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Weltenbummlerin und Kreuzfahrtköchin Paula freut sich auf den bevorstehenden Urlaub und die Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin in der Toskana.
Sie ahnt nicht, dass sie dort von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Denn auch Noah ist eingeladen. Noah, ihre erste große Liebe und der Grund, warum Paula Hamburg vor zehn Jahren überstürzt verlassen hat.
Als die beiden auf dem Landgut unter Zitronenbäumen aufeinandertreffen, fühlen sie sich direkt wieder zueinander hingezogen. Aber die Vergangenheit und ihre Geheimnisse stehen zwischen ihnen.
Die perfekte Urlaubslektüre für Fans von gutem Essen, entspannten Zeiten und herzergreifenden Liebesgeschichten.
Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 337
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Weltenbummlerin und Kreuzfahrtköchin Paula freut sich auf den bevorstehenden Urlaub und die Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin in der Toskana.
Sie ahnt nicht, dass sie dort von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Denn auch Noah ist eingeladen. Noah, ihre erste große Liebe und der Grund, warum Paula Hamburg vor zehn Jahren überstürzt verlassen hat.
Als die beiden auf dem Landgut unter Zitronenbäumen aufeinandertreffen, fühlen sie sich direkt wieder zueinander hingezogen. Aber die Vergangenheit und ihre Geheimnisse stehen zwischen ihnen.
Die perfekte Urlaubslektüre für Fans von gutem Essen, entspannten Zeiten und herzergreifenden Liebesgeschichten.
Emilia Thomas wuchs in einer idyllisch gelegenen Kleinstadt am Bodensee auf. Dass es in Deutschland sowie dem Rest der Welt auch andere liebens- und lebenswerte Orte gibt, fand sie aber spätestens durch studiums- und berufsbedingte Umzüge und natürlich auch auf Reisen heraus. Nichts desto trotz, zog es sie nach fast zehn Jahren dann doch wieder zurück in die Heimat. Dort lebt sie nun mit ihrem Mann und ihrer gemeinsamen Tochter und schreibt, neben ihrem eigentlichen Beruf, Liebesromane mit Happy End.
Emilia Thomas
Rosmarinküssein der Toskana
beHEARTBEAT
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras
Covergestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung von Motiven © Alina Yudina / shutterstock
Abbildung Innenteil: © Shutterstock / Superheang168
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0745-9
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Mehr als sonst reflektierte das Meer an diesem Abend das Leuchten des beinahe perfekten Vollmondes und warf ein schwaches weißes Licht durch das kleine Fenster in Paulas Kajüte. Mit angezogenen Beinen saß sie auf dem grauen Teppichboden und hatte erschöpft Rücken und Kopf gegen das Bett gelehnt, während sie ihrer besten Freundin schmunzelnd dabei zuhörte, wie sie über den bevorstehenden Urlaub in der Toskana sprach.
»Und es wird sicher nichts dazwischenkommen? Du wirst die vollen zehn Tage da sein?«, wollte Sarah nun schon zum dritten Mal in diesem Telefonat von Paula wissen. »Meinen dreißigsten Geburtstag ohne dich zu feiern – allein beim Gedanken daran krieg ich schlechte Laune.«
Paula schnaubte amüsiert. »Wenn ich es doch sage. Ich habe schon vor einem Dreivierteljahr den Urlaub eingereicht und das Flugticket seit Ewigkeiten gebucht. Es wird nichts schiefgehen oder dazwischenkommen. Bei meiner Küchencrew habe ich sogar schon so oft den Trip in die Toskana angekündigt, dass selbst die schüchternen Praktikanten mittlerweile mit den Augen rollen, weil sie es nicht mehr hören können.«
Sie grinste, als sie an ihr elfköpfiges Team dachte. Seit fast einem Jahr war sie nun die neue Küchenchefin in einem von drei separaten Gourmet-Restaurants auf der MS Sognare, die den Passagieren eine Abwechslung zu den sonstigen All-inclusive-Restaurants an Bord boten.
Obwohl Paula all die Jahre zuvor selbst in den gigantischen Hauptküchen verschiedener Kreuzfahrtschiffe gearbeitet hatte, die für ebenjene großen Restaurants zuständig waren, und dabei beinahe alles gelernt hatte, was sie heute konnte, war sie doch mehr als glücklich über ihre jetzige Anstellung. Hier konnte sie sich endlich richtig entfalten und eigene Entscheidungen treffen. Außerdem hatte sie die Möglichkeit, ihr Team so zu führen, wie sie es für richtig hielt.
Paula war es wichtig, dass es bei ihr am Herd nicht zuging wie in diesen Teufelsküchen, in denen sich die Leute gegenseitig anschrien, die Praktikanten Panik hatten, Fehler zu machen, und jährlich mindestens ein Angestellter einen schweren Burn-out erlitt. Und sie war ziemlich stolz darauf, dass ihr Team eine hervorragende Qualität auf die Teller brachte, auch wenn sie ihre Leute nicht anbrüllte. Das alles bedeutete jedoch nicht, dass es in ihrer Küche nicht diszipliniert zuging.
»Meinst du Arturo? Rollt er mit den Augen?«, erkundigte sich Sarah und unterbrach damit Paulas Gedankengang. Sarah vergaß einfach nie etwas, was Paula bei ihren regelmäßigen Telefonaten oder den seltenen Treffen erzählte, und sei es ein noch so unwichtiges Detail.
»Genau der. Seit er sein Heimweh nach Italien überwunden und uns ein bisschen kennengelernt hat, blüht er richtig auf in der Küche. Ich glaube, er brauchte einfach etwas Zeit bei uns an Bord.«
Sarah lachte. »Dann ist er bei dir ja gut aufgehoben. Du brauchst schließlich auch eine gefühlte Ewigkeit, bis du dich jemandem gegenüber öffnest.«
Paula fummelte das Haargummi, das ihre kupferroten Locken bis eben zusammengehalten hatte, aus ihnen heraus. »Ich bin schon lange nicht mehr so schlimm wie in der Grundschule … Und in der Küche ist das sowieso etwas ganz anderes«, protestierte sie.
»Ja, ja, weiß ich doch. Ach, mir ist das ein Rätsel, wie ihr das alle aushaltet, andauernd unterwegs und nie zu Hause zu sein … Und dann diese winzigen Kabinen mit Miniguckloch. Oder, noch schlimmer, ganz ohne Fenster. Hannes und mir war das schon nach einer Woche viel zu beengt.« Sarah spielte damit auf den Urlaub vor einigen Jahren an, als die beiden Paula auf ihrem damaligen Kreuzfahrtschiff besucht hatten.
Paula ließ den Blick durch den Raum schweifen. Neben ihrem Bett befand sich ein Bullauge, um das herum farbenfrohe Fotos von ihren vielen Reiseerlebnissen klebten. Durch das kleine Fenster konnte sie bereits morgens, wenn sie aufwachte, direkt das glitzernde, dunkelblaue Wasser sehen. Allein dafür – immer umgeben zu sein von den unendlichen Weiten des Meeres – lohnte sich die Arbeit auf dem Schiff.
Ihr Blick wanderte weiter. Über dem schmalen Schreibtisch, den sie eigentlich nur nutzte, wenn sie neue Rezepte aufschrieb, war ein Holzregal verschraubt, in dem sich ein paar wenige Romane, aber dafür umso mehr abgegriffene Ringhefte mit ihren eigenen Rezeptsammlungen befanden – für jedes bereiste Land eines. Und dann gab es in der Ecke neben dem Badezimmer noch einen deckenhohen Kleiderschrank, vor dem ein dunkelgrüner Ledersessel stand, auf dem ihre Freizeitklamotten sich mal wieder türmten. Mehr war es nicht, doch Paula liebte ihr reisendes Heim.
»Das Schiff ist eben unser Zuhause«, erklärte sie schlicht und rieb an einem rotbraunen Soßenfleck auf ihrem Ärmel herum.
»Weiß ich doch. Du hast es mir ja auch schon tausend Mal erklärt. Ich dachte nur … vielleicht … vielleicht kommst du irgendwann wieder zurück nach Hamburg. An Land. Zu Hannes und mir. Und zu deinem Vater. Du bist nun immerhin fast zehn Jahre ununterbrochen unterwegs, das ist eine lange Zeit. Und ich habe gehofft, jetzt, wo du seit einem Jahr wieder regelmäßig im Hamburger Hafen anlegst und wir uns wieder öfter sehen, überkommt es dich möglicherweise. Wir vermissen dich einfach!«, gestand Sarah, und ihre Stimme klang nun weich.
Paula spürte, wie ihr plötzlich das Schlucken schwerfiel, und griff zu der Wasserflasche, die neben ihr stand, um den imaginären Fremdkörper in ihrem Hals wie einen zu trocken geratenen Brotknödel hinunterzuspülen. »Wer weiß! Noch bin ich erst jugendliche neunundzwanzig und habe jede Menge Zeit. Ist ja nicht so, als würde ich in ein paar Tagen auch schon dreißig werden. Hast du nicht das letzte Mal erzählt, du hättest ein graues Haar bei dir entdeckt?«, neckte Paula die Freundin, um vom Thema abzulenken.
»Ha. Ha. Sehr komisch. Ich lass mich von dieser Zahl doch nicht verunsichern …«, behauptete Sarah und ergänzte dann triumphierend: »Immerhin schaffe ich es durch diesen runden Geburtstag, dich mal wieder länger als für ein Mittagessen in meiner Nähe zu haben.«
Sofort bekam Paula ein schlechtes Gewissen. »Ich weiß, es ist viel zu lange her, dass wir mehr als zwei Stunden am Stück zusammen verbracht haben! Das letzte Jahr war einfach ziemlich turbulent …«
»… so wie die neun Jahre zuvor, meinst du?«, warf Sarah ein, doch dann lachte sie.
Paulas Antwort wurde von einem rhythmischen Klopfen unterbrochen. »Warte mal kurz, ich glaube, es ist jemand an der Tür.« Sie hielt das Handy an die Brust gepresst und stand auf, um dem Besucher zu öffnen.
Es war Janne, der Lust auf einen »Feierabenddrink« hatte und wissen wollte, ob sie mit in die »Crewbar« kommen wolle – eine Umschreibung, die sie beide regelmäßig benutzten, wenn ihnen nach körperlicher Nähe war.
»Bist du noch dran?«, meldete sich Paula nach kurzer Zeit am Telefon zurück.
»War das dein schwedischer Loverboy – Mister ›Kommen Sie, ich zeig Ihnen die schönsten Sehenswürdigkeiten der Stadt‹?« Dabei imitierte Sarah den schwedischen Akzent des attraktiven Reiseleiters nicht sehr gekonnt.
Paula kicherte leise. »Das klang jetzt aber eher nach einer Mischung aus Russisch und Französisch. Außerdem reden wir hier an Bord doch sowieso fast nur Englisch.«
»Also, triffst du dich nachher noch mit dem smarten Blondie auf einen eurer berüchtigten Feierabenddrinks?«, bohrte Sarah weiter, und Paula stellte sich vor, dass sie in diesem Moment verschwörerisch mit den Augenbrauen wackelte.
»Ich denke nicht, nein. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, bevor es in drei Tagen losgeht«, gab Paula ihrer Freundin die gleiche Antwort wie auch Janne kurz zuvor.
»Na gut. Aber, Süße, ich muss jetzt langsam los. Hannes und ich sind heute bei unseren Nachbarinnen zum Essen eingeladen, weil unser Kühlschrank wegen des Urlaubs schon leer gefuttert ist. Ich habe mich vorhin davongestohlen, doch zu lange will ich die drei auch nicht warten lassen.«
Wieder einmal durchströmte Paula ein warmes Gefühl bei dem Gedanken daran, wie konsequent Sarah ihre Telefonverabredungen einhielt und was sie alles in Kauf nahm, damit nichts zwischen ihre obligatorischen Gespräche jeden zweiten Montag kam. Selbst als Paula vor zwei Jahren das Pfeiffersche Drüsenfieber gehabt hatte, hatte Sarah sie angerufen, nur, um ihr dann eine Stunde lang dabei zuzuhören, wie sie vor sich hin röchelte.
»Ina hat sich extra für mich an meinem Lieblingsnachtisch versucht. Den will ich nicht verpassen«, gestand Sarah fröhlich. »Also … Ich werde dir noch eine Mail schreiben mit Details und Infos, die du für die Anreise und alles Weitere benötigst, ja?«
»Ist gut. Grüß Hannes von mir und morgen dann einen guten Flug euch beiden!«, verabschiedete sich Paula und warf ihr Handy schwungvoll auf ihr Bett.
Von der Rückseite des Telefons, das in einer Schutzhülle steckte, lachten ihr zwei Gesichter entgegen. Sarah hatte ihr die Hülle zum letzten Geburtstag geschenkt, und immer, wenn Paula das Bild ansah, das vor zwei Jahren während ihres letzten gemeinsamen Urlaubs entstanden war, musste sie grinsen. Sarah trug darauf ihr schulterlanges blondes Haar zu zwei Ährenzöpfen geflochten, die neckisch rechts und links über ihre schlanken Schultern baumelten. Der Chefkonditor auf Paulas Schiff hätte die Zöpfe nicht ordentlicher legen können. Paulas rotes, wild gelocktes Haar, das an diesem Tag aussah, als hätte es noch nie Bekanntschaft mit einem Haarpflegeprodukt gemacht, wurde hingegen vom salzigen Wind, der auf der griechischen Insel geherrscht hatte, durcheinandergewirbelt.
Paula erinnerte sich daran, dass dies der Grund gewesen war, weshalb sie beide auf dem Foto so herzhaft lachten. Ihre Mähne war ihnen andauernd ins Gesicht und am Ende sogar in den Mund geweht. Doch Sarah hatte Paula strikt untersagt, die Haare zu einem Knoten zusammenzubinden, wie sie es immer in der Küche tat, weil sie seit jeher der Meinung war, dass Paulas Haare ein »Wunder« seien.
Paula schüttelte lächelnd den Kopf, als sie daran zurückdachte. Noch immer trug sie ihre Küchenklamotten, denn sie war direkt nach ihrer Schicht zum Telefonat übergegangen. Mit schlaffen Armen schälte sie sich aus ihrer Kochjacke, die im Bereich ihrer Brüste immer ein wenig zu eng saß, und warf sie aufs Bett. Die karierte Hose, die ihr um die Taille hingegen ein bisschen zu weit war, ließ sie einfach zu Boden fallen und tappte dann in das kleine Badezimmer ihrer Kajüte.
Während sie unter der Dusche stand und es genoss, wie der warme Wasserstrahl ihren verspannten Nacken massierte, dachte sie noch einmal über Sarahs Worte nach, zurück nach Hamburg zu kommen. Paula hatte im vergangenen Jahr tatsächlich einige Male daran gedacht, sich einen Job in einer Küche in Hamburg zu suchen. Oder – und das entsprach viel eher ihrem Wunsch – selbst ein kleines Restaurant zu eröffnen. Die Erfahrung und die Rücklagen hatte sie nach der langen Zeit in verschiedenen Küchen allemal, und sie vermisste Sarah. Genauso wie sie ihren Vater vermisste, den sie lange nicht mehr gesprochen hatte. Doch jedes Mal, wenn sie abends im Bett lag und anfing, intensiver darüber nachzudenken, langfristig in ihre Heimatstadt zurückzukehren, überrollte sie diese Welle an Emotionen, und die Erinnerungen tauchten mit einem Schlag wieder auf …
Fast zehn Jahre war es nun her, dass Paula ihr Abitur in Hamburg gemacht hatte und kurz darauf an Bord gegangen war, um ein Praktikum in der Küche eines Kreuzfahrtschiffes zu absolvieren. Bei ihren kurzen Stippvisiten in Hamburg konnte sie die Vergangenheit ausblenden, aber dass ihr das auch gelingen würde, wenn sie dauerhaft in Hamburg lebte, bezweifelte sie. Selbst nach dieser langen Zeit.
Um sauber zu werden, rieb sich Paula heftiger als nötig mit den Händen über das Gesicht und drehte die Mischarmatur ganz nach rechts, sodass das eisige Wasser die Erinnerungen einfror und sich diese nicht weiter in ihr ausbreiten konnten.
Frisch geduscht und in einem schlabberigen T-Shirt mit dem Aufdruck Es heißt ›Moin‹! ›Moin Moin‹ is’ schon Gesabbel! (ebenfalls ein Geschenk von Sarah) saß Paula kurz darauf auf ihrem Bett. Auf dem Schoß balancierte sie ihren Laptop.
Ein freudiges Kribbeln machte sich in ihrem Magen breit bei dem Gedanken, bald zehn Tage mit ihrer besten Freundin und deren langjährigem Freund Hannes in Italien zu verbringen. Sarah und Hannes hatten gemeinsam zu ihrem dreißigsten Geburtstag ihre engsten Freunde in ein Ferienhaus in der Toskana eingeladen, um mit ihnen diesen Tag gebührend zu feiern.
Als Geschenk zu diesem besonderen Anlass arbeitete Paula seit Wochen an einem Fotoalbum, um ihre gemeinsamen Jahre zusammenzufassen. Paula hatte sich für die nostalgische Variante entschieden: ein Album, in das sie jedes einzelne Foto einkleben und von Hand beschriften musste … und in dem nun an unregelmäßigen Stellen Schmetterlingssticker klebten, mit denen sie versuchte, ihre Schreibfehler unauffällig zu kaschieren.
Kritisch betrachtete Paula ihr Werk. Basteltechnisch war sie eindeutig nicht besonders begabt (ganz im Gegensatz zu Sarah selbst, die selbstständige Grafikdesignerin war und vor Kreativität nur so sprühte), doch sie fand ein solches Album persönlicher als eines, das am PC erstellt worden war. Auch wenn es nicht perfekt war. Außerdem konnte sie es so jederzeit nach Belieben ergänzen und auf die letzten Seiten Fotos von der Geburtstagsparty in der Toskana kleben. Die würde Paula einfach direkt mit ihrer Polaroid-Kamera schießen.
Obwohl das Fotoalbum bereits fast voll war, gab es noch immer etliche unberücksichtigte Bilderschätze, die Paula durchsehen wollte. Von furchterregend (Sarahs erste Schminkversuche) über schmerzhaft (Hannes’ Beinbruch) bis lustig (der erste gemeinsame Rausch) gab das Bildmaterial alles her, und Paula beglückwünschte sich einmal mehr zu der Idee, diesen Bildern die Plattform zu geben, die sie verdienten. Zum Glück befand sich an Bord des Schiffes ein kleines Fotogeschäft, so konnte sie jederzeit Bilder entwickeln lassen.
Gedankenverloren klickte sich Paula durch die riesige Anzahl an Fotos, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, bis irgendwann der Cursor ihrer Laptop-Maus um genau den Ordner kreiste, den sie bislang bewusst übersehen hatte. Fotos mit N. hatte sie ihn genannt, als sie vor etwa zehn Jahren aus ihrer Fotosammlung all die Bilder aussortiert und dort hineingeschoben hatte, auf denen er zu sehen war: Noah, ihre große Jugendliebe. Wieso sie diese nicht längst gelöscht hatte, konnte sie nicht sagen. Vielleicht, weil es sonst erheblich weniger Fotos aus Sarahs, Hannes’ und ihrer gemeinsamen Schulzeit gegeben hätte. Oder deshalb, weil er von allen Männern, die sie auf der ganzen Welt kennengelernt hatte, der einzige war, der es in ihr Herz geschafft hatte, wo er selbst heute noch an manchen Tagen herumspukte.
Bewusst klickte Paula den Ordner weg, aber gar keine Erinnerung an ihn und ihre gemeinsame Zeit zu haben würde sie vermutlich mehr schmerzen, als die Fotos in einem schwachen Moment doch noch anzusehen …
Bevor sie zu weit in die Vergangenheit abdriften konnte, schnappte sie sich ihr Handy und ließ Janne wissen, dass sie nun doch für einen Absacker zu haben war.
Auf eine Antwort musste sie wie immer nicht lange warten, und so lag sie bereits eine Stunde später mit zerwühltem Haar in seinem Bett.
Vorsichtig drehte Paula den Kopf in seine Richtung. Die Augen hatte er geschlossen, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er schien zu schlafen. Leise richtete Paula sich auf und suchte den Raum mit den Augen nach ihren Klamotten ab. Janne war lustig, charmant, gut aussehend und ein sehr guter Liebhaber. Aber aus irgendeinem Grund wollte das Paula heute (anders als sonst) nicht zufriedenstellen.
»Was ist?«, erkundigte sich Janne verschlafen und hob den Kopf. Sein blondes Haar fiel ihm ins Gesicht.
»Nichts, schlaf einfach weiter«, flüsterte Paula auf Englisch. Sie fühlte sich ein wenig ertappt. Normalerweise verschwand sie bei ihren Treffen nicht sofort und klammheimlich.
»Wieso bleibst du nicht noch?« Er lächelte sie liebevoll, aber verschlafen an und strich ihr über den nackten Rücken.
Paula suchte nach einer möglichst unkomplizierten Antwort. »Ich würde ja gern, vor allem, weil deine Kissen um einiges bequemer sind als meine. Aber heute … ähm, geht es nicht … Ein andermal wieder.«
»Du musst dich nicht rechtfertigen.« Er ließ sich zurück in die Kissen fallen. »Ikea«, sagte er dann.
»Wie bitte?«
»Die Kissen … Sie sind von Ikea.«
»Du nimmst mich doch auf den Arm?«, entfuhr es ihr, und sie lachte kurz auf. Es war einfach zu klischeehaft, dass der Schwede sein eigenes Ikea-Kissen mit an Bord brachte. Jannes leises Kichern, als sie in ihre löchrige Jeans schlüpfte, gab ihr recht. »Ich bin dann jetzt eine Weile weg«, informierte sie ihn.
Neugierig sah er sie an, als sie sich den leichten, grauen Strickpullover mit dem weiten V-Ausschnitt über den Kopf zog. »Wann kommst du wieder? Und wo gehst du überhaupt hin?«
Paula schob einen Zipfel des Oberteils in den Hosenbund und zupfte alles rasch zurecht. Wo war denn nur ihr zweiter Schuh? Sie sah unter dem Bett nach und antwortete: »Wenn wir in Hamburg ankommen, gehe ich von Bord. Freitag fliege ich für zehn Tage nach Italien.«
»Cool. Ich dachte eigentlich, du traust dich gar nicht mehr so lange vom Schiff, so selten wie du von Bord gehst.« Er grinste. »Dann viel Spaß und genieß deinen Urlaub!«
»Das werde ich. Bye, Janne.« Paula lächelte kurz und hauchte ihm dann zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Bye!«, murmelte er, als er den Kopf bereits wieder tief in seinem Kissen vergraben hatte.
Auf dem Weg in ihre Kabine beschloss Paula, an ihrem Lieblingsplatz an Deck noch einen Moment frische Luft zu schnappen, anstatt sich gleich in ihr Bett zu legen, wo sie an diesem Abend wohl nur hellwach ihren Computer anstarren würde.
Sie stand am Heck des über zweihundert Meter langen Schiffes und betrachtete die Wassermassen, die die gigantische Schiffsschraube jede einzelne Sekunde aufwirbelte. Langsam fühlten sich ihre Finger, Ohren und ihre Nasenspitze eisig an. Hätte sie nur eine Jacke mitgenommen, als sie zu Janne aufgebrochen war! Doch die Kälte, die mittlerweile jeden Zentimeter ihres Körpers erobert hatte, und der salzige Fahrtwind, der ihr durch die Haare brauste, klärten ihre Gedanken. Genauso wie bereits Hunderte Male zuvor. Für Paula gab es nach wie vor nicht viele Dinge, die ihr ein besseres Gefühl gaben, als vom Schiff aus auf den Horizont zu schauen und dabei eine große Portion Zufriedenheit und Glück einzuatmen.
Paula klapperte noch ein letztes Mal alle Posten in ihrer Küche ab. »Arturo, schneide das Gemüse für das Curry bitte etwas filigraner und schau darauf, dass die Rauten gleichmäßig sind. Die hier sind bestimmt zwei Zentimeter größer als die anderen … Ja. So ist es besser«, erklärte Paula wie immer auf Englisch und wandte sich dann etwas lauter an die ganze Truppe: »In zwei Stunden öffnen wir, und wir sind heute ausgebucht, also zieht bitte mal ein bisschen das Tempo an.« Zufrieden nickte sie, als nach und nach aus unterschiedlichen Ecken der Küche »Ja, Chefin«-Rufe zu ihr drangen.
»Dir ist schon klar, dass du heute eigentlich schon freihast, oder?«, erinnerte Daniel sie. Er war ihr Souschef und würde sie in den kommenden Tagen vertreten. »Du hast nach unserem Meeting gesagt, du willst nur noch kurz dabei sein, wenn wir die Menüs und Showteller für heute Abend durchgehen, und dann verschwinden. Das ist jetzt dreißig Minuten her.« Er sah sie freundlich tadelnd an.
»Ja, ja, schon gut. Ich weiß, dass du alles im Griff hast. Ich kann nur einfach nicht aus meiner Haut. Und es ist mein erster Urlaub, seit ich hier das Zepter übernommen habe.«
Daniel grinste. »Schon klar. Das macht dich nervös.«
»Okay, Leute! Kurz herhören.« Das Tellergeklapper, die Schneidegeräusche und das geschäftige Treiben wurden für einen Moment weniger. »Die Übergabe ist gemacht, und ich werde mich jetzt verkrümeln. Versucht, die Küche nicht abzufackeln und keinen der Gäste zu vergiften. Wir haben einen Ruf zu verlieren, und ich habe keine Lust, in meinem Urlaub einen Anruf von Daniel zu bekommen. Ihr wisst, ich bin in der …«
»… Toskana!«, rief beinahe das ganze Küchenteam inklusive Daniel im Einklang, und amüsiertes Gemurmel machte sich breit, bevor alle wieder konzentriert ihrer Arbeit nachgingen.
Paula grinste und warf ihrem Souschef einen warnenden Blick zu.
»Entspann dich«, entgegnete er locker und lachte dann. »Wir kriegen das schon hin. Und jetzt geh und pack deine Sachen. Du hältst uns von der Arbeit ab.«
»Ist ja schon gut.« Paula machte sich auf den Weg in Richtung Schwingtür. Daniel hatte recht. Wenn sie nicht sofort hier verschwand, würde sie am Ende nur noch anfangen, alles abzuschmecken, und dann hätte sie heute erst gar keinen Urlaubstag zu nehmen brauchen. Insgeheim wusste sie ja auch, dass Daniel seine Sache gut machen würde, aber es fiel ihr doch schwerer als gedacht, ihre Küche aus der Hand zu geben. Auch wenn es für nicht einmal zwei Wochen war.
»Äh … Chefin?« Arturo winkte sie verlegen zu sich, woraufhin Paula noch einmal umkehrte. Seine Wangen röteten sich leicht. »Ähm … Du gehst doch in die Nähe von Florenz, und … ich dachte, du willst vielleicht einen Reisetipp haben …«
»Ah, richtig. Du kommst aus der Nähe, stimmt’s?« Paula lächelte ihn ermutigend an. Der Tipp eines Einheimischen konnte nie schaden.
Er nickte stolz. »In dem Dorf, aus dem ich stamme, da gibt es eine Fattoria. Die Fattoria ist ein Bauernhof und ein Weingut«, erklärte er, während er seine Schneidearbeit keine Sekunde lang vernachlässigte. Multitasking – damit erfüllte er eine wichtige Voraussetzung, um Koch zu werden, nahm Paula zufrieden zur Kenntnis. »Die Fattoria gehört meinem Onkel und seiner Familie. Ich habe dort in den Ferien immer gejobbt. Sie stellen leckere Dinge her, die du mögen wirst: Wein, Pasta, Soßen, eingelegtes Gemüse und so weiter.«
Paula erinnerte sich. »Die Sachen, die du bei unserem letzten Teamtag dabeihattest, als wir alle etwas aus unserer Heimat mitbringen sollten?« Ihr gefiel es, mit wie viel Leidenschaft Arturo über die Fattoria sprach.
»Sì. Genau diese.« Jetzt, da er merkte, dass sich Paula ernsthaft dafür interessierte, strahlte er sie regelrecht an. »Jedenfalls, wenn du vorbeigehen willst, ruf einfach an und richte Grüße von mir aus. Dann werden sie dich sicher rumführen. Hier, ich habe dir die Adresse notiert.« Er zog einen kleinen zerknitterten Zettel aus der Brusttasche seiner Kochjacke.
»Danke, vielleicht mache ich das tatsächlich«, sagte Paula und griff nach dem Zettel.
Am nächsten Tag in aller Frühe würde Paulas schwimmendes Zuhause in Hamburg anlegen und sie so lange von Bord gehen, wie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht. Einen winzigen Moment lang hatte sie bei der Planung ihrer Reise darüber nachgedacht, direkt vom Schiff zum Flughafen zu fahren und noch am selben Tag den späten Flieger nach Florenz zu nehmen. Am Ende hatte sie es aber trotz des mulmigen Gefühls nicht übers Herz gebracht, ihren Vater nicht zu besuchen. Sie würde also eine Nacht in ihrem alten Kinderzimmer verbringen und erst am Tag darauf den ersten Flieger nach Florenz nehmen.
Paula checkte die E-Mail, die Sarah ihr wie versprochen geschickt hatte und die noch einmal alle wichtigen Urlaubsinfos schwarz auf weiß enthielt. Dass ihre sonst eher impulsive und quirlige Freundin, was diese Reise anbelangte, so viel Perfektionismus an den Tag legte, sah ihr gar nicht ähnlich. Sarah hatte an ihre E-Mail sogar eine Liste mit Dingen angehängt, die Paula auf jeden Fall mitbringen sollte. Interessanterweise standen neben einigen sinnvollen Sachen wie Antimückenspray und Sonnencreme auch ein trägerloser BH und ein Slip, der sich nicht abzeichnet, darauf.
Auf Paulas Nachfrage, wieso um alles in der Welt sie spezielle Unterwäsche benötigen würde, bekam sie zwar schnell eine Antwort, jedoch war diese wenig bis gar nicht informativ gewesen. Tu’s einfach!, hatte Sarah ihr geschrieben, und obwohl Paula beim besten Willen nicht einfiel, wozu sie einen trägerlosen BH brauchen würde, kannte sie ihre Freundin doch gut genug, um zu wissen, dass sie besser tat, was ihr empfohlen oder eher befohlen wurde. Und da sie keinen trägerlosen BH besaß, würde sie vor ihrem Abflug noch in Hamburg einkaufen gehen müssen.
Als Paula in ihrer Kabine unter beträchtlichem Kraftaufwand den letzten Gegenstand von Sarahs Liste zusätzlich in ihren Reiserucksack gequetscht hatte, öffnete sie einem plötzlichen Impuls folgend ihren Laptop und nach kurzem Zögern den Ordner »Fotos mit N.«. Ohne die Aufnahmen genau zu betrachten, schob sie die ersten zwanzig Bilder auf ihren USB-Stick und schloss beides dann hastig wieder. Wenn sie daran dachte und ihr danach war, würde sie die Fotos morgen in Hamburg ausdrucken lassen. Dann konnte sie immer noch im Urlaub ein oder zwei davon aussuchen und in das Album kleben. Schließlich wäre es schon etwas eigenartig, wenn dieser ganze Teil aus Sarahs, Hannes’ und ihrer Jugend fehlen würde.
Mit einer filigranen, rosaroten Papiertüte in der Hand und ihrem abgewetzten, bis oben hin vollgepackten Überseerucksack auf den Schultern verließ Paula das Unterwäschegeschäft in der Europa Passage der Innenstadt Hamburgs. Skeptisch blickte sie in den wolkenverhangenen Himmel. Der für Hamburg so typische Nieselregen hatte zwar wieder aufgehört, die Frage war nur, für wie lange.
Müde und ein wenig entnervt steuerte Paula das nächstgelegene Café an und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. Die Sitzfläche war zwar noch etwas nass, aber das störte sie im Moment wenig. Der Wunsch nach einer Pause war zu groß. Wie Paula entzückt bemerkte, hatte man von ihrem Tisch aus sogar einen herrlichen Blick auf die Alsterfontäne.
Als sie ein großes Mineralwasser gegen den Durst und einen Espresso gegen die Müdigkeit vor sich stehen hatte, schrieb Paula eine Nachricht an Sarah. Ich hasse Unterwäschegeschäfte. Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, mir das anzutun … LG Paula
Bereits als sie ihr Wasserglas in Windeseile geleert hatte, klingelte ihr Handy.
»Was war los? Hast du nichts gefunden?«, wollte Sarah neugierig wie immer wissen.
»Doch. Wie befohlen einen trägerlosen BH. Aber offenbar war das der Verkäuferin nicht genug.«
»Wo warst du?«
Paula sagt es ihr.
»Lass mich raten: Die zu stark geschminkte Dame an der Kasse hat dich mit mitleidigem Blick gefragt, ob du nur eeeeein Teil gefunden hast, und darauf hingewiesen, dass es drei Teile zum Preis für eines gibt.« Sarah imitierte die Tonlage der Verkäuferin, und Paula musste lachen.
»Woher weißt du das? Dabei war ich froh, überhaupt etwas gefunden zu haben, das hübsch aussieht und trotzdem meine Brüste gut verpackt«, raunte Paula leise in den Hörer, damit es das ältere Ehepaar neben ihr nicht verstehen konnte.
»Lebenserfahrung, Baby. Ich werde nicht umsonst dreißig. Ich weiß, wie es läuft …«
»Oh. Ich vergaß.« Paula sah das frech grinsende Gesicht ihrer Freundin förmlich vor sich.
»Ich war halt selbst schon dreimal in dem Geschäft, und den Text mit den drei Teilen für eins spulen die jedes Mal runter.« Sarah gluckste, und Paula stimmte mit ein.
Genüsslich nahm sie einen Schluck des mittlerweile etwas abgekühlten Espresso, woraufhin sie zu schwärmen begann: »Mhh … Der ist wirklich außergewöhnlich gut.«
»Was machst du?«, wollte Sarah wissen.
»Ich sitze in einem Café am Alsterufer. Alsterei steht auf dem Schild. Ist das neu? Der Espresso ist auf jeden Fall der Hammer.«
»Ich war neulich mit Hannes dort. Ich glaube, es hat erst vor einem Monat oder so aufgemacht. Mein Tipp: Schau dir den Barista mal genauer an.« Sarah kicherte, als wäre sie dreizehn und nicht fast dreißig Jahre alt. »Ehrlich … der ist ’ne Augenweide. Vollbart, dunkles braunes Haar und ziemlich sexy Tätowierungen an den Armen.«
»Ich bin kaum einen Tag in Hamburg, und du versuchst schon, mich an den Mann zu bringen? Das ging dieses Mal schnell!« Paula schmunzelte in ihre Tasse.
»Ich meine nur, ein Blick schadet ja nicht«, sagte sie unschuldig. »Ich muss jetzt Schluss machen. Hannes kommt gerade aus der Dusche, und wir wollen los ins Restaurant. Ich sterbe gleich vor Hunger. Bis morgen am Flughafen. Mach dich schon mal auf einen festlichen Empfang gefasst. Bis dann.«
Paulas Vorfreude auf den kommenden Urlaub wurde noch ein wenig größer, als sie ohnehin schon war. Der Ort, an dem sich Sarah und Hannes bereits aufhielten und an den Paula morgen nachkommen würde, befand sich zwischen Florenz und Arezzo an der Grenze der Chianti-Region. Hannes und Sarah hatten sich gleich bei ihrer Ankunft einen Wagen gemietet und würden Paula morgen Mittag am Flughafen in Florenz abholen. Die anderen Gäste würden auf Sarahs Wunsch hin erst zwei Tage später, im Laufe des Sonntags, zu ihnen stoßen. Dann haben wir auch noch ein bisschen Zeit für uns allein ;-), hatte Sarah ihr als Begründung geschrieben.
Sarahs und Hannes’ Geburtstag war dann am nächsten Samstag, dem Tag vor der Abreise. Aber im Prinzip ging es ja auch gar nicht um diesen einen speziellen Tag (und es war tatsächlich so, dass Sarah und Hannes am selben Tag geboren waren), sondern der ganze Trip war als eine Art Feier der beiden gedacht.
»Ich würde gern meine Rechnung bezahlen, darf ich das hier machen?«, fragte Paula höflich und trat an den Tresen heran.
Besagter Barista stand mit dem Rücken zu ihr und hantierte geschäftig an der zischenden Kaffeemaschine. Mit einem Lächeln drehte er sich um.
Huch, dachte Paula und stimmte ihrer Freundin im Geiste zu, der ist aber wirklich ziemlich gut aussehend!
»Moinsen! Klar, ich hätte dir aber auch jemanden geschickt. An welchem Tisch hast du gesessen?«
Paula zeigte etwas verlegen nach draußen. »An dem da. Ich hatte ein großes Mineralwasser und diesen mega Espresso.« Ungewollt war sie schon wieder ins Schwärmen geraten.
»Er hat dir also geschmeckt?« Der schöne Barista grinste sie mit einer Mischung aus Interesse und Selbstsicherheit an, und Paula konnte nicht anders, als zurückzugrinsen.
»Definitiv. War vielleicht einer der besten, die ich bisher getrunken habe, und ich habe schon Kaffee in aller Welt probiert.« Paula wusste nicht, wieso sie das sagte. Es klang ein bisschen angeberisch, und Prahlerei war im Normalfall nicht ihr Ding, doch er sollte ruhig wissen, dass sie Ahnung von Aromen hatte.
»Dann bist du also vom Fach?« Nun hatte sie seine volle Aufmerksamkeit.
»Äh … Nicht direkt. Ich bin Köchin auf einem Kreuzfahrtschiff. Deshalb komme ich ziemlich viel rum.« Sie lächelte und versuchte, dabei möglichst selbstbewusst auszusehen.
»Cool.« Er nickte anerkennend. »Und wo, würdest du sagen, schmeckt der Kaffee am besten?«
Paula überlegte einen Moment. »Hmm … das ist gar keine so leichte Frage. In Frankreich kriegt man natürlich guten Kaffee. Ich war da zum Beispiel mal in einer winzig kleinen Rösterei in Marseille, die mich richtig umgehauen hat. Doch ich glaube, mein Favorit ist und bleibt Italien. In Kombination mit dem tollen Land und dem Lebensgefühl – direkt an der Theke, schmeckt der Kaffee dort einfach am besten. Aber ehrlich, euer Kaffee ist ziemlich weit vorne dabei. Dieser leichte Geschmack nach karamellisierten Haselnüssen …«
Der Barista lachte Paula frech an. Dann griff er, ohne den Blick von ihr zu nehmen, unter sich in den Schrank und hielt ihr eine Kaffeeverpackung vor die Nase. »Respekt. Deine Geschmacksnerven sind ausgezeichnet.«
Paula errötete, als sie die Charakterisierung des Kaffees las, die genau mit ihrer Beschreibung übereinstimmte.
»Das macht dann fünf Euro vierzig«, erklärte der Barista und riss den Kassenbon von der Maschine ab. »Dann meinst du also, wir müssten hier noch etwas an unserem Lebensgefühl arbeiten, damit wir auf Platz eins kommen?«, wollte er schließlich wissen, während Paula ihr Geld herauskramte.
»Ja. Vielleicht.« Sie legte ihm einen Schein sowie zwei Münzen hin. »Stimmt so.«
»Herzlichen Dank, die Dame.« Er deutete eine elegante Verbeugung an.
Paula riss sich von seinem Anblick los. »Also, Herr Barista … Einen schönen Tag noch.«
»Jo. Ich heiße Jo. Und vergiss den hier nicht. Du weißt schon: Bonpflicht und so …« Er hielt ihr das Stück Papier entgegen und grinste sie herausfordernd an. »Bis hoffentlich bald.«
»Mal sehen.« Paula strich sich etwas verlegen eine widerspenstige Locke hinter das Ohr und nahm die Quittung entgegen. »Mach’s gut.«
Als sie den Bon in den nächsten Mülleimer werfen wollte, bemerkte sie, dass der Barista etwas daraufgekritzelt hatte. Falls du wieder Lust auf einen Espresso hast. Einfach Jo anrufen. Und dann folgte seine Handynummer. Auf Paulas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er etwas geschrieben hatte. So etwas war ihr schon lange nicht mehr passiert – ließ sie ihr Arrangement mit Janne einmal außer Acht. Ihr gefiel der Gedanke, Jos Interesse geweckt zu haben, auch wenn sie sich fast sicher war, dass sie die Nummer nicht nutzen würde. Wozu auch? Die meiste Zeit des Jahres war sie ohnehin auf See.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche, fotografierte den beschrifteten Kassenbon ab und schickte das Foto dann an Sarah mit dem Kommentar: Hab den Barista kennengelernt …
Paula stand auf dem gepflasterten Weg, der zur Doppelhaushälfte führte, in der sie ihre gesamte Kindheit und auch Jugend verbracht hatte – bis zu dem Tag, an dem sie fortgegangen war …
In Gedanken versunken betrachtete sie die Eingangstür mit den vier kleinen, eckigen Guckfenstern in der Mitte. Das Weiß der Tür hob sich deutlich von den dunkelroten Backsteinen ab, aus denen das Haus gebaut war. Paula lächelte, als sie bemerkte, dass in der winzigen Gartenfläche vor dem Haus die Büsche und Sträucher wie gewohnt ungestört vor sich hin wucherten. Gartenarbeit war noch nie eine Leidenschaft ihres Vaters gewesen. Die einzigen Pflanzen, die bei ihnen beiden Beachtung und Pflege erfahren hatten, waren solche, die man auch nutzen konnte. Was konkret bedeutete, dass nur die Kräuter im Topf auf dem Küchensims und der Brombeerstrauch, der an der Rückwand des Hauses emporkroch, gehegt und gepflegt worden waren.
»Moin, Kindchen!«, holte eine Stimme Paula aus ihren Gedanken.
Sie fuhr erschrocken herum. Vor der Eingangstür der anderen Doppelhaushälfte stand die Nachbarin ihres Vaters und winkte zittrig herüber. »Hallo, Frau Knöpke!«, rief Paula der alten, gebrechlichen Dame zu. Frau Knöpke war wie immer perfekt zurechtgemacht und hatte sich in Paulas Augen in den letzten Jahren kein bisschen verändert. Ihr kleiner, schlanker Körper steckte in einem blauen Ensemble aus Rock und Jäckchen, und das weiße Haar hatte sie zu einem kunstvollen Dutt frisiert. »Wie geht’s Ihnen denn?«, fragte Paula.
»Ach, man muss zufrieden sein. Die Beine plagen mich zwar, aber ich bin noch nicht tüdelig im Kopf, kann allein wohnen und für mich, Moritzchen und Liselotte sorgen.« Sie nickte, um ihre Worte zu bestärken.
Paula lächelte. »Da bin ich aber froh, dass sie ihre beiden Vögel noch haben und sie ihnen nach wie vor Gesellschaft leisten.«
Plötzlich wirkte Frau Knöpke nachdenklich. »Ohne die zwei wäre es schrecklich ruhig und einsam in dem großen Haus … Die beiden sind jetzt schon fünfzehn Jahre alt und immer noch gesund. Doch bei Mönchsittichen ist das ja nicht ungewöhnlich. Und du? Kommst du mal wieder deinen Vater besuchen? Warst ja schon lange nicht mehr hier.«
Paula glaubte, einen missbilligenden Unterton bei der sonst so lieben alten Dame herauszuhören, und ihr schlechtes Gewissen meldete sich mit aller Deutlichkeit. Sie nickte daher nur und sparte es sich zu erklären, dass sie auch dieses Mal nur für eine einzige Nacht hierbleiben würde. »Ich gehe dann jetzt auch mal rein, Frau Knöpke. Ihnen noch einen schönen Tag. Machen Sie es gut«, sagte Paula schnell, um das Thema zu umgehen, und Frau Knöpke verschwand daraufhin wieder in ihrer Haushälfte.
In den ersten Jahren, nachdem Paula Hamburg und allem, was damit zusammenhing, den Rücken gekehrt hatte, war sie höchstens zwei oder drei Mal im Jahr nach Hause gekommen. Und das nur für wenige Tage. Ihren Urlaub hatte sie lieber an fernen Orten und mit Sarah verbracht, wenn diese gerade Semesterferien gehabt hatte.
Damals fuhr Paula Routen, die sie quer durch die ganze Welt führten, und das war auch gut so. Afrika, Nord- und Südamerika, Asien, Australien – alle Kontinente hatte sie kennengelernt und versucht, darüber ihre Heimat Hamburg zu vergessen. Nun aber arbeitete und lebte sie seit gut einem Jahr auf der MSSognare. Gemessen an den Schiffen, auf denen Paula bisher gearbeitet hatte, war die MS Sognare mit nur etwas weniger als tausend Passagieren ein kleines Schiff, und sie legte eine verhältnismäßig unspektakuläre zehntägige Strecke zurück, die von Hamburg über Invergordon in Schottland, die Orkney- und Shetland-Inseln und verschiedene Häfen in Norwegen wieder zurückführte nach Hamburg.
Das hieß natürlich auch, dass sie regelmäßig im Hamburger Hafen einliefen, wodurch Paula die Möglichkeit hatte, sooft es sich einrichten ließ, von Bord zu gehen, um Sarah und auch Hannes zu treffen. In ihr Elternhaus zu gehen hatte Paula hingegen bis auf wenige Ausnahmen nicht über sich gebracht. Ihren Vater traf sie daher (wenn überhaupt) immer nur auswärts zum Mittag- oder Abendessen. Paula war sich lange nicht sicher gewesen, ob sie die Stelle auf der MS Sognare annehmen und damit ihrer Heimatstadt wieder so nahe kommen wollte, doch am Ende hatte Sarah sie überzeugt, die einmalige berufliche Möglichkeit nicht verstreichen zu lassen, die auch ihrer Freundschaft zugutekam.
Paula stieg die zwei Stufen zur Eingangstür hinauf. Obwohl sie einen Schlüssel besaß, drückte sie auf das Klingelschild mit dem Namen Martin Hofmann. Es dauerte nicht lange, bis ihr Vater öffnete.
»Hi, Paps!« Paula lächelte ihn an und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sein bereits mit zweiundfünfzig Jahren grau melierter Bart, der dadurch aussah, als hinge vereinzelt ein bisschen Mehl darin, pikte sie. Es war ein vertrautes Gefühl, und erst jetzt spürte sie, wie sehr er ihr gefehlt hatte.
»Hallo, Paula. Schön, dass du da bist. Komm rein.« Obwohl sie ihm ansah, dass er sich ehrlich über ihren Besuch freute, spürte sie doch – und so war es jedes Mal, wenn sie sich trafen –, dass er ihr gegenüber unsicher war. Für ihn war es schon immer schwer gewesen, die Tochter allein aufzuziehen. Seit Paula denken konnte, hatte er sich gesorgt, etwas grundlegend falsch zu machen, was eine Mutter instinktiv gewusst hätte. Oder dass Paula etwas Wichtiges fehlte, weil sie ohne Mutter aufwachsen musste.
Wieder überkam Paula eine Welle des schlechten Gewissens. Die Distanz, die sie in den letzten zehn Jahren zwischen ihn und sich gebracht hatte, hatte für ihn der endgültige Beweis sein müssen, dass er ein schlechter Vater gewesen war. Dabei war er das ganz und gar nicht. Er hatte sich alle Mühe gegeben, dass es ihr nie an etwas fehlte. Paula hätte ihrem Vater in diesem Moment gern gesagt, dass es nicht seine Schuld war, dass sie sich so zurückgezogen hatte, und dass niemand außer ihrem bescheuerten Herz etwas dafürkonnte. Aber das schaffte sie nicht – wie immer.
»Hast du umgeräumt?«, fragte sie stattdessen, als sie ihr Gepäck im Flur abgestellt hatte und ins Wohnzimmer ging. »Wow! Und sogar neue Möbel hast du! Und gestrichen! Das sieht gut aus.« Sie nickte anerkennend.
»Ja. Ähm … ich dachte, ein bisschen Veränderung schadet nicht«, erklärte er und wirkte dabei etwas verlegen. »Hast du Hunger?«
Paula sah ihn überrascht an. »Hast du etwa gekocht?«
Ihr Vater schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas für uns aus dem Restaurant mitgenommen.«
Seit Paula denken konnte, war ihr Vater der Restaurantleiter in einem familiengeführten Drei-Sterne-Hotel in Hamburg. Schon als Paula noch ein Kind gewesen war, hatte er, anstatt selbst zu kochen, oft einfach das Essen aus dem Restaurant mitgebracht. So war Paula schon früh zu einer kleinen Feinschmeckerin geworden und irgendwann dann auf die Idee gekommen, selbst Köchin zu werden. »Das klingt perfekt, Paps. Ich bringe nur mal eben meine Sachen ins Zimmer, ziehe mir was Bequemeres an, und dann komm ich runter.«