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Im Park liegt die Leiche einer Frau. Das ist ein Problem, da Romy und Joey in den Verdacht kommen könnten, etwas mit ihr zu tun zu haben. Nicht nur, weil Romy diejenige ist, die sie findet. Sondern auch, weil die Leiche, Mariella, die Schwester von Ennos bestem Freund ist, der Romy und Joey Stunden zuvor ein Geheimnis anvertraut hat. Zudem liegt die Beerdigung von Romys Mutter ebenfalls erst wenige Stunden zurück und so entschließen sich die beiden Frauen, das Land zu verlassen und nach London zu fliegen. Doch dorthin nehmen sie nicht nur ihre Sorgen mit, sondern auch die alten Fragen und ihre Verfolger. Und über all dem schwebt die Frage: Wer hat Mariella getötet?
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JOEY
BUCH 2
für jene,
die nicht überleben.
_
also für alle.
Ich rannte. Abgehetzt, durchnässt vom Regen. Müde und erschöpft. Doch ich rannte für sie. Für sie würde ich so lange rennen, bis wir endlich angekommen waren.
Ich bin bereit.
Es kann losgehen.
ROMY
Zwölf Stunden zuvor
Eine Hand nach der anderen schüttelte die meine. Manche Arme umschlossen mich. Aus jedem Mund gelangten geflüsterte Worte an mein Ohr. Ich schob sie von mir. Jede Berührung, jede Aufmerksamkeit. Alles. Ich wollte sie nicht hören und nicht spüren. Ich wollte die Blicke nicht ertragen müssen, die doch nichts ändern konnten. Sie würden die vergangenen Monate nicht ungeschehen machen. Sie würden dem Leben keinen neuen Sinn geben.
Doch dann tauchte ein Gesicht vor mir auf, das mein Herz schneller schlagen ließ. Es überhaupt wieder schlagen ließ.
„Es tut mir so leid, Romy.“ Regentropfen glitzerten auf ihrem Kopf. Ihre Haare saugten sie auf und ließen sie dann wieder frei, sodass sie die Haut an Joeys Gesicht hinunterrannen. Sie stand unschlüssig vor mir, umschloss weder meine Hand noch meinen Körper mit einer tröstenden Geste.
Sie war die Letzte in der Reihe der Trauernden, die mir ihr Beileid aussprechen wollten. Über fünfzig Menschen waren gekommen, um sich von meiner Mutter zu verabschieden. Kollegen, ehemalige Patienten, Eltern, Mitarbeiter. Sie hatte viele Leben berührt und hätte das Wetter sich nicht dazu entschieden, mein Seelenleben widerzuspiegeln, hätten sicher noch mehr Menschen an der Beisetzung teilgenommen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nickte zaghaft und wollte mich abwenden, um den anderen zu folgen. Meine Mutter hatte sich gewünscht, dass sich ihre Vertrauten in ihrem Lieblingscafé, dem Chapleene, zusammenfanden. Sie hatte selbst mit der Besitzerin besprochen, welche Musik gespielt werden, welcher Kuchen angeboten und wie die Tische dekoriert werden sollten. Ich hatte kaum etwas zu tun gehabt. Sie hatte sich um alle Dinge selbst gekümmert, die hatten organisiert werden müssen.
Ich hätte ihr dankbar dafür sein sollen, doch ich war es nicht. Wenn ich mich um all die Aufgaben hätte kümmern müssen, wäre mir keine Zeit geblieben, noch tiefer in dieses alte Loch zu fallen, aus dem ich so mühselig heraus- und in den vergangenen Monaten wieder hineingeklettert war. Auch wenn ich es geschafft hatte, vor ihr zu verbergen, wie es mir wirklich ging. Ich hatte nie getrunken, wenn ich bei ihr war. Ich hatte wieder einen Job als Immobilienmaklerin angenommen, damit sie sich keine Sorgen um meine finanzielle Situation machte. Ich hatte den Kontakt zu Joey abgebrochen, weil meine Mutter sich auch deswegen Sorgen gemacht hatte.
Und jetzt stand sie vor mir. Joey. Am Grab meiner Mutter.
Es mussten Minuten vergangen sein, ohne dass eine von uns etwas sagte. Die Nässe kroch durch meine Jacke, meine Kapuze war längst durchweicht.
Ich wollte weg hier, doch ich wusste nicht, wohin. Der Gedanke, den anderen zu folgen, löste Angst in mir aus. Ich wollte nicht an ihren Gesprächen teilhaben. Ich wollte nicht noch mehr lieb gemeinte Worte hören, die sich doch in dem Unvermögen zu Sätzen formten, dass niemand wusste, was man in einer Situation wie dieser sagen sollte.
Joey schien es zu wissen. „Brauchst du jemanden, der dich von denen da abschottet?“ Sie zeigte nach vorn zu der Traube an Menschen, die sich mehr und mehr auflöste. Sie alle wussten, wo wir uns treffen würden.
„Am liebsten würde ich nicht hingehen.“
„Dann tu es nicht.“
Ich sah sie verständnislos an. „Ich soll nicht auf die Trauerfeier für meine eigene Mutter gehen?“ Es war nicht so, dass ich nicht darüber nachgedacht hatte. Doch die Option erschien mir ausgeschlossen. In ein paar Jahren würde ich auch das bereuen. Wie so viele andere Dinge.
„Dann bleib nur kurz. Du könntest plötzlich krank werden und nach zehn Minuten abhauen.“ Sie grinste schief. Nur für eine Sekunde, doch es erinnerte mich daran, wie wir uns kennengelernt hatten.
Ich schluckte. „Ja, vielleicht.“
Wieder schwiegen wir, bis sie sagte: „Also gut. Ich werde dann gehen. Ich dachte nur, ich komme vorbei und sehe, ob du etwas brauchst.“ Sie musterte mich. „Ich weiß, du brauchst eine ganze Menge, aber gibt es etwas, womit ich dir helfen kann?“
Sicher erwartete sie, dass ich den Kopf schüttelte, doch stattdessen nickte ich. „Du könntest mitkommen.“
Für einen Moment leuchteten ihre Augen auf.
„Falls ich wirklich vortäusche, dass es mir nicht gut geht, könntest du vortäuschen, dich um mich zu kümmern.“
„Ich glaube, das mit dem Vortäuschen ist nicht notwendig. Es geht dir nicht gut und ich kümmere mich sehr gern um dich. Das weißt du.“
Ja, das wusste ich. Auch wenn ich Joey nach der Diagnose meiner Mutter aus meinem Leben ausgeschlossen hatte, hatte sie immer wieder nachgefragt, wie es ihr ging und ob sie irgendetwas tun könnte. Wenn ich mir einen schwachen Moment erlaubt hatte, zu viel getrunken hatte und allein gewesen war, hatte ich geantwortet. Manchmal hatten wir telefoniert, manchmal Sprachnachrichten ausgetauscht. Doch zu mehr war es nie gekommen, besonders auch wegen der Sorgen meiner Mutter. Drei Monate lang hatte ich Joey nicht gesehen und jetzt stand sie vor mir.
„Okay.“ Ich wandte mich ab, sah dann aber ein letztes Mal zurück. Bisher hatte ich die Fassung gewahrt. Ich wusste nicht, was diesem letzten Schritt der Odyssee der vergangenen Wochen noch folgen sollte. Es war nichts mehr da. Alle Tränen waren geweint. Die Wut verpufft. Ich hatte das große Glück gehabt, mich von meiner Mutter verabschieden zu dürfen, über all die Dinge mit ihr reden zu können, die ungesagt geblieben wären, wäre sie auf andere Art und Weise, wäre sie plötzlich gestorben. Aber es änderte nichts am Resultat.
„Komm.“ Joeys Stimme war sanft. Sie hielt mir ihren Arm hin, damit ich mich unterhaken konnte.
Nach ein paar Sekunden tat ich es. Als wir den Weg, der uns zurück zur Kapelle und zum Ausgang führen würde, erreicht hatten, eilte uns ein Mann mit einem großen schwarzen Regenschirm entgegen. Er war in unserem Alter. Matti. Ein Freund von Enno, sein bester. Früher einmal. Seine Schwester hatte vor ein paar Jahren mit uns zusammengearbeitet. Auch er hatte mir sein Beileid ausgedrückt und war dann weitergegangen.
„Darf ich euch trocken zum Auto führen?“ Er lächelte zaghaft.
„Ich bin mit dem Bus hier“, erwiderte Joey.
„Dann fahre ich euch.“
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Wir nehmen mein Auto.“ Dann deutete ich nach oben zu dem Schirm. Er war so groß, dass wir zu dritt darunter Platz hatten. Das Dach, das er bildete, mit dem er uns vom Regen abgrenzte, erzeugte einen Raum, die Wände flossen an den Seiten herunter. „Danke.“ Sein Aftershave vermischte sich mit dem Duft meines Parfüms. Seine Wärme schob die ungewöhnliche Kälte des Junimorgens zur Seite.
Schweigend liefen wir langsam den Weg entlang. Meine Füße traten unsicher in den Matsch und ich klammerte mich an Joey, die eine Hand auf meine legte. Als wir den Platz vor der Kapelle erreichten, auf den vor einer Stunde noch die Sonne geschienen hatte, hatte sich die Gruppe der anderen Trauernden aufgelöst. Wir liefen weiter zur Straße und ich führte Matti und Joey zu meinem Auto. Es war derselbe Wagen, mit dem Enno und ich vor über einem Jahr ans Meer gefahren waren.
Ich hatte darüber nachgedacht, ihn zu verkaufen, mich aber dagegen entschieden. Ja, er erinnerte mich daran, was damals geschehen war, aber ich wollte meine Entscheidungen nicht nur noch nach diesem Moment in meinem Leben ausrichten. Ich wollte nicht, dass ein paar Tage bestimmten, wie der Rest meines Lebens ablief. Deshalb hatte ich ihn behalten. Deshalb war ich nicht aus Ennos und meiner Wohnung ausgezogen. Und deshalb war ich vor zwei Monaten noch einmal in die Jugendherberge gefahren. Ich war durch die Ruine gelaufen, ich hatte das Hotelzimmer gebucht. Ich war noch einmal durch die Hölle gegangen, damit sie ihren Schrecken verlor.
„Möchtest du, dass ich fahre?“ Joeys Stimme zog mich aus der Erinnerung in die neue Tristesse meines Lebens, die der Hölle eines voraushatte. Ich wusste, dass sie zum Leben dazugehörte, dass jeder sie durchlebte. Mit ihr war ich nicht allein, auch wenn es niemanden gab, mit dem meine Mutter so verbunden gewesen war wie mit mir. So traurig es war. Sie hatte ihr Leben mir und den Kindern gewidmet, die in ihre Praxis gekommen waren.
„Nein, ich bekomme das schon hin.“
Sie näherte sich mir, bis ihre Lippen an meinem Ohr lagen. „Lass mich fahren. Dann sehen die Leute sofort, dass es dir nicht gut geht.“
„Als könnte ich das verbergen.“ Ich lachte nervös auf und sah zu Matti.
Er lächelte mitfühlend und zog dann aus der Jackentasche eine kleine, flache Edelstahlflasche hervor. „Wenn deine Freundin fährt, könnten wir damit deine Nerven etwas beruhigen.“
Noch vor etwas mehr als einem Jahr hätte ich diese Methodik mit einem Naserümpfen abgewiesen, aber inzwischen hatte ich gelernt, dass Alkohol mein Freund sein konnte.
„Meintest du nicht, dass du auch mit dem Auto hier bist?“ Joeys Misstrauen war deutlich zu spüren.
„Ich könnte es stehen lassen und später holen.“
„Wer ist dieser Typ, Romy?“ Es war nicht das erste Mal, dass Joeys Beschützerinstinkt ansprang. Es war etwas, das mich verwirrte, womit ich noch immer nicht umgehen konnte. Etwas, das zu so vielen anderen Dingen nicht passte.
Matti antwortete für mich. „Ich bin Matti. Ich war mit Romys … ich bin ein Freund von Enno.“
Joey legte die Stirn in Falten. „Und das soll für dich sprechen?“
„Joey, lass gut sein. Matti wusste nicht, dass Enno dich gestalkt hat. Wir haben darüber gesprochen.“ Die Worte kamen viel zu leicht über meine Lippen. Nicht im Ansatz drückten sie aus, was hinter ihnen stand. Und das war gut so.
Sie nickte zögerlich und nahm dann den Autoschlüssel entgegen. Ich griff nach Mattis Flasche, die er mir aufgeschraubt hinhielt, und trank einen großen Schluck. Als ich heute Morgen aufgewacht war, hatte etwas in mir gedrängt, die Flasche vom Vorabend zu leeren und meine Sinne zu benebeln, um diesen Tag einfach nur hinter mich zu bringen. Aber das hatte meine Mutter nicht verdient. Sie hatte es verdient, dass ich heute stark war, dass ich ihr die Liebe entgegenbrachte, mit der sie meine Welt aufgebaut und gefüllt hatte.
Meine Gesichtsmuskulatur zog sich zusammen und ich sah zu Matti. „Was ist das?“
Joey blickte ihn alarmiert an und ich schluckte. Mit einer schnellen Bewegung riss sie mir die Flasche aus der Hand und schnüffelte an der Öffnung. Dann verzog auch sie das Gesicht. „Whisky.“
Ich lachte angewidert auf. „Aber kein besonders guter.“
Matti hob die Augenbrauen, stimmte dann aber in die leichtere Stimmung ein. „Solange es ein Lächeln auf dein Gesicht zaubert.“
Mein Lachen erstarb. „Wir sollten losfahren.“ Ich führte die Flasche ein weiteres Mal zum Mund, hielt mir dieses Mal beim Trinken aber die Nase zu und schloss die Augen. Dann gab ich sie Matti zurück, der Enno so ähnlich sah, wäre er sein Bruder. Sein Blick war forschend auf mich gerichtet. Ich ging um das Auto herum. Hier am Fußgängerweg befand sich die Fahrertür, weil mein Auto in einer Einbahnstraße stand. Ich wollte nicht hinten sitzen.
Auch Joey stieg ins Auto und ein paar Sekunden lang saßen wir allein darin. Wieder flüsterte sie: „Bist du sicher, dass wir ihm vertrauen können?“
Ich sah sie mit erhobenen Augenbrauen an. „Vertrauen? Einem Mann? Wohl kaum.“
„Warum nehmen wir ihn dann mit?“
Ich zuckte mit den Schultern und grinste sie schräg an. „No risk, no fun.“
„Das ist nicht witzig.“
Nein, das war es nicht.
„Was ist, wenn in der Flasche irgendein Zeug war?“
Ich schluckte, presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Du kannst dir nicht sicher sein.“
Die Tür des Fonds auf der Fahrerseite öffnete sich und Matti stieg in den Wagen. „Sorry, ich musste noch eine Nachricht beantworten.“
Joey wandte sich zu ihm. „Matti, warum bist du auf der Beerdigung von Romys Mutter?“
„Ich war als Kind bei ihr Patient. Und als Romy und Enno noch …“ Er zögerte und sah mit entschuldigendem Blick zu mir. „Na ja, früher war ich hin und wieder bei ihr zum Essen mit Romy und …“ Er nannte den anderen Namen nicht noch einmal.
Joey musterte ihn, vielleicht suchte sie sein Gesicht nach Anzeichen dafür ab, dass er log. Irgendwann wandte sie den Kopf ab. Sie schien nichts gefunden zu haben, startete den Motor und fuhr aus der Parklücke.
JOEY
Die gesamte Zeit über beobachtete ich Matti im Rückspiegel. Er wirkte nicht wie jemand, der eine Straftat plante. Nicht wie Oscar. Aber auch nicht wie Enno. Matti schien selbstbewusst und arglos.
„Joey, die Ampel ist rot.“ Romy sprach entspannt.
Ich richtete den Blick wieder nach vorne und bremste ab. Dann wandte ich den Blick zu ihr.
„Hör auf damit.“ Sie hob die Augenbrauen.
„Ist ja schon gut.“
„Hey, ich kann verstehen, dass du misstrauisch bist. Nach eurer Geschichte würde ich auch jeden Typen schief ansehen, der sich mir auf zehn Meter nähert.“ Matti hatte sich nach vorne gebeugt. Seine tiefe Stimme erfüllte den kleinen Raum. „Ich kann laufen, wenn dir das lieber ist.“
Ich schluckte, war froh über die langen Ärmel meiner Jacke, weil sie meine Gänsehaut verstecken. Warum sie aufgetaucht war, wusste ich nicht. „Nein, das ist nicht notwendig.“
„Soll ich meine Taschen leeren?“
„Was soll das bringen? Ich nehme an, Enno trug auch kein Messer bei sich.“
Wir hielten den Blick des anderen fest. Matti erwiderte nichts, aber ich las in seinem Blick all die Fragen, die ihn noch immer beschäftigten. Irgendwann schüttelte er den Kopf. „Nein, Enno war nicht der Typ, der ein Messer bei sich trug.“
Ein Hupsignal erklang und Romy sagte: „Vielleicht solltest du weiterfahren. Die Ampel ist grün.“
Nur langsam wandte ich den Kopf nach vorne. Das andere Auto überholte mich mit quietschenden Reifen, hupte noch einmal und raste dann davon. Ich gab langsam Gas, fuhr unter dem gelben Licht der Ampel hindurch und schaffte es, meinen Blick auf die Straße gerichtet zu halten, bis wir das Chapleenes erreichten.
Hatte Matti wissen können, dass ich auf der Beerdigung sein würde? Nicht einmal Romy hatte es sicher gewusst. Sie hatte mir vor zwei Tagen geschrieben, dass ihre Mutter gestorben war und heute beerdigt werden würde. Ich hatte ihr nicht erzählt, dass ich herkommen würde. Hatte sie darauf gehofft? Hatte sie einen GPS-Sender in meiner Schuhsohle versteckt oder mein Handy gehackt? Diese Gedanken waren nicht neu. Ich glaubte nicht, dass Romy ihre Zweifel komplett aufgegeben hatte. Auch wenn wir nicht wieder darüber gesprochen hatten, spürte ich, dass sie mir nicht vertraute. Wollte sie jetzt herausfinden, ob ihre Angst begründet war?
Hatte sie sich dafür einen von Ennos Kumpels geholt? Oder … Ich wandte mich wieder nach hinten. Matti löste den Gurt und war im Begriff, die Tür zu öffnen. „Sag, Matti, woher kanntet du und Enno euch eigentlich?“
„Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Seit der ersten Klasse.“
„Dann wart ihr die besten Freunde?“ Das war unmöglich, denn er und Enno hatten sich in den sechs Monaten, in denen ich Enno mein Leben geschenkt hatte, nie gesehen. Kein einziges Mal hatten sie einander geschrieben oder telefoniert.
Er nickte und jeder meiner Muskeln spannte sich an. „Wir waren lange richtig gute Freunde.“ Er warf einen flüchtigen Blick zu Romy, den ich nicht einordnen konnte. „Aber vor ungefähr dreieinhalb Jahren hat sich das geändert.“
„Enno hat mir nie erzählt, warum.“ Auch in Romys Stimme lag nun Argwohn. Endlich.
Matti schwieg.
„Sag du es uns.“ Mein Befehlston löste nur ein Kopfschütteln bei ihm aus und ich setzte hinzu: „Normalerweise gehen Männerfreundschaften nicht auseinander, es sei denn, ihr habt euch über Geld oder Frauen gestritten.“
Er presste die Lippen aufeinander. Ich hatte ins Schwarze getroffen.
„Was ist passiert, Matti?“ Romy klang gehetzt, bekam aber keine Antwort, weil jemand an die Scheibe des Autos klopfte. Eine der Trauergäste. Eine ältere Frau lächelte durch die beschlagene Scheibe.
Ich hob den Zeigefinger und richtete ihn auf Matti. „Du kommst nicht um die Antwort herum.“
Mit festem Blick nickte er. „Vielleicht ist es wirklich Zeit, dass Romy die Wahrheit erfährt.“
Die Tür wurde geöffnet. „Romy, mein Schatz, wir warten auf dich.“ Die ältere Frau warf einen Blick in das Auto. „Oh, hallo Matti. Nun kommt schon rein.“ Sie strich Romy liebevoll über den Arm. „Dann hast du es bald hinter dir.“
„Wir kommen gleich, Trudi.“
Als die Frau wieder gegangen war, wandte Romy sich zu mir. „Sie hat lange als Sprechstundenhilfe bei meiner Mutter gearbeitet. Wir sollten reingehen.“ Doch sie löste ihren Gurt nicht. Trudis Auftritt hatte Romy zurück in die Gegenwart gebracht. Weg von dem in ihren Augen kriminellen Enno, hin zu ihrer toten Mutter. Sie war in ihren Sitz gesunken und starrte bewegungslos auf die Scheibe. „Ich kann das nicht.“
Ich löste ihren Gurt und legte meine Hand auf ihren Oberschenkel. „Doch, Romy, du schaffst das. Ich …“ Ich zögerte und wandte meinen Blick zu Matti. Ich würde ihn im Auge behalten und nicht um seine Antwort herumkommen lassen. „Wir sind an deiner Seite. Und wenn du abhauen willst, erfinden wir die wildesten Geschichten, damit du da rauskommst.“
Matti stimmte mir zu. „Das Schlimmste hast du hinter dir. Wir schirmen dich gegen die anderen ab. Versprochen.“ Auch seine Hand hatte sich beruhigend auf Romys Körper gelegt und strich nun über ihren Unterarm.
Romys Blick glitt von meiner Hand zu Mattis und mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich zur Tür und stieg aus dem Auto. Ich sah zu Matti, der mit einem Schulterzucken seine eigene Tür öffnete und das Auto verließ. Ich folgte den beiden, verriegelte den Wagen und zog die Jacke fester um meine Rippen. Warum war es im Juni so kalt?
Die nächste Stunde verbrachten wir auf der Trauerfeier. Romy verwandelte sich in die selbstbewusste Arzttochter, die ich in der Jugendherberge kennengelernt hatte. Sie unterhielt sich professionell mit den Kolleginnen ihrer Mutter und wann immer ich in Hörweite war, hörte ich, wie sie sich für freundlich gemeinte Worte bedankte oder den Aussagen ihres Gegenübers zustimmte. Von außen betrachtet wirkte sie, als würde sie verdammt gut mit der Sache klarkommen. Aber so war es nicht. Die gesamte Zeit über hielt sie ein mit Wein gefülltes Glas in der Hand. Zwar hatte sich das Zittern, mit dem sie dieses anfangs von einer Bedienung entgegengenommen hatte, durch den Alkohol beruhigen lassen, aber wenn sie sich unbeobachtet fühlte, erkannte ich die immer stärker werdende Panik in ihrem Blick.
„Wir sollten sie hier rausbringen.“ Matti hatte sich zu mir gestellt, einen Kaffee in der Hand.
Ich selbst trank Wasser. „Du siehst es auch, oder?“
„Ja, und ich vermute, dass wir bald nicht mehr die Einzigen sein werden.“ Er blickte zu Romy, die sich zu einem Mann gesetzt hatte, der ihr etwas auf seinem Telefon zeigte. „Wie viel hat sie getrunken?“
„Neben den drei Schlucken aus deinem Mitbringsel waren es drei gut gefüllte Gläser Wein, ein Champagner und …“ In diesem Moment leerte Romy ihr Glas erneut. „… und noch ein weiteres Glas Wein.“
„Macht sie das öfter?“ Matti klang so erstaunt, dass ich meinen Blick von Romy ab und zu ihm wandte. Er wirkte besorgt. Ich sah die gleiche Sorge auf seinem Gesicht, die ich in mir spürte.
„Nicht, dass ich wüsste.“ Langsam drehte ich den Kopf wieder zu Romy. Ich hatte widerstanden und mich nicht in ihre Accounts eingeloggt, sie nur selten beobachtet. Zum Teil hatte ich aus der Sorge heraus gehandelt, sie könnte genau auf so etwas warten und mich in eine Falle laufen lassen. Zum anderen konnte ich es nicht. In den vergangenen Monaten hatte sich ihr Leben um ihre Mutter gedreht. Es war mir falsch erschienen, in dieser Situation in ihre Privatsphäre zu dringen, wo sie mich doch daraus entfernt hatte. Aber vielleicht war das ein Fehler gewesen. Ihre Mutter hatte nicht mehr auf sie aufpassen können. Und wenn ich mir Romy so ansah, konnte sie es auch nicht.
„Diese Menge in einer Stunde …“ Er beendete den Satz nicht, doch ich wusste auch so, was er sagen wollte. Niemand, der nicht an Alkohol gewöhnt war, stand nach einer Flasche Wein und dem restlichen Zeug, das sie in sich geschüttet hatte, noch gerade.
Ich stieß mich von dem Tresen ab, an dem ich gelehnt hatte. „Nein. Und es ist offensichtlich, warum sie es tut.“ Zumindest war es das für mich. Und wenn ich ganz tief grub, musste ich einsehen, dass es meine Schuld war. Doch ich wischte diesen Gedanken von mir. So, wie ich es immer tat. „Ich bringe sie jetzt nach Hause.“ Obwohl ich am liebsten gerannt wäre, schritt ich langsam zu dem Tisch, wartete, bis der Mann sein Telefon wieder eingesteckt und seinen Satz beendet hatte.
„Es war eine schöne Zeit. Ich dachte, dass es dir guttut, deine Mutter noch einmal so glücklich zu sehen.“ Bevor er die Displaysperre aktiviert hatte, hatte ich einen Blick auf ein Foto von Romys jüngerer Mutter werfen können, das zeigte, wie sie zusammen mit drei anderen Erwachsenen und zwei afrikanischen Mädchen lachend an einem Tisch saß und etwas aus einer Schale aß.
Der Mann, der mit deutlich weniger grauen Haaren auch auf dem Foto gewesen war, sah zu mir auf und lächelte freundlich. Romys Blick traf mich jetzt ebenfalls. Das erste Mal, seit wir das Café betreten hatten, sah sie mich wirklich an und bestätigte meine Vermutung. Sie musste hier raus.
„Romy, wie geht es dir?“ Ich legte eine Hand auf ihre Schulter und glitt auf den Stuhl neben ihr. Der Mann saß uns gegenüber und ich drehte den Kopf in seine Richtung, um flüsternd zu sagen: „Sie fühlt sich schon seit gestern Abend nicht wohl und ich fürchte, das alles ist zu viel für sie.“ Er wirkte wie jemand, dem ich vertrauen konnte. Außerdem war er offenbar Arzt und würde meine Worte hoffentlich ernst nehmen.
Er tat es, musterte Romy genauer und eine Falte legte sich auf seine Stirn, als sein Blick auf das leere Glas und wieder zurück auf ihr fahles Gesicht fiel. „Würden Sie sie nach Hause bringen?“
Romy erwiderte nichts. Doch die Fassade, die sie um sich herum errichtet hatte, bröckelte.
Ich nickte dem Mann dankbar zu.
„Ich kümmere mich um die Trauergäste.“
„Sie können gern bleiben. Ich will niemandem die Gelegenheit nehmen, sich von meiner Mutter zu verabschieden.“ Sie deutete zum Tresen. „Ella weiß Bescheid. Das Café öffnet erst für den regulären Betrieb, wenn alle weg sind.“
Er legte eine Hand auf ihren Arm, den Daumen unterhalb des Handgelenks. „Brauchst du etwas?“
Romy sah von ihm zu mir und zurück, schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein.“
Ich wusste, warum sie nichts brauchte. Weil es nichts gab, was ihr helfen konnte. Weil es nichts gab, das half. Wir konnten ihr einzig Gelegenheit geben, ihren Schmerz nicht auch noch verstecken zu müssen.
„Wenn du etwas brauchst, melde dich bei mir, ja? Meine Telefonnummer hast du?“
Romy schüttelte den Kopf und der Mann zog eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Jacketts, das er über die freie Stuhllehne gehängt hatte. Ordentlich, so, dass es keine Falten verursachte.
„Danke.“ Ich steckte die Karte ein.
„Ich fahre euch.“ Matti war zu uns an den Tisch getreten, entweder hatte er gelauscht oder die Situation von Weitem richtig erkannt.
„Das ist nicht notwendig.“ Ich half Romy beim Aufstehen und führte sie, nachdem wir uns von dem noch immer besorgt dreinblickenden Mann verabschiedet hatten, zu dem Kleiderständer, an den wir unsere Jacken gehängt hatten.
Matti folgte uns.
„Doch, es ist notwendig.“ Romy klang plötzlich wach und überhaupt nicht so, als hätte sie sich betrunken. „Er wollte mir noch etwas erzählen.“ Sie schlüpfte in ihre Jacke, die Matti ihr wie ein echter Gentleman hinhielt. Ich hasste ihn. „Aber du kannst nach Hause fahren.“ Es klang nicht wie ein Vorschlag.
Ich zog meine eigene Jacke an, wartete mit meiner Antwort aber, bis wir nach draußen getreten waren. Die Sonne hatte die Wolke vertrieben und heizte meinen feuchten Parka in Sekunden so sehr auf, dass ich ihn wieder auszog. „Wenn du glaubst, dass ich dich mit diesem Typen allein lasse, kennst du mich sehr schlecht.“ Die leichte Panik in meiner Stimme überraschte mich selbst. Ich konnte nicht genau bestimmen, woher sie rührte. Hatte ich Angst um Romy? Oder hatte ich nur Angst, dass Matti ein engerer Vertrauter für sie sein könnte als ich? Das wäre nicht schwer, denn Romy vertraute mir nicht. So wenig, wie ich ihr vertraute. Und dennoch hatten wir diese gemeinsame Basis, die keiner von uns je mit einem anderen Menschen würde aufbauen können. Ich entspannte mich etwas. Doch dann überwog die Sorge, Matti könnte ihr etwas antun. Und die Neugier auf das, was er zu erzählen hatte. „Ich werde mitkommen“, festigte ich meine vorherige Aussage deshalb.
Romy leistete keinen Widerstand und auch Matti schien nichts dagegen zu haben. Das beruhigte mich, denn es bedeutete, dass die beiden höchstwahrscheinlich nichts miteinander hatten, das ich verpasst hatte. Ich würde Romy nicht länger so viel Freiraum lassen. Sie konnte damit nicht umgehen.
Wieder fuhr ich. Ich lenkte den Wagen zu der Wohnung, in der Romy und Enno gelebt hatten. Bis Romys Mutter krank geworden war und Romy den Kontakt zu mir fast vollständig abgebrochen hatte, war ich häufig hier gewesen. Wir waren Freundinnen geworden, zumindest soweit das in unserer Situation möglich gewesen war. Ich hatte alles getan, damit diese Freundschaft gewachsen war und sich vertieft hatte, und ich wäre auch zu mehr bereit gewesen. Ich liebte Romy und deshalb wusste ich, dass sie Zeit brauchte. Gleichzeitig würde ich alles für sie tun.
Matti saß wieder hinten und hin und wieder trafen sich unsere Blicke im Rückspiegel. Ich konnte seinen nicht deuten und vielleicht ging es ihm mit meinem genauso.
„Da vorne ist etwas frei.“ Romy lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf die Straße und ich führte den Wagen in die von ihr angedeutete Richtung.
„Holen wir uns etwas zu essen?“ Auch diese Frage kam von Romy.
Ich schaltete die Zündung aus und sah sie überrascht an. „Du willst etwas essen?“
„Wenn ich das nicht tue, wird mich der Alkohol in seinen tiefsten Abgrund reißen.“ Sie grinste schräg.
Mir war nicht nach lächeln zumute. „Wie oft machst du das?“
Sie hob die Augenbrauen, weil ich eine Grenze überschritten hatte. Man fragte andere Menschen nicht nach ihren Trinkgewohnheiten, dabei kippten die meisten viel zu oft viel zu viel von diesem Scheiß in ihren Körper. Ich dachte daran, wie ich mit Enno und Oscar dieses sinnlose Trinkspiel gespielt hatte. Ja, dadurch hatten wir den Prozess, dass Enno und ich im Bett landeten, beschleunigt. Aber was wäre geschehen, wenn wir nichts forciert hätten? Würde er dann heute noch leben? Würde Romy mich dann nur deshalb hassen, weil ich ihr den Freund ausgespannt hatte, und nicht, weil sie glaubte, dass er wegen mir gestorben war?
Sie hatte nicht geantwortet und Matti stützte meine Frage: „Romy, wir wollen dir nicht zu nahe treten.“
„Das tut ihr aber.“
Ich erwachte aus meiner Erinnerung. „Es geht dir nicht gut. Es ist verständlich, dass du einen Weg suchst, um dich besser zu fühlen.“
„Das ist nicht … ich trinke nicht …“
Ich griff nach ihren Händen. „Doch, das tust du. Jemand, der nie trinkt, steckt in deiner Situation nicht diese Menge an Alkohol weg.“
„Ich habe gut gefrühstückt. Verdammt, Joey. Lass mich in Ruhe.“ Sie funkelte mich an und aus Angst, sie würde mich jeden Moment nach Hause schicken, schluckte ich meine restlichen Worte hinunter und sagte stattdessen: „Also gut. Ich vertraue dir.“ Ich nickte zur Bestätigung. „Lass uns jetzt hochgehen.“ Mit diesen Worten löste ich meinen Gurt und stieg aus dem Auto. Die anderen beiden folgten mir.
ROMY
Wollt ihr Tee oder Kaffee?“ Joey zog die Schuhe von den Füßen und hängte ihren Parka an meine Garderobe, als wäre sie hier zu Hause. Ich beobachtete sie mit Argwohn. Ja, sie war nicht zum ersten Mal hier, aber trotzdem konnte sie sich wie ein Gast und nicht wie die Gastgeberin verhalten, oder?
„Ich nehme einen Kaffee, wenn das keine Umstände macht.“
Ich wollte nichts von beidem. Mein Alkoholspiegel hatte sich durch den Schlag ins Gesicht, den Joey mir im Auto verpasst hatte, so weit reduziert, dass ich viel zu klar dachte. Und ich war nicht sicher, dass ich das in den nächsten Minuten tun wollte. Dennoch, wenn ich jetzt Alkohol trank, würde das das Thema wieder auf mich lenken und ich wollte, dass Matti seine Geschichte erzählte. „Ich mache uns allen einen Kaffee.“ In der Hoffnung, dadurch wieder die Kontrolle übernommen zu haben, zog ich mich selbst aus und ging in die Küche.
„Ich helfe dir.“ Joey kam mir hinterher und als sie neben mir an der Spüle stand, wo ich mir die Hände wusch, flüsterte ich: „Solltest du nicht lieber deinen Verdächtigen im Blick behalten?“ Es war nur zum Teil Zynismus, der aus mir sprach. Ich hatte weitere Gründe, sie zu ihm zu schicken. Um mich zu beruhigen, nahm ich den Wasserkocher und hielt ihn unter den Wasserhahn.
Sie betrachtete mich. „Warum hast du so viel getrunken?“ Dann nahm sie einen Apfel aus dem Korb mit dem Obst, den ich noch immer füllte, weil ich es meiner Mutter versprochen hatte. Sie griff nach einem Messer, das eigentlich zu groß war, um ihn zu schneiden. Es war ein altes Messer. Ein Stück von dem Plastik, mit dem der Griff überzogen war, fehlte.
Am liebsten hätte ich es ihr aus der Hand genommen, doch ich atmete nur genervt durch. „Ich habe es überhaupt nicht mitbekommen. Die vielen Leute. Meine Mutter. Du. Matti. Das alles hat an mir gezogen. Ich habe mich nicht darauf konzentriert, was ich trinke.“ Ich war überrascht, wie gut mir selbst diese Erklärung gefiel. Erleichterung breitete sich in mir aus. Ja, natürlich, das war der Grund gewesen. Ich hatte den Alkohol nicht gebraucht, ich hatte schlichtweg nicht darauf geachtet, wie viel ich trank.
Sie musterte mich noch für einen Moment. „Okay, ich glaube dir.“ Unruhe schwang in ihren Worten mit. „Und jetzt sehe ich nach, was Matti macht.“
„Ich war nur auf dem Klo.“
Wir schraken beide beim Klang seiner Stimme zusammen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, der Wasserkocher fiel mir aus der Hand und mit einem Scheppern in die Spüle. Dann sah ich zu Matti.
„Es tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken.“
„Hast du aber.“ Joey funkelte ihn an und trat mit geballten Fäusten auf ihn zu. Wenigstens hatte sie das Messer wieder zur Seite gelegt.
Dieses Bild war so lächerlich, dass ich nicht anders konnte. Ich lachte laut auf und als die anderen beiden mich verständnislos ansahen, wurde daraus ein kurzer, aber befreiender Lachanfall. Matti war der liebste Kerl, den ich kannte. Außerdem war er fast zwei Meter groß und Joey würde keine Chance gegen ihn haben. Dieser Gedanke war es, der meinen Lachanfall beendete. Dennoch fühlte ich mich besser.
„Gib das Ding her.“ Joey war zu mir zurückgekommen und nahm mir den Wasserkocher aus der Hand. Dann sah sie mich stirnrunzelnd an. „Ich dachte, wir trinken Kaffee.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe es mir anders überlegt.“ Mit diesen Worten öffnete ich einen Schrank und nahm eine Kanne heraus. Vielleicht konnte ich auf diese Weise klarmachen, dass dies meine Wohnung war. Ich wollte keinen Kaffee. Aber auch auf Alkohol hatte ich keine Lust mehr. Je klarer mein Verstand bei Mattis Erklärung war, umso besser. Sie war es gewesen, die mich während der Trauerfeier beschäftigt hatte. Ja, vielleicht hatte mein Gehirn mich auf diese Weise abgelenkt, mir die Gelegenheit gegeben, mich aus der Situation zu befreien. Doch warum hätte ich sie voll bewusst erleben sollen? Ich hätte die Trauerfeier nicht gebraucht. Meine Mutter und ich hatten jeden Moment genutzt, um Abschied zu nehmen.
Und vielleicht war das auch der Grund für den vielen Alkohol gewesen. Ich wollte keine Horrorgeschichte über Enno hören, auch wenn es noch einmal notwendig war. Ich wollte diesen Scheiß endlich hinter mir lassen. Ich wollte es aus meinem Gehirn streichen, wollte vergessen, dass er überhaupt jemals ein Teil meines Lebens gewesen war. Oder vielleicht wollte ich auch, dass er aus einem anderen Grund gestorben war. Vielleicht wollte ich um ihn trauern dürfen. Ihn vermissen dürfen. Mich fragen dürfen, ob wir inzwischen verheiratet wären, ein Kind in meinem Bauch heranwachsen würde, wenn er noch bei mir wäre. Doch das durfte ich nicht. So durfte ich nicht über einen Verbrecher denken. Den Gedanken, dass ich Enno ohnehin hatte verlassen wollen, ignorierte ich. Er passte nicht in das Bild dieses Wunsches.
Ich bereitete den Tee zu, während Matti und Joey Tassen aus dem Schrank nahmen. Joey fand eine Packung Kekse, die sie auf einem Teller verteilte. Sie zündete sogar eine Kerze an, als wir den Esstisch im Wohnzimmer erreichten und die Sachen darauf platzierten. Es war zu gemütlich. Ich spürte es. Dieses kuschlige Beisammensein würde in krassem Kontrast zu dem stehen, was Matti uns erzählen würde. Deshalb hatte ich den Esstisch gewählt, aber es reichte nicht.
Dennoch setzte ich mich, ließ die Kerze brennen und nahm einen Keks. Ich hatte Joey belogen, mein Frühstück hatte aus einem Glas Wasser bestanden. Dieser Keks würde das erste feste Material sein, das mein Magen heute verdauen könnte. Was hatte ich gestern gegessen? Hatte ich gestern etwas gegessen? Ich ließ meine Gedanken durch den vergangenen Tag gleiten und fand ein kaltes Stück Tiefkühlpizza, das einsam in meinem Kühlschrank gelegen hatte.
„Also, was willst du uns erzählen?“
Matti und ich sahen beide zu Joey und ich sagte: „Dir will er gar nichts erzählen.“ Es störte mich so sehr, wie sie sich aufführte. Aber ich würde sie nicht rauswerfen. Während meiner Überlegungen auf der Trauerfeier war mir zwar für einen Moment der Gedanke gekommen, dass Matti und Joey unter einer Decke stecken könnten, doch ich hatte den Gedanken verworfen. Joey müsste schon eine verdammt gute Schauspielerin sein, um ihre Antipathie gegenüber Matti vorzutäuschen. Und für ihn galt dasselbe.
„Ich hätte schon viel früher zu dir kommen sollen. Schon als er noch … Ich hätte mit dir reden müssen.“
„Warum habt ihr den Kontakt abgebrochen? Enno hat es mir nie erzählt. Ich habe ein paar Mal nach dir gefragt, aber er hat nur ausweichende Antworten gegeben.“ Enno hatte meine Gedanken damals in eine bestimmte Richtung gelenkt und ich war zu dem Schluss gekommen, dass Matti in mich verliebt gewesen war. Ich hatte gewollt, dass diese Vermutung stimmte, weil ich dann keine neuen Dinge über Enno erfahren hätte, die mir möglicherweise den dünnen Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Und ich hatte gehofft, dass es nicht stimmte, weil ich mich nicht mit einem verliebten Matti beschäftigen hatten wollen. Hätte ich wählen müssen, hätte ich dennoch die zweite Variante genommen.
Doch ich hatte nicht wählen dürfen und meine Wünsche waren auch in diesem Fall nicht berücksichtigt worden. „Enno hat etwas getan.“
Ich spürte Joeys Anspannung. Ihre Hand ballte sich wieder zu einer Faust. Vielleicht hätte sie ihn ebenso gern geschüttelt wie ich.
„Ich wusste lange nichts davon und ich hätte es dir erzählt, wenn … Verdammt, es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich es nicht getan habe.“
„Wovon redest du, Matti?“ Man hörte deutlich die Ungeduld in meiner Stimme.
„Enno und Mariella, sie hatten was miteinander. Damals, als sie mit Hannes zusammen war.“
„Wer ist Mariella?“
Matti antwortete nicht auf Joeys tonlos geflüsterte Frage und sprach weiter, als hätte sie sie nicht gestellt. „Ich weiß nicht, wie lange das ging. Ich habe sie zweimal zusammen gesehen. Beim ersten Mal waren sie gemeinsam essen. Ich habe mir erst nichts dabei gedacht, aber dann hat er sie geküsst.“ Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Romy, ich hätte sofort zu dir kommen sollen, aber …“
„Aber deine Schwester und dein bester Freund stehen ein paar Stufen über mir“, beendete ich seinen Satz.
Er zuckte nur mit den Schultern.
„Was ist dann passiert?“
„Ich bin sofort zu ihm gegangen und habe ihm gedroht, dass ich dir und Hannes alles erzählen würde, wenn er sich weiter mit Mariella traf.“
„Und dann?“ Meine Hände zitterten. Enno hatte mich betrogen. Verstohlen sah ich zu Joey. Sie war ebenfalls eine andere Frau in Ennos Leben gewesen. Doch Mariella war die Schwester seines besten Freundes. Außerdem hast Enno mich zu einer Zeit betrogen, in der wir glücklich gewesen waren. Ich hatte damals eine lange Zukunft für unsere Beziehung gesehen. Er war der Mann gewesen, mit dem ich mein Leben hatte verbringen wollen.
„Ich habe sie in ihrer Wohnung überrascht. Etwa zehn Tage später.“
„Was haben sie gemacht?“ Ich musste ihm diese Frage stellen.
„Ist das wichtig?“
Ich nickte. „Ja, das ist es.“
„Sie hatten Sex.“ Er presste die Lippen aufeinander, während sich in mir etwas in die Bruchstücke zerteilte, die ich so mühsam zusammengesetzt hatte. Ich hatte wirklich gedacht, dass ich darüber hinweg war. Dass es mir nichts ausmachen würde.
Ich sah ihm dennoch fest in die Augen. Für eine kurze Zeit würde ich die Fassade aufrecht halten können. „Du hast es mir nicht erzählt.“
„Nein, ich habe es dir nicht erzählt.“ Er wirkte bedrückt.
„Warum nicht?“
Er zögerte. So lange, bis ich wütend seinen Namen zischte. „Matti.“ Der Keks in meiner Hand zerbröselte unter dem Druck, den meine Finger auf ihn ausübten.
Er atmete tief ein. „Es war nicht das erste Mal.“
„Es war nicht das erste Mal, dass er und Mariella etwas miteinander hatten?“ Ich klang fast schon verzweifelt.
„Nein.“
„Was dann, Matti?“
„Es war nicht das erste Mal, dass er dich betrogen hat.“
Ich ließ zu, dass die Anspannung sich aus meinem Körper löste und Überreste des Kekses auf die Tischplatte fielen. „Wie oft?“ Ich flüstere.
Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Romy, ich hätte es dir sagen sollen. Ich hätte … aber …“
„Geh.“ Meine Stimme war schwach, doch ich wusste, was ich wollte. Matti musste verschwinden.
„Bitte, Romy. Es tut mir leid. Ich …“
„Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“ Auch Joeys Stimme war dünn, doch sie schaffte es, aufzustehen, sich auf diese Weise über Matti zu erheben. Und endlich stand er selbst auf und ging mit langsamen Schritten aus dem Raum. „Ruf mich …“
„Sie wird dich nicht anrufen.“ Joey fand Stärke und ich fragte mich, was ihre Quelle dafür sein mochte. Sie folgte ihm aus dem Zimmer.
Ich selbst starrte verloren auf die Tischplatte und die Krümel, die mein Inneres so perfekt widerspiegelten. Eine Träne fiel darauf und ich wischte mit der Hand darüber, fegte die Überreste meines Lebens vom Tisch, stand auf und ging zu der Vitrine neben der Couch, um die Vodkaflasche herauszuholen.
Ich öffnete sie und trat mit ihr zum Tisch, als Joey zurück in den Raum kam. „Nein!“ Mit zwei schnellen Schritten war sie bei mir, riss mir die Flasche aus der Hand und funkelte mich wütend an. „Ich werde nicht zusehen, wie du dir von diesem Arschloch noch mehr Tage in deinem Leben zerstören lässt. Du wirst dein Leben nicht in den Dreck werfen, weil Enno ein Arschloch war.“ Sie schrie fast. In ihren Augen schimmerten Tränen. Ihre Reaktion war zu heftig für das, was sie und Enno geteilt hatten.
Ich presste die Lippen aufeinander, schob sie hin und her. Ich wollte ihr nicht recht geben. Ich wollte, dass es endlich aufhörte.
„Romy.“ Jetzt war ihre Stimme sanft. Sie änderte ihre Emotionen so schnell, als wären sie nicht echt.
„Lass mich endlich in Ruhe, Joey. Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle. Und du bist die Letzte, die mir vorschreiben darf, was ich denken soll oder wie ich diese Gedanken loswerde. Verstehst du das nicht?“ Ich hatte nicht laut gesprochen, aber jeden Zorn in meine Worte gelegt, den ich zwischen all den anderen Gefühlen hatte finden können. Enttäuschung, Einsamkeit, Hass, Scham, Trauer. Noch immer fühlte ich Trauer, wenn ich an Enno dachte.
Joey stand wie erstarrt vor mir.
„Ich will, dass du verschwindest.“ Ich atmete schwer, ballte die Fäuste und konnte mich nur dadurch aufrecht halten, indem ich mich auf sie fokussierte. Sie. Sie hatte alles zerstört. Daran wollte ich noch immer glauben. Ich klammerte mich seit über einem Jahr an den Gedanken, dass es Joey und Oscar gewesen waren, die unser Leben zu Asche hatten verbrennen lassen.