Roter Zirkon - Bert Saurbier - E-Book

Roter Zirkon E-Book

Bert Saurbier

3,8

Beschreibung

In einem hochmodernen Forschungszentrum auf dem Gelände der einstigen Nazi-Burg Vogelsang, mitten im Nationalpark Eifel, arbeitet ein internationales Expertenteam unter Leitung von Professor D'Aubert auf Hochtouren an einem Forschungsprojekt von höchster energiepolitischer Brisanz. Forscher entdeckten in einem Milliarden Jahre alten Meteoriten einen großen roten Zirkonkristall, der zu ihrer Überraschung von einem völlig unbekannten Kraftfeld umgeben war. Die Sensation: Gegenstände im Einflussbereich dieses Kraftfeldes verlieren deutlich an Gewicht. War in diesem roten Zirkon eine Materie enthalten, die der Anziehungskraft der Erde entgegenwirkt und könnte die Erforschung dieses geophysikalischen Geheimnisses die Energieprobleme unserer Erde minimieren?

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BERT SAURBIER

ROTER ZIRKON

EIFEL-THRILLER

Das Buch

In einem hochmodernen Forschungszentrum auf dem Gelände der einstigen Nazi-Burg Vogelsang, mitten im Nationalpark Eifel, arbeitet ein internationales Expertenteam unter Leitung von Professor D’Aubert auf Hochtouren an einem Forschungsprojekt von höchster energiepolitischer Brisanz.

Forscher entdeckten in einem Milliarden Jahre alten Meteoriten einen großen roten Zirkonkristall, der zu ihrer Überraschung von einem völlig unbekannten Kraftfeld umgeben war. Die Sensation: Gegenstände im Einflussbereich dieses Kraftfeldes verloren deutlich an Gewicht. War in diesem roten Zirkon eine Materie enthalten, die der Anziehungskraft der Erde entgegenwirkt und könnte die Erforschung dieses geo-physikalischen Geheimnisses die Energieprobleme unserer Erde minimieren?

Trotz höchster Geheimhaltungsstufe melden bald dunkle Elemente Begehrlichkeiten an. Der mächtige amerikanische Geheimbund Skull&Bones und ein arabischer Petro-Milliardär kennen keine Skrupel, sich in den Besitz des unvorstellbar wertvollen, Macht und Reichtum versprechenden roten Zirkons zu bringen …

Der Autor:

In seiner biografischen Erzählung „Die wundersame Holzbank“ schildert Bert Saurbier die Metamorphose seiner Entwicklung vom verhätschelten Handwerkersöhnchen zum promovierten Akademiker.

Als Ärztlicher Direktor leitete er bis zu seinem Ruhestand eine Klinik in Bad Oeynhausen. Aus dieser Zeit stammen mehrere Fachbücher. Die Gnade der frei verfügbaren Zeit als Pensionär eröffnete ihm den Weg zum kreativen Schaffen, zum Malen und zum Schreiben. Weitere Veröffentlichungen im mainbook Verlag: „Manuskript des Teufels“, Eifel-Thriller (2013)

ISBN 978-3-944124-95-7

Copyright © 2015 mainbook Verlag Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer Covergestaltung: Olaf Tischer Covermotiv © Bert Saurbier

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:www.mainbook.de oder www.mainebook.de

1

„Hey Jemy“, übertönte Allen den eingeschalteten, übergroßen Flachbild-Fernseher, „wann ist Bill heute Morgen mit den beiden gestartet?“

„Ich glaube“, rief sie aus der Küche zurück, „so gegen 9 Uhr. Wenn draußen bei den Murray-Grey-Rindern alles in Ordnung war, müssten sie jeden Moment nach Hause kommen. Warum fragst du?“

„Du weißt doch“, erwiderte ihr Mann etwas ungehalten, „die Unterrichtsstunde beginnt in 30 Minuten, und gerade heute sollten Mia und Bob nichts davon verpassen.“

Es waren noch keine zwei Minuten vergangen, als er Jemys erfreute Stimme vernahm: „Ich glaube, sie kommen. Ja, ich kann das Knattern unseres R22 schon hören. Ich werde die zwei Wirbelwinde direkt zu dir ins Wohnzimmer schicken.“

Das Ehepaar Jemy und Allen McPhearson hatte vor 15 Jahren die 1600 Quadratkilometer umfassende Superior Rinderfarm von seinen Eltern übernommen. Mittlerweile zählte dieses im tiefsten Outback zwischen Kimberley und der Tamara-Wüste gelegene Ruby Plains-Unternehmen mit über 200.000 Rindern zu den größten Fleischexporteuren von Down Under.

Ein Hinweis auf ihren inzwischen erlangten Wohlstand war ein auf den ersten Blick unscheinbar naiv wirkendes, 60 x 120 cm großes, vorwiegend in dunklen braunroten Farben gehaltenes Gemälde an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers. Ein 1985 von Rover Thomas geschaffenes Werk mit dem Titel „Tjadarung“, was so viel wie Rainbow bedeutet. Rover Thomas, der bekannteste Künstler der Aborigines, in seiner Sprache hieß er Julama, starb am 11.4.1998. Posthum wurde ihm von der Universität Perth der Ehrendoktortitel verliehen. Sein bevorzugtes Thema waren die endlosen Wüsten des Outbacks. Er zählte inzwischen zur Weltklasse zeitgenössischer Maler. Seine Bilder waren gefragt und erzielten Höchstpreise.

Dass sich Allen McPhearson, der Chef dieses riesigen Homesteads, fast zwei Stunden Zeit für diese gleich beginnende ‚School-on-the-Air‘-Sendung nahm, hatte zwei Gründe. Erstens gab es heute eine Unterrichtsstunde über Grundwissen der Astrophysik. Allen McPhearson war, warum auch immer, von den unfassbaren Unendlichkeiten des Universums fasziniert.

Zweitens gab Jack Kelly, Dozent der ‚School on the Air’ aus Alice Springs und Organisator des anstehenden Klassentreffens, einen ausführlichen Bericht über das vorgesehene Aktivitätsprogramm ab. Die McPhearsons, einschließlich der gesamten Mitarbeitermannschaft, waren stolz und glücklich, dass man in diesem Jahr ihre Farm als Treff- und Ausgangspunkt dieser Lehrer- und Schülerbegegnung ausgewählt hatte.

Diesen Meetings kam eine hohe soziale Bedeutung zu. Im Allgemeinen kannten sich Lehrer und Schüler nur vom Bildschirm her. Diese meist ein paar Tage dauernden Begegnungen dienten dem persönlichen Kennenlernen in fröhlicher Runde und bei gemeinsamen Tagesausflügen.

‚Das größte Klassenzimmer der Welt‘ gab es im australischen Outback. Auf einer Fläche, fast dreifach so groß wie Deutschland, fand der Unterricht per Bildschirm und Webcam über Satelliten-Internet statt. Im dünn besiedelten Outback lagen die Farmen Hunderte von Kilometern voneinander entfernt. Ein üblicher Schulbetrieb war nicht möglich.

Die McPhearsons hatten vor etwa zehn Jahren nahe der Hofanlagen ein Gästehaus mit über 30 einfachen Hotelzimmern erstellt, welches dank der zunehmenden Beliebtheit von Ferien im Outback ständig auf Wochen ausgebucht war. Die Gästebetreuung gewann zunehmend an Bedeutung. Die Begegnung mit den verschiedensten Menschen aus aller Welt erwies sich als eine Art Befreiung aus der Einsamkeit des Farmerdaseins in den Unendlichkeiten des australischen Landesinneren. Ein Vorteil war, dass die Erreichbarkeit der Ruby Plains-Farm für western-australische Verhältnisse recht gut war.

Sie waren im Besitz einer Start-Lande-Piste für kleinere Flugzeuge, eines nahen Hubschrauberlandeplatzes und einer nicht zu unterschätzenden Anbindung an drei bedeutende australische Verkehrswege. Im Nord-Westen wurde das Ruby Plains-Areal vom Great Northern Highway und im Norden vom Duncan Highway begrenzt. Die von Alice Springs ausgehende nordwestlich verlaufende Tanami Road durchquerte sogar die östlichen Regionen der Farm.

Der Gästebereich hatte sich zu einem lukrativen wirtschaftlichen Faktor entwickelt.

In den kommenden fünf Tagen war das Gästehaus komplett für das Klassentreffen reserviert. 22 Schüler, 5 Mädchen und 17 Jungs sowie 3 Lehrer und 4 Begleitpersonen, darunter ein Arzt und eine Krankenschwester, würden in der kommenden Woche die Gastfreundschaft der McPhearsons und ihrer Mitarbeiter genießen können. Gastgeber und Gäste fieberten gleichermaßen mit frohen Erwartungen dem Beisammensein entgegen.

Noch ahnte niemand, dass einer der Gruppe am letzten Tag des Treffens während des Ausflugs in das nördliche Gebiet des Purnululu-Nationalparks, eine mysteriöse Begegnung haben würde. Das, was dort geschah, würde sein Leben verändern und hatte das Potenzial, die Welt aus den Angeln zu heben.

2

Maria D’Aubert musste sich fast gewaltsam von dem berauschenden Blick über das unendliche silbrige Blau des Pazifiks, das weit draußen vom milchigen Weißgrau des Himmels übernommen wurde, losreißen, als irgendwo im hellen geräumigen Wohnzimmer das Handy musizierte.

„Hallo Stephan“, rief sie überrascht und drehte der lichtüberfluteten Fensterfront den Rücken zu, „mit einem Anruf von dir habe ich nicht gerechnet. Es ist gerade mal 12 Uhr. Was gibt’s denn?“

„Hallo Liebes, heute Mittag bekam ich unangemeldeten Besuch von zwei Herren aus Deutschland. Du wirst genauso überrascht sein wie ich. Der eine, Carlo Hammerschmitt, seines Zeichens Staatssekretär im deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung. Der zweite Herr, Hans Rosenfeld, nach seinem Erscheinungsbild ein mit allen Wassern gewaschener, aber nicht unsympathischer Geschäftsmann. Ich vermute mal, dass in seinen Adern ein Schuss arabisches Blut fließt. Dafür sprechen seine scharf geschnittenen Gesichtszüge mit der kräftigen, leicht gebogenen Nase, die schwarzbraunen Augen und das schwarze Haar. Und jetzt wird’s interessant. Die beiden erklärten mir, dass sie wegen der Dringlichkeit und vor allem auf Grund allerhöchster Geheimnisstufe auf eine schriftliche und erst recht fernmündliche Vorankündigung hätten verzichten müssen. Sie baten mich, mir unter allen Umständen heute Nachmittag für ein ausführliches Gespräch Zeit zu nehmen. Es wäre ihnen lieber, auch wieder aus Geheimhaltungsgründen, wenn dieses Gespräch nicht in meinem Institut, sondern an einem unauffälligen Ort stattfinden könnte. Sie nahmen gerne meinen Vorschlag an, das Gespräch bei uns zu Hause zu führen. Stell dir vor, die wussten genau, wo wir in Montecito wohnen.“

Nach einer kurzen, durch die Überraschung bedingten Pause, reagierte Maria: „Das klingt eigenartig und macht mich neugierig. Was kann ich tun, soll ich etwas vorbereiten?“

„Bitte mach dir nicht zu viel Mühe. Es reicht, wenn du einen guten Kaffee kochst und im Wohnzimmer oder besser auf der Terrasse den Tisch eindeckst. Ich werde heute Korinna und René in Goleta abholen. Ist ja vom Campus aus nur ein Katzensprung. Ich werde auch ein paar Stücke Kuchen mitbringen. Da gibt es doch, wenn ich mich recht erinnere, eine vorzügliche Konditorei nicht weit vom Kindergarten der Waldorfschule entfernt. Ich schätze, dass ich mit den beiden Kleinen so gegen 15 Uhr da bin. Die Herren wollten um 16 Uhr eintreffen. Weißt du was, meine Liebe? Ich glaube, ich bin ein wenig aufgeregt. Was die wohl im Gepäck haben? Aber irgendwie hört sich die Sache gut an. Also bis gleich. Moment, bist du noch in der Leitung? Ja! Ich wollte dir nur noch sagen“, kokettierte Stephan jetzt, „du brauchst dich nicht groß herauszuputzen. Du bist so oder so immer die Schönste. Bis gleich, mein Schatz.“

„Danke, du unverbesserlicher Charmeur.“

Aus Marias Gesicht verschwand das Lächeln. Sie ließ die in diesem Moment aufkommenden sorgenvollen Gedanken, die sich in letzter Zeit immer öfter aufgedrängt hatten, widerstandslos zu.

3

Jack Kelly aus Alice Springs, erfahrener Organisator und Mädchen für alles, klopfte um Aufmerksamkeit bittend mit dem Kaffeelöffel gegen seine Tasse. Dieses grell klingende Signal störte und überraschte niemanden mehr, da man sich schon an diese Zeremonie nach dem gemeinsamen Frühstück gewöhnt hatte. Dennoch schenkten alle Teilnehmer des Klassentreffens dem knochigen, groß gewachsenen Mann die volle Aufmerksamkeit. Kelly blieb seiner Gewohnheit treu und fuhr sich, bevor das erste Wort über seine Lippen kam, mit den gespreizten Fingern seiner rechten Hand kräftig durch das dichte, leicht gewellte rote Haar. „Liebe Mädchen, liebe Jungs und liebe Freunde. Mit diesem Frühstück hat der fünfte und damit leider auch letzte Tag unseres Klassentreffens begonnen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen für ein dickes Dankeschön. Als erstes danke ich im Namen aller Anwesenden dem Ehepaar Jemy und Allen McPhearson von ganzem Herzen für die Gastfreundschaft. Bedanken müssen wir uns auch bei den vielen Mitarbeitern der Ruby Plains, die, ich möchte fast sagen, rund um die Uhr für uns da waren. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Klassentreffen für jeden eine bleibende Erinnerung sein wird. Wenn kein unvorhersehbares Missgeschick aufkreuzt, das kann ich euch versprechen, wird der letzte Tag heute ein ganz besonders eindrucksvolles Erlebnis werden.“ Kelly legte eine kleine Pause ein, um dem begeisterten Applaus Raum zu geben.

Niemand konnte in diesem Moment ahnen, dass er mit dem Versprechen weit untertrieben hatte.

Der jetzt einsetzende, kaum zu bremsende Rede- und Bewegungsdrang der Jugendlichen wurde erneut vom energischen Hämmern auf der gefährdeten Kaffeetasse unterbrochen. „Liebe Schülerinnen, liebe Schüler der ‚School on the Air‘. Erlaubt mir bei dieser Gelegenheit noch ein paar Anmerkungen zum tieferen Sinn dieser unserer Klassentreffen. Ihr, die ihr und eure Familien im endlosen Outback unseres Känguru-Kontinents lebt, müsst auf so viele Dinge verzichten, die bei anderen Menschen zur Selbstverständlichkeit des Alltags gehören. Mal eben um die Ecke gehen zum Einkaufen in einem klimatisierten Supermarkt oder zu einem kühlen Bierchen in der Eckkneipe. Mal eben einen Tisch bestellen in einem edlen Restaurant oder zur Post gehen, am Kiosk eine Illustrierte kaufen und einen lustigen Plausch mit dem Nachbarn halten. Ursache für dieses Andersleben sind die gewaltigen Entfernungen. Einige eurer „benachbarten“ Homesteads liegen weiter entfernt als Sydney von Newcastle. Allein unsere ‚School on the Air‘ versorgt mit ihrem Unterricht von Alice Springs aus ein Gebiet von 1,3 Millionen Quadratkilometern, und in diesem riesigen Klassenzimmer gibt es wegen der dünnen Besiedlung lediglich 140 Schüler. Die riesigen Distanzen sind leider auch dafür verantwortlich, dass relativ wenige Schüler an den Klassentreffen teilnehmen können. Ich muss und will an dieser Stelle nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal darauf hinweisen, dass die jährlichen Begegnungen unserer Lehrer und Schüler von elementarer Bedeutung sind. Sie helfen zu verhindern, dass ihr mit der Zeit zu weltabgeschiedenen Eremiten, zu ungenießbaren Eigenbrötlern oder spröden Zönobiten mutiert. Gott sei Dank haben die technischen Errungenschaften der letzten Jahre dazu beigetragen, die totale Isolation zu verhindern. Ich denke hier an unser Schulsystem, an den Royal Flying Doctor-Service, an Versorgungsflugzeuge und -hubschrauber. Natürlich Satellitenfunk und -fernsehen. Auch wenn es für euch junge Leute schon alltägliche Selbstverständlichkeit ist, so möchte ich bei dieser Gelegenheit nochmals auf die große Bedeutung der modernen Solar- und Windkrafttechnik hinweisen. Früher war Energie, das Lebenselixier aller Technik, im Outback wegen der immensen Transportkosten für Öl, Kohle oder Gas fast unbezahlbar.“

Waren es die Gesetze des Zufalls oder irgendwelche parapsychologischen Kraftfelder, die Jack Kelly veranlassten, die abschließenden Worte der Bedeutung der Energie zu widmen? Denn heute sollte er einem außergewöhnlichen Ereignis begegnen, das alles rund um das Thema Energie im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf stellen würde.

„So, genug der Worte, jetzt müssen Taten folgen. Raus mit euch und verteilt euch auf die sechs bereitstehenden Pick-ups.“ Der dafür verantwortliche Kollege Kellys bestätigte, dass die Fahrzeuge mit allem bestückt waren, was eine Horde Schüler für einen abenteuerlichen Tagesausflug in die weitgehend unerforschte und zerklüftete Felsregion des nördlichen Purnululu-Nationalparks benötigte.

Vier General-Motors Division GMC Allrad-Fahrzeuge mit übergroßen Rädern aus dem Ruby Plains-Fuhrpark, ein VW Amaok DK Highline TDI von der Gold-Ore-Farm und ein Isuzu D-Max Maximum, der von der Foreigne Mountain Farm gekommen war, setzten sich, eine dichte rotbraune Staubwolke aufwirbelnd, in Bewegung. Vor dem Pick-up-Konvoi lag als erste Etappe eine rund 60 Kilometer lange, holprige Schotterpiste, die sie mitten durch eine rotbraune wüstenähnliche Landschaft führte. Vereinzelte karge Hecken oder Baumgruppen gaben ein kümmerliches Bild ab. Jack Kelly, der per Funksprechanlage mit allen Fahrzeugen der Kolonne verbunden war, machte auf einige Boab Trees aufmerksam: „Diese vorwiegend in der Kimberley-Region anzutreffenden Bäume geben, wie ihr seht, ein eigenartiges Bild ab. Sie sind mit dem afrikanischen Affenbrotbaum verwandt. Die Boabbäume werden nur mäßig hoch. Schaut euch die Stämme an, die scheinen lieber in der Breite als in der Höhe zuzulegen. Im Laufe der vielen Jahre nehmen diese eine typische Flaschenform an. In diesen Stämmen kann viel Wasser gespeichert werden. Damit gelingt es dem australischen Boabbaum, längere Dürreperioden zu überstehen. Übrigens, die Aborigines behaupten, dieser Baum sei verkehrt in die Erde gesteckt worden, denn die bizarren, blätterarmen Äste sehen aus wie das Wurzelwerk eines Baumes.“

Nach gut anderthalb Stunden die Erleichterung. Der Duncan Highway mit einer angenehm befahrbaren Asphaltdecke. Bald bogen sie auf den sehr gut ausgebauten Northern Highway ab. Vorbei an Halls Creek, einer Kleinstadt in der Kimberley-Region, erreichten sie den Abzweig zum Purnululu Nationalpark.

„Hallo“, meldete sich Jack Kelly wieder über Bordfunk, „so, wir befinden uns jetzt auf der letzten Etappe unserer Anreise. Die restlichen gut 50 Kilometer werden allerdings wieder etwas unangenehmer. Auf uns wartet eine enge und jetzt in der Trockenzeit sehr staubige Strecke. Es wird bisweilen steil bergan und ebenso steil bergab gehen. Aber in etwas mehr als zwei Stunden werden wir’s geschafft haben.“

Sechs Pick-ups hielten in Reihe auf dem weitläufigen Parkplatz in der Nähe des Besucherzentrums. Als sich die rote Staubwolke verzogen hatte, öffneten sich mit etwas Verzögerung die Wagentüren. Schüler und Begleitpersonen kletterten nach der stundenlangen Fahrt ein wenig steifbeinig aus den Autos. „Alle mal herhören“, machte sich Jack Kelly jetzt bemerkbar. „Nutzt die Gelegenheit, dort neben dem Besucherzentrum in dem flachen, barackenähnlichen Anbau befinden sich die Toiletten. Bitte beachtet die Hinweisschilder und geht äußerst sparsam mit dem Wasser um. Da eure Rucksäcke alle mit reichlich Getränken und ausreichend Essbarem bestückt sind, können wir auf einen Besuch des Kiosks verzichten. Ich wünsche, dass wir uns in 30 Minuten wieder hier bei den Autos treffen. Dann bis gleich.“

Als die Schüler gemächlich zum Parkplatz zurückkehrten, standen die Lehrer und die vier Begleiter bereits beisammen. Sie hatten einen Halbkreis gebildet und schenkten ihre Aufmerksamkeit einem höchstens 160 cm großen dunkelhäutigen Mann mit schulterlanger, lockiger, ebenholzfarbener Haarpracht und üppigem Vollbart. Gekleidet war diese auffallende Erscheinung mit einer verwaschenen hellblauen Jeans und einem pinkfarbenen Pullover auf grasgrünem Hemd. Statt der erwarteten Wanderschuhe trug er ein Paar knallrote Joggingschuhe mit drei parallel laufenden weißen Streifen an den Seiten. Als die Schüler eingetroffen waren, trat Jack Kelly zu dem Mann hin, legte vertrauensvoll einen Arm um dessen Schultern und schaute ihn erfreut lächelnd an: „Ich bin glücklich, euch Dawuy Unupungu, genannt Davi, vorstellen zu können. Es gibt sicherlich keinen zweiten, der die Gegend, die wir heute besuchen wollen, so gut kennt wie unser Mister Davi. Ein stolzer Ureinwohner unseres Kontinentes. Seine Vorfahren, vom Volk der Jaru, lebten seit über 20.000 Jahren in dieser Region. Bis, ja bis ein Herr Guy Baskin Anfang der Achtziger Jahre eine Serie über die bis dahin völlig unbekannten Gebiete des australischen Nothern Territory drehte. Diese Serie wurde ein Riesenerfolg. Ein weltweites Interesse an dieser geologischen Sensation flammte auf. Heute sind diese Naturwunder geschützt. 1987 wurde dieser Teil Kimberleys zum Purnululu-Nationalpark erklärt und gehört seit 2003 zum Weltkulturerbe. Die hier lebenden Menschen mussten ihre geliebte Heimat verlassen und sich in der Nähe von Halls Creek ansiedeln. Mister Dawuy Unupungu zog es immer wieder in die Heimat seiner Vorfahren und Ahnen. Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass wir Davi gewinnen konnten, die Führung unseres heutigen Ausfluges zu übernehmen. Er wird uns zu einigen natürlichen Sehenswürdigkeiten des nördlichen Teils des Nationalparks geleiten, uns Wissenswertes und Geheimnisvolles über eine der ältesten Landschaften der Erde erzählen. Solltet ihr Fragen haben, nur zu. Unser Mister Davi wird euch keine Antwort schuldig bleiben. Immerhin ist er ein auf diese Region spezialisierter Geologe. Auch das solltet ihr wissen. Er hat an der Universität von Perth studiert und promoviert.“ Er legte eine Pause ein, bevor er fortfuhr: „Es gibt einige Orte auf der Welt, die uns, wie sagt man so treffend, mit offenem Mund staunen lassen. Und diese entlegene Ecke, die wir heute besuchen werden, gehört dazu.“ Kelly reichte Davi die Hand: „Die Schüler und wir Begleiter möchten uns bei Ihnen, lieber Davi, recht herzlich bedanken.“

Als der Applaus verklungen war, blickte der kleine Mann mit einem souveränen Lächeln in die Runde: „Auch ich darf mich bedanken für die Einladung und die Vorschusslorbeeren. Ich habe mir vorgenommen, die zur Verfügung stehenden Stunden optimal zu nutzen. Ihr, liebe Mädchen und Jungs, seid echte Kinder des Outbacks, in euren Händen, das weiß ich und das wünsche ich mir, wird einst die Zukunft dieser einmaligen Region und deren Menschen liegen. Damit ihr immer daran denkt, gibt’s heute etwas Besonderes zu sehen. Ich werde euch einen geheimnisvollen Ort zeigen, der bisher von noch keinem Besucher betreten wurde. So, auf geht’s.“ Er klatschte laut in die Hände. „Und wieder rein in die Autos. Wir werden dort drüben an der Wegegabelung links abbiegen und noch knappe zwei Kilometer in nordöstliche Richtung holpern. Von da an sind eure eigenen Fortbewegungswerkzeuge gefordert. Wir werden einen unwegsamen und mühevollen Fußweg zu bewältigen haben.“

Nur mit geländegängigen, allradgetriebenen Fahrzeugen war dieser stetig ansteigende und unebene Weg im Schritttempo zu bezwingen.

„Hallo“, meldete sich bald die aufmunternde Stimme Davis über die Sprechanlage. „Halten wir uns an die weise Empfehlung des berühmten Schweizer Dichters Gottfried Keller: ‚Trinkt, o Augen, was die Wimper hält von dem goldenen Überfluss der Welt’. Allerdings macht die Gegend hier auf den ersten Blick einen eher trostlosen Eindruck. Doch gönnt euch mal den zweiten Blick und schaut genauer hin. Zwischen den hier immer häufiger anzutreffenden Boab-Bäumen könnt ihr Gräser und Sträucher beobachten, denen man sonst nur noch in Süd-Afrika und in Süd-Asien begegnen könnte. Dort links zum Beispiel ist eine strauchähnliche, mehrstämmige etwa 1,60 Meter hohe, um diese Jahreszeit weiß blühende Baumgruppe zu sehen. Diese Aerva javanica-Pflanze heißt bei der indigenen Urbevölkerung Bilhangga. Ihren Extrakten wird eine stark entzündungshemmende Wirkung nachgesagt. Hallo Wolli“, war jetzt im Lautsprecher zu vernehmen, „ich sehe dir an, du möchtest etwas wissen.“

„Danke Davi, kannst du mir sagen, was sind das für grüne Kreise dort drüben zwischen den Bäumen? So was hab ich bisher noch nie gesehen.“

„Ah, ja, darauf wollte ich euch auch aufmerksam machen. Es handelt sich dabei um eine für diese Region typische botanische Besonderheit. Diese grünen Ringe können einen Durchmesser von zwei bis drei Metern erreichen. Dieses Ringwachstum ist eine Eigenart des Spinifex-Grases. Zwar nimmt das Spinifex-Grasland über 25 Prozent der Gesamtfläche Australiens ein, aber dort, wo monatelang kein Regen auf sandige und nährstoffarme Böden fällt, wie hier, hat dieses Gras sich etwas Besonderes einfallen lassen. Zur Regenzeit wachsen neue Grasbüschel, die in der Dürrephase alles Wasser und alle Nährstoffe dem Boden entziehen. Nachwachsen kann das Gras nur noch am äußeren Rand der Büschel, wo der Boden noch etwas hergibt. Im Laufe der Jahre entstehen so immer größer werdende Kränze. Das Gras im Inneren verkümmert.“ Er wandte sich wieder an die anderen. „Liebe Freunde, euer Ausflug soll doch in erster Linie auch eine Studienreise sein. So erlaube ich mir, auch wenn es den einen oder anderen langweilen wird, auf eine weitere Besonderheit der Region aufmerksam zu machen. Schaut jetzt mal auf die rechte Seite des Weges. Hier stehen zwei wunderschöne Exemplare ihrer Gattung. Zwei so genannte Grasbäume, die zu den Lilienpflanzen gerechnet werden. Auf einem sehr kurzen Stamm wuchert ein dichter Busch grasähnlicher, spitzer und stichiger Blätter. Diese immergrüne Pflanze wird gerne wegen des fast schwarzen Stammes ‚Black Boy‘ genannt.“

„Danke dir, mein Freund Davi, für diese sachkundigen Informationen“, meldete sich Jack Kelly wieder. „Wie ich soeben von dir erfahren habe, sind wir in ein paar Minuten am Ziel unserer Fahrt, dem Ausgangspunkt unserer Wanderung in eine vorsintflutliche Welt. Vor uns sehen wir bereits die rote, wie eine gewaltige Mauer wirkende, über 200 Meter senkrecht aufsteigende Buntsandstein-Felswand. Wir fahren noch, so weit es die immer dichter stehenden Livistona Fächerpalmen zulassen, in die sich vor uns auftuende Schlucht hinein.“

Als die jungen Leute ausstiegen, kletterten ihre Augen ängstlich und ehrfurchtsvoll an der jetzt nur noch 8 bis 10 Meter von ihnen entfernten, senkrecht in schwindelnde Höhen aufstrebenden Felsmauer empor. Sie wollten ihren Augen nicht trauen. Tatsächlich wuchsen in der Steilwand an vereinzelten Stellen Palmen, Eukalyptus- und Felsfeigen-Bäume, die sich mit ihren Wurzeln in Spalten und Rissen der Felswand angeklammert hatten.

„Nun hört bitte genau zu“, erhob Kelly seine Stimme: „Wie ich sehe, tragen alle ihren Rucksack auf dem Rücken. Und nun kommt bitte her zu mir. Hier auf diesem Pick-up befinden sich die Schutzhelme. Jeder sucht sich einen passenden aus. Und ganz wichtig, wir bleiben alle beisammen. Sollte jemand Probleme bekommen, bitte sofort melden. Der Weg ist anstrengend, und bei Temperaturen um die 30 Grad werden wir ins Schwitzen kommen. Deshalb mein dringender Rat: Vergesst unterwegs das Trinken nicht. Hat jemand noch Fragen? Gut, wenn nicht, kann das Abenteuer starten.“

4

Dank der Belastbarkeit der Jugend konnte der schwierige Marsch quer durchs Unterholz des Palmenwaldes der erwartungsvollen Abenteuerlust der Gruppe keinen Abbruch tun. Im Gegenteil, die Erwachsenen hatten sogar Mühe, die Springinsfeld beisammen zu halten. Es wurde gelacht, gescherzt, bewundert, gestaunt, gefragt und geantwortet, und es wurde aus Herzenslust gesungen. Die junge Lehrerin, Meggy Paton, stimmte urplötzlich mit ihrer klaren hellen Stimme Down Unders beliebtestes Volkslied ‚Waltzing Matilda’ an. Als wenn alle darauf gewartet hätten, tönten alle acht Strophen dieser heimlichen Landeshymne lautstark aus 29 Kehlen. Doch als die letzte Zeile dieser Heldenballade verklungen war, herrschte ehrfurchtsvolle Stille. Bisher der Sicht durch die Palmen verborgen, stand man plötzlich vor dem Eingang einer nur drei Meter breiten Schlucht, deren Wände über 150 Meter senkrecht aufragten. Davi hielt jetzt an und scharte die Gruppe um sich. „Diese und andere Schluchten sind in der Regenzeit von Januar bis März geschlossen. Wir werden jetzt in der regenfreien Zeit durch das ausgetrocknete Flussbett eines sonst reißenden Gebirgswassers … nein, nicht wandern sondern klettern. Schaut mal dort oben. In der majestätischen Höhe scheinen sich die Felswände fast zu berühren. Perspektivisch bedingt sehen wir nur noch einen schmalen Streifen des blauen Himmels. Da die Sonne kaum bis in die Tiefe hinein reicht, werden wir in der Schlucht eine angenehme Kühle genießen können. Das ist auch gut so. Denn der Weg durch das Flussbett wird schwierig. Wir werden pausenlos über lockeres Steingeröll balancieren und über meterhohe Felsbrocken klettern müssen. Ich mache euch jetzt schon darauf aufmerksam, dass die Schlucht nach einem Kilometer immer enger wird. Von da an passen keine zwei von euch nebeneinander. Habt bitte keine Angst. Ich kenne diese Schlucht, sie ist völlig harmlos. Von je her lebten die Stämme der Kija und der Jaru in dieser Gegend. Sie hatten hier in der Region ihre heiligen Plätze, Kultund Grabstätten, die sie bis heute verehren und für ihre Rituale nutzen. Es ist keinem Unbefugten erlaubt, diese geweihten Orte des großen Zaubers zu betreten. Aber heute werden wir eine Ausnahme machen.“

Dort, wo die Felswände bis auf knapp einen halben Meter zusammenrückten, zweigte im spitzen Winkel eine ebenso schmale Felsspalte ab, die nicht weiterzuführen schien. Denn bei einem Blick in diese dunkle Nische musste man hier eine Sackgasse vermuten. Zu aller Überraschung zwängte sich Davi hinein und winkte der Gruppe, ihm zu folgen. Und tatsächlich, etwas seitlich versetzt, tat sich ein weiterer Spalt auf, durch den Davi soeben verschwand. Nach wenigen Schritten ließ die Dunkelheit allmählich nach und wurde bald von strahlender Helligkeit abgelöst. Vor ihnen öffnete sich ein fast kreisrundes Tal. Sein Durchmesser mochte etwa 120 Meter betragen. Begrenzt wurde dieser Kessel von glatten, senkrecht aufstrebenden Felswänden. Rundum bildeten Fächerpalmen einen breiten Waldsaum. „Dieses verborgene Tal, das dürft ihr mir glauben“, betonte Davi stolz, „ist ein Eldorado der ‚Rock Art’. Mancher Kunst-Mäzen würde ein Vermögen dafür opfern, heute mit euch tauschen zu dürfen.“

„Davi“, unterbrach der ein wenig erschöpft wirkende Jack Kelly, „es ist schön hell und angenehm kühl hier unten auf dem Grund dieses Felszylinders. Abgesehen von der strapaziösen Fahrt hat die ungewohnte Kletterei einiges an Kraft gekostet. Wir sollten eine ausgiebige Rast einlegen und uns Zeit für ein gemütliches Picknick nehmen.“

„Gute Idee“, stimmte Davi zu, „aber folgt mir in den Palmenhain dort drüben. Da liegen ein paar umgestürzte Bäume, auf deren Stämme wir Platz nehmen können.“

Nach einer halbstündigen Rast stellte Davi bei den Schülern wieder ein Bewegungsbedürfnis fest. Er trat vor die Gruppe: „Ich sehe, ihr steckt voller Tatendrang. Das muss ich nutzen, euch noch einige Informationen über diese Region hier zukommen zu lassen. Bitte lasst keinerlei Abfälle in dieser für uns Aborigines heiligen Natur zurück.“ Mit ungeteilter und Respekt erweisender Aufmerksamkeit folgten Schüler und Begleitpersonen den Ausführungen dieses kleinen Mannes, von dem eine wohltuende Authentizität und Autorität ausging. „Vor gut 2000 Jahren kam Jesus Christus in diese Welt. Das kommt einem wie eine Ewigkeit vor. Meine Vorfahren, heute Aborigines genannt, leben aber schon, wie manche Forscher vermuten, seit über 50.000 Jahren in dieser Region. Wann die Ureinwohner begannen, ihre Geschichte, ihr Leben, zum Beispiel die Jagd, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Mythen und ihre religiösen Handlungen auf Felswände zu malen, ist nicht bekannt. Doch gilt die Felsmalerei in dieser Region als die älteste bekannte Kunst der Welt.“

In diesem Moment hob der rothaarige Jack Kelly seinen Arm, stand auf und wandte sich an Davi. „Hör zu mein Freund, du weißt, dass ich eure Kunstgeschichte studiert habe und darüber selber unterrichte. Habe bitte Verständnis dafür, dass ich dich vorübergehend mit den Schülern alleine lasse. Ich weiß, die Kids sind bei dir in besten Händen. Ich habe dort drüben einen Eingang zu einer weiteren Felsschlucht gesehen, die nicht sehr tief zu sein scheint. Von der anderen Seite fällt Helligkeit hinein. Ich vermute, dass sie in ein weiteres Tal führt. Das möchte ich mir gerne einmal ansehen. Möglicherweise könnten wir dorthin unsere Wanderung ausdehnen.“

Davi war für einen Augenblick wie erstarrt, bevor er auf Kelly mit einer abwehrenden Geste seiner Arme und Hände zuschritt: „Nein, nein Jack, auf keinen Fall, das darfst du nicht! Ich sagte doch vorhin, dass der Besuch dieses Tales hier die einzig mögliche Ausnahme ist. Wie ihr wisst, liegt über dem fünften Kontinent ein Netz von heiligen Traumpfaden. Und die sind absolut tabu für alle Menschen, die nicht zu den Ureinwohnern gehören. Mit dem Tal, das dort drüben beginnt, hat es noch eine besondere mystische Bewandtnis. Dorthin dürfen nur auserwählte Personen unseres Volkes und die religiösen Führer unseres Glaubens. In diesem Tal befinden sich heilige Kult- und Grabstätten. Viele Malereien sind Zeugnisse von uralten Glaubensinhalten. In der Überlieferung wird beispielsweise davon berichtet, dass unsere Urahnen aus der Schöpfungsgeschichte von diesem Tal aus in den Himmel aufgefahren seien. Bis in die heutige Zeit halten sich Gerüchte, dass früher Menschen zum Sterben dieses Tal aufgesucht hätten. Denn von dort aus, so die Überlieferungen, wäre es leicht, in die Welt der Urahnen aufzusteigen. Bitte Jack, geh nicht dorthin, betrete und entwürdige nicht eine der heiligsten Stätten unseres Volkes. Bitte, nicht!“ Kelly war vor der charismatischen Kraft dieses Mannes ein paar Schritte zurückgewichen, hob entschuldigend die Hände und beschwichtigte: „Verzeih Davi, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Natürlich werde ich dieses heilige Tal nicht betreten. Ich werde nur ein wenig spazieren gehen und bald wieder zurück sein. Versprochen!“

Kelly drehte ab und schlenderte wie gelangweilt davon. Trotz der warnenden Bitte Davis zog es ihn in die Richtung der Felsspalte, die ihm vorhin aufgefallen war. Auf dem Weg dorthin wunderte er sich über die verführerische Kraft, mit der das verbotene Tal ihn lockte.

Als Kelly die Felsspalte erreicht hatte, schaute er sich um. Wie erwartet war niemand in der Nähe. Er staunte über sich selber und wunderte sich über die Schwäche, mit der er der Versuchung nachgab. Aber in dieser Situation konnte und wollte er nicht widerstehen, einen Blick in das Tal der Tabus zu riskieren. Er gab sich der verlockenden Macht des Verbotenen hin, quälte und quetschte sich durch den beängstigend engen Felsspalt mit den beiderseits furchterregend hohen Wänden. Als er das lichtüberflutete Tal erreicht hatte, atmete er tief und befreit durch, schaute und staunte. Jack Kelly, was nun?

Wär doch das seltsame, mystisch wirkende Gebilde in der Mitte des Tales nicht gewesen. Vielleicht wäre er direkt wieder umgekehrt.

Und erneut staunte Kelly über die Schwäche seines Willens. Die seine Handlungen von diesem Moment an steuernden Eingebungen hatten der Vernunft einen Maulkorb verpasst. Das, was er in den folgenden Minuten erlebte, bewirkte eine komplette Blockade seiner rationalen Urteilsfähigkeit.

Als Kelly davongezogen war, schüttelte Davi den Kopf, zuckte mit den Schultern und meinte, sich der Gruppe wieder zuwendend: „Man sollte alles Heilige achten. Pardon, wo waren wir stehen geblieben? Ach, ja. Keiner der zahlreichen Aborigines-Stämme hat je eine eigene Schrift entwickelt. Ihre zigtausend Jahre alte Geschichte, ihre Traditionen, ihre Sitten und Gebräuche hielten sie in der Höhlen- und Felsmalerei fest. Kommt, folgt mir, wir werden uns nun diese Kleinode der Kunst ansehen. Bitte denkt daran, dass sich euch diese Gelegenheit nie mehr bieten wird.“

Der Funke der Begeisterung, mit der Davi die auf Stein verewigten Kunstwerke erläuterte, wollte nicht so recht auf die Klasse überspringen. Einige der Schüler zeigten ihre Enttäuschung über das, was da auf den Steinplatten zu sehen war. „Soll das Kunst sein?“, traute sich einer der Jungs zu fragen. „So etwas könnte ich auch. Sieht doch alles simpel und naiv aus.“

Davi beeilte sich, eine so oberflächliche Betrachtungsweise zu korrigieren: „Denkt an die technischen Möglichkeiten, die den Menschen vor Tausenden von Jahren zur Verfügung standen. Sandsteine, Flusssedimente, Asche oder Kohle lieferten ihnen die Grundfarben rot, gelb, schwarz und weiß. Als Malerwerkzeuge mussten die Finger, Fetzen von unterschiedlichen Tierfellen, Pflanzenstiele oder Holzstäbchen herhalten. Wenn ihr diese steinzeitlichen Möglichkeiten mit der Vielfalt und der Aussagekraft der urgeschichtlichen Darstellungen ins Verhältnis setzt, so bleibt einem keine andere Wahl, als die außergewöhnliche künstlerische Leistung zu bestaunen.“

„Wo bleibt denn Jack?“, fragte Davi und schaute sich suchend um. „Na ja, in diesem Talkessel kann man sich ja nicht verfehlen.“

Der weitere Weg entlang der Felswand führte sie vorbei an einfachen Strichmännchen, aber auch an Jagd- und Kampfszenen, an Bildern von Tieren und Menschen. Es waren ausschließlich Männer dargestellt, alle mit langen Haaren und einfachem Haarschmuck. Die Bekleidung bestand aus Lendenschurz oder Tierfellen. Als Jagdwaffen konnte man Speere und den Bumerang erkennen. Sie begegneten Darstellungen von Landschaften mit Bächen, Seen, Tälern, Schluchten und Bergen, öfter auch der Wiedergabe von Sonne, Mond, vom Sternenhimmel und von Sternschnuppen.

„Hier“, deutete Davi auf eine Gruppe von Zeichnungen hin, „Diese Malereien sind, so schätzt man, vor etwa 10.000 Jahren entstanden. Man spricht von sogenannten Röntgenbildern. Ihr könnt wie mit Röntgen-Augen durch die hier wiedergegebenen Menschen und Tiere hindurchschauen und seht ihre Skelettknochen und die inneren Organe.“ Mehrmals begegneten sie den unterschiedlichsten Darstellungen von Ungud, der Regenbogenschlange, die in der Schöpfungsgeschichte der Aborigines eine zentrale Rolle einnahm.

Der Aborigines-Mann wandte sich den Gästen zu und verbeugte sich. „Ich bedanke mich für euer Interesse und hoffe, dass euch unser Abstecher gefallen hat. Ich wäre froh, wenn es mir mit dieser Führung gelungen wäre, die Annäherung der weißen Bevölkerung und der Ureinwohner dieses Landes ein wenig zu beschleunigen.“

Er wandte sich um. „Hallo mein Freund“, machte Davi jetzt auf Kelly aufmerksam, „da bist du ja endlich. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du hättest meine Bitte, das Tal dort drüben nicht zu besuchen, überhört.“

Jetzt wandten alle ihre Köpfe in die Richtung, in die Davi gesprochen hatte. Dort lehnte der total erschöpft wirkende Kelly an einem Baumstamm, sichtlich bemüht, Halt zu finden und Haltung zu bewahren.

„Geht’s dir nicht gut?“, wollte seine Kollegin Meggy Paton wissen, der die unnatürliche Blässe seines Gesichtes aufgefallen war.

„Danke, geht schon wieder“, versuchte Kelly seiner Stimme Kraft zu verleihen. „Ja, man ist doch nicht mehr der Jüngste. Davi, ich schlage vor, wir treten jetzt den Rückweg an. Wir dürfen die jungen Leute nicht überfordern.“

„Okay, wenn du meinst, du bist der Boss“, reagierte Davi spontan. „Dann begleite ich euch noch zum Ausgangspunkt.“

Auf dem Rückweg folgte Kelly der Gruppe mit gebührendem Abstand, völlig apathisch und in Gedanken versunken. Niemand konnte vermuten, dass diesem Mann während seiner einstündigen Abwesenheit etwas Außergewöhnliches widerfahren war. Kelly wollte mit seinem Problem allein sein und auf keinen Fall mit jemandem darüber sprechen.

Auch bei der Verabschiedung von Davi fielen die Dankesworte äußerst sparsam aus. Auf der Rückfahrt saß er teilnahmslos mit geschlossenen Augen neben seinem Kollegen. Kelly schien zu schlafen. Das gelegentliche Zucken in seinem Gesicht und die bisweilen stöhnenden oder stockenden Atemzüge ließen vermuten, dass Kelly von einem fürchterlichen Albtraum gequält wurde.

5

Allan Campbell, ein junger Kollege von Jack Kelly, hatte auf der Rückfahrt das Steuer des ersten Wagens der Pick-up-Kolonne übernommen. Er schaute immer wieder zu Jack, seinem Beifahrer, hinüber. Bisher hatte er diesen angenehmen Typen als gut gelaunten, aufgeschlossenen, unterhaltsamen und redseligen Menschen kennengelernt. Und jetzt saß da neben ihm ein schweigsames, scheinbar schlafendes Häufchen Elend. So langsam machte er sich Sorgen um seinen Kollegen. „He, Jack, was ist mit dir los, geht’s dir nicht gut, hast du irgendwelche Beschwerden, bist du krank? Nun sag doch mal was.“

„Mach dir keine Gedanken! Ich bin nicht krank. Ich muss nur über etwas nachdenken, Tu mir einen Gefallen, stell mir keine Fragen mehr, ich brauche etwas Ruhe.“

Wäre er doch bei seinen Schülern geblieben, dachte er. Hätte er doch das Davi gegebene Versprechen nicht gebrochen und den Felsspalt nicht betreten. Aber nein, er hatte seine Neugier befriedigen müssen.

Hinter verschlossenen Augen rekapitulierte er noch mal das unglaubliche Erlebnis. Er hatte sich durch die nur etwa zwanzig Meter lange Schlucht hindurch gequetscht. Staunend stand er wieder in einem lichtgefüllten Tal. Beide Täler glichen sich wie ein Ei dem anderen. Kreisrund, senkrecht aufstrebende Felswände, rundum ein breiter Waldsaum. Der Kessel hier war doppelt so groß wie das Tal der Rock-Art. Auf der mit dichtem kräftigem Gras bewachsenen, kreisrunden Innenfläche verloren sich einige rot und weiß blühende Hecken und Sträucher. Von den erwähnten Grabstätten war nichts zu sehen. Diese lagen sicherlich in oder hinter dem breiten Ring des Palmenwaldes. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem seltsamen Gebilde in der Mitte des Tales in Anspruch genommen. Dort ragte ein bizarr geformter, fast drei Meter hoher, rot-rostbrauner Felsbrocken aus der Erde hervor. Umgeben war dieser Zentralstein von einem dichten Ring aus circa fünf Meter hohen, astfreien Palmenstämmen. Von unten bis oben waren diese Stämme im Abstand von zehn Zentimeter durch daumendicke Hanfseile verbunden. Nur auf der Jack zugewandten Seite gab es einen Durchgang. Die Umfassung mochte einen Durchmesser von acht bis zehn Metern besitzen. Neben dem Durchlass lehnte eine einfache Holzleiter, mit der es leicht gelang, auf das ebene Plateau des Felsbrockens zu steigen. Jack wusste in diesem Moment, dass seine Neugier auch diesmal siegen würde. Was war denn schon dabei, einen Blick auf ein umzäuntes Stück Stein zu werfen? Er würde dieses Heiligtum nicht einmal berühren. Seinen Rucksack wollte er nicht bis zur Mitte des Tales mitschleppen. Er nahm das Gepäckstück vom Rücken und legte es ins Gras. Jack Kelly stutzte. Sein Unterbewusstsein hatte eine Unstimmigkeit registriert, die sein Verstand im ersten Moment nicht begreifen konnte und wollte. Er nahm den Rucksack wieder auf, wog ihn mit der rechten Hand, dann mit der linken, schüttelte den Kopf. War das denn überhaupt möglich? Dieses Ding kam ihm deutlich leichter vor als es war. Er schaute nach, es gab keine defekte Stelle, nein er hatte nichts verloren. Nach dem Motto, dass nicht sein darf, was nicht sein kann, blendete er den kleinen irrealen Störfall aus und ging beschwingt los.

Doch nach einigen Schritten blieb er verstört stehen, schüttelte erneut das zweifelnde Haupt, zuckte hilflos mit den Schultern und setzte seinen Weg fort. Das Irrationale verlangte dringend nach einer rationalen Erklärung: Na klar! Nach der längeren Rast, einem kräftigenden Imbiss und ein paar Schluck Wasser ist man halt gestärkt und alles geht leichter von der Hand. Mit dieser Begründung zufrieden ging er unbeschwerten Schrittes weiter. Doch er blieb erneut stehen und schaute sich suchend um. War es möglich, dass es hier in diesem abgelegenen Tal Blüten gab, deren Staub oder Ausdünstungen Wahrnehmungsstörungen bewirken konnten? Er fühlte sich nicht nur, sondern er war beschwingter. Wieder setzte er seinen Weg fort. Seine Schritte wurden leichter und länger. Dann versuchte er zu hüpfen. Dabei hätte er fast das Gleichgewicht verloren, denn aus dem Hüpfer war mühelos ein Sprung geworden. Jetzt nahm er eine Dollar-Münze aus der Tasche, legte sie in die flache Hand und versuchte sie zwei bis drei Meter hoch zu werfen. Dieser Versuch brachte ihm Angst erregende Gewissheit. Der Dollar segelte locker auf über zehn Meter hoch. Beim Auffangen schien es nur noch das Gewicht eines Alu-Knopfes zu besitzen. Das Experiment mit der Münze schloss eine, wodurch auch immer ausgelöste, Sinnestäuschung aus. Das war der Beweis dafür, dass alles hier weniger Gewicht besaß. Mutig ging er weiter. Aber das war kein Gehen, es war ein Schweben. Zur Mitte hin wurde die Leichtigkeit immer deutlicher. Er fand keine Erklärung. Stattdessen beschlich ihn urplötzlich Angst. Angst vor der Realität des Unmöglichen, des Unerklärbaren. Einen aufkeimenden Gedanken an eine unbekannte mystische Zauberkraft verscheuchte er gleich wieder. Was aber, wenn hier eine gefährliche Strahlung die physikalischen Gesetze der Schwerkraft aus den Angeln hob? In diesem Moment gab es für ihn nur eines: Flucht! Im Laufschritt eilte er zum Rucksack zurück und weiter zum rettenden Felsspalt. Doch was war das? Die furchterregende Ungewissheit und panische Angst wurde von einem rauschähnlichen Glücksgefühl begleitet. Laufen war ihm stets wegen seiner großen, starkknochigen Gestalt schwer gefallen. Jetzt aber schwebte er mit einer Leichtigkeit dahin, dass es ein Vergnügen war.

Als er das Tal verlassen hatte, fühlte er sich verdammt elend. Er schleppte sich zur Gruppe hin. Sein Gewicht schien wieder normal zu sein. Die Begegnung mit dem Unbegreifbaren hatte ihn mitgenommen. Er war total erschöpft. Es drängte ihn, mit seinen Leuten über das Erlebte zu sprechen. Aber er musste schweigen. Die anderen hätten an seinem Verstand gezweifelt. Und Davi hätte ihm die Freundschaft gekündigt.

Jack atmete ein paar Mal tief durch. Klopfte Allan, wie um Verständnis bittend, auf die Schulter und meinte, um seinen Kollegen zu beruhigen: „Der kurze Schlaf hat mir gut getan, bin jetzt wieder fit. Wenn du möchtest, übernehme ich das Steuer.“

„Nein, danke, ich fahre gerne. Ruhe dich noch etwas aus.“

Jack machte es sich auf dem Beifahrersitz so bequem wie möglich, schloss die Augen und befand sich wieder in diesem mysteriösen Kult-Tal der Ureinwohner. Jack war sich sicher, dass die zur Mitte des Tales hin zunehmende Schwerelosigkeit der Grund dafür war, dass die Aborigines glaubten, von diesem Tal aus leicht in das Reich ihrer Vorfahren aufschweben zu können. Und erneut verspürte er das Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen. Die außergewöhnliche Erfahrung, die er heute gemacht hatte, war so mächtig, dass er damit allein nicht zurechtkommen würde. Er fühlte sich wie ein Luftballon, der kurz vorm Platzen stand. In diesem Moment tauchte in seinem Gedächtnis ein Name auf, Ian Wilson. Ian und er waren über mehrere Jahre während des Studiums an der Universität in Perth gute Freunde geworden. Jack studierte Pädagogik, Ian Physik. Leider hatten sie sich nach dem Examen aus den Augen verloren und nichts mehr voneinander gehört. Vor ein paar Wochen hatte er im Wartezimmer seines Zahnarztes aus Langeweile die Boulevard-Zeitung „The Daily Telegraph“ durchgeblättert. In einem Beitrag über die Universität Perth stieß er auf den Namen Professor Ian Wilson, Direktor des geo-astrophysikalischen Forschungszentrums. Dieser habilitierte Wissenschaftler, sein ehemaliger Freund, war sicherlich, wie ein Geschenk des Himmels, der richtige Mann, mit dem er über seine quälende Ungewissheit und die jüngsten Erlebnisse reden konnte. Allein schon die Erwartung auf ein befreiendes Gespräch bescherte ihm eine spürbare Erleichterung.

Von diesem Moment an war Jack Kelly fast wieder der, den alle mochten. Stets froh gestimmt, aufgeschlossen und unterhaltsam.

Sein arg strapaziertes Ego hatte am Abreisetag noch eine wohltuende Aufwertung erfahren. Jack Kelly, der Organisator und Verantwortliche des Klassentreffens in Ruby Plains, wurde bei der Verabschiedung mit Lobes- und Dankesworten überhäuft.

6

Die erste Woche nach seiner Rückkehr hatte sich Jack Kelly frei genommen. Es fielen noch einige das Klassentreffen abschließende organisatorische Arbeiten an. Die übrige Zeit sollte der Muße und der Erholung dienen. Doch diesmal benötigte er einen großen Teil dieser Freizeit, um Kontakt zu seinem Studienfreund Ian Wilson herzustellen. Ihn telefonisch zu erreichen war schwieriger, als die berühmte Nadel im Heuhaufen zu finden.

Endlich, endlich, am Telefon ein selbstbewusstes, kurzes, Zeitknappheit signalisierendes „Wilson.“

Für einen Augenblick war Jack ein wenig eingeschüchtert: „Hallo alter Junge, kannst du dir vorstellen, wer hier am Apparat ist?“ Eine Antwort blieb aus. „Ich bin es, dein alter Kumpel Jack Kelly.“

Die Stimme Wilsons wechselte von geschäftlicher Nüchternheit zu freundschaftlicher Heiterkeit. „Jack, mein Jack Kelly, ist denn das die Möglichkeit? Mensch, du verdammter Schwerenöter, jetzt erkenne ich auch deine Stimme wieder.“

„Ja, ich bin es. Doch bevor du mich jetzt fragst, wie es mir geht oder mir Vorwürfe machst, warum ich mich nie mehr gemeldet habe, hör erst mal, warum ich dich anrufe.“

„Okay, was gibt’s?“

„Ich muss dich so schnell wie möglich sprechen. Es geht um etwas Außerirdisches, im wahrsten Sinne des Wortes. Um mich deinem Fachjargon anzunähern könnte man sagen, dass ich ein Problem mit der Gravitation hatte. Kurz gesagt: Ich hatte die Gelegenheit, einen Blick in einen verbotenen Talkessel zu riskieren, in dem sich eine mysteriöse Kultstätte der Ureinwohner befinden sollte und in diesem verrückten Tal hatte ich, um es mit Steven Spielberg zu sagen, eine „Unheimliche Begegnung der dritten Art“. Was ich da erlebt habe, kann mit den auf unserem Planeten geltenden Schwerkraftgesetzen nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Du als Fachmann könntest mir dafür vielleicht eine plausible Erklärung liefern oder mich in die Psychiatrie einweisen.“

„Letzteres ganz sicher nicht, dafür kenne ich dich zu gut. Ich gebe zu, du hast mich neugierig gemacht. Könnte ein heißes Thema werden. Ich verspreche dir, ich werde mir für dich jede Zeit nehmen. Es freut mich zu sehr, dich wiederzusehen. Also, sag mir, wann du kommst und wie lange du bleiben willst.“

„Ich bin dir sehr dankbar“, begeisterte sich Jack. „Vielleicht bleibe ich ein paar Tage in meinem geliebten Perth. Ich werde heute noch deine Sekretärin zurückrufen und ihr die Termine durchgeben. Will versuchen, noch einen Hin- und Rückflug bei der Quantas für unter 1000 Dollar zu ergattern.“

„Wunderbar, ich werde dich am Flughafen abholen. Selbstverständlich wirst du bei mir zu Hause wohnen. Eine wunderbare Gelegenheit, meine Frau und die Kinder kennenzulernen. Ich habe oft von dir erzählt. Mensch Junge, ich freue mich riesig. Herrlich, Jack und Ian wieder in Perth. Wie in alten Zeiten.“

Die 1973 gegründete und nach dem australischen Schriftsteller Sir Walter Murdoch benannte Murdoch-University mit dem Schwerpunkt Forschung lag etwa 15 Kilometer südlich des Stadtzentrums von Perth. 2005 war Ian Wilson an die Murdoch-Universität berufen worden und leitete seither das damals neu eingerichtete Institut für Geound Astrophysik und Energiewissenschaften.

Nach gut zweieinhalbstündiger Flugzeit war Kellys Maschine am nächsten Morgen pünktlich um 10.44 Uhr gelandet. Die vielen Jahre, in denen sie nichts mehr voneinander gehört hatten, schienen ihrer Freundschaft nicht geschadet zu haben. Ian hatte Kelly wie versprochen am Flughafen abgeholt. Auf der Fahrt in die Stadt wurde mit Begeisterung in Erinnerungen an gemeinsame Zeiten geschwelgt. Das Einzige, was bisweilen als unangenehm empfunden wurde, war die Tatsache, dass zwischenzeitlich etliche Jahre vergangen waren. Jahre, in denen sie sich aus den Augen verloren hatten und Jahre des Älterwerdens.

Während Ian auch gerne auf seine Familie, seine Frau und seine beiden Kinder zu sprechen kam, ließ Jack nur kurz verlauten, dass seine Ehe kinderlos geblieben war und dass er seit sieben Jahren geschieden sei.

„Jack, ich schlage vor, wir fahren zunächst ins Institut. Dort können wir ungestört reden. Ich bin regelrecht begierig darauf, Näheres über das zu erfahren, was du am Telefon angedeutet hast. Ob du es nun glaubst oder nicht. Ich konnte gestern Abend keinen Schlaf finden. Zu sehr war ich mit dem von dir erwähnten Gravitationsproblem beschäftigt. Meine Sekretärin wird uns einen, die Lebensgeister euphorisierenden Kaffee kochen. Und dann wirst du mir detailliert berichten, was sich in diesem Talkessel abgespielt hat.“