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Den letzten römischen Kaiser interessieren weder Volk noch Staat noch das an den Reichsgrenzen aufziehende germanische Heer, sondern nur seine Hühnerzucht. Er will sein Reich, das er für unmoralisch hält, liquidieren und erwartet deshalb tatenlos die Ankunft der Germanen und den sicheren Tod. Doch statt eines Todfeindes tritt ihm im Feldherrn Odoaker ein ebenso passionierter Hühnerzüchter gegenüber, der keinen sehnlicheren Wunsch hat, als sich zu unterwerfen, um zu verhindern, dass die Germanen endgültig ein Volk der Helden werden.
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Seitenzahl: 148
Friedrich Dürrenmatt
Romulus der Große
Eine ungeschichtliche historische Komödie in vier Akten Neufassung 1980
Diogenes
Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater schrieb, Play Strindberg und Porträt eines Planeten, die Übungsstücke für Schauspieler darstellen und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden – die ersten Stücke tastete ich nicht an – die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen.
F.D.
Eine ungeschichtliche historische Komödie in vier Akten Neufassung 1980
Der große Kunstgriff, kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differentialrechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unserer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden.
Lichtenberg
Romulus Augustus Kaiser von Westrom
Julia seine Frau
Rea seine Tochter
Zeno der Isaurier Kaiser von Ostrom
Ämilian Römischer Patrizier
Mares Kriegsminister
Tullius Rotundus Innenminister
Spurius Titus Mamma Reiterpräfekt
Achilles Kammerdiener
Pyramus Kammerdiener
Apollyon Kunsthändler
Cäsar Rupf Industrieller
Phylax Schauspieler
Odoaker Fürst der Germanen
Theoderich sein Neffe
Phosphoridos Kämmerer
Sulphurides Kämmerer
Ein Koch
Dienstmänner
Eilbote
Germanen
Zeit: Vom Morgen des 15. bis zum Morgen des 16. März vierhundertsechsundsiebzig nach Christi Geburt
Ort: Villa des Kaisers Romulus in Campanien
Geschrieben im Winter 1948/49
Uraufführung im Stadttheater Basel am 23. April 1949
Man zählt das Jahr vierhundertsechsundsiebzig, als an einem frühen Märzmorgen der Präfekt Spurius Titus Mamma auf verendendem Pferd den kaiserlichen Sommersitz in Campanien erreicht, den seine Majestät auch winters bewohnt. Er springt ab, verdreckt, mühsam, den linken Arm in einem blutverschmierten Verband, stolpert, scheucht unermeßliche Scharen von gackernden Hühnern auf, eilt, da er niemanden findet, durch die Villa, betritt endlich des Kaisers Arbeitszimmer. Zuerst scheint ihm auch hier alles leer, öde. Nur einige Stühle, wackelig, halb zerfallen, an den Wänden die ehrwürdigen Büsten der Staatsmänner, Denker und Dichter der römischen Geschichte. Alle mit etwas übertrieben ernsten Gesichtern …
SPURIUS TITUS MAMMA
Hallo! Hallo!
Schweigen. Doch bemerkt der Präfekt endlich zu beiden Seiten der Türe in der Mitte des Hintergrundes zwei uralte Kammerdiener, grau, unbeweglich wie Statuen, Pyramus und Achilles, seit Jahren im Dienste der Imperatoren. Der Präfekt starrt sie verwundert an, gebannt von der ehrwürdigen Erscheinung.
SPURIUS TITUS MAMMA
Hallo!
PYRAMUS
Ruhe, junger Mann.
ACHILLES
Wer sind Sie denn?
SPURIUS TITUS MAMMA
Spurius Titus Mamma, Präfekt der Reiterei.
PYRAMUS
Was wollen Sie denn?
SPURIUS TITUS MAMMA
Ich muß den Kaiser sprechen.
ACHILLES
Angemeldet?
SPURIUS TITUS MAMMA
Keine Zeit für Formalitäten. Ich bringe schlimme Nachricht aus Pavia.
Die beiden Kammerdiener sehen sich nachdenklich an.
PYRAMUS
Schlimme Nachricht aus Pavia.
ACHILLES schüttelt den Kopf.
Pavia ist eine zu unbedeutende Stadt, als daß die Nachricht wirklich schlimm sein könnte.
SPURIUS TITUS MAMMA
Das römische Weltreich kracht zusammen!
Er ist einfach fassungslos über die Ruhe der beiden.
PYRAMUS
Unmöglich.
Achilles schüttelt erneut den Kopf.
ACHILLES
Ein so großes Unternehmen wie das römische Imperium kann gar nicht vollständig zusammenkrachen.
SPURIUS TITUS MAMMA
Die Germanen kommen!
ACHILLES
Die kommen schon seit fünfhundert Jahren, Spurius Titus Mamma.
Der Präfekt packt den Kammerdiener Achilles und rüttelt ihn wie eine morsche Säule.
SPURIUS TITUS MAMMA
Es ist meine patriotische Pflicht, den Kaiser zu sprechen! Auf der Stelle!
ACHILLES
Wir halten einen Patriotismus nicht für wünschenswert, der zu einem kultivierten Betragen im Gegensatz steht.
SPURIUS TITUS MAMMA
O Gott!
Er läßt Achilles entmutigt fahren und wird nun von Pyramus begütigt.
PYRAMUS
Ein Wink, junger Mann. Begeben Sie sich zum Oberhofmeister, schreiben Sie sich in die Liste der angekommenen Personen ein, suchen Sie beim Innenminister um die Bewilligung nach, dem Hofe eine wichtige Nachricht zu überbringen, und Sie werden Ihre Botschaft dem Kaiser vielleicht sogar persönlich im Laufe der nächsten Tage melden dürfen.
Der Präfekt weiß nicht mehr, was er denken soll.
SPURIUS TITUS MAMMA
Zum Oberhofmeister!
PYRAMUS
Rechts um die Ecke, dritte Türe links.
SPURIUS TITUS MAMMA
Zum Innenminister!
PYRAMUS
Siebente Türe rechts.
SPURIUS TITUS MAMMA immer noch fassungslos
Um meine schlimme Nachricht im Laufe der nächsten Tage zu melden.
ACHILLES
Im Laufe der nächsten Wochen.
SPURIUS TITUS MAMMA
Unglückseliges Rom! An zwei Kammerdienern bist du zu Fall gekommen!
Er rennt verzweifelt nach links hinaus, die beiden versteinern wieder.
ACHILLES
Ich stelle erschüttert fest, daß die Sitte des Jahrhunderts abnimmt, je mehr dies zunimmt.
PYRAMUS
Wer unsern Wert verkennt, schaufelt Rom das Grab.
Durch die Türe zwischen den beiden Kammerdienern kommt der Kaiser Romulus Augustus. Purpurtoga, auf dem Kopf ein goldener Lorbeerkranz. Seine Majestät ist über fünfzig, ruhig, behaglich und klar.
PYRAMUS UND ACHILLES
Salve Cäsar.
ROMULUS
Salve. Sind heute die Iden des März?
ACHILLES
Zu Befehl, mein Kaiser, die Iden des März.
Er verneigt sich.
ROMULUS
Ein historisches Datum. Nach dem Gesetz sind an diesem Tage die Beamten und Angestellten meines Reichs zu besolden. Ein alter Aberglaube. Um die Ermordung der Kaiser zu verhindern. Holt den Finanzminister.
Achilles flüstert ihm etwas ins Ohr.
ROMULUS
Geflüchtet?
PYRAMUS
Mit der Staatskasse, mein Kaiser.
ROMULUS
Warum? Es war ja nichts drin.
ACHILLES
Er hofft, auf diese Weise den allgemeinen Bankrott der staatlichen Finanzen zu verschleiern.
ROMULUS
Ein kluger Mann. Wer einen großen Skandal verheimlichen will, inszeniert am besten einen kleinen. Es sei ihm der Titel ›Retter des Vaterlandes‹ verliehen. Wo befindet er sich jetzt?
ACHILLES
Er hat eine Stelle als Prokurist in einer Weinexportfirma in Syrakus angenommen.
ROMULUS
Hoffen wir, daß es diesem treuen Beamten gelingt, sich von den Verlusten, die der Staatsdienst mit sich bringt, im bürgerlichen Handel zu erholen. Da!
Er nimmt den Lorbeerkranz von seinem Kopf, bricht zwei Blätter ab, die er den beiden überreicht.
ROMULUS
Es lasse sich jeder sein goldenes Lorbeerblatt in Sesterzen umrechnen. Gebt mir aber das Geld wieder zurück nach Abzug der geschuldeten Summe. Ich sollte damit noch den Koch bezahlen, den wichtigsten Mann meines Reichs.
PYRAMUS UND ACHILLES
Zu Befehl, o Kaiser.
ROMULUS
Bei Antritt meiner Regierung befanden sich sechsunddreißig Blätter an diesem goldenen Kranze, dem Sinnbild kaiserlicher Macht, jetzt nur noch fünf.
Er betrachtet nachdenklich seinen Lorbeerkranz und setzt ihn wieder auf.
ROMULUS
Das Morgenessen.
PYRAMUS
Das Frühstück.
ROMULUS
Das Morgenessen. Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme ich.
Der Alte trägt ein Tischlein herein, auf dem sich das Morgenessen befindet. Vorerst Schinken, Brot, Spargelwein, eine Schale mit Milch, ein Ei in einem Becher. Achilles trägt einen Stuhl herbei, der Kaiser setzt sich, klopft das Ei auf.
ROMULUS
Augustus hat nichts gelegt?
PYRAMUS
Nichts, mein Kaiser.
ROMULUS
Tiberius?
PYRAMUS
Die Julier nichts.
ROMULUS
Die Flavier?
PYRAMUS
Domitian. Doch von dem wünschen Majestät ausdrücklich kein Ei zu verspeisen.
ROMULUS
Domitian war ein schlechter Kaiser. Er kann Eier legen, soviel er will, ich esse sie nicht.
PYRAMUS
Zu Befehl, mein Kaiser.
Majestät löffelt das Ei aus.
ROMULUS
Von wem ist dieses Ei?
PYRAMUS
Wie gewöhnlich von Marc Aurel.
ROMULUS
Eine brave Henne. Die andern Kaiser sind nichts wert. Hat sonst noch jemand gelegt?
PYRAMUS
Odoaker.
Er ist etwas geniert.
ROMULUS
Sieh mal.
PYRAMUS
Zwei Eier.
ROMULUS
Enorm. Und mein Feldherr Orestes, der diesen Germanenfürsten besiegen soll?
PYRAMUS
Nichts.
ROMULUS
Nichts. Ich habe nie viel von ihm gehalten. Ich möchte ihn heute abend mit Kastanien gefüllt auf meinem Tische sehen.
PYRAMUS
Sehr wohl, Majestät.
Majestät ißt Schinken und Brot.
ROMULUS
Von der Henne meines Namens weißt du mir nichts zu berichten?
PYRAMUS
Sie ist das edelste und begabteste Tier, das wir besitzen, ein Spitzenprodukt römischer Geflügelzucht.
ROMULUS
Legt es, das edle Tier?
Pyramus sieht Achilles hilfesuchend an.
ACHILLES
Fast, Majestät.
ROMULUS
Fast? Was soll das heißen? Entweder legt ein Huhn oder es legt nicht.
ACHILLES
Noch nicht, mein Kaiser.
Majestät macht eine entschlossene Handbewegung.
ROMULUS
Überhaupt nicht. Wer nichts taugt, taugt in der Pfanne. Der Koch soll mit mir und Orestes auch Caracalla zubereiten.
PYRAMUS
Caracalla haben Sie vorgestern mit Philippus Arabs zu den Spargeln gegessen, Majestät.
ROMULUS
Dann soll er meinen Amtsvorgänger Julius Nepos nehmen, der hat auch nichts getaugt. Und in Zukunft möchte ich auf meinem Morgentische die Eier der Henne Odoaker finden, die meine volle Sympathie besitzt. Es muß sich hier um eine erstaunliche Begabung handeln. Man soll von den Germanen nehmen, was sie Gutes hervorbringen, wenn sie schon einmal kommen.
Von links stürzt der Innenminister Tullius Rotundus totenbleich herein.
TULLIUS ROTUNDUS
Majestät!
ROMULUS
Was willst du von deinem Kaiser, Tullius Rotundus?
TULLIUS ROTUNDUS
Es ist entsetzlich! Es ist grauenvoll!
ROMULUS
Ich weiß, mein lieber Innenminister, ich habe dir seit zwei Jahren die Besoldung nicht bezahlt, und heute, wo ich es hätte tun wollen, ist der Finanzminister mit der Staatskasse durchgebrannt.
TULLIUS ROTUNDUS
Unsere Lage ist so katastrophal, daß niemand an Geld denkt, mein Kaiser.
Majestät trinkt Milch.
ROMULUS
Da habe ich wieder einmal Glück gehabt.
TULLIUS ROTUNDUS
Der Präfekt Spurius Titus Mamma ist zwei Tage und zwei Nächte durchgaloppiert, um Majestät schlimme Nachricht aus Pavia zu bringen.
ROMULUS
Zwei Tage und zwei Nächte? Allerhand. Man schlage ihn für diese sportliche Leistung zum Ritter.
TULLIUS ROTUNDUS
Ich führe Ritter Spurius Titus Mamma sogleich vor Eure Majestät.
ROMULUS
Ist er denn nicht müde, Innenminister?
TULLIUS ROTUNDUS
Er ist dem körperlichen und seelischen Zusammenbruch nahe.
ROMULUS
Dann führe ihn ins ruhigste Gastzimmer meines Hauses, Tullius Rotundus. Auch Sportler müssen schlafen.
Der Innenminister stutzt.
TULLIUS ROTUNDUS
Aber die schlimme Meldung, Majestät?
ROMULUS
Eben. Auch die schlimmste Meldung klingt aus dem Munde eines wohlausgeruhten, frisch gebadeten und rasierten Menschen, der gut gegessen hat, noch ganz angenehm. Er soll morgen kommen.
Der Innenminister ist fassungslos.
TULLIUS ROTUNDUS
Majestät! Es handelt sich um eine weltumstürzende Meldung!
ROMULUS
Meldungen stürzen die Welt nie um. Das tun die Tatsachen, die wir nun einmal nicht ändern können, da sie schon geschehen sind, wenn die Meldungen eintreffen. Die Meldungen regen die Welt nur auf, man gewöhne sie sich deshalb so weit als möglich ab.
Tullius Rotundus verneigt sich verwirrt und geht links hinaus. Pyramus stellt einen großen Rindsbraten vor Romulus auf.
ACHILLES
Kunsthändler Apollyon.
Der Kunsthändler Apollyon kommt von links, elegant, griechisch gekleidet. Verneigt sich.
APOLLYON
Majestät.
ROMULUS
Ich mußte drei Wochen auf dich warten, Kunsthändler Apollyon.
APOLLYON
Verzeihung, Majestät, ich war in Alexandrien auf einer Auktion.
ROMULUS
Du ziehst eine Versteigerung in Alexandrien dem Konkurs des römischen Imperiums vor?
APOLLYON
Geschäfte, Majestät, Geschäfte.
ROMULUS
Na und? Bist du nicht mit den Büsten zufrieden gewesen, die ich dir verkauft habe? Besonders der Cicero war ein kostbares Stück.
APOLLYON
Ein Sonderfall, Majestät. Habe fünfhundert Gipsabdrücke an die Gymnasien verschicken können, die man jetzt überall in den germanischen Urwäldern errichtet.
ROMULUS
Um Gottes willen, Apollyon, Germanien wird zivilisiert?
APOLLYON
Das Licht der Vernunft läßt sich nicht aufhalten. Wenn die Germanen ihr Land zivilisieren, brechen sie nicht mehr ins römische Reich ein.
Majestät zerschneidet den Rindsbraten.
ROMULUS
Wenn die Germanen nach Italien oder Gallien kommen, zivilisieren wir sie, aber wenn sie in Germanien bleiben, zivilisieren sie sich selbst, und das muß fürchterlich werden. Willst du nun die übrigen Büsten kaufen oder nicht?
Der Kunsthändler sieht sich um.
APOLLYON
Ich muß sie noch einmal gründlich untersuchen. Für Büsten ist die Nachfrage gering, eigentlich gehen heute nur die von großen Boxern und üppigen Hetären. Außerdem scheinen mir einige etwas zweifelhaften Stils.
ROMULUS
Jede Büste hat den Stil, den sie verdient. Achilles, gib dem Apollyon eine Leiter.
Achilles reicht dem Kunsthändler eine kleine Leiter, die der Grieche besteigt, um nun während des Folgenden mit der Untersuchung der Büsten beschäftigt zu sein, bald auf der Leiter, bald niedersteigend, die Leiter weiterschiebend. Von rechts kommt die Kaiserin Julia.
JULIA
Romulus!
ROMULUS
Liebe Frau?
JULIA
Wenn du wenigstens in diesem Augenblick nicht frühstücken würdest!
Majestät legt Gabel und Messer nieder.
ROMULUS
Wie du willst, meine Julia.
JULIA
Ich bin in großer Sorge, Romulus. Oberhofmeister Äbius hat mir zu verstehen gegeben, daß eine schreckliche Nachricht eingetroffen ist. Nun traue ich zwar Äbius nicht recht, denn er ist ein Germane und heißt doch eigentlich Äbi –
ROMULUS
Äbius ist der einzige Mensch, der alle fünf Weltsprachen, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Germanisch und Chinesisch, fließend zu reden versteht, wobei ich freilich zugebe, daß Germanisch und Chinesisch mir ein und dasselbe zu sein scheinen. Aber wie es auch sei, Äbius ist so gebildet, wie dies überhaupt kein Römer sein kann.
JULIA
Du bist direkt germanophil, Romulus.
ROMULUS
Unsinn, ich liebe sie noch lange nicht so wie meine Hühner.
JULIA
Romulus!
ROMULUS
Bring das Gedeck meiner Frau und Odoakers erstes Ei, Pyramus.
JULIA
Ich muß dich bitten, an mein krankes Herz zu denken.
ROMULUS
Drum setz dich und iß.
Die Kaiserin setzt sich seufzend links an den Tisch.
JULIA
Willst du mir nun endlich die schreckliche Nachricht mitteilen?
ROMULUS
Ich kenne sie nicht. Der Eilbote, der sie brachte, schläft.
JULIA
Dann laß ihn wecken, Romulus!
ROMULUS
Denk an dein Herz, liebe Frau.
JULIA
Als Landesmutter …
ROMULUS
Als Landesvater bin ich vielleicht Roms letzter Kaiser und nehme schon aus diesem Grunde eine etwas trostlose Stellung in der Weltgeschichte ein. Ungünstig komme ich auf alle Fälle weg. Nur einen Ruhm lasse ich mir nicht rauben: Man soll von mir nicht sagen dürfen, ich hätte jemals den Schlaf eines Menschen unnötigerweise gestört.
Von rechts kommt Prinzessin Rea.
REA
Guten Tag, Vater.
ROMULUS
Guten Tag, meine Tochter.
REA
Gut geschlafen?
ROMULUS
Seit ich Kaiser bin, schlafe ich immer gut.
Rea setzt sich rechts an den Tisch.
ROMULUS
Pyramus, bring das Gedeck der Prinzessin und Odoakers zweites Ei.
REA
Oh, hat Odoaker ein zweites Ei gelegt?
ROMULUS
So ein Germane legt immer. Willst du Schinken?
REA
Nein.
ROMULUS
Kalten Rindsbraten?
REA
Nein.
ROMULUS
Ein Fischchen?
REA
Auch nicht.
ROMULUS
Spargelwein? Er runzelt die Stirne.
REA
Nein, Vater.
ROMULUS
Seit du beim Schauspieler Phylax dramatischen Unterricht nimmst, hast du keinen Appetit mehr. Was studierst du denn?
REA
Das Klagelied der Antigone, bevor sie in den Tod geht.
ROMULUS
Studiere nicht diesen alten, traurigen Text, übe dich in der Komödie, das steht uns viel besser.
Die Kaiserin ist empört.
JULIA
Romulus, du weißt genau, daß sich dies für ein Mädchen nicht schickt, dessen Bräutigam seit drei Jahren in germanischer Gefangenschaft schmachtet.
ROMULUS
Beruhige dich, Frau. Wer so aus dem letzten Loch pfeift wie wir alle, kann nur noch Komödien verstehen.
ACHILLES
Kriegsminister Mares bittet Majestät sprechen zu dürfen. Es sei dringend.
ROMULUS
Es ist seltsam, daß sich immer dann der Kriegsminister meldet, wenn ich über Literatur spreche. Er soll nach dem Morgenessen kommen.
JULIA
Melde dem Kriegsminister, die kaiserliche Familie freue sich, ihn zu sehen, Achilles.
Achilles verbeugt sich und geht nach links. Majestät wischt sich mit der Serviette den Mund ab.
ROMULUS
Du bist wieder übertrieben martialisch, liebe Frau.
Der Kriegsminister kommt von links, verbeugt sich.
MARES
Majestät.
ROMULUS
Es ist merkwürdig, wie bleich heute meine Hofbeamten sind. Schon beim Innenminister ist mir dies aufgefallen. Was willst du, Mares?
MARES
Als für den Verlauf des Krieges gegen die Germanen verantwortlicher Minister muß ich Majestät auffordern, den Präfekten der Reiterei, Spurius Titus Mamma, auf der Stelle zu empfangen.
ROMULUS
Schläft denn der Sportler immer noch nicht?
MARES
Es ist eines Soldaten unwürdig zu schlafen, wenn er seinen Kaiser in Not weiß.
ROMULUS
Das Pflichtbewußtsein meiner Offiziere fängt an, mir lästig zu werden.
Die Kaiserin erhebt sich.
JULIA
Romulus!
ROMULUS
Liebste Julia?
JULIA
Gleich wirst du den Spurius Titus Mamma empfangen.
Pyramus flüstert dem Kaiser etwas ins Ohr.
ROMULUS
Das ist ganz unnötig, Frau. Eben meldet Pyramus, Odoaker habe ein drittes Ei gelegt.
JULIA
Romulus, dein Reich wankt, deine Soldaten opfern sich, und du sprichst unablässig von deinem Federvieh!
ROMULUS
Das ist völlig legitim, seit die Gänse das Kapitol gerettet haben. Ich brauche Spurius Titus Mamma nicht mehr. Der Germanenfürst Odoaker hat Pavia erobert, denn das Huhn seines Namens hat drei Eier gelegt. So viel Übereinstimmung ist noch in der Natur, oder es gibt keine Weltordnung.
Bestürzung.
REA
Mein Vater!
JULIA
Das ist nicht wahr!
MARES
Es ist leider die Wahrheit, Majestät. Pavia ist gefallen. Rom erlitt die bitterste Niederlage seiner Geschichte. Der Präfekt überbrachte die letzten Worte des Feldherrn Orestes, der mit seinem ganzen Heere in germanische Gefangenschaft fiel.
ROMULUS
Ich kenne die letzten Worte meiner Feldherren, bevor sie in germanische Gefangenschaft fallen: Solange noch eine Ader in uns lebt, gibt keiner nach. Das hat noch jeder gesagt. Melde dem Präfekten der Reiterei, Kriegsminister, er solle sich endgültig schlafen legen.
Mares verneigt sich stumm und geht nach links hinaus.
JULIA
Du mußt etwas tun, Romulus, du mußt sofort etwas tun, sonst sind wir verloren!
ROMULUS
Ich werde heute nachmittag eine Proklamation an meine Soldaten entwerfen.
JULIA
Deine Legionen sind bis zum letzten Mann zu den Germanen übergelaufen.
ROMULUS
Dann werde ich Mares zum Reichsmarschall ernennen.
JULIA
Mares ist ein Trottel.
ROMULUS
Das stimmt, aber es fällt heutzutage auch keinem vernünftigen Menschen mehr ein, Kriegsminister des römischen Imperiums zu werden. Ich lasse ein Kommuniqué über meine gute Gesundheit veröffentlichen.
JULIA
Das nützt doch nichts!
ROMULUS
Du kannst von mir doch unmöglich verlangen, daß ich mehr tue als regieren, liebe Frau.
Apollyon ist von seiner Leiter gestiegen, hat sich dem Kaiser genähert und zeigt ihm eine Büste.
APOLLYON
Für diesen Ovid biete ich drei Goldstücke, Majestät.
ROMULUS
Vier. Ovid war ein großer Dichter.
JULIA
Was ist dies für ein Mensch, Romulus?
ROMULUS
Das ist der Kunsthändler Apollyon aus Syrakus, dem ich meine Büsten verkaufe.
JULIA
Du kannst doch unmöglich die bedeutenden Dichter, Denker und Staatsmänner von Roms großer Vergangenheit verschleudern!
ROMULUS
Wir haben Ausverkauf.
JULIA
Denke daran, daß diese Büsten das einzige sind, das dir mein Vater Valentinianus hinterlassen hat.
ROMULUS
Du bist ja auch noch da, liebe Frau.
REA
Ich halte das einfach nicht mehr aus! Sie steht auf.
JULIA