatte. Gabriel hatte sich geöffnet. Und wie: Er würde bald heiraten!
Sie nannte ihm ihre Adresse, und er gab sie in sein Navigationssystem ein. Er hatte ihr nicht gesagt, ob ihm der Wagen schon damals gehört hatte. Wahrscheinlich nicht. Wechselten reiche Menschen ihr Auto nicht wie andere ihre Zahnbürste?
„Du wolltest damals ein Touristikstudium machen …“ Gabriel sah noch einmal zu ihr, bevor er losfuhr, doch Alex blickte stur geradeaus. Warum ließ sie sich von ihm nach Hause fahren, wenn sie sich nicht mit ihm unterhalten wollte? „Hast du deine Pläne geändert?“, hakte er nach.
Sie wandte sich ihm zu, und als sich ihre Blicke trafen, zwang sie sich, nicht wegzuschauen. „Du wirst schon sehen.“
So wie sie das sagte, bekam Gabriel ein komisches Gefühl. Sie blickte längst wieder geradeaus, und man sah ihre schön geschwungenen Wimpern. Ihr Hals war sehr grazil, und das fiel noch mehr auf, weil sie das Haar so kurz trug. Schon ganz am Anfang ihrer Beziehung hatte sie ihm gestanden, dass sie immer mehr wie ein Junge gewesen war, weil sie so viele Brüder hatte. Doch selbst jetzt, in ihren wenig schmeichelhaften Sachen mit der Wollmütze auf dem Kopf, sah sie wunderbar weiblich aus.
Sofort reagierte er auf diese Beobachtung, sodass er sich zwingen musste, sich wieder aufs Fahren zu konzentrieren. Der Stadtteil, durch den sie jetzt kamen, wirkte auf Gabriel furchtbar beengend und heruntergekommen. Irgendwann zeigte Alex auf ein winziges Reihenhaus am Ende einer Straße und sagte, er solle den nächstbesten Parkplatz nehmen, weil es schwer sei, überhaupt einen zu finden.
„Du hast also auch ein Auto?“
„Nein, aber ich habe Augen im Kopf.“ Sie spürte selbst, dass sie Nerven zeigte, und ihr Herz klopfte so schnell, dass ihr regelrecht schlecht wurde.
Wie durch ein Wunder fand Gabriel einen Parkplatz direkt vor dem Haus. Alex brauchte einen Moment, bis sie die Beifahrertür öffnen konnte.
„Es … Es tut mir leid …“, begann sie leise.
„Was tut dir leid?“ Mit forschendem Blick sah er zu ihr, aber sie hatte sich schon abgewandt und verließ den Wagen.
„Was tut dir leid?“, wiederholte er beim Aussteigen.
Doch Alex antwortete nicht, zog nur die Wollmütze ab und öffnete die Haustür. In dem kleinen Flur war es erstaunlich hell und freundlich, aber es lag unheimlich viel herum. Der Garderobenständer ächzte förmlich unter dem Gewicht der Mäntel und Jacken. Wohnte dieser Kerl etwa auch hier? Irgendwie gefiel Gabriel die Vorstellung nicht. An der Wand standen zahlreiche Schuhe, die zunächst eine ordentliche Reihe bildeten, die sich dann aber im Chaos verlor.
„Warte hier.“
„Soll ich die Tür offen lassen, oder darf ich sie zumachen?“
„Warte einfach hier, ich bin gleich wieder da.“
Gabriel schloss die Haustür und lehnte sich dagegen. Die Hände in den Hosentaschen, betrachtete er den Flur. Er war gelb gestrichen, und eine schmale Treppe führte zu zwei, drei weiteren kleinen Räumen, wahrscheinlich zwei Schlafzimmer und ein Bad. Zu Gabriels Rechten stand eine Tür offen, und er erhaschte einen Blick auf cremefarbene Wände und den Teil eines geblümten Sofas. Am Ende des Flurs befand sich wahrscheinlich die Küche und noch eine Kammer – vielleicht ein kleines Büro. Das Haus wirkte nicht unangenehm, auch wenn es viel kleiner war als seine Dreizimmerwohnung in Chelsea.
Alex kehrte so leise durch die Seitentür zurück, dass er sie erst gar nicht bemerkte. Dann brauchte er einen weiteren Moment, um festzustellen, dass da noch jemand bei ihr war. Ein Kind.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass du mein Jobangebot ausschlagen willst. Es ist doch ziemlich großzügig und nett von mir, dich zurückzuholen und …“
„Gabriel … das ist Luke …“
Er nickte dem Kind zu, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf Alex.
„Mum, kann ich jetzt ein bisschen Eis essen? Susie hat gesagt, ich darf …“
„Das hat sie bestimmt nicht, du kleiner Frechdachs!“
Hinter den beiden erschien ein molliges junges Mädchen und verwuschelte Lukes Haar, woraufhin es sich der kleine Junge stirnrunzelnd wieder glatt strich.
Das alles bekam Gabriel nur wie durch einen Nebelschleier mit, weil er gedanklich an dem Wort „Mum“ hängen geblieben war. Längst lehnte er nicht mehr an der Tür und bemerkte kaum, dass das Mädchen Alex noch fragend ansah, bevor es das Haus verließ.
„Luke, sag Gabriel hallo!“
„Nur, wenn ich Eis bekomme.“
„Kommt nicht infrage!“ Lachend nahm Alex den Jungen auf den Arm und ging mit ihm zu Gabriel. Der sah aus, als hätte er soeben eine Briefbombe geöffnet. Alex dagegen spürte, wie sich Erleichterung in ihr breitmachte. Diese Gegenüberstellung war unvermeidbar gewesen, seitdem sie in Mr. Cruz’ Büro beordert worden war und festgestellt hatte, dass es sich bei ihm um ihren Lucio aus früheren Tagen handelte.
Halbherzig hatte sie sich noch einzureden versucht, es sei besser, wenn man nicht an der Vergangenheit rührte und sie ihr Geheimnis für sich behielt. Schließlich war Gabriel verlobt und würde bald die Frau heiraten, die er liebte. Überstürzt hatte sie dann ihren Job gekündigt, um davonzulaufen und sich später mit den Folgen auseinanderzusetzen. Aber ihre Gedanken waren immer wieder zu den nackten Tatsachen zurückgekehrt: Luke hatte ein Recht darauf, seinen Vater kennenzulernen, auch wenn die Situation alles andere als ideal war.
Inzwischen wand sich der Kleine in ihren Armen und wollte unbedingt herausfinden, wer der Fremde war.
„Wie war’s im Kindergarten?“, versuchte Alex, ihn abzulenken. „Und wie du wieder aussiehst!“ Genau wie Gabriel. Erst jetzt wurde ihr die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen den beiden bewusst. Das gleiche Haar, die gleichen dunklen Augen und der gleiche olivfarbene Teint. Selbst das Lächeln und die winzigen Grübchen, die sich dann zeigten, waren identisch. Alex’ Herz schlug höher, und sie spürte eine starke, überwältigende Liebe für ihren Sohn, den es unter allen Umständen zu beschützen galt.
„Ich werde Luke jetzt baden und ins Bett bringen“, sagte sie ruhig. „Du kannst gehen, wenn du willst, oder in der Küche auf mich warten. In einer halben Stunde bin ich wieder bei dir.“
Unmöglich hätte Gabriel jetzt gehen können. Während er sich schon die Konsequenzen der neuen Situation ausmalte, begriff er die Tragweite dennoch nicht wirklich: Er war Vater – und die Situation völlig verfahren. Die Vaterschaft anzuzweifeln kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Natürlich hätte er einen DNA-Test fordern können, aber die Ähnlichkeit war so frappierend, dass man sich den auch sparen konnte. Der Junge sah genauso aus wie er im Alter von viereinhalb.
Nachdem Alex über die schmale Treppe im ersten Stock verschwunden war, blieb Gabriel eine Weile wie angewurzelt stehen. Von oben hörte er Geräusche, dann ging er langsam in die Küche. Das Leben, wie er es damals in jenem Sommer gekannt hatte, war längst vorbei, trotzdem musste er sich jetzt mit den Folgen auseinandersetzen.
Als er sich daraufhin in Alex’ Haus umsah, geschah das unter einem gänzlich neuen Gesichtspunkt: Er hatte ein Kind, und das wurde unter Bedingungen großgezogen, die, wenn auch nicht total unmöglich, doch hart an der Grenze waren. Er spürte, wie sich Verärgerung in ihm breitmachte, und es kostete ihn größte Willensanstrengung, dagegen anzugehen.
All die großen und kleinen Dinge, die auf die Anwesenheit eines Kindes in diesem Haushalt hinwiesen, brannten sich ihm regelrecht ein. Auf einem der Küchenstühle befand sich eine Sitzerhöhung, und im Abtropfregal über der Spüle stand Plastikgeschirr. Gabriel ging zum Kühlschrank und betrachtete die Kinderzeichnungen, die mit Magneten wahllos an der Tür befestigt waren: Bilder von einer glücklichen Familie, die offenbar keine Vaterfigur kannte.
Da war also kein neuer Mann in Alex’ Leben. Als sie sagte, dass es da jemanden gab, meinte sie ihren Sohn. Seinen Sohn! Gabriel erkannte kaum noch, was auf den merkwürdig unproportionierten Bildern dargestellt war. Vor seinem geistigen Auge sah er vor allem seinem Sohn, der ihn betrachtet hatte wie einen Fremden.
Dabei gingen ihm tausend Fragen durch den Kopf, und er konnte Alex’ Rückkehr kaum erwarten.
Alex hegte keinen Zweifel, dass Gabriel noch da war, als sie vierzig Minuten später die Treppe hinunterging. Luke hatte ihre Anspannung gespürt und war ganz aufgedreht gewesen. Sie musste ihm eine Geschichte nach der anderen vorlesen. Und am Ende luchste er ihr noch das Versprechen ab, dass er am nächsten Tag ein Eis bekäme, wenn er endlich die Augen zumachte.
Nachdem er nun eingeschlafen war und nicht mehr als Puffer zwischen ihr und Gabriel dienen konnte, fühlte sich Alex schutzlos und verletzlich. Doch dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie kein Teenager mehr war, der sich von einem Mann wie Gabriel beeindrucken ließ. Seit damals hatte sie viele schwierige Situationen in ihrem Leben gemeistert. Sie hatte ein Kind bekommen, sich als alleinerziehende Mutter behauptet und war von ihrer Heimat Irland nach London gezogen, um Arbeit zu finden. Sie mochte sich vor Gabriels Reaktion fürchten, aber sie würde einem Gespräch mit ihm nicht aus dem Weg gehen.
Als sie ihn dann aber in ihrer Küche sitzen sah, sank ihr schlagartig wieder der Mut. Er hatte den Stuhl zur Tür gedreht, damit er Alex beim Hereinkommen sofort bemerkte – wie ein Henker. Neben ihm auf dem Tisch stand ein halb leeres Glas Orangensaft.
„Möchtest du vielleicht etwas Warmes trinken“, versuchte Alex die angespannte Atmosphäre aufzulockern. „Oder noch einen Saft?“
„Wie wär’s mit einem Whiskey oder Gin? Ich brauche dringend etwas Stärkeres.“ Auch Gabriel war aufgewühlt. Etwas, das er sonst unter allen Umständen zu vermeiden suchte, weil sich ein Problem nicht lösen ließ, wenn man emotional darauf reagierte.
„Ich habe Wein da, nichts Besonderes. Mehr kann ich dir leider nicht anbieten.“
Gabriel nickte. Alex schenkte ihnen beiden ein Glas ein und schlug vor, dass sie sich ins Wohnzimmer setzten. Auf dem Weg dahin schwieg Gabriel, und das war beinah noch schlimmer, als wenn er sie angeschrien hätte.
„Wann hattest du denn vor, mir von dem Jungen zu erzählen?“, fragte er, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Oder hättest du es auch weiterhin für dich behalten?“
Anstatt zu antworten, trank Alex einen großen Schluck Wein und sah nachdenklich vor sich hin. Als Gabriel seine Frage wiederholte, zuckte sie regelrecht zusammen, antwortete aber immer noch nicht. Also versuchte er es anders. „Wann hast du denn festgestellt, dass du schwanger bist?“
Kinder waren für Gabriel immer etwas Abstraktes gewesen. Natürlich hatte er irgendwann welche haben wollen. Aber mit Cristobel? Als Mutter seiner Kinder hatte er sie sich noch nie vorgestellt. Hätte man ihn nach dem Grund gefragt, hätte er wahrscheinlich geantwortet, dass er einfach nicht so kinderlieb war. Aber da er nun wusste, dass er seit fast fünf Jahren einen Sohn hatte, war er außer sich darüber, dass man ihm den Jungen so lange vorenthalten hatte. Ob während dieser Zeit ein anderer Mann in Alex’ Leben gewesen war? Bestimmt!
„Und, antwortest du mir jetzt, oder soll ich deine Gedanken lesen?“
„Du machst mich nervös.“
„Das geschieht dir recht.“
„Wieso das denn?“, fragte sie entrüstet. „Du bist doch aus meinem Leben verschwunden, weil du dich nicht an eine Ausländerin binden wolltest. Du hast gelogen, was deine Identität betrifft, sodass ich dich nicht finden konnte, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich schwanger bin.“
Aufgebracht stand Alex auf, ging zum Fenster und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Wenn ihr Gabriel so nah war, konnte sie kaum denken und kam sich vor, als sei sie wieder achtzehn. Dass sie sich einmal von ihren Gefühlen hatte lenken lassen, war vielleicht zu entschuldigen, aber ein zweites Mal durfte ihr das nicht passieren. Sie wusste noch genau, wie ihr allmählich klar geworden war, dass sie ihre Periode schon lange nicht mehr gehabt hatte, auch wenn sie immer unregelmäßig kam. Wie schrecklich sie sich nach dem positiven Schwangerschaftstest gefühlt hatte – als würde eine Welt zusammenbrechen. Auch das, was danach kam, war kein Zuckerschlecken gewesen.
„Ich war schon fast im vierten Monat, als ich es entdeckte. Da befand ich mich längst wieder in Großbritannien und besuchte die Universität. Nach meiner Rückkehr aus Spanien dachte ich eigentlich, mein Leben würde ganz normal weitergehen …“
Gabriel war die Sache unangenehm. Er hatte Fehler gemacht, wenn auch nicht absichtlich, und die musste er jetzt wieder in Ordnung bringen.
Alex setzte sich seufzend auf den Sessel ihm gegenüber. Sie konnte Gabriel nicht in die Augen sehen und betrachtete stattdessen die Blumen auf dem Sofabezug. Die Möbel waren ein Geschenk ihrer Eltern. Auch zum Hauskauf hatten sie ihr etwas dazu gegeben. Sie waren da gewesen, als sie Hilfe gebraucht hatte. Nicht dieser Kerl, der von heute auf morgen gegangen war, ohne eine Adresse zu hinterlassen.
„Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber das war natürlich unmöglich“, sagte sie schließlich verbittert. „Ich habe in dem Hotel nachgefragt, in dem du angeblich gearbeitet hast. Aber dort hatte man noch nie von einem Lucio gehört. Ich habe dich beschrieben, aber natürlich kam keiner auf die Idee, dass ich nach dem neuen, superreichen Besitzer suchen könnte.“
„Niemand hat diese Situation voraussehen können.“
„Wir hätten besser verhüten sollen“, entgegnete sie. Die Pille war nie etwas für Alex gewesen, und manchmal waren die Gefühle einfach mit ihnen durchgegangen … Irrtümlicherweise hatte Alex angenommen, dass sie wegen ihrer unregelmäßigen Periode auch weniger schnell schwanger werden würde.
„Jetzt zu überlegen, was gewesen wäre, wenn … hat keinen Sinn“, meinte Gabriel. Doch dann holte ihn erneut sein schlechtes Gewissen ein. Damals hatte er gedacht, es sei nur zu Alex’ Bestem, wenn er sie verließ. Sie war jung, gerade erst mit der Schule fertig, auf jeden Fall nicht erfahren genug, um eine feste Beziehung einzugehen. Wahrscheinlich wollte sie das auch gar nicht, schon gar nicht mit einem Typen, den sie nicht einmal richtig kannte. Sie war ein Freigeist, der noch seinen eigenen Weg suchte. Er dagegen bewegte sich schon lange auf der Karriereleiter aufwärts, als einziges Kind seiner Eltern darauf programmiert, ihre unausgesprochenen Erwartungen zu erfüllen. Nun stellte er sich vor, wie schlimm es für Alex gewesen sein musste, so jung schwanger zu sein und allein gelassen zu werden. Diesen Gedanken wurde er einfach nicht mehr los.
„Ich gestehe, dass ich meine Notlüge vielleicht nicht bis in die letzte Konsequenz durchdacht habe. Es tut mir leid.“
„Oh, vielen Dank für diese nachträgliche Entschuldigung“, erwiderte Alex sarkastisch. „Wenigstens hat meine Familie mich aufgefangen. Aber mir ist bald klar geworden, dass ich mir eine Arbeit suchen muss, und dafür kam vor allem London in Betracht. Also bin ich erst einmal zu einer Freundin gezogen, und dann habe ich das Haus hier gefunden.“ Alex war froh, dass sie diese traumatische Zeitspanne in zwei Sätze fassen konnte, ohne durchblicken zu lassen, wie gestresst und erschöpft sie oft gewesen war.
„Und dann bist du mir zufällig wieder über den Weg gelaufen“, sagte Gabriel, um schnellstmöglich vom Thema Unterkunft abzulenken. Er wollte nicht schon jetzt sagen müssen, dass er es unerträglich fand, dass sein Sohn in so beengten Verhältnissen lebte, die schon für eine Person nicht ausreichten.
„Dich wiederzusehen war ein Schock“, gab Alex zu. „Aber du scheinst das alles ja ganz gut wegzustecken. Ich dachte, du wärst außer dir.“
„Das würde doch nichts bringen“, antwortete Gabriel, auch wenn es ihn größte Mühe kostete, sich zusammenzureißen. „Es würde auch nichts ändern: So oder so wäre das Leben, wie ich es bisher kannte, vorbei.“
Ihn so reden zu hören tat weh. Außerdem machte es jede noch so kleine Hoffnung auf ein Happy End zunichte.
„Sag mir eins, Alex, hättest du mich irgendwann wissen lassen, dass ich einen Sohn habe? Oder hätte ich es nie erfahren? Wärst du für immer aus meinem Leben verschwunden, wenn ich heute nicht zu dir ins Büro gekommen wäre?“
Alex errötete. An sich war sie ein wahrheitsliebender Mensch. Doch als sie bei ihrem unverhofften Wiedersehen auch gleichzeitig erfahren hatte, dass Gabriel bald heiraten würde … Nun, sie mochte wahrheitsliebend sein, aber selbstzerstörerisch war sie nicht.
„Ich verstehe“, sagte Gabriel leise.
„Nein, das tust du nicht.“
„Dann klär mich auf.“
„Wir … Wir leben in zwei verschiedenen Welten.“
Gabriel stimmte ihr nicht zu, sondern sah sie nur eindringlich an. Dabei brachte sie sein Blick irgendwie aus der Fassung. Unter der vordergründigen Kälte lag eine Leidenschaft, die eine merkwürdige Wirkung auf Alex ausübte. „Nach… nachdem du dich von mir getrennt hast, habe ich einfach weitergelebt.“
Gabriel runzelte die Stirn. Alex sprach bestimmt von einem anderen Mann. Wieso hatte er bloß davon ausgehen können, dass sie nur den Jungen hatte? Plötzlich traf ihn der Gedanke, dass Alex tatsächlich eine Beziehung haben könnte, wie der Schlag. „Gibt es einen Mann in deinem Leben?“, fragte er ganz direkt und sah sie forschend an.
„Nein!“
„Gut.“
„Was soll das heißen?“
„Dass ich es völlig unpassend finden würde, wenn du einen Freund hättest. Unter den Umständen, meine ich.“
Als sie das hörte, hätte Alex beinah vergessen, dass sie das Gespräch wie eine Erwachsene führen wollte. Am liebsten hätte sie diesem arroganten Mistkerl etwas an den Kopf geworfen! Doch dann riss sie sich zusammen. „Würdest du das bitte noch einmal wiederholen?“
„Ich fände es unpassend, wenn du eine Beziehung mit einem anderen hättest.“
„Aber du darfst natürlich eine Verlobte haben!“, rief Alex. Was dachte er sich eigentlich? Dass sie wie eine Nonne leben sollte, weil er nicht wollte, dass Luke Kontakt zu einem anderen Mann hatte?
„Du reagierst etwas überzogen.“
„Das tue ich nicht!“
„Ich bin nur ehrlich, Alex. Ich möchte einfach nicht, dass jemand anders Einfluss auf meinen Sohn nimmt. Was ist daran so schwer zu verstehen?“
„Ich will nicht darüber reden“, sagte Alex. „Dann würde ich mich nur mit dir streiten, und das möchte ich nicht. Nachdem du jetzt weißt, dass es Luke gibt, können wir vielleicht das Organisatorische besprechen.“
„Weiß er, wer ich bin?“
„Nein, noch nicht.“
Diese Antwort machte Gabriel die Situation erst richtig bewusst. Er sah seinen Sohn vor sich und hatte plötzlich das Gefühl, ganz viel verpasst zu haben. „Wann willst du es ihm sagen?“
„So bald wie möglich.“
„Wie bitte?“
„Okay, morgen. Er ist sowieso sehr neugierig und wird mich schon fragen, wer du bist.“ Sie ließ den Blick von Gabriel zum Fenster und dann zum Kaminsims gleiten. Darauf standen einige gerahmte Fotos, die Luke in den verschiedenen Stadien seines jungen Lebens zeigten. Gabriel folgte ihrem Blick und erhob sich, um die Aufnahmen zu betrachten. Insgesamt waren es sieben: vom Babyalter bis hin zu dem Bild, das Alex letzten Monat aufgenommen hatte.
Beim Betrachten der Fotos wurde Gabriel klar, dass es in all der Zeit, in der er sein gewinnträchtiges Unternehmen geführt hatte, diesen Jungen – seinen Sohn – gegeben hatte, ohne dass er auch nur die leiseste Ahnung von dessen Existenz gehabt hatte. Wäre das so weitergegangen? Hätte Alex ihrem Sohn niemals von dessen Vater erzählt? Wohl kaum. Seitdem sie wusste, wer er war, bedeutete er so etwas wie einen Sechser im Lotto. Darauf hätte sie bestimmt nicht für alle Ewigkeit verzichtet. Er stellte das letzte Foto wieder hin und drehte sich schweigend zu Alex um.
„Wann wirst du es deinen Eltern erzählen, Gabriel? Und deiner Verlobten?“
„Sofort.“
Alex seufzte erleichtert. Das Wichtigste hatten sie nun geklärt. Wie Cristobel die Nachricht wohl aufnehmen würde? Wahrscheinlich nicht besonders gut. Aber schließlich war er ihr ja nicht untreu gewesen. „Wenn dann auch Luke Bescheid weiß, können wir vielleicht ein paar grundsätzliche Dinge besprechen.“ Alex stand auf, um Gabriel zur Tür zu begleiten.
„Was meinst du damit?“
„Na ja, Besuchsrechte und so. Meinetwegen kannst du Luke treffen, wann immer du will …“ Sie hielt inne, weil Gabriel sie ansah, als sei sie verrückt geworden. Außerdem machte er keinerlei Anstalten zu gehen.
„Besuchsrechte?“, wiederholte er langsam.
„Ja … du kommst nachmittags vorbei und unternimmst etwas mit Luke.“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das funktionieren würde?“
„Warum nicht? Alle Menschen mit Kindern aus einer gescheiterten Beziehung machen das so. Nicht, dass wir eine gehabt hätten.“
„Seit wann bin ich ‚alle‘?“