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Die faszinierende Biografie einer Vorreiterin queerer Lebensentwürfe
Catharina Linck war die letzte Frau, die in Europa wegen der »Unzucht mit einem Weybe« hingerichtet wurde. Aufgewachsen im Waisenhaus in Halle, legte sie schon als Fünfzehnjährige Männerkleider an, nannte sich Anastasius Rosenstengel und »caressierte« mit einem »von Leder gemachten ausgestopfften Männlichen Glied« zahlreiche »schöne Weibspersonen«. Nach unsteten Wanderjahren als Prophet einer pietistischen Sekte kämpfte er als Musketier im Spanischen Erbfolgekrieg, desertierte und arbeitete als Handwerker, ehe er 1717 in Halberstadt eine andere Frau heiratete. Von der argwöhnischen Schwiegermutter enttarnt und verraten, wurde Catharina Linck der Inquisitionsprozess gemacht, und der preußische König Friedrich Wilhelm I. verurteilte sie persönlich zum Tode.
Kenntnisreich und voller Sympathie erzählt Angela Steidele die verblüffende Lebensgeschichte einer furchtlosen Frau aus ärmlichen Verhältnissen, die mit Witz und Abenteuerlust alle Grenzen sprengte, die ihr durch Geschlecht und Stand gesetzt waren. Ergänzt um die – aus heutiger Sicht – skurrilen Gerichtsakten verändert In Männerkleidern unseren Blick auf die Frühe Neuzeit und gleicht dabei einem Schelmenroman voll tragischer Komik.
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Seitenzahl: 389
3Angela Steidele
In Männerkleidern
Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721
Biographie und Dokumentation
Insel Verlag
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Die Erstausgabe dieses Buches erschien 2004 im Böhlau Verlag, Köln.
eBook Insel Verlag Berlin 2021
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5040.
Erste Auflage 2024insel taschenbuch 5040© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2021Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44 b UrhG vor.
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: Männerrock (Justaucorps),um 1695, Germanisches Nationalmuseum, NürnbergKarten: Peter Palm, Berlin
eISBN 978-3-458-77068-8
www.suhrkamp.de
5»in Summa es seÿnd solche umbstände beÿ der Sache, die so leichte nicht in der welt passiret seÿn mögen«
Aus der Gerichtsakte Catharina Margaretha Lincks, Berlin 1721
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Motto
Inhalt
Vorwort zur Neuausgabe
Biographie
»War so vor sich hin«
. Waisenkind in Glaucha (1687-1700)
»MannsKleÿder«
. Neuorientierung (1700-1703)
»Jehovah Almajo Almejo«
. Unterwegs als Prophet (1703-1704)
»Als Mousquetier gegangen«
. Bei den Soldaten (1705-1712)
»Flenell gemacht«
. Handwerker in Halle (1713-1716)
»Sich mit selbiger ehelich versprochen«
. Ehestand (1717-1720)
»Mit anderen Weibes Bildern Unzucht getrieben«
. Inquisition (1720-1721)
»Land- und Leute-Betrügerin«
. Gegenstand von Polemik (1720)
»Und ist das Urthel gewiß curieux zu lesen«
. Urteil und Hinrichtung (1721)
»Die Rosenstengelsche«
. Catharina Mühlhahns weiterer Lebensweg (1721-1776)
»Wenn Sie auch schon aus dem Wege geraümet würde, so bliebe doch dergleichen«
. Lesbisch, trans, queer?
Nachwort
Anmerkungen
»War so vor sich hin«:
Waisenkind in Glaucha (1687-1700)
»MannsKleÿder«:
Neuorientierung (1700-1703)
»Jehovah Almajo Almejo«:
Unterwegs als Prophet (1703-1704)
»Als Mousquetier gegangen«:
Bei den Soldaten (1705-1712)
»Flenell gemacht«:
Handwerker in Halle (1713-1716)
»Sich mit selbiger ehelich versprochen«:
Ehestand (1717-1720)
»Mit anderen Weibes Bildern Unzucht getrieben«:
Inquisition (1720-1721)
»Land- und Leute-Betrügerin«:
Gegenstand von Polemik (1720)
»Und ist das Urthel gewiß curieux zu lesen«:
Urteil und Hinrichtung (1721)
»Die Rosenstengelsche«:
Catharina Mühlhahns weiterer Lebensweg (1721-1776)
»Wenn Sie auch schon aus dem Wege geraümet würde, so bliebe doch dergleichen«:
Lesbisch, trans, queer?
Nachwort
Quellen
Quellenkritik und Editionsgrundsätze
Bericht von Friedrich Wilhelm von Grumbkow an Friedrich I. von Preußen
Umständliche und wahrhaffte Beschreibung einer Land- und Leute-Betrügerin
Gerichtsakte 1721
(1) Titelblatt
(2) Brief der Halberstädter Regierung an Friedrich Wilhelm I.
(3) Gutachten des Berliner Criminal-Collegiums
(4) Immediatbericht an Friedrich Wilhelm I.
(5) Ordre des Königs an die Halberstädter Regierung (Entwurf)
(6) Vorlage für das Urteil von Friedrich Wilhelm I.
(7) Brief des Bürgermeisters von Halberstadt an Friedrich Wilhelm I.
(8) Brief der Halberstädter Regierung an Friedrich Wilhelm I.
(9) Brief der Halberstädter Regierung an Friedrich Wilhelm I.
(10) Ordre Friedrich Wilhelms I. an die Halberstädter Regierung
Gerichtsakte 1722
(1) Brief der Halberstädter Regierung an Friedrich Wilhelm I.
(2) Ordre von Friedrich Wilhelm I.
(3) Anlage zur Ordre von Friedrich Wilhelm I.
(4) Gnadengesuch von Catharina Margaretha Mühlhahn geb. Eichsfelder (Mutter) an Friedrich Wilhelm I.
Anhang
Siglen
Bibliographie
Glossar
Bildnachweise
Zeittafel
Dank
Personenregister
Karten
Fußnoten
Informationen zum Buch
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Catharina Margaretha Linck war die letzte Frau, die wegen der sogenannten Unzucht mit einer anderen Frau in Deutschland, ja in Europa hingerichtet wurde. Anfang November 2021 jährt sich ihre Enthauptung zum dreihundertsten Mal. Der Insel Verlag nimmt das traurige Ereignis zum Anlass, dieses 2004 bei Böhlau in Köln erschienene, jedoch seit langem vergriffene Buch neu herauszugeben. Hierfür habe ich den Text durchgesehen und um neu entdeckte Quellen ergänzt (→).
Im Vorwort zur Erstausgabe habe ich bekannt: Catharina Lincks Geschichte hat mich nicht losgelassen, seitdem ich das erste Mal von ihr gehört habe. Der Nervenarzt Franz Carl Müller veröffentlichte 1891 einen fragmentarischen Auszug aus Lincks Gerichtsakte unter dem Titel »Ein weiterer Fall von conträrer Sexualempfindung« in Friedreich’s Blättern für gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei. Allein schon Catharina Lincks männliches Pseudonym faszinierte mich ungemein; Thomas Mann hätte es sich nicht schöner ausdenken können: Anastasius Lagrantinus Rosenstengel. Skeptisch, ob Müller diese schillernde Figur nicht sogar erfunden hatte, suchte ich Lincks Gerichtsakte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz – und fand sie, nach zwei Weltkriegen nicht nur unversehrt, sondern auch wesentlich umfangreicher, als der Ausschnitt von 1891 erahnen ließ. Viele Angaben aus der Gerichtsakte konnte ich durch Nachforschungen in anderen Archiven bestätigen, ergänzen, präzisieren oder korrigieren. So ist dieses 10Buch entstanden, das im Hauptteil Catharina Lincks Lebensweg schildert. Der biographischen Skizze folgen die Quellen, darunter die vollständigen Gerichtsakten; aus der historischen Distanz skurril und unfreiwillig komisch machen sie Catharina Lincks Geschichte zu einem authentischen Schelmenroman.
Tatsächlich hat mich ihre Geschichte noch weit länger nicht losgelassen, als ich damals ahnen konnte. Mit In Männerkleidern begann meine Leidenschaft für Quellen aus dem 18. Jahrhundert und zugleich die inspirierende Verunsicherung, was sie eigentlich bezeugen. Wird Geschichte erst im Lese- und Schreibakt der Historikerin für ihre Gegenwart erschaffen? Wie viel Fiktion entsteht nolens volens in der Geschichtsschreibung? Mit wie viel Erfindungsgabe wird schon das Leben selbst gelebt? Wer ist echter – Catharina Linck oder Anastasius Rosenstengel? Bei der Recherche für In Männerkleidern interessierte mich sehr, wer Franz Carl Müller war und welches Erkenntnisinteresse ihn ins Geheime Staatsarchiv führte (→). Als ich begriff, dass Müller nicht nur Catharina Lincks Akte aus dem Archiv gezogen hatte, sondern auch die Leiche Ludwigs II. aus dem Starnberger See, war die Idee zu meinem Roman Rosenstengel. Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II. (2015) geboren. Denn Müller verbindet zwei historische Persönlichkeiten, die ihre Existenz, ihr Leben buchstäblich erfunden haben: die eine als Prophet, Soldat und Ehemann, der andere als Schwanenritter und Bauherr von Schlössern nach Regieanweisungen Richard Wagners. Für Rosenstengel wählte ich die Form des Briefromans, weil diese Gattung schon immer augenzwinkernd ›Echtheit‹ simuliert. Die Handlung entfaltet sich in fingierten Briefen historischer Persönlichkeiten, gespickt mit Originalzitaten. Faktisches und Fiktionales vermengen sich so untrennbar wie bei Ludwig II. und Catharina Linck: Leben ist auch nur Kunst. Was ich meinem fiktionalen Rosenstengel untergeschoben habe, ist mit diesem Buch über die historische Catharina Linck nun endlich wieder zu erkennen.
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Waisenkind in Glaucha (1687-1700)
Catharina Margaretha Linck wurde am 15. Mai 1687 in Gehofen im heutigen Thüringen geboren. Sie war die uneheliche Tochter »Einer Soldatenfrau Von Erffurth«.1 Ihre Mutter Magdalena Linck (1656-1739) hatte sich nicht immer prostituieren müssen. Um 1675 hatte sie in Schönebeck an der Elbe den Lein- und Wollweber Martin Linck geheiratet.2 Da ihr Mann das Bürgerrecht besaß, gehörte das Ehepaar zu den bessergestellten Einwohnern der Stadt. Martin starb jedoch früh, und Magdalena Linck konnte die Herstellung und den Verkauf der Waren nicht fortführen. Was sie nach Erfurt führte, wie sie dort die Pestepidemie überlebte, die die Stadt in den Jahren 1682/83 heimsuchte, ist nicht bekannt. Der Taufeintrag ihrer Tochter legt nahe, dass sie ein Regiment Soldaten begleitete, das in Gehofen im Quartier lag, wie der Pfarrer im Kirchenbuch festhielt.
Wie so viele andere Städte und Dörfer war Gehofen im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) niedergebrannt worden. Mitteldeutschland, Catharina Lincks Heimat, war besonders gezeichnet. In manchen Gegenden hatte die Hälfte der Einwohner durch den Krieg, durch Krankheiten und Hunger das Leben verloren. Nicht nur die Ortschaften, auch die Felder und Gärten waren verwüstet, die Viehherden abgeschlachtet worden. Gehofen erholte sich dank des fruchtbaren Bodens in der Goldenen Aue und erhielt 1671 sogar das Marktrecht. Kaum ging es in dem südöstlich des Kyffhäusers 14gelegenen Ort wieder etwas voran, mussten die Einwohner auch einquartierte Soldaten mitversorgen.
Magdalena Linck gehörte wahrscheinlich als Marketenderin mit zum Tross, bot den Soldaten Waren, Dienstleistungen und sich selbst zum Kauf an. Ein namentlich nicht bekannter Soldat war der Vater ihrer Tochter, von der sie am Pfingstsonntag entbunden wurde und die Pfarrer Bernhart Thalmann am Pfingstmontag, dem 16. Mai 1687 in der Johannes-Baptistae-Kirche taufte – evangelisch, wie sich in den lutherischen Kernlanden von selbst versteht.3 Ihre Paten waren Hans Zacharias Triebel, Hans Georg Schuster, Elisabeth Angermannin und Catharina Hardman. Dass sie am Pfingstsonntag geboren und am Pfingstmontag getauft worden war, verstand Catharina Margaretha Linck später als Zeichen. Schon als Kind muss sie eine robuste Konstitution gehabt haben, denn in den Jahren 1690 und 1691 musste Pfarrer Thalmann fast jedes Kind, das er in Gehofen getauft hatte, wieder beerdigen: »In diesem Jahre haben die Blattern und Windbocken sehr grassirt, daher die meisten Kind daran gestorben, wie auch anno sequenti«, trug er als Nebenbemerkung ins Kirchenbuch ein.
Mutter und Tochter müssen in großer Armut gelebt haben, denn ihre Spuren tauchen erst zehn Jahre später im tiefsten Elend wieder auf: in Glaucha, einem gänzlich verwahrlosten kleinen Ort an der Saale unmittelbar im Süden der alten Stadt Halle.4 Das von Stadtmauern umgebene Glaucha war seit 1562 eine Amtsstadt mit eigener Gerichtsbarkeit, einem Rat und einem Bürgermeister. Ungünstig im Überschwemmungsgebiet der sich hier in verschiedene Arme aufteilenden Saale gelegen, wurde der Ort immer wieder von Überflutungen zerstört. Der Dreißigjährige Krieg hatte hier, wie in Halle, grausam gewütet, die Hälfte der Einwohner war umgekommen. 1682 traf die große Pestepidemie auch Glaucha, und es starb noch einmal mehr als die Hälfte der verbliebenen Bevölkerung. Da Glaucha seit 1469 eine erzbischöfliche Lizenz zum Bren15nen von Schnaps und zum Ausschank fremder Biere besaß und die Einwohner wegen fehlenden Grundbesitzes kaum Landwirtschaft betreiben konnten, entwickelte sich der Ort zu einer einzigen Spelunke: Ende des 17. Jahrhunderts wurde in 37 von 200 Häusern Branntwein ausgeschenkt, in einem – nach heutigen Begriffen – Dorf von etwa 1200 Menschen. Auch aus dem benachbarten Halle kam man zum Saufen nach Glaucha. Zu oft betrunken, verelendeten die Leute. Die mangelnde sittliche Zucht, wie es im Sprachgebrauch der Zeit hieß, machte auch vor dem Glauchaer Pfarrer nicht halt: Johann Richter wurde im Herbst 1691 nach dem Gottesdienst festgenommen und in der Burg Giebichenstein im Norden Halles eingesperrt, weil er – wenn man die zeitgenössischen mora16lischen Umschreibungen konkret deutet – im Beichtstuhl sexuell übergriffig geworden war.
Abb. 1: August Hermann Francke
Diese vakant gewordene Stelle in der St.-Georgen-Pfarre besetzte drei Monate später, am 7. Januar 1692, August Hermann Francke (1663-1727). Auch der 29-jährige Pastor war schon mit der Obrigkeit kollidiert, jedoch aus ganz anderen Gründen. Er war aus dem sächsischen Leipzig und dem kurmainzischen Erfurt vertrieben worden, nachdem er dort pietistische Versammlungen abgehalten hatte.5 Nun eröffnete sich ihm in Glaucha im Herzogtum Magdeburg, das im Westfälischen Frieden an das Kurfürstentum Brandenburg gefallen war, eine Zukunft; denn zugleich wurde er zum Professor für Griechisch und orientalische Sprachen an der sich gerade formierenden Universität Halle ernannt. Mitten in das Elend von Glaucha hineinversetzt, begründete der junge Francke hier sein großes Stiftungswerk. Die Pest hatte in Glaucha viele Kinder zu Waisen gemacht; um sie vom Betteln und Stehlen abzuhalten, eröffnete Francke zu Ostern 1695 in seinem Pfarrhaus in der Mittelwache 6 gegenüber der Kirche eine Armenschule. Der Unterricht fand in einem Zimmer vor seiner Studierstube statt. Im Herbst des Jahres brachte er einige Waisen gegen Kostgeld bei drei Familien unter. Außerdem mietete er zwei Stuben im Reichenbachschen Haus nebenan, Mittelwache 7, für weitere Schulklassen. Noch im selben Jahr kaufte Francke dieses Haus, und nachdem es für seinen Zweck eingerichtet worden war, zogen hier am 22. Mai 1696 zwölf Waisen ein. Neben der Armenschule betrieb Francke zudem eine deutsche Schule für bürgerliche Jungen und Mädchen. In beiden Häusern in der Mittelwache fand Schulunterricht in ständig wachsenden Klassen statt, und hier lebten und lernten auch die Waisenkinder.
17Abb. 2: Mittelwache – Ecke Steg in Glaucha Rechte Bildseite: Pfarrhäuser der St.-Georgen-Kirche
In diesen neuen Einrichtungen kamen sowohl die neuneinhalbjährige Catharina Linck als auch ihre Mutter unter. Magdalena Linck wurde im Waisenhaus angestellt; ihre unsteten Wanderjahre fanden ein Ende, denn sie blieb bis zu ihrem Tod 1739 in Glaucha und arbeitete jahrzehntelang im Waisenhaus im hauswirtschaftlichen Bereich, in der Küche, der Wäscherei usw. Ihre Tochter Catharina Margaretha wurde »im Martini 1696«6 (11. November) in das Franckesche Waisenhaus aufgenommen.
19Abb. 3: Matrikeleintrag von »Catharina Linckin« im Waisenalbum, laufende Nr. 7 über beide Seiten
August Hermann Francke hatte sich dem Auftrag verschrieben, den christlichen Glauben in der Praxis der Nächstenliebe lebendig werden zu lassen. Dank seiner charismatischen Persönlichkeit, seinem Mut und Gottvertrauen, seinem Organisationsgeschick sowie dem großem Talent, Spendengelder einzuwerben, errichtete Francke ab 1695 quasi aus dem Nichts – der Beginn soll eine kleine Spende von vier Talern und sechzehn Groschen gewesen sein – eine Institution, die sich in nur fünfzig Jahren zu einem »Sozialkonzern«7 entwickelte. Dem Waisenhaus und den Schulen folgte ein Lehrerseminar, eine Apotheke, die bald Medikamente weltweit 20exportierte, sowie eine Verlagsbuchhandlung mit Druckerei, in der bis 1938 Millionen verschiedener Bibelausgaben der sogenannten Cansteinschen Bibelanstalt gedruckt wurden. Ab 1698 baute Francke für seine Stiftung ein paar hundert Meter östlich der Georgenkirche eine große Anlage, unmittelbar am Rannischen Tor Halles, in der er all die verschiedenen Einrichtungen unterbrachte und die bis heute steht.8
Franckes Engagement wurzelte im Pietismus.9 Diese ›Reformation der Reformation‹ war eine Erneuerungsbewegung innerhalb des Protestantismus und ist in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung in Deutschland kaum zu überschätzen. Da Catharina Linck in dem großen pietistischen Bollwerk der Zeit aufwuchs, mehrere Jahre mit einer radikalpietistischen Gemeinschaft umherzog und später, als sie im Halberstädter Richthaus einsaß, Gegenstand eines pietistischen Pamphlets wurde, mögen ein paar Koordinaten den Pietismus verorten.
Philipp Jacob Spener (1635-1705) gilt als der Vater des Pietismus in Deutschland. Seine programmatische Reformschrift Pia desideria. Oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen (1675) leitete die vielfach angemahnte spirituelle Erneuerung des lutherischen Glaubens ein. Aus seinen Collegia pietatis entwickelte sich die pietistische Bewegung. Mitglieder dieser Kollegs wollten in gemeinsamer Lektüre v.a. des Neuen Testaments zu einem »wahren, lebendigen, den ganzen Menschen neuschaffenden Glauben«10 finden. Man erhoffte mystische Bekehrungserlebnisse, die als eine Art Wiedergeburt empfunden wurden. Der neu belebte Glaube Luthers musste sich, so der um eine Generation jüngere August Hermann Francke, im Dienst am Nächsten bewähren. Francke prägte den sogenannten hallischen Pietismus, der den Schwerpunkt auf die Sozialfürsorge legte, auf Schulunterricht, Chancenverbesserung für Arme usw. 21Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) schließlich, der dritte Leitstern der pietistischen Bewegung, wurde in Franckes Pädagogium in Halle ausgebildet und später u.a. als Begründer der Herrnhuter Brüdergemeinde bekannt. Als Anhänger einer mystischen Frömmigkeitsbewegung kollidierten Pietisten heftig mit der dogmatischen lutherischen Amtskirche, deren Repräsentanten, so die pietistische Kritik, sich auf die formelhafte Übung kirchlicher Sitte beschränkten.
Ein wesentlicher Charakterzug pietistischer Erweckung bestand dagegen im individuellen Glaubenserleben. Am liturgischen Ritus teilzunehmen, ohne die Liebe Gottes zu empfinden, galt als leere Routine. Durch diese Betonung der eigenen Person, die Jesus Christus im Glauben persönlich erfahren sollte und die sich vor Gott rechtfertigen musste, wurde das Individuum, geistesgeschichtlich betrachtet, stark aufgewertet im Vergleich zu Lebenskonzepten im Mittelalter, als die ständische Zugehörigkeit die Einzelnen definierte. Da pietistisch Verbundene zudem Standesunterschiede unter sich tendenziell einebneten, förderte der Pietismus die Verbürgerlichung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Die weit verbreitete pietistische Autobiographie, in der der Autor und auch die Autorin den eigenen Lebensweg vor Gott individuell rechtfertigen und auch geheimste Seelenregungen schriftlich erforschen sollte, wies der modernen Psychologie den Weg und bereitete wesentliche Neuerungen in der Literatur vor: Die Sprache der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang ist ohne die pietistische Autobiographie so wenig denkbar wie der moderne Roman, der die typisierten Helden und schematischen Handlungstopoi des Barock durch individuelle, psychologisch motivierte Figuren und realistischere Plots ersetzte. Bis in den deutschen Idealismus wirkte sich der Pietismus aus. Lessing, Herder, Kant, Schleiermacher, Moritz, Goethe, Schiller, Hölderlin und Hegel entstammten pietistischen Kreisen oder wurden von ihnen beeinflusst.
22Als Catharina Margaretha Linck 1696 in das Waisenhaus aufgenommen wurde, standen die Franckeschen Stiftungen noch ganz am Anfang; erst zehn Jungen und sechs Mädchen hatte Francke vor ihr Obhut gewährt. Sein Werk war alles andere als unumstritten. »Pietist« war ein Schimpfwort, mit dem Repräsentanten der lutherischen Orthodoxie die Erneuerer belegten;11 zwischen den alten und neuen Kräften entbrannten gerade in Halle bittere und heftige Kämpfe; Paul Raabe zählt 625 Streit- und Schmähschriften seit 1692.12 Doch dürften diese Auseinandersetzungen nur wenig in Catharina Lincks Alltagswelt gedrungen sein. Zusammen mit den anderen Waisenmädchen ging sie in Franckes Pfarrhaus in der Mittelwache in die Schule und schlief im Dachgeschoss des Nebengebäudes. Die Schulausbildung war für Catharina Margaretha ein Glücksfall. Kinder wie sie wurden in der Regel nicht oder kaum unterrichtet; die allgemeine Schulpflicht wurde in Preußen erst 1763 eingeführt. Francke hielt jedoch Lesen und Schreiben als unverzichtbar für jeden guten Protestanten, der schließlich im Sinne des Pietismus die Bibel selbstständig lesen sollte. Deshalb mussten auch Arme und Waisen darin unterwiesen werden. Da im Spenerschen Verständnis vom allgemeinen Priestertum auch Frauen prinzipiell die Möglichkeit zugesprochen wurde, Gott zu erkennen, förderte die pietistische Erziehung nach Franckes Manier auch die Bildung von Mädchen.13 Als uneheliches Kind und Halbwaise aus einfachsten Verhältnissen war Catharina Margaretha Linck daher durch die Aufnahme in Franckes Waisenhaus geradezu privilegiert. Nun war sie materiell versorgt, hatte ein Dach über dem Kopf und ein Bett in der Nacht, erhielt drei Mahlzeiten täglich, bekam Kleider und durfte zur Schule gehen. Vor allem aber kümmerte man sich um ihr Seelenheil, denn die Einübung des christlichen Glaubens beherrschte den Tag.14
Morgens musste Catharina Margaretha nun um 6 Uhr aufstehen, später, im Sommer, um 5 Uhr. Der Tag begann mit einer christ23lichen Andacht. Angeleitet von einem »christlichen Studioso« sangen alle Kinder zusammen zunächst ein Morgenlied, und zwar aus dem Gesangbuch, »damit sie sich nicht gewehnen falsch zu singen«; dabei sollten die Mädchen »nicht frech und unbescheiden in den Tag hinein schreyen«, sondern »feinlangsam, bescheidentlich« zu Gottes Ehre singen. Es folgte ein Morgensegen, das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, ein Gebet aus dem Paradiesgärtlein (1612) von Johann Arndt, einem der geistigen Väter des Pietismus, sowie ein »Ehre sei Gott«. Täglich wechselnd las jeweils ein Kind die Gebete und daraufhin ein Kapitel aus dem Neuen Testament laut vor. Zum Abschluss gab es ein Hauptstück aus dem Katechismus, das von einem anderen Kind »mit Frag und Antwort deutlich, langsam, und ohne einen affectirten Thon« vorgetragen werden sollte. Erst nach dieser ausführlichen Unterweisung im Christentum, begleitet von einigen Ermahnungen des Studiosus zu Gehorsam und Pflichterfüllung, durften sich Catharina Margaretha und die anderen Mädchen waschen, überwacht von der Pflegerin, damit »alles recht und ordentlich zugehe«. Dann gab es endlich »das Morgen-Brod«.
Bis Ostern begann die Schule um 8 Uhr, danach bis Michaelis (29. September) um 7 Uhr. Catharina Margaretha gehörte zunächst einer gemischten Klasse von »Bettelkindern« an, also von Jungen und Mädchen zusammen. Nach einem kurzen Gebet wurde die Klasse geteilt. Die jüngeren Kindern lernten an der Tafel die Buchstaben, während die älteren still, »ohne grosses Gemurmel«,15 im Katechismus lesen sollten; für Ruhe und Ordnung sorgten in der Armenschule zwei Lehrer pro Klasse. Als Catharinas »Qualitates accedentium«, also ihre Fähigkeiten beim Eintritt, wurde im Waisenalbum festgehalten: »kennet die Buchstaben«.16 Die Franckesche Pädagogik unterschied zwischen ›Buchstaben kennen‹, ›buchstabieren‹ und ›lesen‹. Catharina hatte also noch Nachholbedarf und dürfte mit den Jüngeren geübt haben. In der zweiten 24Hälfte der ersten Stunde mussten die Größeren »ihre Lectiones aufsagen«, und die Kleineren hörten mehr oder minder brav zu.
In der nächsten Stunde sollte sich Catharina Margarethas Klasse biblische Sprüche aneignen:
Solche Sprüche hat der Praeceptor hac methodo [Lehrer nach dieser Methode] mit ihnen zutreiben, daß er sie ihnen erstlich von Wort zu Wort vorsaget, und die Kinder zugleich solche bescheidentlich, und ohne grossen Geschrey nachsprechen lässet, biß sie den Spruch können, da er denn einen jeden nach der Reige den Spruch sagen lässet. Alsdenn machet er ihnen den Spruch durch Fragen deutlich. Z[um] E[xempel] Christus hat sich selbst für uns gegeben. Fr[age]: Wer hat sich selbst für uns gegeben? Antw. Christus hat sich selbst für uns gegeben. Fr: Für wen hat er sich gegeben? Antw. Für uns hat er sich gegeben. Fr: Was hat er für uns gethan? Antw. Er hat sich für uns gegeben. Fr. Was hat er für uns gegeben? Antw. Sich selbst hat er für uns gegeben.17
Francke verlangte von seinen Lehrern – mittellosen Studenten der Theologie, die bei ihm kostenlos essen durften, wofür sie in einer seiner Klassen unterrichten mussten –, den Unterricht nach der neuesten Methode zu gestalten:18 Statt den Stoff nur herunterzubeten, sollten sie ihn für die Schülerinnen und Schüler in Frage und Antwort kleiden, »weil dadurch ihre sonst fladderhaffte Gemüther fein gesamlet, und in der Aufmercksamkeit erhalten werden, da ihnen sonst fast alles verdrießlich wird«. Auch in vielen anderen Bereichen waren die Franckeschen Schulen fortschrittlich; so wurden zuerst hier sogenannte Realien unterrichtet, aus denen sich die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer entwickelten. Insgesamt waren die Lehrer gehalten, mit »Sanfftmuth und Süßigkeit« den Kindern die Liebe Gottes vorzuleben. Dabei sollten sie es
25bey dem blossen Unterricht nicht bewenden lassen, sondern mit vätherlicher Zucht und liebreicher Sorgfalt über die Seelen der Kinder wachen, und an Ermahnen und Straffen nicht ermangeln lassen.
Zu diesen Strafen gehörten körperliche Züchtigungen, die in der Pädagogik der Zeit für notwendig erachtet und die auch in allen Schulen der Glauchaschen Anstalten verabreicht wurden. Doch forderte der Direktor seine Lehrer auf:
Die Ruthe sollen sie nicht gebrauchen, wo nicht zum wenigsten dreymahl eine Warnung und mündliche Bestraffung vorher gegangen, oder eine offenbare Boßheit gespüret worden.19
Die Kinder sollten wissen, für was sie bestraft wurden, damit sie christliche Reue entwickeln konnten.
Während die Jüngeren also mit den Informatoren biblische Sprüche lernten, repetierten die Großen ihre Hausaufgaben, Psalmen Davids, Evangelien oder Episteln, die sie hatten auswendig lernen müssen. Schließlich folgte die »Schreibe Stunde«. Erneut wurde die Klasse unterteilt. Den Kleinen schrieb der Lehrer Buchstaben ins Heft, die sie abschreiben mussten, den Mittleren, zu denen Catharina Margaretha zu Beginn gehörte, Wörter. Später, als sie zu den Großen zählte, kopierte sie in der Schreibstunde eine »Vorschrifft«: Lange Texte aus der Bibel, die sie in vier Wochen abschreiben musste. Während des Unterrichts achtete der Informator darauf, dass sich die Schülerinnen und Schüler »in rechter Positur setzen, die Feder ordentlich halten, gerade schreiben, die Buchstaben recht an einander fügen«. Außerdem lernten sie auch fremde und unleserliche Handschriften zu entziffern, doch nur nach Vorlagen, in denen »nichts unanständiges oder ärgerliches enthalten sey«. Auch einen »teutschen Brieff« lernte Catharina Linck schreiben.
26Um 10 Uhr war im Winter der Vormittagsunterricht vorbei, im Sommer um 9 Uhr. Bezüglich der Hausaufgaben mahnte Francke die Lehrer, »daß sie weder die Kinder zu hause faullentzen lassen, noch ihnen durch allzuvieles Aufgeben zu harte fallen«. Und auch wenn die Hausaufgaben erledigt waren, war schulfreie Zeit beileibe keine Freizeit:
In den Stunden aber, da sie [die Waisen] nicht in der Schulen seyn, werden sie alle […] zum Strumpff-stricken angewiesen, dazu ihnen ein besonderer Strickmeister gehalten [wird]. Mittlerweile nun, daß sie stricken, ist zugleich ein Informator bey ihnen, welcher ihnen gleichsam Spiel-Weise die Fundamenta Geometriæ, Geographiæ, Historiæ, Astronomiæ, Physicæ &c beybringet, damit, wenn sie gleich auf Handwercke gebracht werden, sie dennoch in solchen zum gemeinen Leben sehr nöthigen Wissenschafften nicht gar ungegründet seyn. Dieses fassen sie mit Lust, und dienet auch dazu, daß ihnen bey dem Stricken die Zeit nicht lang wird.20
Vom Strümpfestricken der Waisenmädchen hatte sich August Hermann Francke anfangs eine Einkommensquelle für das Waisenhaus versprochen, doch reichte die Produktion stets nur für den Bedarf der eigenen Anstalten.21 Während Catharina Margaretha Strümpfe strickte und dabei historische und geographische Kenntnisse erwarb, erzählte der Informator außerdem zuweilen von der »Stats oder Landes-Policey-Ordnung«.
Eine Viertelstunde vor dem Mittagessen hatten die dazu bestimmten Mädchen und Jungen den Tisch zu decken und die Speisen aufzutragen. Vor dem Essen stellten sich die Kinder in Reihen um den Tisch, sangen ein Lied und sprachen ein Gebet. Zu essen gab es für die Waisenkinder jeden Tag ein warmes Mittagessen, und zwar eine Schüssel für vier Personen mit Suppe und »Zugemü27se«, worunter man sich Rüben, Kohl oder Karotten vorzustellen hat, auch Linsen, Weizengrütze oder Graupen. Dazu wurde Brot und, allerdings nicht täglich, Butter gereicht. Zweimal in der Woche bekam Catharina Margaretha auch Fleisch, und zwar auf drei Kinder ein Pfund.22 Zu trinken gab es Nachbier, »ein geringes Getränck vors Gesinde und arme Leute« ohne »nährende oder wärmende Krafft«,23 das man als Nebenprodukt von Bier gewann. Auch während des Essens ging die christliche Unterweisung weiter: Ein Kapitel aus der Bibel wurde vorgelesen, und damit die Aufmerksamkeit nicht leide, musste anschließend jedes Kind etwas dazu sagen; auch konnte es vorkommen, dass Catharina Margaretha während des Essens gefragt wurde, was in der letzten Predigt behandelt worden war. Die Mahlzeit endete mit Gesang und Gebet.
Bei schönem Wetter durften die Waisen in den »Freystunden« nach dem Mittagessen – und auch sonntags – in der ländlichen Umgebung spazierengehen. Auch hier blieb die Zeit nicht ungenutzt, ihr Begleiter sollte ihnen dabei aus Johann Arndts Vier Büchern Von wahrem Christenthumb (1605) erzählen, einem bedeutenden Werk der Erbauungsliteratur, das mittelalterliche Mystik und religiöse Meditation mit dem lutherischen Glaubensbekenntnis und sozialem Handeln verband; August Hermann Francke selbst erhielt wichtige Impulse aus Arndts weit verbreiteter Schrift und ließ sie nicht nur vielfach neu auflegen, sondern auch in viele Sprachen übertragen, u.a. ins Jiddische.24 Bei schlechtem Wetter blieben die Kinder in den Freistunden und sonntags im Waisenhaus, wo ein Studiosus mit ihnen sang und betete. Manchmal wurde ihnen nach der Mittagspredigt in der Kirche aus einem Buch über die frühe Christenverfolgung vorgelesen.
Nachmittags begann der Schulunterricht um 15 Uhr. In der ersten Stunde wurde noch einmal das gesamte Gebetsprogramm absolviert, mit dem der Tag begonnen hatte. Die Informatoren waren gehalten, den Kindern »eine rechte Hochhaltung des theuren 28Wortes GOttes« zu vermitteln, »ihren grösten Schatz«. Die Kinder sollten auch lernen, mit eigenen Worten zu beten, um nicht nur an einem »auswendig-gelerneten Formular« hängen zu bleiben. Montags bis freitags stand daraufhin, mit Ausnahme des Mittwochs, Rechnen auf dem Lehrplan. Gelehrt wurden die vier Grundrechenarten sowie der Dreisatz. Alle Aufgaben sollten auch wirklich verstanden werden:
Die Discipuli [Schüler] müssen Freyheit haben, ihre Dubia [Zweifel] vorzubringen, weil sie nicht alles gleich fassen können, und der Præceptor muß ihre Dubia mit Gedult anhören, und sie mit Sanfftmuth unterweisen, doch nicht mehr als eines allezeit reden lassen, und, wenn solchem sein Zweiffel benommen, auch eines andern hören.25
Mittwochs und samstags gehörte die erste Nachmittagsstunde dem Musikunterricht. Während in lutherischer Hochschätzung der Musik den Jungen auch Noten und teilweise sogar Komposition beigebracht wurde, sollten die Mädchen nur möglichst viele alte und neue Gesangbuchlieder auswendig lernen.
In der zweiten Schulstunde am Nachmittag wurden die Jüngeren erneut im Lesen unterrichtet, während die Größeren einen Spruch auswendig lernen und in ihr Heft eintragen mussten. Anschließend gingen die älteren Kinder ins Pfarrhaus zum Katechismus-Unterricht.
Um 17 Uhr besuchten alle Waisenkinder die öffentliche Betstunde, die bis 18 Uhr dauerte. Hier wurde der Inhalt der letzten Predigt noch einmal durchgenommen, es wurde der Katechismus behandelt, gesungen, gebetet und aus der Bibel vorgetragen. Im Anschluss ging Catharina Margaretha mit den anderen Kindern ins Waisenhaus zurück. Doch auch hier gab es keine Pause für die Mädchen: »Die Größeren werden mit zur Küchen und Haushal29tung angewiesen, wie auch zum Nehen, und anderer Weiblichen Arbeit«. Wie die anderen Waisen auch putzte Catharina Linck Gemüse oder wusch Berge von Geschirr ab, half am Waschtag, scheuerte Fußböden, trug Wasser, spaltete Holz, hütete Tiere, jätete Unkraut oder unterstützte die angestellte Waisenpflegerin, die sich um die Kranken kümmerte und »für die Reinigung, Wäsche der Kinder und für das Bette machen«26 zuständig war.
Mußestunden waren verpönt. Die Waisenhauszöglinge lebten, lernten und arbeiteten in einer Sieben-Tage-Woche.27 Spielen und Herumtollen waren in der pietistischen Lebenshaltung geächtet und den Waisen verboten. Insbesondere das Tanzen – für arme Leute eine der wenigen einfach zu habenden Vergnügungen – war Francke ein Dorn im Auge; ein Christ sollte seiner Ansicht nach nicht nur die Sünde selbst, sondern auch die Verführung meiden:
Was kan aber bey solcher menschlichen Schwachheit mehr zu sündigen reitzen, als wenn Manns und Weibs-Bilder sich also mit allerley Gebehrden, Stellungen des Leibes, Umbarmungen etc. begegnen? […] Wie kann man sich hernach mit der menschlichen Schwachheit entschuldigen, wenn man selbst Gelegenheit zur Geilheit und Fleisches-Lust gegeben?28
Der Gott Franckes und der Pietisten galt zwar als liebevoll, doch auch als Herr, der keinen Spaß versteht.
Nach ihrem langen, arbeits- und gebetsreichen Tagespensum bekam Catharina Margaretha ein Abendessen, das noch einmal aus Suppe, im Sommer auch aus Salat bestand, dazu Brot. Im Anschluss folgte von 20 bis 21 Uhr das Abendgebet mit dem examen conscientiæ, also einer Gewissensprüfung. Hier musste Catharina Margaretha Rechenschaft über ihren Tag ablegen. Bei Wohlverhalten gab es Lob, war sie jedoch unaufmerksam im Unterricht gewesen oder hatte sich vor einer Arbeit gedrückt oder Widerworte 30gegeben, wurde sie streng ermahnt und musste geloben, sich künftig zu bessern. Diese Selbstprüfung und -erziehung bereitete die erwähnte pietistische Autobiographie vor.
Um 21 Uhr schließlich wurde Catharina ins Bett geschickt. Auch im Schlafsaal standen die Kinder unter Aufsicht:
[…] bey den Mädgen aber, so allesambt in einem besondern Gemach ihre Bettlein haben, die Pflegerin bleibet und schläfft, damit viele Unordnung und Ergerniß so unter den Kindern beym aus- und ankleiden vorgehen könte, verhindert werde.
Die Pflegerin oder, wie sie später genannt wurde, »Waisenmutter«, war »eine Christliche Prediger Wittib«, die den Mädchen »zur Aufseherin bestellet worden, die mit ihnen speiset, und sonst ihrer als eine Mutter pfleget«.29 Sie führte den gesamten Tag die Generalaufsicht über die Mädchen, außer wenn sie in der Schule waren.30 Auch sie sollte die Kinder zu einem christlichen Lebensweg anleiten, doch waren ihre Aufgaben vornehmlich praktischer Natur:
Zweimal soll sie wöchentlich die Mägdlein auf den Köpfen und in Kleidern reinigen, welches, wo es nicht gehindert wird, des Mittwochs und Sonnabends ordentlich geschehen kann. Sollte es bei manchen Kindern nötig sein, könnte es mehrmal geschehen.31
Wie zu der Zeit üblich, schliefen die Mädchen zu zweit in einem Bett,32 da der Schlafsaal nicht geheizt wurde und die Wärme eines anderen Körpers nottat, um im Winter bei eisiger Kälte erholsam schlafen zu können. Zu den vielen Dingen, die die heranwachsende Catharina Margaretha im Waisenhaus lernte, wird daher auch die Erfahrung gehört haben, wie schön sie es fand, mit einem an31deren Mädchen das Bett zu teilen. Möglicherweise machte sie hier ihre ersten sexuellen Erfahrungen – sie wäre schließlich nicht die Erste und nicht die Letzte gewesen, die eine schlafende Aufseherin überlistete. Francke warnte zwar alle Kinder eindringlich vor den »Lüsten der Jugend« und forderte sie auf, das »Fleisch« zu »creutzigen«;33 doch seine Ermahnungen dürften so wenig gefruchtet haben wie die anderer Erzieher.
Sonntags ging es nicht in die Schule, sondern in die Kirche. Damals stand die alte romanische Georgenkirche mit ihren kleinen, rundbogigen Fenstern noch. Wollte die Predigt kein Ende nehmen, konnte Catharina neben der Kanzel ein Bild mit der Gefangennahme Christi im Garten Gethsemane betrachten sowie die gemalten oder geschnitzten Tafeln und Epitaphe zu beiden Seiten des Altars; außerdem hingen Ölbilder von sämtlichen Pfarrern seit Einführung des Protestantismus an den Wänden. Allzu sehr die Gedanken schweifen lassen durfte sie freilich nicht, konnte sie doch im Lauf der Woche immer wieder nach dem Inhalt der Predigt gefragt werden. Wie viel sie von den großen Streitpredigten Franckes verstand, die sie hier hörte – etwa den Generalangriff auf die Zustände in der lutherischen Amtskirche in seiner Predigt »Von den falschen Propheten« am 14. August 1698 –, mag dahingestellt sein. Sicherlich wird sie zumindest die Atmosphäre des Streits, der Auseinandersetzung, des Ringens um den richtigen Weg im protestantischen Glauben mitbekommen haben. Sie selbst hat sich später mitten hinein in diese Kämpfe begeben.
32Abb. 4: St.-Georgen-Kirche in Glaucha
Mit dem Gottesdienst war dem Christentum am Sonntag jedoch noch nicht Genüge getan. Erst musste Catharina Margaretha »die rechte Stunde vor der öffentlichen Betstunde« besuchen, in der Kirchengeschichte gelehrt wurde, und danach die Betstunde selbst, wie wochentags auch. Denn das eigentliche Bildungsziel in Franckes Schulen bestand nicht in der Vermittlung von Wissen; Kenntnisse waren nur notwendiges Beiwerk zum eigentlichen Erziehungszweck – die böse Natur jedes einzelnen Kindes zu überwinden. An die Stelle des eigenen, selbstsüchtigen, ›viehischen‹ Willens sollte der Wille Gottes treten.34 Es ging Francke um nichts weniger, als jede Seele vor dem ewigen Verderben zu erretten; die christliche Unterweisung sollte die Kinder zu dem machen, was Gott ursprünglich mit dem Menschen geschaffen hatte: sein Ebenbild, dessen letztendlicher Daseinszweck nach pietistischer Auffassung im Lob Gottes bestand.
Von diesem Leben im Waisenhaus, bei dem jede Minute reguliert war, hatte Catharina Linck zwischendurch genug. An einem Tag im Hochsommer35 lief sie weg. Vielleicht streunte sie durch Glaucha, sah sich bei den vielen Betrieben im Steinweg um, die Stärke produzierten, schlenderte durch die weitläufigen Gebäude des ehemaligen Zisterzienser-Nonnenklosters, das seit der Reformation als Hospital genutzt wurde. Oder versteckte sie sich bei den großen Schweine- und Schafherden vor dem oberen Rannischen Tor? Oder in den zur Saale abfallenden Weingärten von Bellendorf, 33dem Nachbarort?36 Wie lange Catharina Margaretha wegblieb, ist im Waisenhausalbum ebenso wenig vermerkt wie der Grund ihrer Flucht. Hielt sie das strenge Reglement nicht mehr aus? Floh sie vor einer Strafe? Hatte sie eine Verabredung? Wollte sie etwas Bestimmtes sehen? Oder fand sie schon damals, dass fünf bis sechs Stunden Gebet pro Tag allzu hart seien, wie sie später dem preußischen General Friedrich Wilhelm von Grumbkow erzählte?37 Im Waisenalbum wurde lediglich notiert, dass sie »von ihrer Mutter wieder bracht worden«38 war. Hatte Magdalena Linck ihre Tochter durch Herumfragen aufgespürt und zur Rückkehr ins Heim gezwungen? Oder trieb der Hunger Catharina zu ihrer Mutter zurück, die darauf bestand, dass sich ihre Tochter wieder im Waisenhaus eingliederte, wo sie versorgt war wie nirgendwo sonst? In jedem Fall zeigt die Flucht, dass die junge Catharina die Welt außerhalb des behütenden, aber auch einengenden Waisenhauses lockte. Offensichtlich fand sie schon in sehr jungen Jahren Geschmack am freien Leben. Herumvagiren, wie man damals sagte, wurde als Erwachsene zu ihrer Spezialität.
Sicherlich wurde sie nach ihrer Rückkehr körperlich gezüchtigt, hatte sie doch nicht nur gegen die Regeln des Waisenhauses verstoßen, sondern auch ihre Betreuer und ihre Mutter in große Sorge gestürzt. Die Bestrafung der »bösen Mägdlein«39 nahm der Praeceptor vor, der mit Catharina Margaretha nicht nur ein ernstes Wörtlein geredet haben wird. Mögen nicht nur die Strafen, sondern auch die Lebensbedingungen der Zöglinge insgesamt heute hart erscheinen – für damalige Verhältnisse war das Waisenhaus ein geschützter Lebensraum, der den Bedürfnissen von Leib und Seele der Kinder nach modernsten Erkenntnissen gerecht werden wollte. So schickte August Hermann Francke seinen Mitarbeiter Georg Heinrich Neubauer (1666-1725), der das Waisenhaus organisatorisch und finanziell leitete, 1697 in das damals fortschrittlichste Land Europas, die Niederlande, um dort die Waisenhäuser sowie 34die Erziehung und Pflege der Kinder zu studieren; u.a. sollte Neubauer feststellen, womit sich die Kinder die Zähne beim Mundausspülen reiben, ob sie gebadet werden und was man gegen Grind, Krätze und Ungeziefer tun kann.40
Im April 1697, fünf Monate nach Catharina Lincks Aufnahme, lebten bereits 36 Kinder im Waisenhaus, und die Bettelklasse war so angewachsen, dass sie in eine für Knaben und eine für Mädchen geteilt wurde; Catharina erhielt Unterricht mit fünfzig anderen Mädchen, Waisen und Töchtern armer Leute. Während die Waisenjungen ab Mai 1697 in dem ehemaligen Gasthof »Zur goldenen Krone« zur Schule gingen, lebte und lernte Catharina Margaretha weiterhin in den Häusern an der Mittelwache. Ein Jahr später, 1698, beherbergte das Waisenhaus schon 74 Jungen und 26 Mädchen,41 und die Häuser in der Mittelwache konnten den Raumbedarf nicht mehr decken, zumal August Hermann Francke weitere Schulen gegründet hatte, das deutschsprachige Paedagogium und die Latina. Daher kaufte Francke – immer von Spendengeldern, die er unentwegt auftrieb – am 6. April 1698 das Gasthaus »Zum goldenen Adler«, das am östlichen Rand Glauchas lag, vor dem Rannischen Tor an der südlichen Ausfallstraße Halles, dem Steinweg. War Glaucha insgesamt keine gute Gegend, so war diese Ecke geradezu berüchtigt. Nicht nur die Scharfrichterei, auch mehrere Wirtshäuser besonders üblen Rufs wie etwa »Das Raubschiff« befanden sich hier. Im Steinweg stellten zudem viele Betriebe Stärke her, deren Abfallprodukte traditionell zur Schweinemast genutzt wurden. Selbst die manches gewohnten Zeitgenossen meinten, es stinke hier zum Himmel. Zu Pfingsten kam es am Steinweg, d.h. am heutigen Franckeplatz, Jahr für Jahr zu besonders hässlichen Saufgelagen mit Prügeleien und Messerstechereien.42 Und ab dem Donnerstag nach Pfingsten fand acht Tage lang ein Kram-, Pferde- und Viehmarkt statt, bei dem der in Glaucha reichlich vorhandene Selbstgebrannte in Strömen floss. Ausgerechnet zu Pfingsten 1698 35zogen die Waisenkinder in das Wirtshaus »Zum goldenen Adler« ein, 71 Jungen und 30 Mädchen. Catharina Margaretha schlief nun zusammen mit den anderen Mädchen im Dachgeschoss des zum Gasthof gehörenden Wirtschaftsgebäudes; als Speisesaal diente ihnen eine besondere Stube im Wirtshaus.43 Dieser Umzug markiert den Beginn der Franckeschen Stiftungen an dem Ort, wo sie heute noch stehen. Francke kaufte im Juli desselben Jahres den unbebauten Grashügel neben dem »Goldenen Adler« und begann, rechtwinklig zum Wirtshaus, ein neues Waisenhaus zu errichten. Catharina Margaretha Linck erlebte die feierliche Grundsteinlegung am 13. Juli 1698 und die Baumaßnahmen aus unmittelbarer Nachbarschaft mit. Auch an der Eröffnungsfeier zu Ostern 1700 nahm sie teil. Bewohnt hat sie dieses berühmt gewordene Gebäude jedoch nie; schon eine Woche später, am 17. April 1700, wurde sie aus Franckes Waisenhaus entlassen.
Zöglinge des Waisenhauses waren in Glaucha und Halle bei Handwerksfamilien begehrt;44 ihr neuer Lehrling oder ihre neue Magd verfügte in der Regel über weit bessere Kenntnisse als andere. Als ein Wagner in Halle Catharina Margaretha Linck aufnehmen wollte, waren daher vielleicht alle Beteiligten froh, dass ihre Zeit im Waisenhaus vorbei war. Zum Abschied bekam sie feierlich in der Klasse einen Katechismus, einen Psalter und ein Neues Testament geschenkt. Catharina verließ das Waisenhaus relativ früh, mit nicht ganz dreizehn Jahren. Andere Mädchen schieden erst mit vierzehn bzw. fünfzehn Jahren aus. Das Waisenhausalbum resümiert (»Qualitates abeuntium«) ihren Aufenthalt mit den Worten: »war so vor sich hin«.45 Anders als ihre Kameradinnen Maria Nietschmann – »verhielt sich gehorsam« – oder Margaretha Koch – »hat sich gar fein angelaß[en] ist gehorsam und fleißig gewesen« – scheint Catharina Linck eine Einzelgängerin gewesen zu sein, die sich weder durch nennenswerten Fleiß noch durch Gehorsam auszeichnete. Sie mag das Waisenhaus mit Erleichterung verlassen ha36ben; dass August Hermann Francke persönlich sie unter seine Fittiche genommen hatte, sollte sich jedoch noch mehrfach als großer Glücksfall für sie herausstellen.
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Neuorientierung (1700-1703)
Bei dem Wagner in Halle war Catharina Linck zwar der ständigen Kontrolle durch die Lehrer und die Aufseherin im Waisenhaus entzogen; sie sollte allerdings weiterhin die öffentliche Betstunde besuchen. Der Weg nach Glaucha war kurz, und sie wird auch zu ihrer Mutter und zu Schulfreundinnen Kontakt gehalten haben. Bald kam es jedoch zu Schwierigkeiten mit dem Wagner oder seiner Familie, bei der sie, wie damals üblich, lebte und arbeitete. Vielleicht hatte sie gehofft, bei ihrem neuen Herrn zu lernen, wie man Räder aus Holz macht oder Karren und Wagen zimmert, und musste stattdessen als Magd die niederen Dienste verrichten, die sie schon im Waisenhaus hatte tun müssen. Oder war der Wagner unzufrieden mit ihr? Jedenfalls wechselte Catharina Linck bald schon zu einem Knopfmacher und Kattundrucker, dem sie bei seinem Handwerk half. Er kann das Mädchen zwar nicht als ordentlichen Lehrling aufgenommen haben; doch da sie später immer wieder in diesem Beruf arbeitete, muss sie Unterweisung gehabt haben.
Ursprünglich hatte das Textilgewerbe in Halle keine Tradition, da sich das solehaltige Wasser der Saale schlecht zum Walken eignete.1 Der Salzexport hatte die Stadt im Mittelalter reich gemacht, doch nach der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg war Halles alter Glanz vorbei. Als Teil des Erzstifts Magdeburg fiel die Stadt dem Kurfürstentum Brandenburg zu, dessen Herrscher geschickt Toleranz als Wirtschaftspolitik übten: Um 1700 leb38ten in Halle 726 Hugenotten, die sich auf die Woll- und Tuchherstellung und -weiterverarbeitung spezialisiert hatten. Höchstwahrscheinlich lernte Catharina Margaretha Linck also bei einem französischen Meister. Da das Knopfmachen und der Kattundruck2 zwei verschiedene Handwerke waren, dürfte Catharina Linck in einer größeren Werkstatt mit verschiedenen Produktionszweigen aufgenommen worden sein. Knopfmacher stellten nicht nur Knöpfe her, sondern auch Quasten, Gürtel aus Schnüren u.ä. Dafür wurde Seide, Kamelhaar oder Wolle zu vierfachen Fäden gedreht, mit Gold- und Silberdraht zu Schnüren weiterverarbeitet und schließlich in verschiedenen Mustern auf bzw. um hölzerne Knopfrohlinge genäht. Das Kattundrucken war eine ganz andere Arbeit. Baumwolle, aus Nordamerika bzw. der Karibik importiert, wurde zu Catharina Lincks Lebzeiten immer beliebter, weil sie sich, im Unterschied zu Wolle, so gut waschen lässt. Die sogenannten Blau- oder Schönfärber stellten Farben her, wuschen, färbten, beizten und spülten die Stoffe und erzeugten Muster in verschiedenen negativen und positiven Druckverfahren. Da sich Catharina Linck später erfolgreich als Schönfärber und Kattundrucker ausgab, muss sie sich einiges von dieser Kunst angeeignet haben.
Dennoch war sie auch bei dem zweiten Handwerksbetrieb in Halle nicht zufrieden – oder mit sich, ihrem Leben und ihren Aussichten. Vermutlich im Frühjahr 17033 schnürte sie leichtes Gepäck – viel mehr dürfte sie auch kaum besessen haben – und begab sich auf ihre erste eigenständige Reise. Die bald Sechzehnjährige wanderte ohne Begleitung nach Calbe, einem kleinen Städtchen an der Saale wenige Kilometer vor ihrer Einmündung in die Elbe. Für die 55 Kilometer brauchte sie zu Fuß etwa zwei Tage; sollte sie immer an der Saale flussabwärts gegangen sein, nahm sie zwischendurch vielleicht auch ein Fischer in seinem Kahn mit. Sie wird fast kein Geld gehabt und in einer Scheune oder unter freiem Himmel geschlafen haben.
39Catharina Margaretha Linck zog es nach Calbe, weil sie dort Freunde hatte, wie sie später in ihrem Gerichtsprozess angab. Lebte dort eine ehemalige Klassenkameradin? Oder Bekannte oder Verwandte ihrer Mutter aus ihrer Schönebecker Zeit? Calbe liegt nur zwölf Kilometer von Schönebeck entfernt. Hier, am neuen Ort, wo man sie allgemein nicht kannte, wo sie aber Unterstützung fand, vollzog Catharina Linck die große, entscheidende Veränderung in ihrem Leben: Sie zog Männerkleider an.
Vor Gericht nannte sie zwei Gründe für ihren Kleidertausch: Zum einen habe sie keusch leben wollen, zum anderen hätten das »ja mehr WeibsLeuthe gethan«.4