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Als der bayerische Märchenkönig Ludwig II. durch den Arzt Franz Carl Müller zufällig von dem delikaten Fall des Anastasius Rosenstengel erfährt, lässt ihn dessen eigentümliches Schicksal nicht mehr los. Er drängt den Mediziner, ihn in seine Recherchen einzuweihen, die Unglaubliches zutage fördern: Rosenstengel zog als Prophet umher, kämpfte als Musketier im Spanischen Erbfolgekrieg und heiratete mit kirchlichem Segen, um schließlich der Maskerade überführt zu werden – einer Maskerade, die alle Grenzen überschreitet. Denn Rosenstengel war in Wahrheit ein Weibsbild mit Namen Catharina Linck. Nachdem man auch noch eine "lederne Wurst" in ihrer Hose entdeckte, mit der sie die Ehe vollzogen und "unterschiedliche Wittwen caressiret" hatte, führte man sie 1721 dem Henker vor. Jedes Detail, das sich der faszinierte Monarch während nächtlicher Schlittenfahrten, in der Venusgrotte von Schloss Linderhof oder im tropischen Wintergarten der Münchner Residenz berichten lässt, bringt den jungen Arzt und den einsamen König einander näher, bald geraten beide in einen Strudel tiefer Verwirrung: Wo verläuft die Grenze zwischen wissenschaftlicher Leidenschaft und verbotenem Begehren, Täuschung und Wahrheit, Perversion und Normalität, Mann und Weib, König und Untertan? Die emotionale Verunsicherung steigert sich im Angesicht höfischer Intrigen zur ernsthaften Gefahr, und Müller steht vor der Entscheidung, den König entmündigen zu lassen – oder ihn vor den Verschwörern zu retten. Mal zärtlich, mal deftig entwirft Angela Steidele einen atemberaubenden historischen Briefroman über Trug, Wahn, Leidenschaft und Irrsinn. Und über die Frage, wie viel Liebe das Leben und wie viele Leben die Liebe fassen kann.
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Seitenzahl: 585
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»Ich bin mein Werk.«
Die Marquise de Merteuilan den Vicomte de Valmont
Gefährliche Liebschaften
ANGELA STEIDELE
Ein Manuskriptaus dem Umfeld Ludwig II.
Matthes & Seitz Berlin
Die nachfolgenden Dokumente entstammen einem Depositum, das der Nervenarzt Dr. Franz Carl Müller (1860–1913) im Historischen Archiv der Stadt Köln hinterlegt hatte; bei Drucklegung war nicht zu erfahren, ob die Unterlagen den Einsturz des Archivs am 3. März 2009 überstanden haben. Das umfangreiche Konvolut enthielt unbekannte Briefe von Ludwig II., dem bayerischen Märchenkönig, Elisabeth, Kaiserin von Österreich-Ungarn, und Bismarck, aber auch von dem großen Aufklärer Christian Thomasius und seinem pietistischen Gegenspieler August Hermann Francke, um nur die bekanntesten Persönlichkeiten zu nennen. Der Fund geschah zufällig, auf der Suche nach etwas anderem.
Vor einigen Jahren beschäftigte ich mich mit der Geschichte der weiblichen Homosexualität, die noch kaum erforscht ist.* Zu den wenigen Vorarbeiten gehört die Transkription einer Gerichtsakte von 1721, die ein gewisser F.C.Müller 1891 in Friedreich’s Blättern für gerichtliche Medicin unter dem Titel »Ein weiterer Fall von conträrer Sexualempfindung« veröffentlichte. Danach soll eine Catharina Margaretha Linck als Mann gelebt, in Halberstadt eine andere Frau geheiratet und die Ehe mittels einer »ledernen Wurst« vollzogen haben. Um diese schillernde Geschichte zu überprüfen, fragte ich im Geheimen Staatsarchiv in Berlin nach den Strafrechtsakten, die Müller vorgelegen haben mussten. Der Archivar brachte mir einen großen schweren Packen und betrachtete skeptisch die Schnur, die das Kraftpapier zusammenhielt. »So’n Knoten machen wa hier seit dem Krieg nich mehr.« Nachdem ich das Bündel vorsichtig aufgeschnürt hatte, stieß ich zuoberst auf einen angegilbten Besucherzettel von 1884: »Dr. Müller, München«. Zwischen all den Gerichtsakten über Diebstähle (häufig), Ehebrüche (noch häufiger) und Kindsmord (gelegentlich) fand sich jedoch keine Spur des Falles von Catharina Linck. Müller musste die Akte also aus dem Archiv entwendet – oder frei erfunden haben. Um die Authentizität des Falles Linck zu prüfen, musste ich die Identität des Autors klären.
Müller ist zwar kein dankbarer Name für Recherchen, doch ließ sich der Gesuchte dank seiner Publikationen zweifelsfrei ermitteln. Franz Carl Müller wurde 1860 geboren und studierte in Würzburg, München und Berlin Medizin. Kaum war er 1884 promoviert, wurde er Assistent des Münchner Obermedizinalrats Johann Bernhard Aloys von Gudden und Leibarzt Prinz Ottos, des geisteskranken Bruders des bayerischen Königs Ludwig II. Im Juni 1886 gehörte Müller der Abordnung von Ärzten und Pflegern an, die den entmachteten König nach Schloss Berg am Starnberger See begleitete – aus dem er anderntags die Leichen Ludwigs und Guddens zog. Im Tumult nach der Machtergreifung des Prinzregenten Luitpold veröffentlichte Müller ein 53 S. umfassendes Büchlein, Die letzten Tage König Ludwigs II. von Bayern. Nach eigenen Erlebnissen geschildert (1888, 3.Auflage noch im selben Jahr). Wegen seines Zerwürfnisses mit den Luitpoldianern zog er sich einige Jahre erst nach Berlin und dann als Chefarzt in die Nervenheilanstalt Alexandersbad im Fichtelgebirge zurück. Bevor Müller 1896 nach München zurückkehrte, wo er eine Praxis für Nervenheilkunde betrieb und schriftstellerte (Sexuelle Verbrechen und Verirrungen mit Rücksicht auf die moderne Gesetzgebung, 1912), deponierte er die hier veröffentlichten Unterlagen im Historischen Archiv der Stadt Köln, gesperrt für fünfzig Jahre nach seinem Tod. Welche Verbindungen er an den Rhein hatte, ist unklar; anzunehmen sind Kontakte zu Ärzten des Alexianer-Krankenhauses, die ihm das bedeutende Kölner Archiv genannt haben könnten. Nach Durchsicht des Konvoluts scheint mir, dass Müller die Papiere an einem neutralen Ort verwahrt wissen wollte, ohne selber über sie verfügen zu müssen.
Seit 1963 durfte das Depositum eingesehen werden, doch da der unbekannte Müller kein Interesse weckte, blätterte ich im Januar 2008 als Erste darin. Zuerst glaubte ich, die Handschriftensammlung eines Liebhabers entdeckt zu haben, die in den Archiven Mitteleuropas auf undurchsichtige Weise zusammengetragen worden war. Dann jedoch erkannte ich, dass Müller die Briefe, so disparat sie auf den ersten Blick inhaltlich und zeitlich erscheinen, sorgfältig nummeriert hatte. Es scheint also eine bewusste Komposition vorzuliegen, deren Deutung ich allerdings profunderen Kennern überlassen möchte. Ich habe mich darauf beschränkt, die Briefe weitgehend in ihrer originalen Schreibweise zu transkribieren, lediglich die Groß- und Kleinschreibung und die Zeichensetzung behutsam zu modernisieren sowie veraltete Manierismen – doppelte Bindestriche, Binnengroßbuchstaben bei Komposita usw. – stillschweigend aufzulösen. Der Anhang ergänzt die Quellen mit Kurzbiographien der Korrespondenten, einem Verzeichnis der Briefe sowie einer Bibliographie.
Zwei Wochen, nachdem ich die Transkription der Quellen abgeschlossen hatte, stürzte das Archivgebäude in den Kölner Untergrund. Müllers Depositum lagerte im 6. Obergeschoss, weshalb Hoffnung besteht, die Unterlagen eines Tages wieder der Öffentlichkeit und damit der Überprüfung zugänglich machen zu können. Da bis dahin jedoch vielleicht noch Jahrzehnte vergehen werden, habe ich mich entschlossen, diese einmaligen Dokumente heute schon der Öffentlichkeit zu übergeben.
Köln, zu Pfingsten 2015
Angela Steidele
* Angela Steidele: »Als wenn Du mein Geliebter wärest.« Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750–1850. Stuttgart, 2003.
Cölln, 20. Octobris 1711
Hochehrwürdiger Hochgeehrter
Insonders Hochgelehrter Herr Professor Francke
In Christo unserm getreuen Heiland sehr werther Lehrherr
Empfangen Hochehrwürden den hätzlischen Gruß unserer kleinen Lutherischen Gemeinde aus Cölln am Rhein, welcher Gott der Herr beliebet schwere Prüfungen auffzuerlegen. Da allhier der evangelische Gottesdienst strenge verboten, sind wir gezwungen, gantz geheim uns zu versammlen und entbehren bitterlich eines Pfarrherrn in unserer Mitten. Haben dahero beschlossen, Hochwürden von Ferne um Rath zu bitten, wie mit dem Trüppche Gottesfürchtiger und begeisterter Diener des Herrn zu verfahren, welche vor etlichen Wochen bettelnd und betend hier eingezogen und himmlischen Segen über uns ausgegossen, aber auch greulich Zwist zwischen uns gesäet.
Besagte Frembdlinge, vier Mannslück und drey Wiever, leben in tieffster Armuth, nähren sich nur von Almosen, weshalb sie gar oft der Hunger zwickt, und laden zu allerhand christlichen Versammlungen. Derselben Vorsteherin heißet Eva Langin, welche, ovschüns ein Weib, mit solch Inbrunst und Feuer betet, daß sie auch die ärchsten Zweiffler mitreißet. Als denn nun am dritten Tage nach deren Ankunfft eine große Stube voll Leute unsrer Gemeinde beysammen waren, trieben die liebreichen Vermahnungen der Langin derer Hertzen so in die Enge, daß sie manche Thränen vergoßen und gern und willig Sünden bekannten, welche sie zuvor lang entschuldiget und verläugnet. Da geschahe denn ein groß Wunder mitten unter uns. Ein bartlos Jüngelche von schöner Leibes Statur, Names Anastasius Rosenstengel, welcher mit der Langin zu uns kommen, ergreifft die Krafft des Geistes und verfällt derselbe in eine Entzückung.
Diese Außsprache vom Heiligen Geist geschahe also: Währendem Gebet klappet besagter Rosenstengel die Augendeckel auff und zu, schlucket und schmatzet, wieget den Kopf und stößet mit demselben gegen die Wand, stampfet mit dem Hingerdeil auf dem Stuhle und wältzet sich zuletzt auf der Erden, daß etliche von ihm weichen, andre ihm zu Hülffe eilen, wann nicht Eva Langin dieselben zurückgehalten. Darauff stehet Bruder Rosenstengel auff und spricht wie zu sich sälvs: »Herr, schließe mich auff, sage du Herr Jehowa die Worte.« Er haltet inne und lauschet. Sodann: »Er – er kommt.« Silentium. »So höret denn das Wort des Herrn, des dreymal-heiligen Gottes, welches Er jetzo verkündigen lässet! – Es kommet daher ein Ungewitter von Mitternacht. Weh, Weh, Weh dieser Stadt! Ja, Ja, Ja! die Verwüstung ist schon angeschrieben, und der Tag derselben schon benamset. An diesem Tag werden alle Brunnen der großen Tiefe aufbrechen und die Fenster des Himmels werden sich aufthun und ein Regen auf Erden kommen, wie er noch nie bezeuget und wird einen großen König ersäuffen. Wer sich aber abkehret von der Babylonischen Hur, dem will ich geben einen weißen Stein; auf dem Stein stehet aber ein neuer Name geschrieben, welchen niemand kennet als der ihn empfängt. Und ich werde seinen Namen nicht außtilgen aus dem Buch des Lebens. Ich, der Gott Jehowa, hat sich zu diesen Zeiten offenbahret, hat es geredet.« Darauff Rosenstengel allmählich wie aus einer tieffen Ohnmacht erwachet und mit englischem Lächeln fraget, was der Geist durch ihn gesprochen?
Die Worte, so ihr Fründ ausgeredet, sind von der Langin, welche geschwind Zeddelche und Bleystifft hervorgezogen, treulich nachgeschrieben worden, wie sie aus seinem Munde gefloßen. Alle Miversammleten sperrten Maul und Nase auff und verwundreten sich gar sehr, bis die Langin expliciret, der Heilige Geist habe durch Rosenstengel gesprochen und dem Hillije Cölle gefluchet, gleichwohl aber denen das ewige Leben versprochen, so wider den papistischen Sündenpfuhl. Wer jener König sey, wußte die Langin zwar auch nicht zu sagen, doch erklärete sie bestimmt, daß der Geist unsere Gemeinde gesegnet. Darauff erhelleten sich die Angesichter aller und wurde niemahlen das »Lob Gott« fröhlicher angestimmet.
Zeithero fließen die Hertzen und Lippen über in unserer kleinen Gemeinde und hat das Trüppche viel Segen unter uns gespendet. Wie wir nunmehro traut miteinander leben, verzällen die Langin und Consorten von ihrer weiten Bußreise, welche sie nebst vielen andern Orten auch nach Halle an der Saale Strand geführet, weshalb wir HochEhrwürden fragen wollen, ob dieselben Demselben in persona bekannt? Und ob das Trüppche daselbst ähnliche Wunder bewirket wie allhier, und ob Hochehrwürden solche billiget? Besagter Rosenstengel hat sich auff dem so genanndten Stroh-Hofe vor Halle dem Trüppche angeschlossen. Ob er von dort gebürtig, verschweiget er und spricht lieber von seiner geistlichen Wiedergeburt, welche auf der Bußreisen geschehen und zwar in Nürnberg, allwo sie vergeblich versuchet, den prophetischen Peruckenmacher Johann Tennhardt aus dem Loch zu befreyen. Ist dorten dann besagter Rosenstengel noch einmal getauffet worden, indem er vor einem großen herbeigelauffenen Hauffen von der Langin tieff ins Wasser der Pegnitz geführet und mit den Worten »Jehova Almajo Almejo« gantz untergetauchet worden. Gleich danach gab ihm die Langin ein zesamme gerolltes Zeddelche zu verschlucken, wobey sie die Worte »Jehova Almajo Almejo« nochmahls repetiret, ihm auch die Hände kreutzweis auf den Kopf geleget.
Diese Tauffe aber rufet in unsrer Gemeinde verschiedentlich Entsetzen hervor, wegen der Münsterischen Wiedertäuffer und weil es verboten, das Sacramentum der Tauffe zu widderholen, noch dazu durch ein Weib. Wollen dahero Hochwürden sorgsamst fragen, ob die abermalige Tauffe thatsächlich nöthig, weil ohne sie die Außsprache des Hl. Geistes nicht käme, wie Rosenstengel und die Langin sagen. Ueber diese Frage hat unsere Gemeinde zu disputiren anfangen und ist zerstöcklet in die, welche zu Rosenstengel halten, und jene, welche argwöhnen, derselbe verstellet sich und es sey Frevel, Betrug und Hokuspokus; haben auch schon die geringen Havsillichkeyten desselben heimlich nach Quackerpulver durchsuchet, aber nichts funden.
Wie Paulus die Römer und Corinther aus der Ferne im Glauben gestärcket, so erhoffen wir von Euer Hochwürden ein Rathbrief lein, wie mit dem Trüppche zu verfahren, wie die zweite Tauffe Rosenstengels und seine Außsprachen zu beurtheilen und wie Zwist, Zweiffel und große Glaubensnoth in unserer kleinen Gemeinde zu beheben.
Dem Hochgelehrten Herrn Professor ergebenste und treueste DienerConrad Elias Much und Jakob Heinrich EngelskirchenVorsteher und Ältester der Lutherischen Gemeinde zu Cölln
Den Brieff beschweren mit einem Thaler vor das Hällische Waysenhaus, von dessen Gedeihen wir gleichfalls neue Zeitung erbitten zur Stärckung im Glauben.
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