Roter Stern - Avery Parker - E-Book

Roter Stern E-Book

Avery Parker

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Beschreibung

In einer Zukunft, gezeichnet von den Spuren weltumspannender Katastrophen, regiert Jarl der Reformer mit eiserner Hand. Rey Wood lebt mit ihrer Familie fernab der Metropolen in einem für das Regime unbedeutenden Ort. So hatten sie zumindest angenommen, denn nun erstrecken sich die nimmersatten Finger der Macht auch in diese Richtung und verschonen Reys Heimat nicht länger vor den freiheitsraubenden Plänen der Kontrollsüchtigen. Das Volk geht auf die Straßen, jedoch endet der Protest im absoluten Chaos, dem Rey nur mit der Hilfe eines neuen Freundes entkommen kann. Rey zerreißt es förmlich das Herz, da es nicht jeder geschafft hat, dem Angriff des Regimes zu entkommen. Noch weiß sie nicht, was die Zukunft, die immer undurchsichtiger und rätselhafter wird, an aufregenden Abenteuern für sie bereithält. Dennoch glaubt Rey fest daran: auf ihren Vater und ihren neu gewonnen Freund Will wird sie bis in alle Ewigkeit zählen können.

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Avery Parker

ROTER STERN

Namenlos

Für Kai

Geheimnisse sind wie verborgene Türen, die darauf warten, von denen entdeckt zu werden, die den Mut haben, sie zu öffnen.

Prolog

Die Welt, wie er sie kannte, ging im Würgegriff der Natur unter und war im Begriff, darin zu ertrinken.

In großen wie in kleinen Reden hatte er gemahnt. Ein unheilvoller Unterton begleitete seine Worte, eine Vorahnung, dass das Eingreifen des Menschen in den natürlichen Lauf der Dinge eine verheerende Katastrophe heraufbeschwören könnte.

Doch er wurde nur belächelt und all seine Einwände kleingeredet, schließlich war er nur ein junger Politiker, von geringer Bedeutung in den Augen der Mächtigen. Dennoch wurde er nicht müde, ließ sich nicht beirren und verfolgte seine Überzeugungen mit einer Hartnäckigkeit, tat sie kund, wo es angebracht war, auch wenn sie ihn als einen unerfahrenen Politiker betitelten.

Die „alten Hasen“, wie sie sich nannten, schüttelten den Kopf und verspotteten ihn. „Wir haben alles unter Kontrolle“, hallten die Worte noch in seinem Inneren nach, Begleiter seines einsamen Rufes.

Es kam, wie es kommen musste, so wie er es prophezeit hatte. Alles ging schief, was nur schiefgehen konnte, und die Natur, die einst friedlich war, geriet in einer kolossalen Geschwindigkeit außer Kontrolle und verwandelte sich in einen alles verschlingenden Moloch.

Die Wellen, die einst einem sanften Plätschern glichen, türmten sich auf wie unheilvolle Giganten, verschlangen Städte und Felder, begruben den fruchtbaren Boden unter einer salzigen Decke.

Tornados, wilde Bestien des Himmels, streiften durch das Land, zerrten an den Überresten der Zivilisation und ließen die Grenzen zwischen Vorahnung und Realität verschwimmen.

Die Gezeiten, einst im harmonischen Tanz mit dem Mond, wurden zu rebellischen Elementen, die das Gleichgewicht der Welt aus den Angeln hoben.

Temperaturschwankungen fegten wie rasende Geister über die Erde, und die Menschheit floh vor der Raserei der Natur, während viele im Chaos untergingen, von der Wildheit der brachialen Elemente verschlungen.

Erst als die prophezeite Katastrophe eintrat, als alles in einem gewaltigen Crescendo des Chaos zusammenbrach, nahmen sie seinen Ruf ernst. Der Mahner, dessen Stimme einst im Wind verloren schien, fand nun Gehör und gewann an Ansehen. Er wurde auf einmal geschätzt und seine Meinung war bei den „alten Hasen“ wichtig. Also unterbreitete er seine Vorschläge, sammelte Verbündete und Unterstützer.

Inmitten des Verfalls schritt er ohne den Umhang der Selbstgefälligkeit voran. Seine Beweggründe waren von einem grundlegend menschlichen Drang geleitet – dem tief verwurzelten Wunsch, das Überleben zu sichern.

Der Weltrat, ein letzter verzweifelter Versuch, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren, begründete sich. Trotz der globalen Katastrophe, die ganz nach einer Endzeit und dem drohenden Ende der Menschheit aussah, war der Zusammenschluss der einst mächtigen Nationen ein Kraftakt.

Mit der Aussicht auf ein Konzept, auf eine Lösung, die Menschheit in einen sicheren Hafen zu führen, versuchte der Weltrat einen kraftvollen Tanz gegen das Verderben, doch die Melodie der Hoffnung wurde oft von den Dissonanzen der Zweifel übertönt.

Ambitioniert hatte man ihn genannt, den einstigen Mahner, und seine Ideen als unerreichbar abgetan. Doch inmitten der Verwüstung erwies sich die Schaffung von Schutzzonen als zwingend notwendig, um das Überleben zu sichern.

Das Erreichen seines Ziels war für ihn ein Meilenstein, doch es war in seinen Augen nicht genug. Niemand wusste, wie viele Menschen, in welchen Schutzzonen untergekommen waren. Sie brauchten mehr als nur eine einfache Registratur, die jeder umgehen konnte. Um effizienter die Bewegungen zu kontrollieren und um zu wissen, wer sich wo aufhielt, um die Nahrung sicherzustellen, mussten bessere Lösungen her.

Die Welt befand sich in einer Großen Depression, in der es nur unzureichende Lösungsansätze gab, und einigen konnte sich der Rat der Nationen genauso wenig.

Er hatte großen Einfluss gewonnen und spann neue Pläne, neue Ideen, den Weltrat weiter zu einigen und die dringender werdenden Entscheidungen zu treffen.

In einem einmaligen Akt, von langer Hand geplant, den er mit Unterstützern und Befürwortern geplant hatte, bootete er den Weltrat aus und übernahm die Herrschaft über die Welt. Der Weltrat nur ein lästiger Klotz am Bein, behinderte die notwenigen Schritte, um endlich vorwärtszukommen. Er, der Führer, der die Schicksale der Menschen in diesen dunklen Zeiten lenken wollte. Der Weltrat nur noch Marionetten seiner Macht.

Das Ziel konnte er vorantreiben und den Weg beschreiten, viele Alternativen gab es nicht. Seine Eigenmächtigkeit, eine Antwort auf die drängende Notwendigkeit, Ordnung inmitten des Chaos zu schaffen. Mit konkreten Plänen in der Tasche und der Unterstützung einer wachsenden Miliz, die sich um ihn geschart hatte, begann eine neue Zeitrechnung.

Endlich konnten die Schutzzonen, jede ein schwer zu kontrollierender Mikrokosmos, erweitert und letztendlich zu einem verbunden werden. Ganz zu schweigen von den Landstrichen, die fast unberührt blieben und in denen immer noch Menschen lebten. Doch für die Umsiedlung würde er Mittel finden. Und wenn er sein Werk nicht vollenden könnte, dann sein Sohn und Erbe seines Vermächtnisses.

Die meterdicken und noch höheren Mauern am Rand der neuen Welt wurden von Schutzschilden flankiert und zogen sich weit im Himmel über das gerettete Land, sodass sie gegen die gewaltige Wut der Natur trotzten.

Der einstige Mahner, der große Visionär, wollte so viel Land wie möglich retten und so viel Lebensraum wie möglich schaffen, wenn auch konzentriert, schließlich brauchten sie Anbauflächen, um die vielen Mäuler zu stopfen.

Die Menschen, einst in den Ecken der Welt verstreut, hatten Zuflucht in dieser künstlichen Oase gesucht und gefunden. Doch der Preis des Überlebens war hoch – Kontrolle, ein Wort, das in dieser neuen Ära wie ein Schatten über allem lag. Es war notwendig, um die Übersicht zu behalten.

Alles war knapp: Unterkünfte, Ressourcen, Hoffnung. Die Schutzzone wurde zu einer Bastion des Überlebens, in denen die Menschheit in einem fragilen Gleichgewicht balancierte.

Der junge Politiker, einst belächelt und marginalisiert, trug nun die Bürde der Verantwortung für eine Welt im Umbruch. Seine Vision war nicht egozentrisch, sondern ein hilfloser Schrei nach einer geordneten Rettung. Der Totalitarismus, den er erschaffen hatte, war ein Mittel zum Zweck, ein frustrierter Versuch, das Überleben der Menschheit zu sichern.

In seiner Entschlossenheit schwor er, dass die Schwächen der früheren Regierung unter seiner Führung keine Wiederholung finden würden. Sein Blick richtete sich auf eine Zukunft, in der bestimmtes Wissen weit in den Tiefen der Verschwiegenheit verweilen würde. Die Vorstellung von verschlossenen Wissensschätzen, die nur den Eingeweihten zugänglich waren, spiegelte sich in seinem Handeln wider.

Er würde Wege finden, um sicherzustellen, dass die Pfade des Wissens strikt begrenzt wären, dass die Pforten des Verbotenen für immer verschlossen blieben. Die Zeit der offenen Bücher würde enden, und nur noch dasjenige Wissen, das von der neuen Ordnung genehmigt würde, sollte sich in den Köpfen der Menschen niederlassen.

Im Schatten dieser komplexen Realität tauchte gelegentlich die bittere Notwendigkeit auf, ein taktisches Opfer zu bringen – die Zurückhaltung von Informationen. Dies war keine leichte Entscheidung, sondern vielmehr ein notwendiges Übel, das in einer Welt getroffen wurde, in der der Übereifer Einzelner die Früchte kollektiver Anstrengungen gefährden konnte.

Vor dieser düsteren Kulisse würde er die bedauerliche, aber scheinbar unvermeidliche Maßnahme rechtfertigen. Es lag in seiner Überzeugung, dass sie letztendlich dem Besten aller diente, selbst wenn dies bedeutete, dass nicht die ganze Wahrheit ans Licht kam, und dies war für ihn ein guter Kompromiss.

In diesem Vorhaben schmiedete er Regeln, die über die Grenzen des bisherigen Vorstellungsvermögens hinausreichten. Ein Reglement, das die Verbreitung von Informationen steuerte und den Menschen klare Vorgaben machte. Es war eine Vision, in der die Worte der Mächtigen das Narrativ formten. Eine Welt, in der die Wahrheit von einer Handvoll Auserwählter gehütet wurde, weil er wusste, wie notwendig es war, das Erreichte nicht zu verlieren – schließlich wollte er Glück und Frieden und nicht Faustrecht und Anarchie, die die Menschheit sonst sich selbst verschlingen lassen würde.

Diejenigen, die sich der neuen Ordnung nicht beugten, mussten für das größere Wohl aller die Konsequenzen spüren. Ein Regelwerk wurde geschaffen, festgefügt wie die Schatten, die über die Welt fielen. Es war nicht nur ein System der Kontrolle, sondern auch ein Mittel, um die Menschen in die vorgegebenen Bahnen zu lenken. Das freie Denken war nicht mehr die Norm; es wich dem festgelegten Kurs.

So manifestierte sich seine Absicht, nicht nur die physische Welt zu regieren, sondern auch die Gedanken und Kenntnisse der Menschen. Eine neue Struktur, geboren aus dem Wunsch nach Ordnung und Überleben, aber geformt durch die Schatten einer zunehmenden Beschränkung der Freiheit und des Wissens.

Er war mittlerweile ein alter Mann geworden und sein Sohn war genauso ambitioniert wie er. Sein Erbe der Macht — sein Sohn — würde sein Lebenswerk fortsetzen.

Aber über seinen Enkel Alexander machte er sich ernsthafte Gedanken. Alexander war anders als er, auch anders als sein Sohn Magnus Harald. Doch Alexanders Regierungszeit würde er nicht mehr erleben, dafür war er einfach zu alt, und seinem Enkel fehlten nur noch wenige Jahre bis zum Mannesalter.

Als Reformer blickte er zufrieden auf sein Lebenswerk zurück.

Order 897 - 1.7.50 N.Z.:

Ich, Olaf Jarl der Reformer, lege mit heutigem Tag die Regierungsgeschäfte nieder.

Magnus Harald Jarl der Zweite übernimmt mit heutigem Datum die Regierungsgeschäfte.

Widerstand Ist Zwecklos

Ihre Mutter zog sie hinter sich her, fest das Handgelenk umgriffen.

„Komm schon Rey, wir müssen weiter nach vorn!“

Das Reißen und Zerren ihrer Mutter erschien ihr unbarmherzig, so als gäbe es nichts anderes in ihrem Leben von Bedeutung. Als würde der Weltfrieden davon abhängen.

„Wir wollen unsere Freiheit, wir wollen selbstbestimmt leben!“, schrie sie aus voller Kehle und stimmte in den Chor der vielen Stimmen mit ein. Menschen, die sich bereits ihren Weg gebahnt hatten.

„Nieder mit dem Regime, nieder mit der Diktatur! Nieder mit Jarl!“

Als wären diese Parolen in Zeit und Ewigkeit in Stein gemeißelt, erklangen diese Sätze abermals. Immer und immer wieder hörte sie diese Leitsprüche, von allen Menschen, die sich hier versammelten. Sie verstetigten und konservierten sich in Reys Kopf.

Aus den einzelnen Parolen wurde ein Donnern von Stimmen, die sich zu einer einzigen takteten, die unermüdlich die gleichen Forderungen stellte.

Weiter, ohne Stillstand, wurde Rey in die Mitte des Geschehens hineingezogen. Sie hatte Angst. Sie hatte so fürchterliche Angst. Konnte sie doch gerade einmal die Jackensäume und die Hände der Menschen sehen, die nicht gerade zur Faust geballt gen Himmel schnellten, um dem Verlangen der Menge Nachdruck zu verleihen. Über Rey ein kleines Fleckchen Blau, ein kleiner Ausblick aus dem wilden Treiben.

Die Enge machte ihr zu schaffen. Die Körper, die sich gegen sie pressten, nahmen ihr die Luft, und nur dieses kleine Fleckchen Himmel, dieser Farbklecks über ihr, gab ihr die Gewissheit, nicht ersticken zu müssen. Dennoch kroch die Angst genüsslich ihr Rückgrat hoch, schmiegte sich an ihre Gedärme und streckte ihre Fühler in jeden Winkel ihres kleinen Körpers. Sie zitterte. Zitterte vor Angst, in der Menge unterzugehen, und in der Stimmung, die sie nicht zu deuten vermochte, die aber nichts Gutes versprach.

Zwischen den Jacken sah sie etwas aufblitzen. Etwas, das sie ablenkte und ihre Neugierde weckte. Krampfhaft schielte sie zwischen den schwankenden Stoffen, versuchte zu erkennen, was es war. Doch es entzog sich ihrem Blick, da sich die Jackensäume, die einen kleinen Moment noch etwas Sicht zuließen, noch dichter aneinanderdrängten, so als ob ihr diese kleine Ablenkung nicht vergönnt war.

Irgendetwas um sie herum geschah, verhärtete sich, veränderte sich. Sie spürte die aufgeladene Spannung in der Luft und merkte, dass sich die Bewegungen um sie herum veränderten. Unruhe und Hektik breiteten sich langsam, aber mit stetiger Intensität aus.

Von ihrer linken Seite trug ihr der Wind eine Stimme zu. Hörte sie, wie sie brüllte. Eine dunkle, grollende Männerstimme.

„Wasserwerfer! Sie bringen sie in Position!“

Doch dabei blieb es nicht. Nun kreischten es mehrere Menschen aus unterschiedlichen Richtungen. Und ihre Stimmen verhießen Unheil. Kreischend laut, erbost, aber auch ängstlich. Es würde über sie kommen, und Rey verstand diese undefinierbare Stimmung.

Schrecken und Verderben.

Plötzlich wurde Rey nach rechts gerissen, nur um zu verharren, denn von der anderen Seite lärmte eine kräftige dunkle Männerstimme, eine andere Stimme als zuvor.

Rey legte den Kopf in den Nacken, vernahm: „Die Miliz, die Miliz, sie ist schwer bewaffnet“, und dieser kleine Fetzen Blau über ihr wurde mickrig. Sie rang nach Luft, musste diesen Brechreiz auslösenden Geruch von fremden Körperausdünstungen in ihrer Nase tilgen.

Es ging weder vor noch zurück. Sie fühlte lediglich den festen Griff ihrer Mutter am Handgelenk.

Eingekesselt. Gefangen von einem Pöbel, den sie nicht kannte.

Von Weitem nahm sie das rhythmische Rattern von Rotoren wahr. Helikopter, die ohne Gegenwehr näher kamen. Das Knattern wurde lauter; so laut, dass es einem Tosen gleichkam.

Die Durchsagen über die Megafone der Milizen, wahrscheinlich mit einer ganzen Brigade im Schlepptau, die überall um sie herum Stellung bezogen haben mussten, wurden übertönt. Lediglich Wortfetzen schnappte Rey auf. Die Botschaft der Milizen war trotz des dumpfen Dröhnens und Ratterns unmissverständlich, die Menschenansammlung sollte sich auflösen. Sofort und ohne Gegenwehr.

Etwas dergleichen hatte Rey noch nie erlebt, und dieses unsichtbare Wesen, das nun von ihr vollends Besitz ergriff, diese Angst, labte sich an ihr, als wäre sie selbst der Schmaus.

Wie oft war sie schon mit ihrer Mutter zu solchen oppositionellen Veranstaltungen gegangen, doch bis jetzt waren sie alle, bis auf einige kleinere Auseinandersetzungen von Raufbolden, die Streit suchten, friedlich verlaufen.

Das hier war anders. Ganz anders.

Was hat das zu bedeuten?

Sie konnte ihrer Frage nicht weiter lauschen. An ihrem Ohr spürte sie den warmen Atem ihrer Mutter.

„Wir werden jetzt zurückgehen. Du folgst mir und hörst genau auf das, was ich dir sage.“

Ihr Blick war klar und ihre Stimme mit einer stoischen Ruhe ausgekleidet. Diesen speziellen Klang kannte Rey. Sie setzte ihn nur ein, wenn es wirklich wichtig war, wenn es ernst war und man einen klaren Verstand brauchte und einen kühlen Kopf bewahren musste.

„Und egal was passiert, Rey, versprich es mir, lauf so schnell du kannst nach Hause. Nicht über die Hauptstraße, und versteck dich in den Eingängen vor der Miliz.“

Keine Bitte, ein Geheiß.

Ihr Blick veränderte sich. Durchdringende, vor Besorgnis erregte Augen funkelten sie an.

Rey wusste, dass sie gehorchen musste. Wusste, dass es jetzt auf ihr Zutun ankam, ruhig und besonnen zu agieren. Also nickte sie – kaum merklich –, aber sie nickte, trotzdem unsicher, welche Bedeutung in den Worten ihrer Mutter mitschwang.

Die Enge und die Gerüche blendete sie so gut, wie es nur möglich war, aus, und vertiefte sich, ohne ihr Umfeld aus den Augen zu lassen, in ihrem Kopf. Sie sinnierte, ob sie an der gleichen Stelle, wo sie eintrafen, herauskommen würden, denn dann wüsste sie genau, welchen Weg sie nach Hause einschlagen musste, und ging ihn bereits akribisch in ihren Gedanken durch. Je nachdem, ob sie weiter links oder rechts der angestrebten Gasse rauskommen würde, arbeitete sie einen alternativen Weg aus. Es war nicht einfach für sie.

Sie verlor aufgrund ihrer Größe jeglichen Überblick, doch zum Glück hielt ihr einziger Rettungsanker ihre Hand fest umschlungen. Sie konnte nicht anders, als ihrer Mutter zu vertrauen. Das tat sie, und das tat sie schon immer.

An ihrem Handgelenk wurde sie in die andere Richtung gedreht, und folgsam nahm sie das Tempo ihrer Mutter auf, die sich einen Weg durch die Menge bahnte. Mutig scheute sie sich nicht, zu schubsen und den Ellenbogen auszufahren. Immer wieder rempelten Rey von allen Seiten Menschen an, mit dem gleichen Ziel oder in die entgegengesetzte Richtung, sodass sie einmal ihr Gleichgewicht verlor. Nur der feste Griff an ihrem Handgelenk verhinderte einen Sturz.

Der lauter werdende Tumult, das ohrenbetäubende Geräusch der Rotoren mischte sich mit verzweifelten Hilferufen, überdeckte sie gar. Von irgendwoher erschallte ein lauter Knall, dem noch weitere folgten.

Ein Blick über die Schulter rief Verwirrung und Unverständnis in Rey hervor.

Die Masse verstetigte sich gerade zu einem klebenden Brei, jemand fiel zu Boden und Füße trampelten ungeachtet dessen, dass es ein Mensch war, achtlos darüber.

Chaos brach aus.

Immer schneller trugen Reys Füße sie aus dem Zentrum des Aufruhrs zum Rand der Zwischenfälle, während die wogende Menge hinter ihr aneinanderzukleben schien.

Rey wurde vor ihre Mutter geschoben, die mit finsterem Gesicht nun eindringlich von hinten heischte: „Lauf, Rey! Lauf, lauf, lauf! Renn so schnell, du kannst! Renn um dein Le…!“

Dann verstummte die Stimme, brach einfach ab, während Rey weiter vor sich das Kopfsteinpflaster der Gasse erspähte, durch die sie sich den Weg nach Hause zurechtlegte. Ein Anblick, der ihr eine Sicherheitsleine zuwarf, einen rettenden Anker in den tosenden Wellen, bestehend aus nichts als Leibern, herabließ. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass in dieser menschlichen See, in der die Strömungen der Leiber wild tobten, vielleicht doch ein sicherer Hafen zu erreichen wäre.

Wie von einem Blitz getroffen durchzuckte es Rey, und sie blieb wie versteinert stehen. Tränen schossen ihr in die Augen, suchten sich einen Weg über ihre Wangen. Hingen salzig auf ihren Lippen.

Rey traute sich nicht weiterzugehen, traute sich aber auch nicht, sich umzudrehen; wagte es nicht, über ihre Schulter zu blicken. Sie stand da wie zur Salzsäule erstarrt.

Innerlich schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, als sie realisierte, dass Lichtblitze und Projektile salvenweise durch die Luft auf sie zujagten. Sie hob das Kinn in das strahlende Blau, das sie jetzt wieder, so weit ihr Auge reichte, erblicken konnte, atmete tief ein, schloss vor Beklommenheit die Augen und roch verbrannte Luft.

***

Will Evans Aufmerksamkeit richtete sich auf ein Mädchen, dessen feuerrotes Haar trotz der klirrenden Kälte ohne wärmende Kopfbedeckung wild durch die Menge stob, und jedes Rucken an ihr verstärkte das unkontrollierte Wallen. Er sah nicht ihr Gesicht, aber diese wilde lockige Mähne, die wie ein Farbtupfer aus der grauen Menge hervorstach. Er kannte dieses Haar, hatte es schon oft gesehen. Es gehörte zu einem Mädchen mit smaragdgrünen Augen. Er hatte es schon so oft erblickt, aber nie den Mut aufgebracht, es anzusprechen.

Er verlor das Mädchen aus den Augenwinkeln, als ein Mann ihn in seiner Eile offenbar übersah und schlichtweg überrannte. Der massige Körper des Hünen prallte gegen ihn, riss Will zu Boden und begrub ihn unter sich.

Der Sturz nahm ihm den Atem und der bullige Körper presste sich auf seine Rippen, seine Lungen, ließ ihn nur noch stoßweise atmen, zwängte ihn gegen den kalten Stein.

Schneller als ihm lieb war, fühlte er die frostige Kälte des Bodens unnachgiebig durch seine Jacke in den Rücken kriechen und er fühlte auch den wärmenden Körper über ihm, der eine Unmenge warmer Flüssigkeit über seine noch zur Faust geballte Hand, mit der er die Schneide seines Messer krampfhaft von sich wegdrehte, ergoss.

Nicht nur eine Ahnung beschlich ihn, er wusste es mit angrenzender Sicherheit: Der Mann über ihm blutete aus seinem Unterleib.

Die Vorstellung daran, dass dieses Lebenselixier, so wertvoll und kostbar, sich über ihm wie ein Teppich ausbreitete … Nein, er wollte nicht weiterdenken, nicht an irgendeine Konsequenz. Ein Schaudern durchfuhr ihn, und er fühlte, wie sich der Flaum auf seinen Armen aufstellte und unangenehm an seinem Pullover rieb.

Keuchend und entkräftet schaffte Will es – irgendwie –, unter der erdrückenden Last hervorzukriechen. Er wand und bog sich, und wahrscheinlich halfen auch die vielen Füße, die gegen den Körper stolperten und ihn bewegten.

Mit klammem und durch die Anstrengung rot angelaufenem Gesicht stand er wieder auf seinen Füßen. Mit rasselndem Atem und sich panisch nach dem roten Haar umblickend, das er aus den Augen verloren hatte.

Schreie, wild, durcheinander und angsterfüllt, schwängerten die rauchig schmeckende Luft. In Panik rannten Menschen, sofern es die Menge zuließ, schubsten und quetschten sich, ohne Rücksicht aufeinander und ohne ihn zu beachten, an ihm vorbei. Er taumelte wieder, als ein Mann oder eine Frau, er konnte es nicht genau sagen, ihn anrempelte.

Ich muss hier raus. Ich muss hier weg, schrie es in ihm.

Nur in welche Richtung? Wohin?

Er drehte sich, drehte sich mehrfach um seine eigene Achse, reckte den Kopf, um irgendeinen Anhaltspunkt zwischen den farblos gekleideten Menschen zu erhaschen. Er wusste es nicht, aber er musste hier raus.

So gut es ihm möglich war, quetschte und schob er sich, lief langsam und schneller im Wechsel zwischen der Menge in irgendeine Richtung, hinterließ rote Abdrücke auf den Kleiderstücken, die er berührte. Doch das ignorierte er. Nur weg! Egal wohin, nur raus aus dem Tumult!

Es war, als würde ihm eine Last abgenommen, als er ein Stück eines Hauses vor sich ausmachte, bevor sich wieder eine Jacke vor sein Gesicht schob.

Da, da musste er hin.

Da war der Platz zu Ende.

Die Beine und Jacken ließen immer mehr Raum, um schneller vorwärtszukommen, sich in einer der rettenden Gassen des umliegenden Platzes zu verstecken.

Ein Schuss fiel hinter ihm zu seiner Rechten. Er duckte den Kopf geschockt über die Schulter in diese Richtung. Erhaschte die rote Mähne.

So hübsch, zierlich und doch so ausdrucksstark in ihrer Haltung.

Das Mädchen griff nach den Händen einer Frau, die sich zu ihm neigte und ihm irgendetwas ins Ohr zu rufen schien. Er konnte es nur an den sich bewegenden Lippen erkennen.

Er meinte, es müsste ihre Mutter sein, war sich seiner Vermutung zunächst nicht sicher, da er das feuerrote Haar im Augenblick nur bei dem Mädchen sah. Die Frau verbarg das Haar unter einem Tuch und streifte es in einer Bewegung, als sie sich drehte, ab.

Dann wurde Will wieder vom ohrenbetäubenden Krach vereinnahmt, vom Dröhnen und Donnern, das seit Minuten über ihnen tobte. Es übertönte sogar das Zischen der Lichtblitze und die erneuten Schüsse, die salvenartig durch die Luft jagten.

Durch die vielen Körper verlor Will das rothaarige Mädchen erneut aus dem Blick, bemerkte es aber nach einigen Augenblicken wieder. Jetzt seitlich, wenn auch näher hinter sich, als sich die Menge teilte.

Die Mutter drehte das Mädchen und schob es von sich weg. Sie richtete sich auf, nur um sich aufzubäumen und wie ein Streichholz auf den Boden umzukippen.

Will bahnte sich einen Weg zu dem Mädchen, das wie angewurzelt auf seine Mutter starrte und so dringend jemandes Hilfe brauchte. Endlich schaffte er es, zu ihm zu kommen, und griff es beherzt und doch mit überzeugender Dringlichkeit bei der Hand. Zog es entschlossen hinter sich her über die wenigen Meter des sich zwar schnell leerenden, doch noch immer zum Bersten gefüllten Platzes über das Kopfsteinpflaster direkt in die nächste Gasse. Hektisch und vielleicht auch etwas zu grob schob er das Mädchen nun in einen Hauseingang.

***

Rey befreite sich aus ihrer ersten Schockstarre, nur um direkt in die nächste zu fahren, als sie es wagte, aus dem Hauseingang herauszutreten und sich zu ihrer Mutter umzudrehen. Das Gesicht ihrer am Boden liegenden Mutter zu fokussieren, welches in ihre Richtung blickte und doch niemanden mehr sah. Reys Augen weiteten sich und füllten sich augenblicklich mit Tränen.

Noch bevor sie sich besinnen konnte, griff erneut jemand nach ihr. Während sich ihre Beine wie von selbst in Bewegung setzten, blickte sie noch immer über die Schulter zurück und sah auf die feuerroten Haare ihrer Mutter, die gelockt um ihren Kopf auf den Boden gefallen waren. Obwohl sie sich entfernte, obwohl ihr Menschen den Blick verwehrten, sah sie ihre Mutter in aller Deutlichkeit. Ihr Blick weitete sich zunehmend bis er verschwamm, während sie von den Locken über den Oberarm, der in einer grauen Filzjacke steckte, bis hin zu den gekrümmten Fingerspitzen sah, die regungslos vom Boden in den Himmel wiesen. Zwischen ihren Fingern klemmte noch das Tuch, das sie sich vom Kopf gezogen hatte.

Unsanft wurde Rey ein zweites Mal mit dem Rücken gegen eine Holztüre gestoßen. Es ging so schnell, dass sie gar nicht realisierte, wer schnaubend vor ihr stand und wo sie sich genau befand. Nach einigen erkundenden Blicken wog sie sich in Sicherheit und starrte mit weit aufgerissenen Augen in das rotfleckige Gesicht eines Jungen. Nicht älter als sie selbst und einen halben Kopf kleiner, mit hellbraunen Haaren, die wild und zerzaust seinen Kopf einrahmten. Ein kleines zierliches Gesicht, aus dem rotbraune Augen lugten. Sein dampfender Atem stieß ihr ins Gesicht.

Erst jetzt erkannte sie den Jungen. Zunehmend erinnerte Rey sich, wie ihre Mutter und eine gewisse Margret über ihn gesprochen hatten. Will nannte sie ihn, als Margret erklärte, der Junge würde wohl nie eine Schule von innen sehen.

Will also. Will aus ihrer Nachbarschaft, mit dem sie noch nie ein Wort gewechselt hatte, aber sich im Klaren war, dass er sie jedes Mal ansah, wenn sie wegschaute.

Dann zuckte sie kaum merklich, dachte an ihre Mutter und fuhr erneut, bei dem Krachen über ihr, zusammen.

Rey konnte keinen Gedanken länger als einen Augenblick festhalten. Ihn sich fest einprägen. Bei der geringsten Ablenkung, ob Schrei oder eines dieser schrecklichen Geräusche, selbst bei dem Schatten einer Bewegung, entglitt er ihr.

Reiß dich zusammen! Reiß dich zusammen!

Rey gönnte sich einen tiefen Atemzug und fragte den Jungen, was ihr unter den Nägeln brannte.

„Wo kommst du her? Was machst du hier?“, stammelte sie vor sich hin. „Was ist überhaupt passiert, Will?!“

Noch bevor Will antwortete, durchflutete sie ohne Vorwarnung ein schreckliches Gefühl. Gefolgt von Stichen in der Brust und einer unsichtbaren Hand, die ihr kleines Herz in ihren Fingern zerdrückte. Ihr Körper tat so schrecklich weh und Schwärze zog in sie ein.

Wenn sie auch keinen klaren Gedanken fassen konnte, das verstand sie nur zu genau. Sie begriff, ihre Mutter würde nicht mehr aufstehen, würde sie nie wieder mit ihren sanften Händen berühren, ihr nie wieder ein Lächeln oder Trost schenken. Sie begriff, ihre Mutter war tot.

Erschossen.

Sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht, das jetzt nur noch erahnen ließ, dass es eigentlich Sommersprossen zierten.

***

Auch Will, jetzt bei klarem Verstand – handelte er doch mehr intuitiv als geplant –, erfasste die Situation. Anstatt auf ihre Fragen einzugehen oder sich ihr zu erklären, keuchte er: „Wir müssen von hier weg, Rey!“

Will schaute sie noch immer erstaunt an, weil sie seinen Namen kannte, und obwohl er sich darüber freute, überging er diese Tatsache und dachte einen Augenblick über dieses Mädchen nach und ließ es nicht aus dem Blick.

Aus den Gesprächen seiner Mutter kannte er den Namen des Mädchens. Liebte diesen Namen schon, noch bevor er es so oft aus der Entfernung beäugte. Bald hatte er gewusst, Rey wohnte mit ihren Eltern etwas weiter die Straße hinauf. Nur ein paar Häuser weiter. Er beobachtete sie so, so oft. Das Mädchen, das unverwechselbare Abbild seiner Mutter.

Den Anflug der Verwunderung in Reys Gesichtsausdruck nahm er zur Kenntnis, ignorierte ihn jedoch geflissentlich und schnappte sich stattdessen ihre Hand.

Das hatte Zeit.

***

Das Zerren an ihr sollte kein Ende finden, denn schon wieder war sie im Schlepptau und wurde, ohne gebeten worden zu sein, hinter jemandem hergeschleift. Nur, jetzt kannte sie die Person noch nicht einmal näher – und trotzdem schenkte sie ihr ihr Vertrauen, uneingeschränkt.

Rey spürte nicht, wie ihre Füße schmerzten, spürte nicht das Zwicken auf ihren Wangen, das die kalten Tränen hinterließen.

Aber diesen Schmerz, der sie schreien, haltlos hätte schreien lassen wollen, unterdrückte sie. Rey wollte sich nicht dem Klagelied ihrer Seele ergeben, wollte den kleinen Will, der so mutig war, nicht belasten und schon gar nicht bei ihm als ein kleines, schwaches Mädchen dastehen. Es ging hier um alles. Einfach um alles. Leben oder Tod. Das wusste Rey genau.

So rannten sie, so schnell ihre Füße sie trugen, die Gasse entlang.

Will überdachte jeden ihrer Schritte genau, kannte den Weg und wo sie hinmussten. Er schob Rey nun etwas sanfter vor jeder Gabelung oder Kreuzung in einen der zurückliegenden Hauseingänge und zeigte wiederholt, mit dem Zeigefinger auf seine Lippen gepresst, sie solle leise sein und sich unauffällig verhalten. So wie man es während eines Aufruhrs tat.

Von dem Platz hörten sie noch vereinzelt das durchdringende Geräusch eines Geschosses und den Aufschrei des Todes, doch die Geräusche der Ausschreitungen entfernten sich mit jeder Abzweigung, die sie einschlugen, bis die Häuserreihen farbloser und ärmlicher wurden und die unregelmäßigen Abstände dazwischen wie Zahnlücken aussahen.

Sie kamen dem Ziel näher und die Rotoren waren nun auch nicht mehr zu hören. Die Versammlung war höchstwahrscheinlich niedergeschlagen oder sie einfach außer Hörweite. Rey vermochte es nicht zu sagen, genauso wenig, welches Ziel sie ansteuerten.

***

Doch dann erkannte sie die kleine Straße mit den grauen Fassaden, mit den kleinen Fenstern und den roten Steindächern, die schmucklos neben der Straße eng aneinandergedrängt lagen. Die Straße, in der sie und Will am Stadtrand wohnten.

Wortlos bugsierte Will Rey zu ihrem Haus und schob sie durch den Eingang. Ließ sie im schummrigen Licht des Flures zurück, als er die Tür von außen hinter sich zuzog.

Aber sie hatten es geschafft. Waren in Sicherheit.

Danach, Davor, Und Doch Dazwischen

Stille.

Stille, durchbrochen von dem Surren einer Glühbirne, die über ihr dieses schummrige Licht spendete. Selbst die Umarmung ihres Vaters, der ihr entgegeneilte, war von Lautlosigkeit beherrscht. Selbst als er sie hochnahm, sie einfach vor seiner Brust wiegte und fest umklammerte.

Stille, unendliche Stille.

Rey presste ihren Kopf gegen seine Schulter. Diese Stille, die sich niederlegte und bereit war zu bleiben, nur durchbrochen durch das Heben seines Brustkorbes, der in unregelmäßigen Abständen anschwoll und lautlos in sich zusammenfiel. Die Welt schien zwischen seinem Ein- und Ausatmen stillzustehen. Noch nicht einmal das Surren der Elektrizität über ihr erreichte sie noch. In diesen Momenten war einfach nichts. Nur die Tränen ihres Vaters rannen beinahe unmerklich, schweigsam, doch auch das erfasste sie nur unterschwellig.

Sie hingegen konnte nicht verhohlen trauern. Schließlich betete sie zu Gott, bat ihn um Beistand, aber er erhörte sie nicht. Erhörte nicht ihr Flehen, wollte es vielleicht auch nicht oder ließ sie einfach im Stich.

Ihre Mutter hatte diesen alten Glauben besessen, von dem Rey sonst nichts wusste; sie betete zu diesem Gott, von dem keiner sprach, außer ihr. Nun, Rey kannte ja sonst auch niemanden. Aber ihre Mutter betete jeden Tag zu ihm, nahm Rey immer mit auf diese Reise. Und dieser Gott verließ sie nun. Vielleicht hatte es ihn auch nie gegeben und es war nur eine Illusion, die ihr ihre Mutter gegeben hatte. Eine Hoffnung, die sie ihr schenken wollte, auf ein anderes Leben. Ein besseres Leben, als sie besaß.

Rey erlebte nur zu klar, was man ihrer Mutter angetan hatte. Einen zuckenden Blitz hatte man ihr einfach in den Rücken gejagt, und so verschwand sie mit nur einem Wimpernschlag aus ihrem Leben. Dabei brauchte sie doch ihre Mutter so sehr. Ein Gott hätte so etwas nicht zugelassen. Ein Gott hätte eine helfende Hand geschickt, ganz besonders, wenn man darum bat.

Nein, diesen Gott gibt es nicht. Nein.

Kurzerhand beschloss sie, diesen Gott, der ihr nicht zu Hilfe geeilt war, aus ihrem Leben und aus ihrem Geist zu tilgen.

Vor sich sah sie bildlich, obwohl ihre Augen immer noch mit Tränen gefüllt waren, das Aufschlagen ihrer Mutter, schwer und endgültig. Hörte diesen dumpfen Schlag ihres Kopfes auf dem blanken Boden, der sich in der Erinnerung bald wie das Zerplatzen einer Melone anhörte.

Obwohl die Bilder grauenvolle und finstere Gefühle in ihr auslösten, stellte sie sich bei dem Fehlen dieser höheren Macht die sinnfreie Frage, ob es absichtlich geschehen war oder nur aus Versehen.

Und ihr balgendes kleines Herz traktierte sie schnell, ohne Gnade, bei jedem Schlag brennend wie ein loderndes Feuer direkt aus der Hölle. Sie meinte, so müsse es sich anfühlen, wenn es gewaltsam auseinandergerissen werden und ausbluten würde.

Unaufhaltsam rollten ihre Tränen in dicken runden Tropfen im Einklang ihres wiederkehrenden Schluchzens über die jetzt glühend roten Wangen. Dabei bebte ihr kleiner Körper in den starken Armen ihres Vaters. Er umschloss sie nur noch fester und enger, in der Hoffnung, es würde ihr Trost spenden. Doch dem war nicht so.

***

Greg erlangte in dem Moment, als ein Nachbarsjunge Rey über die Türschwelle schob, Gewissheit, dass Elma tot war. Er hatte nur das Klicken des Schlosses gehört und gedacht, Frau und Kind wären nach Hause gekommen, doch er sah nur seine Tochter und dahinter den Sohn einer Lehrerin, die schon seit einem Jahr nicht mehr in der Schule arbeitete.

Ihr Name war ihm entfallen. Elma traf sich mehrfach mit ihr und anderen aus der Umgebung, erwähnte ihn häufiger, aber er konnte sich einfach nicht erinnern. Er vergaß nur nicht, dass Elma ihm in einer schier nicht enden wollenden Debatte vorwarf, dass man sie aus dem Schuldienst entfernt hatte.

Entfernt, und es klang wieder nach, dieses entfernt, weil sie nicht der neuen Order folgen wollte, in der neues Wissen zugrunde gelegt wurde. Halbwahrheiten und Texte voller Lügen nannte sie es. Entrüstet beschimpfte sie ihn als einen blinden ignoranten Narren.

Aber wenn er sich alles richtig zusammenreimte, musste er sich bei ihr, dieser Lehrerin und ihrem Sohn bedanken. Das war er ihnen schuldig. Außer seinem Dank besaß er nicht viel, das er hätte anbieten können.

Bei dem Anblick seines geliebten Kindes zerbrach etwas ihn ihm, und dieses Etwas würde nie wieder zusammenwachsen. Am ganzen Körper zitternd und tränenüberströmt, noch glitzernd von der Kälte, ein Hauch von Frost über dem Gesicht, die Augen, die zu schreien schienen, angefüllt von einer Angst und Trauer, wie er sie noch nie bei Rey erblickt hatte, noch nie bei irgendjemandem erblickt hatte.

Er war sich in diesem Moment im Klaren, dass Elmas Tod in ihr eine Lücke hinterließ, die nie gefüllt werden können würde.

Der wankende Schritt, als sie auf ihn zuging. So klein und zerbrechlich ihm ihre Arme entgegenstreckte.

Die Frage, was sich zugetragen hatte, rückte in weite Ferne, war nicht mehr dringlich, besaß keinerlei Wichtigkeit mehr.

Diese kleinen Arme, die sich um seinen Hals schmiegten, der kleine schmächtige bebende Körper, an dem nichts still blieb. Der hämmernde Herzschlag, und dann dieses beklagenswerte Wimmern.

Sein Herz riss. Es riss so sehr, klaffte auseinander, und er hätte seine ganze Qual herausbrüllen können. Doch er blieb ruhig, zwang sich, ruhig zu bleiben; um ihretwillen, und weil sie es nicht konnte. Er musste ihre Bastion sein, ihr Zufluchtsort, den sie jetzt mehr als alles andere brauchte.

Tröstende Worte fand er nicht, egal wie er sich bemühte und Sätze im Stillen formulierte. Nichts konnte dem gerecht werden. Nichts. War er sich doch noch nicht einmal sicher, ob ihm seine Stimme gehorchen würde, weil ihm der Schmerz die Kehle so eng abschnürte.

***

Rey fühlte sich verloren, gar verlassen von all denen, die sie liebte und die ihr Geborgenheit und Vertrautheit entgegenbrachten.

So hielten sie sich eine Weile, ohne zu wissen, wie lang. Der Vater, der sie umschlang, und sie, die sich um seinen Hals klammerte.

Ein tiefer Atemzug noch und der Vater ließ seine geliebte Tochter zu Boden gleiten und machte sich so klein, dass er ihr in die Augen sehen konnte.

Rey beäugte ihn jetzt. Er hatte geweint, doch wagte sie nicht, ein einziges Wort darüber zu verlieren. Sie hatte ihn noch nie weinen gesehen. Und wieder schien sich die Zeit zu dehnen, während Fragen danach drängten, gefragt zu werden, ohne dass Rey es schaffte, auch nur eine einzige Silbe über ihre Lippen zu bringen.

***

Keines Wortes fähig zu sein, erhob sich ihr Vater, fand jedoch immer noch nichts, was er ihr zum Trost hätte anbieten können, übermannt von dem Gefühl, alles in ihm würde sich ihm verweigern. Er wandte sich ab und schritt durch den Flur in das angrenzende Wohnzimmer, in dem ein gemütlicher Ohrensessel neben dem Kamin stand.

So gelähmt, er war so gelähmt.

Dann blieb er plötzlich stehen, drehte sich zu Rey und sprach mit gedämpfter Stimme.

 „Sternchen, du musst jetzt stark sein. Jetzt gibt es nur noch uns beide.“

Seine Stimme wurde brüchig.

Obwohl er sich selbst innerlich geschunden fühlte, ging er zu Rey zurück, machte sich klein und wischte ihr eine Träne vom Gesicht. Er sagte: „Ich komme gleich wieder, mach dir keine Sorgen.“

Er gab sich Mühe, seine Stimme sanft klingen zu lassen, und steckte seine Kraft in einen liebevollen Blick, der ihr sagen sollte, alles wird gut. Mit einem zuversichtlichen Lächeln, das er sich so ehrlich wie möglich in sein Gesicht zwang, erhob er sich, nachdem er sie noch einmal fest um die Schultern fasste.

Dann drehte er sich von Rey ab und sein Blick wurde leer, die Augen lagen tief wie der Tod selbst in ihren Höhlen. Er verschwand in dem dunklen Raum hinter dem Wohnzimmer und ließ sein geliebtes Kind mit dem Gedanken an seine bevorstehende Aufgabe zurück.

Aber danach, ja danach würde er sich um Rey kümmern und sich alle Zeit für sie nehmen.

***

Woher weiß er, dass sie tot ist, eilte es ihr durch den Kopf. Wieso lässt er mich dann allein? Papa, bitte, bitte bleib!

Reys Welt stülpte sich auf den Kopf. Nichts war mehr da, wo es sein sollte.

Wie ein Eremit stand sie im dämmrigen Licht und wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Ließ sich an Ort und Stelle niedersacken. War unfähig, sich die Jacke abzustreifen und in ihr Zimmer zu gehen.

Rey grübelte über das Verhalten ihres Vaters, der wie ein Geist wirkte, bis ihre Gedanken bröckelten und Löcher in sie schlugen.

***

Greg Wood füllte nur noch ein Gedanke aus.

Elma, Elma, Elma.

Der Name seiner Frau hämmerte unerlässlich in den Windungen seines Hirns.

Über den Hinterausgang des kleinen Gartens suchte er sich einen Weg zu dem Platz, wo sie sich immer mit den Antagonisten der Jarl’schen Unterjochung traf. Wo sie ihre Meinung gegen das System, das sein einst feines Gespinst immer fester um diese Welt wob, kundtat. Ein mutierendes Gebilde, das gegenwärtig von Angst und Schrecken geprägt war, um die Bevölkerung zu unterwerfen, sich ihm noch gefügiger zu machen. Stück für Stück.

Er verdrängte seinen Zorn, verdrängte die Gedanken daran, was dieser Herrscher ihnen noch alles antun würde. Es war ihm egal. Stattdessen richtete er seine Gedanken auf seine Füße, die ihn, ohne dass er es ihnen sagen musste, zu diesem Platz trugen.

Seine Hand presste sich auf seinen Mund, um den Schrei, der sich aus ihm bahnen wollte, zu unterdrücken, als er Elma auf dem Boden fand und andere seelenlosen Körper, die ihre Reise in ein Grab noch nicht angetreten hatten. Er kniete sich an ihre Seite, nahm ihre leblose Hand und liebkoste sie. Weinte bittere Tränen. Die Traurigkeit umfasste ihn, zog in ihn ein, bis keine Träne mehr übrig war.

Erst sich bewegende Schatten ließen ihn aus seiner Starre aufschrecken und begreifen, er musste weg, mit ihr. Sie nach Hause bringen und ihr eine letzte Ruhestätte bieten.

Mit Mühe, nicht weil er schwach gewesen wäre, hob er Elmas Körper hoch, der bereits begann, sich zu versteifen, und ungelenk in seinen Armen hing. Er brachte sie nach Hause in den Garten, wo sich ihr rotes Haar wallend ergoss, als er sie auf den Boden niedersinken ließ.

Greg ging wie in Trance in den Flur, zu der angrenzenden Kammer, in der Hacke und Schaufel standen. Dort lag auch Rey, die nicht den Weg ins Bett gefunden hatte und die er so verschmäht zurückgelassen hatte. Er ging in das Wohnzimmer zurück, noch bevor er sich die Geräte schnappte, und legte eine Wolldecke über sie, vorsichtig und leise. Obwohl er Rey ins Bett tragen wollte, entschied er sich dagegen, er hatte den Geruch von Tod an sich und wollte ihn schon gar nicht auf Rey übertragen. So blieb ihm nur dieser liebevolle Akt, sie zuzudecken.

Stunde um Stunde ließ er die Spitzhacke in den gefrorenen Boden fahren, löste die harte Erde, teilte sie mit dem Schaufelblatt, bis das Loch tief genug war, um seiner geliebten Frau ihre ewig währende Schlafstätte zu erschaffen. Mit Schwielen und Blasen an den Händen schippte er die Erde zurück, auf Elma, bis auch der letzte Zipfel von ihr nicht mehr zu sehen war. Als es getan war, verblieb er kniend an ihrem Kopf, bis innerlich völlige Leere in ihn einzog, bis der erste Sonnenstrahl über die von Backsteinen erbaute Mauer kroch.

Steif von der Kälte und seiner eingenommenen Haltung, richteten sich seine Gedanken auf Rey, dem einzigen Mitglied seiner Familie, das ihm noch geblieben war.

Er besann sich, nach vorn zu denken und den Leichengeruch von sich abzuwaschen. Entschloss sich, einen Weg zu finden, dieses Opfer, das sie für ihre Sache, wofür sie so sehr brannte, gegeben hatte, zu gewichten. Doch zuvor brauchte er Schlaf und reinigendes Wasser. Er fühlte sich so ausgezehrt und müde.

***

Die Stille ummantelte Rey wie ein Gespinst und überfiel auch ihr tiefstes Inneres.

Unruhig wälzte sie sich auf dem Boden hin und her. Hörte Schreie und fühlte die Menschen um sich herum. Wie sie sie einzwängten und ihr die Freiheit nahmen, die Luft zum Atmen stahlen.

Der Klang der letzten Worte ihrer Mutter dröhnte überlaut in ihrem Kopf. Sie fand sich selbst, als ein Häufchen Elend kauernd und mit Tränen überströmt. In einer Endlosschleife hörte sie ihre Mutter zu Boden stürzen, stellte sich es vor. Der Aufprall hart, geräuschvoll von dem zerplatzenden Laut einer Melone begleitet.

Reys Herz wurde zusammengepresst und die Gefühle peinigten kaltblütig ihren Körper. Es war ihr, als würde sie in einer Streckbank auseinandergezogen und mit Speeren aufgespießt. Es gab keinen unberührten Flecken in ihr. Ihre Seele brannte lichterloh, die Gliedmaßen waren dem Bersten nah. Eine Folter, der sie nicht entrinnen konnte, die kein Ende fand und jedes Quäntchen in ihr ausfüllte.

Dazu gesellte sich ein Trommelschlag, noch einer und noch einer. Trommelschläge, die ihr den Tod ankündigen sollten.

„Nein“, hauchte eine zarte Stimme, „nein. Horche hin, horche genau hin.“ Und Rey bemühte sich.

Ein leiser dumpfer Ton drang zu ihr, von einem anderen Äther. Sie hörte hin, wie es ihr die Stimme befahl.

Aus den dumpfen kurzen Schlägen wurden lautere feste Klopfzeichen, außerhalb ihres Körpers.

Noch immer bekleidet, so wie sie ins Haus geschoben worden war, klebte ihre Kleidung unangenehm auf ihrer Haut. Rey schlug die Augen auf, realisierte, dass sie eingeschlafen war. Unter einer wollenen Decke liegend, kauerte sie auf dem Boden des Flures, wo ihr Vater sie zurückgelassen hatte.

Nur das Summen hatte aufgehört. Sie war allein, und irgendwer klopfte fordernd gegen die Tür. Ungelenk rappelte sie sich auf. Die Muskeln brannten, die Beine kribbelten und wollten so gar nicht ihrem Ruf folgen, doch nahm sie sich zusammen, zog ihre Kleidung glatt und wankte schlaftrunken zur Haustüre, von wo sie das Klopfen ausmachte.

Zaghaft und vorsichtig, aus Furcht, ein Fremder könnte jenseits ihrer sicheren Mauern stehen, öffnete sie einen Spaltbreit den Eingang und lugte neugierig hindurch.

„Kann ich reinkommen?“

Rey nickte dem kleinen Will, noch immer benommen und wackelig, zu, ließ ihn durch den Spalt schlüpfen und schloss rasch die Tür.

Unvermittelt nahm er sie in den Arm, herzte sie, weich und warm, aber auch etwas zu fest für ihren Geschmack. Sie war sich unsicher, ob sie überrascht sein sollte oder Ablehnung empfinden sollte, war er ihr doch auf eine gewisse Art und Weise fremd. Doch sie ließ es geschehen, ergab sich dieser liebevollen Umarmung und schlang ihre Arme um seine Taille.

„Es tut mir so leid, es tut mir so leid“, raunte er.