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Wäre sie ein Mann gewesen, müsste man sie Frauenheld nennen, Schwerenöter oder Heiratsschwindler, Lüstling, Wüstling oder einfach nur Schuft: Frauen pflasterten ihren Weg. Anne Lister (1791–1840) betete sie an, begehrte, belog und betrog sie, ging ihnen an die Wäsche und ans Geld. Noch unerhörter als ihr Liebesleben sind ihre Tagebücher: In pornografischer Deutlichkeit schildert die englische Landadlige ihre zahllosen Abenteuer, mal liebeskrank, mal zynisch, so fesselnd wie obszön, so verstörend wie amüsant. Anhand dieser einmaligen Quellen zeichnet Angela Steidele erstmalig das faszinierende Porträt einer schillernden Persönlichkeit, die allen Vorstellungen vom keuschen präviktorianischen Zeitalter widerspricht. Staunenswert, kurios, entwaffnend und hocherotisch.
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Seitenzahl: 586
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Angela Steidele
Die Frauen mögen michund haben mich immer gemocht undkeine hat mich je abgewiesen.
Anne Lister, 13. November 1816
Vorspiel oder:Anne Listers Tagebücher
Eliza 1791–1810
Isabella 1810–1813
Mariana 1813–1817
»Kallista« 1818–1819
Isabella, Mariana und Miss Vallance 1819–1822
Die Ladies von Llangollen 1822
»Frank« 1823
Mariana und Isabella 1823–1824
Maria 1824–1825
Mariana 1825–1826
Maria 1826–1827
Sibella 1828–1829
Vere 1829–1832
Ann 1832–1840
Nachbarinnen
Trennung
Heirat
Hochzeitsreise
In Shibden Hall
Frankreich
Die Brontës
Von Halifax nach Moskau
Von Moskau in den Kaukasus
Die Witwe
John, Muriel, Vivien, Phyllis, Helena, Jill und Angela
Nachspiel oder:Aus dem Leben eines Tagebuchs
Anhang
Zeittafel
Siglen
Bibliographie
Anmerkungen
Abbildungsverzeichnis
Dank
John Lister war sieben Jahre alt, als sein Vater Shibden Hall erbte. 1854 zog er mit seiner Familie in den alten Herrenhof bei Halifax in Yorkshire. Zwischen Walfischknochen, Tigerfellen und einem ausgestopften Krokodil wuchs John auf. Als er selbst Herr von Shibden Hall geworden war, sichtete er den Wust von alten Papieren, Urkunden und Briefen, die frühere Generationen hinterlassen hatten. Die 24 Diaries & Journals of Mrs Lister1 fesselten ihn besonders. Ihre marmorierten festen Einbände waren in zartes Kalbsleder eingeschlagen, die starken Blätter mit schwarzer Tinte in geraden Reihen ordentlich beschrieben. Dennoch war die winzige Schrift schwer zu lesen; Anne Lister hatte zahllose Abkürzungen benutzt, und manche Stellen hatte sie gar in einer Geheimschrift verfasst.
Was John entziffern konnte, faszinierte ihn. Anne Lister hatte sich politisch und gesellschaftlich engagiert und die »Literary and Philosophical Society« von Halifax mitbegründet, als einzige Frau. Ihr Tagebuch glich einer lokalhistorischen Schatztruhe. Im Halifax Guardian veröffentlichte John Lister daher eine Serie von Auszügen unter dem Titel »Social and Political Life in Halifax Fifty Years Ago«. Zwischen 1887 und 1892 erschienen 121 Folgen.
Was John nicht entziffern konnte, reizte ihn nicht weniger. Was mochte die Geheimschrift aus griechischen Buchstaben, numerischen und erfundenen Zeichen verbergen? Er bat einen Freund um Hilfe, den Antiquar Arthur Burrell, der aus der Häufigkeit ihres Auftretens und ihrer Platzierung in den jeweiligen Wörtern die Äquivalente für »h« und »e« erschloss. Wir untersuchten dann eine der Schachteln hinter dem Wandpaneel und inmitten eines Sammelsuriums von Urkunden fanden wir auf einem Zettel die Worte »Gott ist meine …«. Wir erkannten sofort, dass das folgende, chiffrierte Wort »hope« (»Hoffnung«) sein musste; »h« und »e« entsprachen meiner Vermutung. Mit diesen vier Buchstaben fingen wir sehr spät in der Nacht an, den Rest zu erschließen. Um 2 Uhr in der Frühe waren wir fertig. Der chiffrierte Text stellte sich – als gänzlich ungeeignet zur Veröffentlichung heraus.2 Es handelte sich um einen intimen Bericht über homosexuelle Handlungen zwischen Miss Lister und ihren vielen »Freundinnen«, von denen ihr kaum eine entkam.3 Jeder Eintrag in Anne Listers Tagebuch beginnt damit, ob und mit wem und wie oft sie am Vorabend Sex hatte und ob sich im Laufe der Nacht oder am Morgen Gleiches wiederholte. Anzahl und Qualität ihrer Orgasmen und der ihrer Partnerinnen notierte sie routinemäßig. Wachte sie alleine auf, vermerkte sie, ob sie sich selbst befriedigt hatte.
Burrell fand das äußerst widerlich4 und riet seinem Freund, die Tagebücher sofort zu verbrennen. John zögerte. Wenn auch an weitere Veröffentlichungen nicht mehr zu denken war, wollte er doch dieses einmalige Tagebuchwerk nicht vernichten. Er versteckte die Tagebücher in der Kammer, die neben Anne Listers Schlafzimmer lag und die sie wahrscheinlich als Arbeitszimmer benutzt hatte. Dort ließ er die Wandvertäfelung abnehmen und Regalbretter einbauen; sorgfältig stellte er die Tagebücher hinein und schob die Paneele wieder davor. Die Tür zu der Kammer ließ er mit einer Holzverkleidung unauffällig verschließen. Indem er das Fenster der Kammer jedoch beließ, stellte er sicher, dass spätere Besitzer sich wundern und das Closet entdecken mussten.
Nach seinem Tod fiel Shibden Hall an die Gemeinde Halifax, die das Haus in ein Museum verwandelte. Wie John Lister beabsichtigt hatte, wurden Anne Listers Tagebücher gefunden – und die geheimschriftlichen Passagen weckten abermals Neugier. Der Stadtbibliothekar Edward Green machte den alten Arthur Burrell ausfindig, der ihm zwar den Code aushändigte, ihn aber vor dem warnte, was der alte Stadtklatsch in Halifax noch von Miss Lister zu berichten hat.5 Wer sich vor 1980 mit Anne Lister beschäftigte, erhielt den Code, der im Safe der Stadtbibliothek von Halifax ruhte, musste jedoch versichern, unpassende Auszüge nicht zu veröffentlichen.6
Einhundert Jahre lang wusste nur eine Handvoll Bibliothekare und Archivarinnen in Halifax, was Anne Lister in Geheimschrift festgehalten hatte. Erst die Frauen- und Lesbenbewegung der 1970er und 1980er Jahre bereitete den Boden für die Editionen von Helena Whitbread (1988 und 1992) und Jill Liddington (1994, 1998 und 2003). Teile der britischen Öffentlichkeit reagierten schockiert. Fälschungsvorwürfe wurden laut, mussten jedoch wieder verstummen. Anne Listers Tagebücher widerlegten das von Elizabeth Mavor (1971) und Lillian Faderman (1981) begründete Konzept der keuschen »romantischen Frauenfreundschaft«. In Unkenntnis von veröffentlichten Gerichtsakten aus dem deutschsprachigen Raum, die »Unzucht zwischen Weibern« schon weit früher sexuell detailreich dokumentiert hatten,7 gewannen Anne Listers Tagebücher im angelsächsischen Raum den Rang eines echten Steins von Rosetta für die weibliche Homosexualität:8 Nie waren Frauen so prüde, enthaltsam, im Zweifelsfall aber heterosexuell, wie männliche Theoretiker der Weiblichkeit sie im 19. Jahrhundert beschrieben.
Mittlerweile haben fünf Generationen von Philologinnen und Editorinnen aus Halifax und Umgebung Jahre ihres Lebens damit verbracht, Anne Listers Klar- und Geheimschrift zu entziffern und eine schier unendliche Fülle von Material zu sichten. Trotz der umfangreichen Vorarbeiten fehlt nach wie vor eine Biographie Anne Listers. Mit größter Anerkennung und Dankbarkeit benutze ich die Transkriptionen und Editionen von John Lister, Muriel Green, Vivien Ingham, Phyllis Ramsden, Helena Whitbread und Jill Liddington (mehr zu ihnen ab S. 292). Dabei galt es, die eigentlich inkommensurable Tag-zu-Tag-Chronik Anne Listers zu destillieren und ihr unbotmäßiges Leben und Lieben erzählerisch zu erschließen. Über weite Strecken führt die Tagebuchautorin selbst das Wort, schrieb sie doch bewusst für die spätere Lektüre. Ich bin entschlossen, mein Leben nicht ohne ein persönliches Denkmal der Erinnerung vorüberziehen zu lassen, das ich einstens lesen werde, vielleicht mit einem Lächeln, wenn die Zeit jene Gefühle hat einfrieren lassen, die jetzt noch so munter sprudeln.9
Anne Lister war 14 oder 15 Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal verliebte. Mit der gleichaltrigen Eliza Raine besuchte sie dieselbe Klasse in der Manor House School in York. Beide Mädchen waren anders als die anderen. Eliza war in Madras geboren und hatte dunkle Haut und schwarze Haare. Anne trug abgewetzte Kleidung, wurde viel angestarrt und als ein Original gehänselt. War mir aber egal!1 Sie wollte mehr lernen als Mädchen eigentlich anstand und wurde der Salomon der Schule2 genannt.
Dass Anne dieses elitäre Internat besuchen konnte, verdankte sie ihrer Patentante Anne Lister senior, der jüngsten Schwester ihres Vaters Jeremy. Deren ältester Bruder, James Lister, hatte den Familiensitz Shibden Hall bei Halifax im Westen Yorkshires ungeteilt geerbt. Seine jüngeren Geschwister – John und Jeremy sowie Hannah, Phoebe, Martha und Anne sen. – waren fast leer ausgegangen. Ohne Mitgift konnte keine der Schwestern heiraten; alle vier blieben in Shibden Hall bei ihrem ältesten Bruder, der ebenfalls ledig blieb. Annes Vater Jeremy musste sich selbst versorgen. Er meldete sich zur Infanterie, wurde in die Kolonien nach Kanada geschickt und kämpfte 1775 in Lexington und Concord, Massachusetts, gegen die amerikanischen Aufständischen in der ersten Schlacht des Unabhängigkeitskriegs. 1783 kehrte er, zum Hauptmann befördert, mit den britischen Verlierern nach Hause zurück. 1788, mit 35 Jahren, heiratete er die 18-jährige Rebecca Battle, die Aussicht auf ein bescheidenes Erbe hatte. Während Jeremy in Irland – das damals noch ganz zum Vereinigten Königreich gehörte – seinem Dienst nachging, brachte Rebecca 1789 ihr erstes Kind zur Welt, einen Sohn, der bald wieder verstarb. Als Rebecca zum zweiten Mal schwanger war, luden ihre Schwägerinnen sie nach Halifax ein, wo sie am 3. April 1791 von einer Tochter entbunden wurde. Sie wurde nach ihrer 26-jährigen Patentante benannt, die mich auf ihrem Schoß hielt, kaum war ich geboren, die mir den ersten Bissen reichte, den ich je schmeckte, und die mich im christlichen Glauben erzog.3
Als Anne zwei Jahre alt war, kaufte Jeremy von Rebeccas Erbe in Market Weighton im Osten Yorkshires das bescheidene Skelfler House samt umliegendem Ackerland und zwei verpachteten Bauernhöfen. Jeremy hoffte, wie sein Bruder James von den Einkünften seines Grundbesitzes leben zu können. In der welligen Landschaft der Yorkshire Wolds verbrachte Anne die frühen Jahre ihrer Kindheit. Ein tüchtiger Streifzug durch die Felder sollte zeitlebens zu ihren größten Vergnügungen4 gehören. Sie bekam drei Brüder, Samuel, John und Jeremy, der ebenfalls schon im Säuglingsalter starb, sowie zuletzt noch eine Schwester. Als Marian 1798 geboren wurde, fiel auch noch etwas für die Siebenjährige ab; meine Mutter stillte mich, erinnerte Anne sich später. Sie hatte zu viel Milch. Ich mochte das über alle Maßen.5
Anderen Überfluss gab es nicht im Hause Lister. Jeremy verdiente nur wenig Geld. Hatte er welches, konnte er nicht damit umgehen. An den ruppigen Umgangston in der Armee gewöhnt, trug er Streitigkeiten zu Hause lautstark aus. Derweil entwickelte sich seine Älteste zu einem nicht zu bändigenden Wildfang.6Ich entkam meinem Kindermädchen und ging zum einfachen Volk. … Glaubte meine Mutter mich behütet, rannte ich abends weg. Sah mancherlei Sonderbares, liederliche Weiber usw.7Von der Wiege an war ich ein wunderliches Geschöpf, meinte sie später selbst, ein echtes Früchtchen. Weil sie zu Hause nicht mit mir zurechtkamen, wurde ich sehr früh zur Schule geschickt. Eigentlich lernten adlige und bürgerliche Mädchen Lesen und Schreiben zu Hause und besuchten frühestens mit zwölf Jahren ein Pensionat. Anne dagegen kam schon mit sieben Jahren nach Ripon in North Yorkshire in die Mädchenschule von Mrs Hague und Mrs Chettle. Zwei Jahre lang wurde ich jeden Tag gezüchtigt, nur manchmal in den Ferien nicht.8 Außer sehr gut zu pfeifen9 lernte sie in der Schule nichts. Statt in mein Buch zu schauen, redete ich immer mit den anderen Mädchen.10 Ihre Lehrerinnen nahmen sie als ein merkwürdiges Kind wahr, auch merkwürdig gekleidet, aber von vornehmem Aussehen, sehr aufgeweckt und eigenständig und über jede Lüge erhaben.11
Rebecca fand ihre älteste Tochter flatterhaft und zuweilen ein bisschen hochgestochen.12 Sie lernte weder kochen noch hauswirtschaften und ließ ihre Mutter am Waschtag mit der Magd allein. Einzig dem Umgang mit Nadel und Faden entkam Anne nicht, musste sie ihre abgetragenen Sachen doch selber flicken. Zum Leidwesen ihrer Mutter verweigerte sie die für Mädchen obligatorischen Häubchen und Schuten, deren seitlich tief heruntergezogene Krempe die Sicht stark einschränkte. War Anne in Shibden Hall zu Besuch, fragte Rebecca besorgt nach, wie ihre Tochter gekleidet sei. Onkel James und Patentante Anne kamen besser mit ihrer eigensinnigen Nichte zurecht. Anne hatte Respekt vor James, einem stillen Bücherliebhaber, und die kinderlose Anne sen. nahm ihre Nichte als Wahltochter an. Nach einem längeren Aufenthalt der Elfjährigen in Shibden Hall 1802 zog sie Ende August 1803 für fast zwölf Monate dort ein.
Manor House School, York, 1822 Kupferstich von Henry Cave
Shibden Hall wurde im frühen 15. Jahrhundert erbaut und fiel 1619 durch Heirat an die Familie Lister. Der Herrenhof, in Stein und Fachwerk ausgeführt und mit Steinplatten gedeckt, liegt auch heute noch etwas außerhalb von Halifax, inmitten der kargen Mittelgebirgslandschaft von »Englands Rückgrat«, des Pennine, dessen oben abgeflachte, oft moorige Bergrücken jäh zu den Tälern hin abfallen; die alte Straße, die an Shibden Hall vorbei hinunter nach Halifax führte, war so steil, so schroff und zuweilen auch so rutschig, dass Daniel Defoe sie für eine Stadt von solcher Geschäftigkeit für allzu beschwerlich und gefährlich13 hielt.
Halifax erlebte seit dem 18. Jahrhundert einen bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung, der die Landschaft und die Gesellschaft grundlegend veränderte. Technische Entwicklungen wie die Kammgarnspinnerei und der dampfgetriebene Webstuhl industrialisierten die Textilproduktion. Manchester, die Mutter des Baumwollhandels, war schon von Weitem an dicken schwarzen Rauchwolken und langen Backsteinkaminen14 zu erkennen. Von dort bauten Unternehmer von Halifax bis Bradford und Leeds entlang der Flusstäler große Werkshallen, die sogenannten Mills, in denen die feinen englischen Tuche hergestellt wurden; die verarmte Landbevölkerung strömte in Scharen in prosperierende Städte wie das zuvor unbedeutende Halifax, um Arbeit zu finden, wenn auch zu Hungerlöhnen. Mit ihrem zunehmenden Reichtum gewannen die bürgerlichen Unternehmerfamilien auch politischen Einfluss. Dass sich die Listers als bescheidener Landadel dennoch zur gesellschaftlichen Elite zählen durften, verdankten sie nur dem ehernen Klassensystem Englands. Annes zweiter Onkel, Joseph, handelte der Zeit gemäß mit Wollstoffen. Eine bessere Wahl hatte er allerdings mit seiner ersten Frau getroffen, die das große, elegante Northgate House unten in Halifax besaß.
Während sich im Tal der Manchester-Kapitalismus durchsetzte, wurde oben auf dem Berg Shibden Hall nach althergebrachter Art bewirtschaftet. Das zum Gut gehörende Land, vier Dutzend kleiner Äcker, keiner größer als zwei Hektar, war verpachtet. Ein Steinbruch, eine primitive kleine Kohlemine sowie eine Mühle brachten zusätzliche Einkünfte, dazu kamen Dividenden von Aktien des Turnpike Trusts (Straßenmaut) sowie der Calder and Hebble Navigation (Kanalgebühren). Die noch nicht zwölfjährige Anne schrieb ihren Eltern vom Einbringen des Hafers in Shibden Hall und versuchte sich an der politischen und soziohistorischen Bedeutung der Landwirtschaft, meines Lieblingsgegenstands.15 Unterrichtet wurde sie von den Schwestern Sarah und Grace Mellin. Außerdem nahm sie zweimal die Woche Gesangsunterricht beim Organisten der alten Gemeindekirche in Halifax. Musik ist mir lieber als Tanz.16
Nach einem einjährigen Zwischenspiel bei ihren Eltern und Geschwistern in Market Weighton, wo sie beim Dorfpfarrer Latein lernte, wechselte Anne 1805 oder 1806 an die Manor House School in York, die als eine der besten Mädchenschulen der Gegend galt. Das Internat belegte den Nordflügel des King’s Manor, im 13. Jahrhundert als Abtspalast erbaut, der heute einen Teil der Universität beherbergt. Mit 40 anderen Schülerinnen erhielt Anne Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen, Geometrie, Astronomie, Geographie, Geschichte und Wappenkunde. Zeichenunterricht erteilte der Künstler Joseph Halfpenny, der architektonische Detailzeichnungen von der berühmten Kathedrale Yorks veröffentlicht hatte, die zwei Minuten zu Fuß vom King’s Manor entfernt liegt. Größeres Talent zeigte Anne aber in der Musik. Täglich übte sie Flöte und Hammerklavier; im größten Übermut haute sie auch gern buchstäblich auf die Pauke.17
In der Manor House School setzte Anne auf eigenen Wunsch ihren ungewöhnlichen Lateinunterricht mit acht Stunden pro Woche fort. Wenn sie auch als Mädchen keine reguläre Grammar-school besuchen konnte, wollte sie doch wie ihre Brüder die Grundsprache aller Wissenschaften erlernen. Was über mich gesagt wird, ist mir vollkommen egal, behauptete sie. Für ein bisschen verrückt gehalten zu werden, macht mir keinen Kummer, solange ich mir selber meines mens sana und mens recta sicher bin.18 Sie schlief nicht in einem der Schlafsäle, sondern in einem Dachstübchen, das sie mit nur einem weiteren Mädchen teilte: Eliza Raine.
Für Anne und ihre Mitschülerinnen mag Eliza der erste Mensch aus einem anderen Erdteil gewesen sein, den sie zu Gesicht bekamen. Elizas Vater William Raine war Chefarzt im Krankenhaus von Madras gewesen, dem heutigen Chennai an der Südostküste Indiens. Mit einer namentlich nicht bekannten Inderin hatte er zwei Töchter, Jane und Eliza. Beide wurden getauft und galten als illegitime, aber britische Kinder ihres Vaters. Mit ihrer Mutter und den Dienern sprachen sie Tamil, mit dem Vater und seinen Freunden Englisch. Zu Letzteren gehörte William Raines Kollege William Duffin. Er und seine Frau hatten keine Kinder und schlossen die beiden Raine-Mädchen ins Herz. 1797 machte Duffin Raine zu seinem Nachfolger als Oberster Medizinalrat in Madras und kehrte in sein heimatliches York zurück. Als William Raine nur drei Jahre später starb, holte William Duffin als Nachlassverwalter seines Freundes Eliza und Jane zu sich nach York. Beide besuchten die Manor School, wo Eliza auch wohnte, während Jane bei den Duffins in 58 Micklegate einzog. Für beide Mädchen ruhten bei einer Bank in London je 4000 £. Das Kapital, von dessen Zinsen man leben konnte, sollte ihnen bei der Heirat bzw. bei der Volljährigkeit mit 21 Jahren zufallen. Mögen sie finanziell auch als gute Partien gegolten haben – als sogenannte farbige Bastarde wurden sie gesellschaftlich nicht akzeptiert.
Anne war betört von Elizas Schönheit; dreißig Jahre und zahllose Geliebte später nannte sie sie immer noch das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe.19 Anne half Eliza, die lieber Französisch und Zeichnen lernte, in Mathematik. Vielleicht war es reiner Zufall, dass die beiden in einer Kammer untergebracht wurden. Vielleicht sonderte die Schulleitung auch zwei Mädchen aus, die nicht wirklich in das vornehme Pensionat passten. Wie auch immer – Anne und Eliza lernten, die Zweisamkeit in ihrer Kammer zu genießen. Ich empfand mein Verhalten und meine Gefühle als natürlich, da sie nicht angelernt oder fingiert waren, sondern angeboren.20Ich war schon immer so, seit meiner Kindheit. … Ich war nie anders & konnte dem mit keiner Anstrengung gegensteuern.21
Eliza und Anne schworen einander, immer zusammenzubleiben. Sowie Eliza in sechs Jahren ihr Vermögen erhalten hatte, wollten sie zusammenleben. Ringe besiegelten ihr Versprechen. Auch in den Ferien wollten sie sich nicht trennen und besuchten gemeinsam Annes Eltern, die nun in Halifax ein Haus gemietet hatten, da Skelfler House nicht mehr so hübsch war wie früher.22 Jeremy hatte mittlerweile seinen Dienst bei der Armee quittiert. In Annes Familie wurde Eliza freundlich aufgenommen. Wie in der Manor School teilten sich Anne und Eliza auch bei den Listers nicht nur aus praktischen Gründen Zimmer und Bett. Besessen von der Jungfräulichkeit, glaubte man junge Mädchen am besten von einer engen Freundin vor männlicher Verführung beschützt, weil sie das Herz besetzte und das Bett belegte. Mädchen und Frauen wie Anne Lister und Eliza Raine eröffnete die elterliche Panik viele Freiheiten.
Anne Listers Tagebuch beginnt im August 1806 mit einer Liste ihres Briefwechsels mit Eliza.
Nach den gemeinsamen Sommerferien kehrte nur Eliza nach York in die Manor School zurück. Anne Lister soll der Schule verwiesen worden sein, was allerdings nicht belegt ist. Oder konnte sich Tante Anne das Schuldgeld für ihre Nichte nicht mehr leisten? Bis zum Wiedersehen verabredeten die Mädchen, einander regelmäßig zu schreiben. Um sicherzugehen, dass jeder Brief auch ankam und nicht in fremde Hände fiel, protokollierte Anne ihre Korrespondenz. Diese Liste ist der Beginn ihres Tagebuchs.
Am Montag, den 11. August reiste Eliza ab. Am Mittwochmorgen bekam ich einen Brief von ihr via Mr Ratcliffe vom 13. d. M.
Ich schrieb ihr am Donnerstag, den 14. via Mr. Lund.
Schrieb ihr abermals am Sonntag, den 17., am darauffolgenden Montag in Leeds auf die Post gegeben – an eben dem Abend des 18. bekam ich ein Päckchen von ihr – mit Noten, einem Brief & Lavendel.23
Ohne Eliza tröstete sich Anne mit ihrem Lieblingsbruder Samuel über die täglichen Unannehmlichkeiten, die unsere unglückliche Familie auf ewig heimsuchen.24 Am liebsten maß Anne sich mit dem zwei Jahre jüngeren Sam in »männlichen« Künsten: Schach, Fechten mit Holzschwertern oder Übersetzungen aus dem Lateinischen. Sie gewann immer. Doch schließlich kehrten auch der dreizehnjährige Samuel und der elfjährige John in ihr Internat in Bradford zurück. Da einer von ihnen eines Tages Shibden Hall erben würde, ließ Onkel James sie gut ausbilden und bezahlte ihr Schulgeld.
Da Anne als Mädchen eine formale Bildung versagt war, belegte sie im Herbst 1806 in Halifax bei dem Theologen Samuel Knight Tutorien in Algebra, Rhetorik und alten Sprachen – allesamt Fächer, die einem angehenden Gentleman gut anstanden, nicht jedoch einem jungen Mädchen. Während Anne das griechische Alphabet übte, schrieb sie auf der Liste mit den Briefen von und an Eliza die Daten und Zeitangaben gelegentlich in griechischen Buchstaben, also etwa »Συνδαι Νοον« für »Sunday Noon«, »Sonntag Mittag«.25 Im Oktober schrieb sie eine erste Notiz auf Englisch in griechischen Buchstaben: über ihre Korrespondenz mit Eliza, ihre Studien bei Mr Knight und ihre Menstruation.
Anne lernte mit dem Neuen Testament Griechisch, doch schon 1807 beschäftigte sie sich mit Demosthenes und noch ein Jahr später mit Homer, Xenophon und Sophokles; außerdem las sie die lateinischen Oden von Horaz. Das Studium der klassischen Antike reizte sie nicht nur, weil sie zum Bildungsprogramm junger Männer gehörte; Anne merkte bald, dass die antike Literatur Erotik und Begehren in allen seinen Erscheinungen verherrlichte (und verlachte), ohne christliche Moral. Da zeitgenössische Übersetzungen Obszönes zensierten, blieb Anne gar nichts anderes übrig, als sich die antike Dichtung im Original anzueignen. Während ihrer Lektüren erstellte sie eine Liste26 mit Worterklärungen zu Klitoris, Päderasten, Eunuchen, Hermaphroditen und Tribaden. In Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1695–1697, englisch 1738) stieß sie auf den Lexikoneintrag von Sappho; man muß wissen, daß sich ihre verliebte Leidenschaft, auch auf das Frauenzimmer erstrecket hat. Laut Lukian seien die Frauen auf der Insel Lesbos … dieser Leidenschaft sehr unterworfen gewesen und Sappho sei für eine berühmte Unzüchtige, mit ihrem eigenen Geschlechte gehalten worden.27 Anne fand Bayles umfangreichen Artikel äußerst interessant28 und ging systematisch seinen Literaturhinweisen bei Horaz, Juvenal und Martial nach.
Von Letzterem stammen zwei berüchtigte Epigramme über Frauen begehrende Frauen, etwa über eine gewisse Bassa, die in der Öffentlichkeit keusch und unnahbar tue, heimlich aber Frauen ficke; ein anderes Verb würde dem Original nicht gerecht, in dem Bassa andere Frauen mit ihrer prodigiosa Venus29 penetriert, also ihrer ungeheuerlichen Klitoris. Anne verstand darunter einen Dildo, den sie ebenfalls in antiken Schriften kennengelernt hatte.30 Ein zweites Epigramm Martials handelt von einer Philaenis,
wilder noch in ihrer Geilheit als ein Ehemann,
besorgt sie’s elf Mädchen an einem Tag.
Auch mit dem Fangball spielt sie aufgeschürzt,
wird staubig-gelb vom Sand und schwingt mit leichtem Arm
Hanteln herum, die schwer für Muskelprotze sind,
und, dreckbeschmiert vom staubigen Ringplatz,
läßt sie sich von ihrem öltriefenden Trainer durchwalken;
sie diniert nicht, liegt nicht zu Tische, bevor sie
sieben Becher puren Wein wieder ausgekotzt hat;
denen glaubt sie sich dann wieder zuwenden zu dürfen,
wenn sie sechzehn Lendenstücke vertilgt hat.
Wenn sie nach all dem die Lust packt,
leckt sie nicht – das wär’ ihr nicht männlich genug –
sondern frißt völlig in der Mitte auf – die Mädchen.
Mögen die Götter dir deinen Teil an Verstand geben, Philaenis,
wenn du meinst, die Möse zu lecken sei männlich.31
Nirgendwo sonst bekam ein anständiges englisches Mädchen im frühen 19. Jahrhundert so etwas zu lesen. Von der impliziten Frauenfeindlichkeit der Antike ließ sich Anne Lister dabei nicht irritieren. Für sie beglaubigten »Bassa« und »Philaenis« die Existenz von Frauen, die Frauen begehren, und bestätigten somit ihre eigenen Gefühle. Tatsächlich verstand sie Martials erotische Dichtung genau so, wie sie verstanden werden will: Sie las die Bücher »mit einer Hand«, um es mit Rousseau zu sagen: An den Rand mehrerer Tagebucheinträge, die von ihren klassischen Lektüren handeln, machte sie ein »X« für Selbstbefriedigung.32Ein Kreuz auf mich geladen (»incurred a cross«),33 nannte sie das selbst.
Solcherart euphorisiert forderte Anne Eliza auf, ebenfalls Latein und Griechisch zu lernen. Sie knittelte ihr ein holprig lustiges Gedicht zusammen (Heil dir! Du lieblich reizend Schöne) und sang als dezidiert männlicher Dichter Eliza ein amazonenhaftes Loblied: Wie die männerlosen Kriegerinnen der Antike solle auch Eliza Nadel und Spinnrocken fallen lassen, außerdem
Puddings und Tortenschlachten,
ja den heißgeliebten Käsekuchen samt Quark verachten und stattdessen Grammatik und Vokabeln büffeln, um sich bei Anakreon, Vergil und Horaz erotisch weiterzubilden: Mit solchen Kenntnissen wirst du dir Geliebte gewinnen.34
Eliza hatte andere Sorgen. Ihre Schwester Jane glaubte, in einem gewissen Henry Boulton den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Er war schon in Kalkutta gewesen, schwärmte wie Jane für Indien und wollte bald wieder dahin auf brechen. Boulton war der vierte Sohn seines Vaters, konnte daher wie Jeremy Lister auf kein Erbe hoffen und musste sein Glück beim Militär suchen. Trotz der eindringlichen Warnungen ihres Ziehvaters William Duffin heiratete Jane Henry Boulton im Mai 1808 und segelte mit ihm nach Indien. Gegenüber Anne ließ Eliza ihrem Zorn über die Schlechtigkeit der Männer freien Lauf. Anne antwortete mit einer Anekdote von Mme Théroigne de Méricourt; die »Amazone der Französischen Revolution« hatte für die Bewaffnung von Frauen gekämpft und selbst Gebrauch davon gemacht. Sie war ein verschworenes Mädchen, das eine der ausgezeichnetsten Frauen Frankreichs gewesen wäre, hätte sie die sanftere Anmut und gewinnenden Reize, die ihr gänzlich eigen waren, nicht vollständig verachtet. Als nämlich ein junger Mann, ihr in Liebe zugetan, sie um ihre Hand bat, hielt sie ihm eine Pistole vor die Brust und drohte abzudrücken, sollte er je wieder darauf zurückkommen.35
In diesem Jahr kam Eliza Ende Juli nach Halifax und half den Listers beim Umzug. Die Familie konnte sich das bisherige Haus nicht länger leisten und musste in ein kleineres am nördlichen Stadtrand ziehen. Samuel verlachte das winzige Zimmer seiner Schwester Anne dort als Hundehütte.36 Eliza zog mit in die enge Kammer, in der die beiden Siebzehnjährigen sehr glücklich wurden, und zwar zu allen Stunden des Tages: felix um 8 Uhr oder Felix am Nachmittag,37 notierte Anne. Inspiriert von ihrem Studium der klassischen Sprachen erfand sie eine erste Chiffre.
Anne musste davon ausgehen, dass die losen Blätter, die sie beschrieb, Neugierde weckten. Selbst in einer abschließbaren Schublade wären sie vor den anderen nicht sicher gewesen. Wollte sie ausnahmslos alles aufschreiben, was sie bewegte und erlebte, musste Anne Verstecke in der Sprache oder in der Schrift finden. Ihre Mutter Rebecca beherrschte zwar kein Latein, ihr Bruder Samuel jedoch hätte erahnen können, was sich hinter »felix« verbarg. Anne entwarf daher in diesem Sommer ihre Geheimschrift. Die griechischen Buchstaben, in denen sie schon manchen Eintrag geschrieben hatte, konnten zwar nur wenige Menschen ihrer Umgebung entziffern, wirklich sicher waren sie jedoch auch nicht. Anne gab daher die schlichte phonetische Übertragung der englischen Sprache in das griechische Alphabet auf und ordnete stattdessen einige Buchstaben willkürlich zu: statt »h« schrieb sie »θ« (theta), und »l« wurde zu »δ« (delta).38 Eliza eignete sich die Geheimschrift an und nutzte sie ebenfalls für ihr Tagebuch, das sie auf Annes Anregung zu führen begann. Wenig später perfektionierte Anne den Code, indem sie mathematische Symbole sowie selbst erfundene Zeichen für einzelne Buchstaben einführte, keinen Freiraum zwischen den Wörtern ließ und auch ganze Wörter mit nur einem Zeichen chiffrierte. Sie hielt ihre Geheimschrift für quasi nicht zu entschlüsseln und rühmte sich der Leichtigkeit, mit der ich sie benutze.39
Brief von Anne Lister an Eliza Raine, 21. Februar 1808 So einfach zu lesen war Anne Listers Schrift später nicht mehr.
Nach glücklichen Tagen in der »Hundehütte« begleitete Anne Eliza im September 1808 nach Scarborough an der felsigen Steilküste Yorkshires, wo ihr Onkel James Raine mit seiner Frau und vier kleinen Kindern lebte. Ferien bei Verwandten oder Freunden waren die einzigen Reisen, die mittellose junge Frauen unternehmen konnten. Drei Wochen blieben Anne und Eliza in dem damals mondänen Seebad, dem ersten seiner Art. Zurück in Halifax stellte Anne Eliza ihre Klavierschülerin Maria Alexander vor. Zu zweit und zu dritt wurde heftig geflirtet. Schließlich gestand Anne Maria, dass sie verliebt sei, sagte aber nicht in wen. Sie könnte Eliza gemeint haben – vielleicht aber auch Maria. Denn Anne zog nach dem Tee, auf Elizas Aufforderung, Miss A auf meinen Schoß, küsste [sie].40 Weihten Anne und Eliza Maria in ihr Geheimnis ein? Fühlte sich Eliza ihrer Anne so sicher, dass sie ihr einen Flirt gönnte? Oder log Anne in ihrem Tagebuch und Eliza forderte sie zu diesem Kuss gar nicht auf? Dass sie stets völlig aufrichtig auch zu sich selbst war, ist nicht anzunehmen. Beschönigung und Selbsttäuschung gehören zu den Fallstricken, wenn nicht gar Voraussetzungen jedes Tagebuchs.
Im Frühjahr 1809 wurde der Briefwechsel zwischen Anne und Eliza unregelmäßiger. Der Kuss zwischen Anne und ihrer Klavierschülerin scheint nicht folgenlos geblieben zu sein. Zum Verdruss ihres Vaters verbrachte Anne viel Zeit bei Maria Alexander und deren nicht standesgemäßer Familie. Ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Beziehung zu Eliza hatte Anne nicht. Nichts ist praktischer und geräumiger als mein Herz. Es lässt neue Eindrücke zu, ohne die alten zu bedrängen oder zu inkommodieren, und alles behält seinen Platz.41 Während sie mit Maria Alexander turtelte, schmiedete sie Verse auf Eliza –
Doch hätscheln muss und werd ich dich
Niemand liebt dich so wie ich
Auch wenn mein Herz du bluten lässt
Dich, sonst niemand, halt ich fest.42
und übte in ihren seltenen Briefen an die erste Geliebte Liebesrhetorik. Beim milden Mondenschein rief ihr das Murmeln eines Bachs tausend wohlige Bilder von Eliza ins Gedächtnis. Hier wende ich meine Augen zu meinem Bett. In wenigen Jahren, die das Vertrauen in deine Liebe verkürzen wird, wirst du, so hoffe ich, es mit mir teilen und damit alle meine irdischen Wünsche erfüllen. Anne schickte das Blatt nur halb beschrieben ab. Eliza verstand die Aufforderung und schrieb unter Annes Zeilen, nicht zu wissen, wie sie die Zeit herumbringen solle, bis sie sich ganz mit Anne vereinigen könne. Ich werde dir immer jeden Gedanken und noch den allerletzten Wunsch mitteilen – Du doch auch?43
Eliza spürte, dass sich zwischen ihr und Anne etwas verändert hatte. Um der Geliebten wieder näherzukommen, überredete sie ihren Ziehvater William Duffin in York, sie für die winterliche Konzert- und Ballsaison zu sich einzuladen und sie beide zusammen in die Gesellschaft einzuführen. Diese Aussicht war für die sehr bescheiden lebende Anne umso verlockender, als sie sich öfters denn je mit ihren Eltern stritt. Ihr Vater wollte nicht dulden, dass seine mittlerweile heiratsfähige Tochter in Stadt und Feld und selbst bei tiefster Nacht alleine herumstromerte. Einen gewissen Captain Bourne hatte Anne sogar in seinem Zimmer besucht, um sich seine Pistolen zeigen zu lassen; wer sie nicht kennt, verurteilt sie deswegen, stellte eine Dame aus Halifax fest, mit Bedauern, denn sie ist eine so angenehme Gesprächspartnerin, dass ich selbst darüber hinwegsehen kann.44
Voller Vorfreude kündigte sich Anne daher für den 1. Dezember 1809 an. Ich verspreche, dich weder mit Schwertern noch Pistolen zu erschrecken und auch nicht wie Orpheus das ganze Haus mit Musik verrückt zu machen. Keine Flöte, keine Pfeifen, keine Pauken sollen dich stören und auch die Nachbarschaft soll durch mein Getöse nicht vor Schreck erstarren. Unverblümt schrieb sie Eliza auch von ihrer Freude, in deinem Zimmer zu schlafen, und frohlockte, bald, sehr bald, so hoffe ich, werde ich dir auf lustvollere Weise mitteilen, was die Zunge besser kann als die Feder. Ich sehne mich danach, deinen Lippen meine Gefühle, die auf dem Papier kalt erscheinen, wahrhaftig und heiß aufzudrücken.45
In den ersten fünf Wochen genossen Anne und Eliza die Season in York. Die altehrwürdige, von den Römern gegründete Stadt galt als die Hauptstadt des Nordens, die damals noch im Wettbewerb mit London stand. Während Bradford, Leeds und Manchester erst in den kommenden Jahrzehnten zu ihrer industriellen Bedeutung und Größe heranwuchsen, blieb York das historische, kulturelle, administrative, bürgerliche, kirchliche und militärische Zentrum des Nordens. Von weither strömten die Gäste zu den Konzerten, Ausstellungen, Bällen und Galas. Anne und Eliza erlebten am 22. Dezember die Primadonna assoluta Angelica Catalani, der damals England, ja ganz Europa zu Füßen lag. Zum ersten Mal streifte Anne Lister ein Hauch der großen weiten Welt.
Anfang 1810 bereitete die Grippe der Festsaison ein jähes Ende. Obwohl sie selbst erkrankt war, eilte Anne zurück nach Halifax, wo ihr Bruder John um sein Leben rang. Sie pflegte ihn und teilte sich mit Samuel die Nachtwachen. Doch nach einer Woche starb John, am 24. Januar 1810 nachts um 3 Uhr, kurz vor seinem 15. Geburtstag. Samuel war jetzt der einzige männliche Erbe der Listers von Shibden Hall.
Nachdem sie ihren eigenen Infekt mit Senfpflastern kuriert hatte, kehrte Anne nach York zu Eliza und den Duffins zurück. Doch einen Monat später hieß es Abschied nehmen. Eliza musste nach dem testamentarischen Willen ihres Vaters nach ihrer Schulausbildung bis zu ihrer Eheschließung bei einer 35 Jahre älteren, kränklichen und reizbaren Cousine in Doncaster im Süden Yorkshires leben. Lady Crawfurd bestand auf Elizas Kommen, hatte William Raine ihr doch eine Rente von 170 £ jährlich erteilt, wenn sie seine Tochter bei sich aufnahm. Die Lady konnte das Geld gut gebrauchen; seit der Scheidung von ihrem Mann musste sie von 130 £ Unterhalt jährlich leben. Obwohl Eliza sich fest vorgenommen hatte, mit ihrer Cousine gut auszukommen, brach schon nach einer Woche Streit aus. Ging ihr irgendeine häusliche oder andere Angelegenheit nur im Geringsten gegen den Strich, hackte sie auf mir herum und ließ ihrem Ärger und Verdruss, ja, ihrer Gehässigkeit freien Lauf.46 Eliza verstand jetzt, weshalb ihre Schwester, die ebenfalls nach dem Schulabschluss bei Lady Crawfurd eingezogen war, so überstürzt geheiratet hatte.
Janes Ehe war in der Zwischenzeit zerbrochen. Sowie sich Henry Boulton von den 4.000 £ seiner Frau in Kalkutta auch beruflich eingerichtet hatte, setzte er sie vor die Tür. Mittellos und ohne Begleitung kehrte sie nach England zurück. Die Fahrt dauerte neun Monate; in Frankreich wurde die britische Inderin festgehalten. Als sie englischen Boden betrat, war sie schwanger. War sie unterwegs vergewaltigt worden oder hatte sie sich prostituieren müssen? Für die feine englische Gesellschaft spielte weder der Unterschied eine Rolle noch das Unrecht, das Henry Boulton ihr angetan hatte: Sie wurde ausgestoßen, nicht er. Inständig bat Eliza Anne um Fürsprache für ihre Schwester bei Mr Duffin. Er sorgte zwar dafür, dass die Rückkehrerin bei einem seiner Freunde entbinden konnte; in York blicken lassen durfte sie sich aber nie wieder, und Eliza und Anne wurden gehalten, sie fortan zu meiden.
In ihrem unfreiwilligen Doncaster Exil fühlte sich Eliza zuweilen wie betäubt vor Sehnsucht nach deiner Gesellschaft. Sie schrieb Anne Brief um Brief und bettelte um wenigstens kurze Antworten47 von ihrem lieben Lister, wie sie ihren »Mann« mittlerweile nannte. Deine Nachlässigkeit enttäuscht mich über alle Maßen, beklagte sich Eliza, wenn dir meine Gefühle irgendetwas bedeuten, antworte mir postwendend, sag mir, weshalb du mich so vergessen hast.48 Auf diesen viele Seiten langen Brandbrief antwortete Anne, sie habe nie Post von Eliza erhalten. Eliza durchschaute Annes Lüge, schrieb aber doch: Höre ich je auf, dich zu lieben, höre ich auf zu leben.49
Wie verabredet traf Anne am 30. April 1810 zu einem Besuch bei Eliza in Doncaster ein. Nur vier Tage später verdächtigte Lady Crawfurd die beiden, etwas gegen sie im Schilde zu führen. Noch Jahre später sollte Lady Crawfurd Anne Lister als den leibhaftigen Teufel50 bezeichnen. Anne brach ihren Aufenthalt schon nach einer Woche ab. Glaube mir, lieber L, dieser Vorfall hat mich mehr geschmerzt als all die Beleidigungen und unbeherrschten Wutausbrüche, die sie mir hat angedeihen lassen.51 Nach eisigem Schweigen erklärte Eliza Lady Crawfurd am 10. Mai ihre feste Absicht sie zu verlassen, worauf sie mich unterbrach und sich einverstanden erklärte.52
Doch wo sollte sie hin? Zurück in York beschrieb Anne Mr Duffin Elizas Martyrium bei Lady Crawfurd. In Halifax wandte sie sich an ihre frühere Lehrerin Miss Mellin, und bat für Eliza um einen Platz in ihrer Schule einschließlich Kost und Logis. Anne tat alles, um Eliza zu helfen und sie zugleich elegant loszuwerden.
Während Eliza in Doncaster nervös darauf wartete, von Lady Crawfurd erlöst zu werden, schwante ihr der Grund für Annes Schreibfaulheit. Hat York, meine liebe Freundin, mich aus deiner Erinnerung verbannt? Ich kann es nicht glauben. Nichts, so hoffe ich, wird dich je dazu verleiten, mir Freuden zu versagen. Du weißt gar nicht, wie weh du mir tust.1 Was Eliza ahnungsvoll »York« nannte, hieß tatsächlich Isabella Norcliffe. Sie war sechs Jahre älter als Anne und stammte aus einer vornehmen und wohlhabenden Familie. Ihre größte Leidenschaft galt dem Theater. Isabella besuchte jede neue Produktion und hatte selbst eine sicherlich erstklassige Begabung2 für das Schauspielern. Anne führte sie einmal vor, wie der berühmte Talma Hamlet gespielt hatte. Das eigentliche Habitat Isabellas war jedoch das Land. »Tib«, wie sie mit Spitznamen genannt wurde, war eine gute Reiterin, die die 25 km von York zum Landsitz der Norcliffes Langton Hall in einem Morgenritt bewältigte und auch eine Kutsche souverän lenken konnte. Am liebsten ging Isabella mit ihrem Vater, dem sie bis aufs Haar glich,3 frühmorgens auf die Pirsch, aber sie mochte auch Hetzjagden in großer Gesellschaft. Alle meine Gedanken und Träume gelten nur noch Pferden, Hasen und Windhunden. … Noch bin ich nicht aus dem Sattel gestürzt und daher sehr mutig.4 Wie Anne, die mit einer Pistole unter dem Kopf kissen schlief, liebte Isabella Schusswaffen. Unsere Anlagen harmonieren perfekt, stellte Anne fest, wir sind uns von Natur aus ziemlich ähnlich.5
Nachdem Anne in einem Brief an Eliza erstmals Isabellas Namen hatte fallen lassen, versuchte die verlassene Geliebte, ihre Eifersucht zu überspielen. Ich freue mich, dass du in Miss Norcliffe eine so liebenswürdige Gefährtin gefunden hast. Ich habe nie daran gezweifelt, dass du überall Freunde finden wirst.6Ich halte mich deiner Zuneigung und Liebe für wert, betonte sie, und fügte hinzu, ich nehme an, dass du manchmal freundlich an mich denkst und mir nur Gutes wünschst.7 Elizas Schmeicheleien entlockten Anne jedoch keine glühenden Liebesschwüre mehr. Darauf erinnerte Eliza Anne daran, dass der Tag kommen wird, an dem ich dir endlich meine Dankbarkeit handfester beweisen kann als nur mit Worten.8 Doch weder die Anspielungen auf ihr sexuelles Verhältnis noch auf ihre 4.000 £ brachten Anne dazu, in Elizas Lamento über ihre räumliche Trennung einzustimmen, zu glücklich, fröhlich und heiter9 fühlte sie sich in York, wo sie zwischen dem Haus der Duffins in der Micklegate und dem der Norcliffes in der Petergate gleich beim Minster hin- und herpendelte.
Die Duffins – beide weit in ihren Sechzigern – mochten Anne und nahmen sie Ende Mai 1810 mit in die Sommerfrische in ihr Red House in Nunmonkton etwas außerhalb von York. Mit von der Partie war auch die unverheiratete Anfangsdreißigerin Mary Jane Marsh, als Gesellschafterin der kränklichen Mrs Duffin und als Geliebte von Mr Duffin. Bald traf auch Eliza ein. Kaum hatte sie die Nachricht von Miss Mellin erhalten, kommen zu dürfen, schickte sie unter Lady Crawfurds Verwünschungen ihre Sachen nach Halifax und gesellte sich zu ihren Pflegeeltern und ihrer Geliebten. Die störte sich jedoch an Elizas Niedergeschlagenheit, die sie selbst mitverschuldet hatte. Nichts wundert mich mehr, als dass eine verständige und vernünftige Person üble Laune haben sollte. Eine Anlage zu Missmut hat man nicht von Natur aus, sie ergreift einen durch schlechte Angewohnheiten und zu schwache Gegenwehr gegen unsere schlimmsten Laster; die meisten können sich vor diesem Gebrechen hüten, und alle können davon genesen.10
Als Anne zu ihren Eltern nach Halifax zurückmusste, bat sie die fröhliche und stets gutgelaunte Isabella um ein Treffen auf ihrer Durchreise. Hocherfreut nahm sich Isabella den ganzen Tag für Anne Zeit. Zu zweit saßen sie oben am Clifford’s Tower, der mittelalterlichen Burgruine von York, und tauschten Vertraulichkeiten aus. Anne ließ Isabella wissen, sie habe Eliza von ihr vorgeschwärmt. Isabella gestand Anne, dass sie den einzigen Mann, der sie je glücklich machen könnte, gesehen hatte. Als sich Anne Jahre später an diesen Moment erinnerte, schmunzelte sie, Isabella ahnte ja nicht, was noch geschehen sollte.11
Kaum war auch Eliza ein paar Tage später mit den Duffins nach York zurückgekehrt, tauchte Isabella Norcliffe überraschend im Haus in der Micklegate auf, um Annes intime Freundin näher kennenzulernen. Gleich nach der Begegnung schrieb Isabella an Anne, nur schwer konnte ich Haltung bewahren, als ich sie sah; die Gespräche, die ihr über mich geführt habt, schossen mir durch den Kopf und ich konnte an nichts anderes denken. Meine Selbstbeherrschung reichte jedoch aus, mir nichts anmerken zu lassen. … Wie du dir vorstellen kannst, redeten wir vor allem über dich. Ihre Meinung stimmt so vollkommen mit der meinen überein, dass ich nicht umhinkann, Miss Raine für äußerst vernünftig und scharfsinnig zu halten.12
Mrs Duffin in York Aquarell von Mary Ellen Best
Eliza erzählte ihrerseits Anne ausführlich von der Begegnung, sobald sie in Halifax ankam. Wir verbrachten den Tag miteinander und versüßten uns die Stunden, indem wir von dir sprachen, schrieb Anne darauf hin Isabella; du hast sie mehrfach erröten lassen und ihr allerlei seltsame Gefühle eingeflößt, die sie nicht näher bezeichnen kann oder vielleicht auch nur nicht will. Wie in aller Welt stellst du das an? Du hast die glückliche oder unglückliche Gabe, in manchen Leuten Wundersames auszulösen. Um ehrlich zu sein, bist du Eliza jetzt allgegenwärtig, beim »Schlummer in der Nacht wie beim Traum am Tag«. Ich kann mich nur wundern – sie, die sonst stundenlang in einer Ecke sitzt und Trübsal bläst, alles mitbekommt, aber nichts sagt, ist auf einmal von einem Wort oder Blick von dir verzaubert. Isabella, du bist in mancher Beziehung wirklich so sonderbar, wie ich noch nie jemanden kennengelernt habe. Was du etwa mit Eliza anstellst, geht über meinen Verstand. … Nach allem, was Eliza mir von dir erzählt, liebe ich dich noch zehnmal mehr.13
Isabella schüchterten solche raffinierten rhetorischen Avancen ein. Nur ungern entsprach sie Annes Bitte, ihr zu schreiben, vollkommen davon überzeugt, dass meine Briefe niemanden auch nur im Geringsten unterhalten oder unterrichten können und schon gar nicht dich, die du mir in allem haushoch überlegen bist.14 Doch Anne gab nicht auf. Obwohl ich dich erst kurz kenne, liebe ich dich Gott weiß wie sehr und aufrichtig, schrieb sie ihr. Erzähle mir, wie versprochen, jeden geheimen Gedanken; fürchte nicht, meinem Busen anzuvertrauen, was du in deinem verschließt. Schreib mir so, Isabella, wie du mit mir sprichst. … Kurz, erzähle mir alles und jedes, nur nicht, dass deine Briefe ihr Porto nicht wert sind, wo ich doch alles zärtlich verehre, was Isabella tut.15
Anne schrieb Isabella aus ihrer Hundehütte, die sie wieder bei ihren Eltern bezogen hatte. Eliza mietete sich in der Nachbarschaft ein oder zwei Zimmer und kam regelmäßig zum Dinner. Spannungen lagen in der Luft. Am 14. August schrieb Eliza in ihr Tagebuch, der liebe L und ich haben uns versöhnt, nur um zwei Tage später festzuhalten, L & ich hatten einen Streit, zwar vertrugen wir uns am Ende des Tages wieder, aber ich war danach furchtbar angegriffen. Am nächsten Tag machte Anne alles wieder gut. Mein Mann kam zu mir und endlich haben wir uns wieder glücklich vereinigt.16
Dass Anne lieber Eliza besuchte, als im elterlichen Haushalt zu helfen, führte zu lauter Eifersüchteleien und Schreiereien, weil ich so oft zu ihr gehe.17All die unschönen Szenen zu Hause18 erwähnte Anne in ihren Briefen an Isabella so wenig wie ihre problematische Beziehung mit Eliza. Obwohl sie lieber ausgedehnte Spaziergänge machte, schrieb sie der neuen Freundin und begeisterten Reiterin von dem höchst feurigen (kleinen) Pferd, das ihr Vater ihr gekauft hatte und das sie gerade so beherrsche. Kaum steige ich auf, fängt es an zu tänzeln und sich aufzubäumen, und da ich keine beherrschte, feige Reiterin aus dem Schulbuch bin, werde ich wohl, wie Homers Helden, den Staub schmecken.19 Ihre mathematischen und griechischen Studien bei Mr Knight verschwieg Anne in ihren Briefen an die akademisch uninteressierte Isabella und behauptete, nicht nach Lampenruß aus der Studierstube zu riechen und die empfindlichen olfaktorischen Nerven meiner liebsten Isabella zu beleidigen. Glaube mir, ich bete inniglichst, dass ich nie verdientermaßen zu der stinkenden Klasse von Tieren gezählt werden kann, die man gemeinhin hochgelahrtes Frauenzimmer nennt.20
Im Januar 1811 erkrankte Anne an Scharlach. Eliza pflegte ihre Geliebte und holte aus York den ärztlichen Rat von William Duffin ein. Als sich die Rekonvaleszentin im Februar bei ihm bedankte, luden die Duffins Anne wieder zu sich ein, nicht aber Eliza. Nur zu gern kehrte Anne Halifax, ihren Eltern und Eliza den Rücken und lebte ab April 1811 wieder in York, wo Miss Marsh sie in ihre Obhut nahm. Sie ist wirklich wie eine Mutter für mich.21 Vor allem aber genoss sie das Wiedersehen mit Isabella. Ich liebe die Teuerste von ganzem Herzen.22
In diesem Frühling wurden die beiden ein Paar. Annes anhaltendes Werben hatte seine Wirkung auf Isabella nicht verfehlt, und das gesellschaftliche Umfeld in York förderte die Nähe zwischen den beiden Frauen. Die zwanzigjährige Anne Lister galt als sehr vernünftig. Sie führte eine vorbildliche Lebensweise und predigte ihren Freundinnen, jeden Tag einen langen Spaziergang zu machen, früh aufzustehen und regelmäßig auch früh ins Bett zu gehen.23 Die 26-jährige Isabella bekam von ihr zu hören, Gott hat dir mehr mitgegeben als den meisten anderen Sterblichen. Investiere in deine Gaben, und du wirst bald reich sein.24 Selbst zum Maßhalten in der Ernährung hielt Anne Isabella an, die gern herzhaft zugriff und sich freigebig nachschenkte25 und Schmerzen aller Art mit einem Schluck Brandy behandelte. Es sterben mehr Menschen, weil sie zu viel und nicht weil sie zu wenig essen,26 meinte Anne, der zwei Mahlzeiten am Tag genügten, ein spätes Frühstück und Dinner am späten Nachmittag. Sie nahm sich auch nicht alle Freiheiten eines Mannes27 heraus wie Isabella, die noch jungenhafter wirkte als Anne und häufig fluchte – dies allerdings so originell, dass Anne eine Liste ihrer Kraftausdrücke anlegen wollte. Da Anne außerdem keiner Beziehung zu Männern verdächtigt wurde, hielt Miss Marsh sie für Isabellas Rettung, was Anne dann doch zu viel der Ehre28 erschien.
Eliza lernte derweil in Halifax unter Anleitung von Annes Vater Quadrille tanzen und zankte mich im Spaß mit deiner Mutter, weil sie dir nicht die Ehre antun wollte zuzugeben, dass sie dich vermisst.29 Mit Samuel trank sie sogar alleine Tee, was Tante Mary, die zweite Frau von Onkel Joseph aus Northgate House, brühwarm ihrer Nichte in York mitteilte. Ich mag ihn mehr und mehr, er ist dir so ähnlich und vom Wesen her ist er wohlwollend und liebenswert,30 schrieb Eliza Anne. Hauptsächlich um der unangenehmen Arbeit zu Hause31 zu entkommen, spielte Samuel mit dem Gedanken, sich wie sein Vater beim Militär zu verpflichten – ausgerechnet der einzige verbliebene Sohn der Listers, der Erbe von Shibden Hall. Deine Mutter ist wirklich entsetzt über Sam, sie streiten sich häufig über seinen Gefallen an der Armee. Wie du dir vorstellen kannst, sind sie gänzlich entgegengesetzter Meinung, der Bursche will immer lieber und eure Mutter wird immer unglücklicher.32 Durchsetzen konnte sich Rebecca nicht. Im Herbst 1812 schenkte Samuel Lister Eliza Raine eine Locke von sich, reiste nach Irland und trat seinen Dienst beim 84. Regiment in Fermoy in der Nähe von Cork an. In jedem Brief an seine Schwester Anne ließ er Eliza grüßen.
Isabella Norcliffe (ganz links) im Kreis ihrer Familie in Langton Hall Aquarell von Mary Best
Sein freier Entschluss machte Anne die Grenzen bewusst, die ihr als Frau gesetzt waren. Sie konnte weder studieren noch einen Beruf ergreifen und hing von Einladungen gutwilliger Fremder ab, um den Niederungen zu Hause zu entgehen. Zum ersten Mal verspüre ich den Wunsch, von der Sklaverei meiner Unterröcke befreit zu werden; nur ungern lässt sich ein Geist von einer Tyrannei unterjochen, der er überlegen ist. Aber ach! Unmut wäre töricht, man grummelt nicht gegen die Satzungen Gottes. Wäre es nicht Frevel und Unrecht, ich könnte dich manchmal beneiden,33 schrieb sie ihrem Bruder. Als ältere Schwester geizte sie auch nicht mit Ermahnungen. Bitte schreibe ihnen – gemeint waren ihre besser gestellten Onkels und Tanten in Shibden Hall und Northgate House – pünktlich und aufmerksam, so hilfst du ihrer Großzügigkeit am besten nach.34Vor allem aber führe ein Tagebuch. Auch wenn es dir anfänglich schwer fällt, achte die Mühe gering, verglichen mit der Freude und Genugtuung, die es deinen Freunden und später einmal dir selbst bereiten wird. So lästig das Schreiben ist, so schwierig auch, wenn man damit nicht vertraut ist, so gewinnt man doch mit einiger Übung eine Fertigkeit, die die Plagen und Verdrießlichkeiten mehr als wettmachen. … Ich rate dir, deine täglichen Aufzeichnungen jeden Abend zu beenden, bevor du ins Bett gehst.35
Von ihr selbst ist aus diesen Jahren kein Tagebuch überliefert. Ihre ersten erhaltenen Aufzeichnungen, zehn lose, eng beschriebene Blätter, enden im Februar 1810. Sehr wahrscheinlich behielt sie diese Zettelwirtschaft bei, denn aus dem März 1813 ist ein weiteres loses Blatt erhalten, das offensichtlich aus dem Zusammenhang gerissen ist. Erst ab 1816 sind ihre Tagebücher vollständig erhalten.
Die ersten Jahre von Annes und Isabellas Beziehung sind daher unzureichend belegt. Dass die beiden zu Beginn glücklich waren, lässt sich aus späteren Bemerkungen und dem weiteren Verlauf ihres Verhältnisses schließen. Im Mai 1812 erzählte die immer noch bei den Duffins in York lebende Anne ihrem Bruder, dass sie und Isabella unzertrennlich seien, ganze Tage miteinander verbrächten und abends ins Theater gingen. Im Oktober 1812 besuchte Anne Isabella zum ersten Mal in Langton Hall bei Malton, einem noch heute verträumten Weiler in den Yorkshire Wolds. Isabellas Vater hatte den alten Landsitz der Familie gerade erneuern und kostbar einrichten lassen. Vornehmer hatte Anne Lister bis dahin noch nicht gelebt.
In den beiden letzten Wochen gesellte sich Isabellas engste Freundin zu ihnen, Mariana Belcombe, und verdoppelte den Reiz unseres Aufenthaltes dort. Am 1. Dezember 1812 setzten sich Isabella, ihre Schwester Charlotte, Mariana Belcombe und Anne Lister gutgelaunt in eine Kutsche der Norcliffes, fuhren zu deren Haus in der Petergate in York und lachten und prusteten bis in den Abend hinein. Zur größten Freude aller quetschten wir uns in der ersten Nacht alle in dasselbe Zimmer (wenn auch in zwei Betten).36 Zwei Wochen lang scherzte Anne mit ihrer neuen Bekannten Mariana in York weiter, während Isabella Verwandte auf dem Land besuchte. Am 14. Dezember reiste Anne dann mit Isabella nach Halifax, wo sie selbst eineinhalb Jahre nicht mehr gewesen war. Ich fürchte, unser Zuhause ist nicht gerade das ordentlichste,37 dürfte sie Isabella gewarnt haben.
Der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt: Zwei Wochen zuvor hatte Eliza Raine Halifax für immer verlassen. Ohne Anne und Samuel hatte sie nichts mehr dort gehalten. Samuel hatte sich ihr gegenüber nicht erklärt, und eigentlich wollte Eliza immer noch lieber die Schwester. Bedrückt hatte sie Anne an ihren Jahrestag erinnert und an ihren einundzwanzigsten Geburtstag, dem sie so entgegengefiebert hatten. Doch Eliza war Anne lästig geworden. Sie brauchte sie und ihre 4.000 £ nicht mehr, um sich von ihren Eltern zu befreien. Dank ihres Charmes, Witzes und ihrer Intelligenz war ihr gelungen, was Eliza verwehrt war: von den Duffins in York aufgenommen zu werden, und auch von den Norcliffes. Neben der lebenslustigen Isabella und ihrer wohlhabenden Familie mit Stadthaus und Landsitz wirkte Eliza, die illegitime, halbindische Vollwaise, armselig. Schweigend überging Anne Elizas Erinnerung an ihren Traum von einer gemeinsamen Zukunft. Worte der Trennung hörte Eliza nie von ihr. Nie habe ich irgendjemanden weniger gemocht, nur weil ich jemand anderes mehr mag, meinte Anne von sich; alle meine Freundinnen behalten genau ihren Platz und sind mir so lieb wie immer.38 Als Eliza begriff, dass ihr Warten aussichtslos war, zog sie nach Hot Well bei Bristol, um den Winter im milderen Süden Englands zu verbringen, und beschäftigte sich mit tiefgründigen philosophischen Werken.39Alles in allem ist ihr Wegzug aus der Nachbarschaft für mich eher von Vorteil, schrieb Anne ihrem Bruder, unser Zuhause ist so für mich wesentlich angenehmer.40
Allzu gemütlich wurde es dort jedoch auch ohne Eliza nicht. Anne litt darunter, dass ihr Vater so gar nichts von einem Gentleman41hatte. Noch schlechter war das Verhältnis zu ihrer Mutter. Rebecca war ihre älteste Tochter fremd. Es verletzte sie, dass Anne von Kindesbeinen an nicht bei ihnen hatte leben wollen, und überschüttete sie mit Vorwürfen. Da auch Jeremy Rebecca viel Kummer bereitete – sie hat in manchen Dingen häufiger Recht, als mein Vater wahrhaben will42–, da Geld immer knapp war und sie über den Tod von drei Kindern trauerte, griff sie häufig zur Flasche. Meine Mutter war 25 Abende hintereinander betrunken.43 Anne verspürte wenig Mitleid mit ihr. Auf jeden Fall ist sie nicht so labil wie unser Vater immer denkt; im Übrigen finde ich nicht, dass sie es schlechter getroffen hat als alle anderen in der Familie.44 Nach fünf Wochen bei den Listers brach Isabella ihren Aufenthalt ab. Anne zwang sich noch zu drei weiteren Wochen mit ihrer Familie und kehrte am 1. Februar 1813 zu Isabella nach York zurück.
Auch die großzügigen Norcliffes meinten, Anne habe einen guten Einfluss auf Isabella, und luden sie zu einem Aufenthalt in Bath im Südwesten Englands ein. Über Sheffield, Derby, Birmingham und Worcester ging es in vier Tagen, in denen keine Sehenswürdigkeit und insbesondere keine Porzellanmanufaktur ausgelassen wurde, in das berühmte Bad, einen der schönsten Orte in ganz England,45 wie Anne meinte, die zum ersten Mal Yorkshire verlassen hatte. Unter den Fittichen der weitgereisten Norcliffes lernte Anne dort die Regeln und Gepflogenheiten der privilegierten Gesellschaft kennen, verfeinerte ihre Konversation und verinnerlichte Unterschiede zwischen dem Akzent der Upper Class und ihrem heimatlichen Yorkshire-Dialekt. Ich bin, und habe jeden Grund dazu, so glücklich zu sein, wie mein lieber Sam sich nur wünschen kann.46
Vor der Rückkehr nach Yorkshire durften Anne und Isabella im Mai 1813 eine Woche allein verreisen. Sie besichtigten die Kathedrale von Salisbury, die Gemälde- und Skulpturensammlung des Earl of Pembroke in Wilton House und Stonehenge. Auf dieser ersten kleinen Reise mit einer Geliebten kam Anne auf den Geschmack solcher Ausflüge, die sie später wiederholte, sooft sich die Gelegenheit bot: Sie entdeckte leidenschaftlich gern fremde Orte und genoss die Freiheit in der Fremde, denn zwei zusammen reisende Frauen bezogen in den Gasthäusern selbstverständlich ein gemeinsames Zimmer und waren noch ungestörter als bei ihren Familien.
Ende Mai reisten die Norcliffes wieder gen Norden. Auf dem Rückweg besichtigte man Warwick Castle – das schönste seiner Art in England – sowie die Ruinen von Kenilworth. Ich werde als ganz schön weitgereiste Frau nach Hause kommen.47 Nach York zurückzukehren fiel Anne indes nicht schwer. Denn dort erwartete sie kein geringeres Vergnügen als das Wiedersehen mit Miss M. Belcombe.48
Im Nachhinein mag sich Isabella Norcliffe noch oft verwünscht haben, Anne ihre liebste, fast angebetete Freundin vorgestellt zu haben. Ich wünschte aufrichtig, du würdest sie besser kennen; ich meine, du kannst sie unmöglich nicht mögen. Sie ist nicht nur sehr klug, sondern hat auch eine einfach nur himmlische Art, ein höchst empfindsames, mitfühlendes Herz und sie hält ihren Freunden die Treue gewiss bis in den Tod.1 Darin sollte sich Isabella täuschen. Mit dem Vergleich zwischen Mariana und sich selbst lag sie dagegen richtig. Sie und ich könnten sich nicht unähnlicher sein; sie ist sanfter als alles, was ich je gesehen habe, und du weißt, wie ich bin.
Mariana Percy Belcombe war ein Jahr älter als Anne und lebte mit ihrer Familie wie die Norcliffes in der Petergate, einer der Hauptstraßen Yorks, die am Minster vorbeiführt. Ihr Vater, Dr. William Belcombe, praktizierte als Arzt. Mit seiner Frau Marianne hatte er einen Sohn, Stephen, der ebenfalls Arzt werden sollte, sowie fünf erwachsene Töchter: Anne, genannt »Nantz«, Henriette oder auch »Harriet«, Mariana, Louisa – »Lou« – und Eliza, »Eli«. Ihre Schwestern sind alle sehr nett, können aber meiner Meinung nach nicht im Geringsten mit ihr mithalten.2 Anne war ganz Isabellas Meinung. Sie ist wahrlich bezaubernd und hat sich dank ihres wertvollen Charakters schon meine nicht geringe Wertschätzung und Achtung verdient.3 Doch alle guten geistigen Gaben außer Acht – deine Freundin sieht einfach hinreißend aus.4
Wahrscheinlich gingen die beiden, die eine 21 Jahre alt, die andere 22, schon im Dezember 1812, als sie zwei Wochen ohne Isabella in York zusammen verbrachten, eine sexuelle Beziehung ein. 1813 schrieben sie sich 60 Briefe, 1814 erhielt Anne 87 Briefe von Mariana, also im Durchschnitt jeden vierten Tag einen. Wie die Tagebücher, die Anne 1813 bis 1815 schrieb, wurden sie später verbrannt.5
Bootham Bar in York mit der Petergate, in der Mariana Belcombe und Isabella Norcliffe wohnten. Im Hintergrund York Minster. Kupferstich von W. H. Bartlett
Mit der nichtsahnenden Isabella setzte Anne ihre Beziehung fort, zumal ihr die Norcliffes wesentlich mehr boten als die Arzttochter Mariana, die ähnlich bescheiden lebte wie sie selbst. Nachdem Anne aus Südengland zurückgekehrt war, besuchte sie zunächst die Duffins in Red House in Nunmonkton und hoffte, noch einige Zeit in York verbringen zu können, um Mariana wiederzusehen. Da erhielt Anne unvermittelt die Nachricht, dass ihr Bruder Samuel bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Armer Kerl! Er ertrank gegen 3 Uhr am Nachmittag des 19. Juni 1813 bei einem Bad im Fluss Blackwater,6 schrieb Anne unter seinen letzten Brief an sie. Mit Samuel war nun der letzte von vier Söhnen der Listers gestorben. Anne verlor mit ihm den einzigen Menschen aus ihrer Familie, den sie gemocht hatte. Entgegen ihren ursprünglichen Plänen kehrte sie sofort in Begleitung von Isabella nach Halifax zurück.
Der Tod ihres Lieblingsbruders sollte sich für Anne als Segen herausstellen. In den folgenden Monaten besprach die Großfamilie Lister die Erbfolge. Onkel James war als Erblasser nach englischem Recht völlig frei in seiner Wahl; Pflichtteile waren unbekannt. Üblicherweise würde das Familiengut nach seinem Tod erst an den ältesten überlebenden Bruder fallen, den kinderlosen Onkel Joseph von Northgate House, und nach dessen Tod an Annes Vater Jeremy, den James jedoch auf keinen Fall zum Zug kommen lassen wollte, weil er nicht mit Geld umgehen konnte und schon sein eigenes kleines Skelfler House ruiniert hatte. Onkel James neigte daher dazu, Shibden Hall dem walisischen Nebenzweig zu überlassen, den Listers von Swansea. Solchen Überlegungen widersprach die junge und unversorgte Anne; solange sie lebte wollte sie die Nutznießerin des Familienbesitzes sein. Töchtern vererbte man jedoch ungern Besitz, da das englische Eherecht Mitgiftjägern Tür und Tor öffnete; die arme Jane Boulton geb. Raine war mittlerweile in eine Londoner Anstalt abgeschoben worden. Anne versuchte daher Onkel James zu überzeugen, dass sie die letzte verbliebene Hoffnung und Stütze einer alten, aber zuletzt strauchelnden Familie7 war. Dass sie auf einen Heiratsschwindler hereinfallen oder überhaupt sich je an einen Mann binden und Shibden Hall in fremde Hände geben würde, war für sie undenkbar. Ich liebe, und zwar ausschließlich, das schöne Geschlecht, und da sie mich auch lieben, widerstrebt meinem Herzen jede andere Liebe.8
Abschließend wurde die Erbfolge noch nicht geklärt. Doch die Familie beschloss, einen Versuch zu wagen. Anne zog als mögliche Nachfolgerin ihres Onkels nach Shibden Hall und arbeitete sich in die Bewirtschaftung des Gutes ein, für das sie sich schon als Kind interessiert hatte. Alter Landbesitz – ancient acres – versinnbildlichte für sie die Ehrwürdigkeit ihrer Abstammung. Sie selbst zweifelte keine Sekunde, eines Tages die Nachfolge ihres Onkels erfolgreich antreten zu können. Zunächst jedoch bestand für Anne der größte Vorzug an dem Arrangement darin, dass Jeremy, Rebecca und Marian im Mai 1815 zurück nach Skelfler House in Market Weighton zogen.
Vermögender wurde sie durch diese Veränderungen nicht; Anne hatte weiterhin keine Einkünfte und war von unregelmäßigen Geldgeschenken ihres Vaters, ihrer Patentante und ihrer beiden Onkel abhängig. Steckte ihr der eine etwas zu, verschwieg sie die Summe wohlweislich dem anderen. Ich passe gut auf, dass niemand erfährt, wie viel ich habe.9 Trotzdem reichten ihre Mittel kaum, um die äußere Fassade aufrechtzuerhalten. Abhängig zu sein fiel ihr dabei weitaus schwerer, als sich einzuschränken. Da eine unverheiratete Frau von niedrigem Adel keiner bezahlten Arbeit als Lehrerin oder Gouvernante nachgehen konnte, ohne ihr Ansehen und das ihrer Familie zu ruinieren, träumte sie davon, sich ein paar Monate davonzustehlen und mit Herumstromern, Betteln und Glücksspielen10 200 oder 300 Pfund zu verdienen.
Auch Onkel James und Tante Anne – die anderen Tanten waren mittlerweile alle gestorben – waren keine reichen Leute. James hielt nur ein Reitpferd, keine Kutsche, und die Damen des Hauses mussten zu Fuß in die Stadt gehen. Shibden Hall war ein zwar altehrwürdiges, aber unbequemes, feuchtes und zugiges Herrenhaus. Die drei Wohnräume zu ebener Erde waren niedrig, die Wände mit dunkler Eiche verkleidet und altertümlich möbliert mit Bänken, geschnitzten Truhen und wuchtigen Stühlen. Die bleigefassten Fensterscheiben, bemalt mit Wappen, Pflanzen und Fabelwesen, ließen nur wenig Licht in den sogenannten Housebody, den Hauptraum des Hauses. Neben der Küche, in der noch über dem offenen Feuer gekocht wurde,