Rotes Licht, grünes Licht - Ein inoffizielles Squid Game-Buch - Lou Allori - E-Book

Rotes Licht, grünes Licht - Ein inoffizielles Squid Game-Buch E-Book

Lou Allori

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Beschreibung

Verpasse nicht die Fanfiction zur Erfolgsserie Squid Game Auf einer Party erhält Will eine Telefonnummer, die angeblich all seine Geldsorgen lösen soll. Ein schlechter Scherz, oder? Doch die Studiengebühren lasten so schwer auf Will, dass er die Nummer wählt. Kurze Zeit später findet er sich in einer riesigen Halle voller Menschen wieder. Ihnen allen wird eine enorme Summe Geld versprochen. Dafür müssen sie bloß ein paar Kinderspiele gewinnen. Der einzige Haken: Wer verliert, stirbt nicht nur im Spiel … Erste Spielregel: Überleben Eine fesselnde Geschichte inspiriert von der erfolgreichen Netflix-Serie Squid Game. Innerhalb weniger Wochen avancierte sie zum Serienhit und ist bis dato die erfolgreichste Produktion des Streamingdienstes weltweit. Kinderspiele, überraschende Wendungen, Gesellschaftskritik und die Frage: Wie weit würdest du gehen, um den ultimativen Preis zu gewinnen? Das perfekte Geschenk für jedenSquid Game Fan.

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Seitenzahl: 206

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 1

Über den Campus bricht die Dämmerung herein — was jedoch nicht bedeutet, dass die Schlange kürzer wird. Die Studentenschaft braucht schließlich ihre tägliche Dröhnung Koffein und Zucker.

Ich tippe einen Latte macchiato nach dem anderen in die Kasse ein. Mit extra Karamell, extra Schlagsahne, extra Gebt-mir-Diabetes, extra Ich-geh-dem-Barista-auf-den-Senkel. Die Haare kleben mir an der verschwitzten Stirn. Auch dieses Jahr läutet der Semesterbeginn unweigerlich die Rückkehr des herbstlichen Pumpkin Spice Latte ein, und jeder will der Erste sein, der ein Foto davon auf Insta postet. Sieben fünfzig für ein Heißgetränk hinzublättern, nur weil es gerade angesagt ist … Das werde ich nie verstehen.

Ich hasse den Herbst. Ich hasse dieses Café. Ich hasse die ganzen reichen Papisöhnchen, die sofort das Gesicht verziehen, wenn das Schaumkrönchen mal nicht perfekt auf dem Pappbecher sitzt.

»Also, einen Espresso Frappuccino mit Sahne und Zimt, Medium, und einen Espresso Latte mit Mandelmilch und Karamell, Small?«

»Nein, ich bekomme einen geeisten Frappuccino.«

»Okay. Auf welchen Namen?«

Da ist er: der Moment, den ich am meisten verabscheue. Ich hebe den Blick und lächele die beiden Kunden an. Typen wie sie kommen hier ständig rein. Man erkennt sie an der perfekt in die Stirn fallenden Haarsträhne, dem perlweißen Lächeln, dem nonchalant über die Schulter geworfenen Pullover und ihrem selbstgefälligen Gehabe. Feixend drehen sich die zwei Jungs zu ihren Freunden um.

Ich lasse die Eddingspitze in der Luft schweben. Diese Deppen verschwenden meine Zeit. Ihnen ist egal, dass die Schlange hinter ihnen immer länger wird; sie wollen jetzt den originellsten Namen aller Zeiten erfinden. Er soll so lustig sein, dass das komplette Café losprusten muss. Dabei schert es sie einen feuchten Dreck, dass ich hinterher doppelt so schnell schuften muss, um die Verzögerung wieder wettzumachen.

»Schreib Beate«, sagt der Erste und kichert albern in sein sündhaft teures Poloshirt.

»Und ich bin Uhse.«

Der Witz hat einen ellenlangen Bart, dennoch bricht die Clique hinter ihnen in schallendes Gelächter aus. Ich reagiere gar nicht erst. Stattdessen kritzele ich die Namen auf die Becher und baue dabei möglichst viele Fehler ein, ehe ich mich der nächsten Bestellung widme.

Ich habe die Schnauze so voll von diesen absurden Nicknames. Aber ich brauche den Job. Die Uni ist renommiert. Sie ist die beste des Landes, und Studierende aus der ganzen Welt reißen sich darum, hier ihren Abschluss zu machen. Die meisten von ihnen sind — so wie Beate und Uhse — Söhne von Big-Tech-Bossen, Töchter von Multimillionärinnen, Nachkömmlinge von raffgierigen Unternehmerklans.

Und dann gibt es da noch Leute wie mich.

Einzelkind, Mutter alleinerziehend, aufgewachsen in einem miesen Vorort mitten im Nirgendwo. Seit ich denken kann, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als diese Universität zu besuchen. Selbst nachdem Papa uns verließ, hat Mama alles darangesetzt, dass sich mein Traum erfüllt. Ich soll in unserer Familie der Erste sein, der eine Hochschulausbildung bekommt. Dafür hat sie sich den Rücken als Putzfrau, die Augen als Änderungsschneiderin und die Hände als allabendliche Spülkraft beim Italiener ums Eck kaputt gemacht. Nur weil sie sich für mich aufgeopfert hat, kann ich hier studieren.

Lange habe ich gedacht, nach der Schule würden die Beleidigungen, der Spott und die verächtlichen Blicke aufhören. Mich hat das Prestige gereizt, die altehrwürdigen Campusgebäude aus Stein (als wären sie einer TV-Serie entsprungen), die rauschenden Partys. Die Freunde fürs Leben, die ich finden wollte, der krass gut bezahlte Job, den man mir als Berufseinsteiger anbieten würde, die ganz große Freiheit. Aber nichts von alledem ist bisher eingetroffen. Ganz offensichtlich wird man auch hier verachtet, wenn man anders ist als die Masse. Als ich hier angefangen habe, wollte ich akzeptiert werden. Ich wollte, dass meine Kommilitonen den echten Will kennenlernen. Dass ich nicht nur als der lange Lulatsch bekannt bin, der den Mund nicht aufkriegt. Dass den Leuten zu mir noch was anderes einfällt als »der einzige Schwule am Gymi«.

Ich wollte die Welt kennenlernen — und sie verändern. Doch nach zwei Jahren BWL-Studium weiß ich inzwischen, dass die in den Himmel gerühmte Prestigeuni um keinen Deut besser ist als die popelige Rosa-Parks-Schule meiner Teenagerjahre. Die Leute hier sind genauso bescheuert wie anderswo, Eliteschmiede hin oder her.

Ich kassiere im Akkord die Kaffeebestellungen ab und schiele immer wieder auf die Uhr. Zum Glück ist heute Kelly da; auf sie ist Verlass. Wir sind ein gut eingespieltes Team — ich an der Kasse, sie als Barista.

Auf der anderen Seite der Theke ziehen dicke Armbanduhren, teure Handtaschen, Designerbrillen und siegessichere Gesichter an mir vorbei. Sie gehören zu Studis wie mir — dabei trennen uns Welten. Die eine Hälfte der Cafébesucher ignoriert mich komplett, die andere macht sich über mich lustig.

Wirre braune Locken, Aknenarben im Gesicht, fleckige Schürze, blasse Haut. Ein Spargeltarzan, der sich ducken muss, um sich den Kopf nicht an den Deckenlampen zu stoßen. Meine Kommilitonen vergleichen sich mit mir und fühlen sich plötzlich stark, gut aussehend und wahrscheinlich noch reicher, als sie es ohnehin schon sind. Ihnen genügt ein Blick, um zu wissen, dass wir nicht in derselben Liga spielen. Dass sie mich zerdrücken können wie ein lästiges Insekt. Dass ich nichts wert bin.

Umgekehrt ist es jedoch nicht anders; auch ich erkenne sie sofort. An ihren Luxusklamotten und den omnipräsenten Markenlogos, mit denen sie wie wandelnde Reklametafeln aussehen. An ihren gegelten Haaren, die sich keinen Millimeter bewegen, an ihrem selbstsicheren Lächeln. An der Verachtung, die aus ihren Augen spricht, wann immer sich unsere Blicke begegnen. An der Art, wie sie von allem ein Foto machen müssen, wie sie auf ihren Selfies posieren und wie sich ihre ganze Körperhaltung ändert, sobald sie das iPhone wieder weggesteckt haben.

Ich hasse sie. Aber ich brauche das Geld.

Denn Prestigeuni ist gleichbedeutend mit horrenden Studiengebühren. Die reichen, privilegierten Kids brauchen sich darüber natürlich keine großen Gedanken zu machen. Für uns andere ist das Studium hingegen ein Überlebenskampf. Wer den begehrten Abschluss will, muss erst unzählige Hindernisse überwinden. Nicht umsonst sind wir »die teuerste Universität der Welt«. Kein Witz.

Viele werfen nach dem ersten Jahr das Handtuch. Ich nicht. Nicht nach allem, was meine Mutter aufgegeben hat, damit ich hier studieren kann. Ich muss es durchziehen. Das bin ich ihrem kaputten Rücken, ihren schlechten Augen und ihren rauen Händen schuldig. Genau wie dem Urlaub, den sie nie genommen hat, und den viel zu kurzen Nächten vor jedem neuen Arbeitstag.

»Heute noch, Armleuchter! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ich hebe ruckartig den Kopf. Die Zahlung wurde akzeptiert, die Kassenschublade ist aufgesprungen — und ich war in Gedanken versunken. Vor mir steht der x-te Typ mit Strähne, Raubtiergrinsen und Polohemd. Er nennt mir einen lächerlichen erfundenen Namen, den ich fehlerhaft aufschreibe, ehe ich zum Abschied eine geheuchelte Dankesfloskel murmele. Aber anstatt mich zu ignorieren, seine Bestellung mitzunehmen und sich wieder zu seinen Freunden zu gesellen, richtet der Typ seine Aufmerksamkeit auf den Plastikbecher, den ich schwungvoll in Richtung Kelly über den Tresen geschoben habe.

»Obie Whan, im Ernst? Kein Wunder, dass das Niveau jedes Jahr tiefer sinkt, wenn sich Dumpfbacken wie du hier einschreiben dürfen. Geh zurück auf die Mülldeponie, wo du herkommst, du hirnamputierter kleiner —«

Das Pfeifen der Espressomaschine unterbricht seinen Redeschwall. Als Kelly auf den Kunden zugeht, legt sie mir kurz eine Hand auf die Schulter. An diesen kleinen Momenten der Menschlichkeit halte ich mich fest, sonst würde ich mich wohl in einem Karamell-Macchiato ertränken. Ich beiße die Zähne zusammen. Wie immer.

Inzwischen ist es Nacht geworden. Dunkelheit verschlingt die Gehwege. Allein die Laternen erinnern daran, dass sich die Welt da draußen weiterdreht. Peu à peu tauschen die Studierenden Koffein gegen Alkohol, während sich die Straße leert. Kelly stellt die Stühle hoch und fängt an, den Boden zu wischen.

Ich bediene meinen letzten Kunden, einen Mann im megaschicken Dreiteiler (kein Polohemd). Als ich ihm seinen Espresso reiche (»schwarz ohne alles«, was für eine angenehme Abwechslung!), fällt mir die diskrete Stickerei an der Brusttasche seines Hemds auf: ein Emoji mit einem Affen, der sich die Ohren zuhält. Ich muss grinsen. Auf mich wirkt der Mann wie ein autoritärer Managertyp, sodass mich dieses Detail überrascht. Er bezahlt, gibt ein großzügiges Trinkgeld, und Sekunden später verschluckt ihn die Nacht.

»Feierabend!«, ruft Kelly triumphierend.

Sichtlich erleichtert und erschöpft — genau wie ich — lässt sie den Rollladen herunter. Unwillkürlich seufzen wir beide auf und lassen die Schultern sinken. Kelly beeilt sich mit dem Wischen. Auf ihrer braunen Haut stehen Schweißperlen, ihre Augen sind vor Müdigkeit gerötet, und sie hinkt ein wenig. So lange, wie sie schon auf den Beinen ist, müssen ihre Glieder garantiert Tonnen wiegen.

Wir sind beide derart fertig, dass wir kein Wort miteinander wechseln. Dabei mag ich Kelly gern. Die Stille, die auf sechs Stunden Arbeit folgt, tut allerdings zu gut. Endlich dröhnt nicht mehr pausenlos die Kaffeemaschine.

Ich lasse mir einen doppelten Espresso durchlaufen und trinke ihn beim Aufräumen. Mein zweiter Arbeitstag beginnt jetzt. Ich muss in die Bibliothek, um die Seminare für morgen vorzubereiten und am Ende in den Prüfungen gut abzuschneiden. Meine Mutter soll stolz auf mich sein. Ich will das dritte Studienjahr mit Bravour beginnen und es den Deppen, die mich hier tagein, tagaus beschimpfen, so richtig zeigen.

Mit Genugtuung knipsen wir im Café das Licht aus, ehe wir in den hinteren Pausenraum treten. Kelly zieht sich nicht einmal um, sondern verabschiedet sich direkt: »Mach’s gut, Will. Und sorry, dass ich dich den Laden allein abschließen lasse. Ich muss los, mein Freund ist auf einer Party und wartet auf mich. Büffel nicht zu viel, ja? Ruh dich auch mal aus!«

»Ja, ja, keine Sorge.«

»M-hm …« Sie zieht eine wenig überzeugte Grimasse, hakt aber nicht weiter nach.

Kurz darauf ist Kelly weg, und ich lasse mich auf die knarrende Holzbank sinken. Wie nach jeder Schicht wiegt auch heute die Wut schwerer als die Müdigkeit. Ich ziehe mir die dreckige Schürze aus und schleudere sie mit aller Kraft in meinen Spind. Ich könnte schreien.

Denn obwohl ich als Barista arbeite und am Wochenende Hunde Gassi führe, und obwohl sich meine Mutter in zwei Jobs abrackert, reicht es nicht für die Studiengebühren. Für das erste Jahr hatte Mama genug beiseitegelegt. Aber nicht für das zweite. Geschweige denn für das aktuelle dritte. Und danach kommen noch mal zwei Jahre.

Immer wenn meine Mutter anruft, erzähle ich ihr, dass es mir gut geht und alles in Ordnung ist. In Wirklichkeit schlafe ich dagegen jeden Abend mit Bauchschmerzen ein und wache nachts angstgeplagt auf. Trotzdem bringe ich es nicht über mich, ihr zu sagen, dass ich den Traum vom Studienabschluss aufgeben muss, wenn sich nicht bald etwas ändert. Denn dann hätte ich zwei Jahre Studiengebühren in den Sand gesetzt.

Von allen Menschen auf der Welt kennt mich meine Mutter am besten — auch am Telefon. Selbst wenn ich noch so überzeugend lüge, bohrt sie jedes Mal nach: »Will, Chéri, du weißt, dass du mit mir reden kannst, wenn es ein Problem gibt, nicht wahr? Ich mache mir einfach Sorgen …«

Ich habe mir eine heitere, unbeschwerte Telefonstimme angewöhnt, weil ich weiß: Wenn ich ihr mein Dilemma gestehe, wird sie noch schwerer schuften als bisher. Dabei hat sie weiß Gott schon genug für mich getan. Sie soll sich ausruhen. Schließlich entgeht mir nicht, dass sich Falten in ihr Gesicht graben, dass sie vor Schmerz innehalten muss, wenn sie die Arme zu hoch über den Kopf hebt, oder dass es ihr schwerfällt, vom Bett hochzukommen. Sie ist frühzeitig gealtert — der Preis dafür, dass ich hier bin.

Es ist höchste Zeit, dass ich mich um sie kümmere. Aber dafür brauche ich einen gut bezahlten Job. Und dafür brauche ich den Uni-Abschluss — was wiederum bedeutet, dass ich von irgendwoher das Geld für insgesamt vier Jahre Studiengebühren auftreiben muss. Es fühlt sich an, als würde ich von einem schwarzen Loch aufgesaugt.

Darum habe ich mich, ohne Mama davon zu erzählen, für ein Studiendarlehen beworben.

Die Konditionen sind haarsträubend, und selbst wenn ich eine gut bezahlte Stelle finde, werde ich den Kredit mühsam über Jahre abstottern müssen. Aber es ist der einzige Weg. Allerdings warte ich inzwischen schon vier Wochen auf eine Antwort. Seit einem Monat checke ich also alle paar Minuten meine Mails und hole ständig mein Smartphone aus der Tasche, obwohl ich weiß, dass ich keine einzige Benachrichtigung habe.

Ich betrachte den Spind, in dem mein Telefon auf mich wartet. Hastig ziehe ich es hervor, und für einen kurzen Moment keimt in mir die Hoffnung auf, es könnte in meiner Abwesenheit dieses Mal tatsächlich eine Antwort eingegangen sein. Doch mein Postfach ist leer. Wäre ja auch zu schön gewesen, an einem Freitagabend um zwanzig Uhr! Dafür aber blinken mir Dutzende Benachrichtigungen entgegen.

Sechzehn verpasste Anrufe.

Einundzwanzig ungelesene Nachrichten im Messenger.

Drei private Nachrichten auf Instagram.

Fünf SMS.

Alle stammen von ein und derselben Person, meinem Silberstreifen am Uni-Horizont: Lily, meiner besten Freundin. Wenn sie derart hartnäckig versucht, mich zu erreichen, muss etwas Schlimmes passiert sein. Mit zitternden Händen und ohne ihre Nachrichten überhaupt zu lesen, rufe ich sie direkt zurück; in meinem Hals steckt ein dicker Kloß.

Kapitel 2

»Willyyy!!!«

Die Stimme dröhnt derart laut aus dem Hörer, dass ich unwillkürlich mein Handy vom Ohr weghalte. Das ist Lily, wie sie leibt und lebt. Sie ist ein Sonnenschein. Sie ist exzentrisch. Sie ist euphorisch. Normalerweise liebe ich ihre gute Laune, vielleicht gerade deshalb, weil sie meiner eigenen so diametral entgegensteht. Aber jetzt gerade, wo ich schlaff und entnervt auf einer Holzbank sitze, könnte ich auf Lilys positive Vibes gut und gerne verzichten. Ich dachte, es ginge ihr schlecht; nur deshalb habe ich sie sofort zurückgerufen, ohne auch nur meine kaffee- und schokoladenbefleckte Arbeitskluft auszuziehen.

Meine zitternden Finger entspannen sich. Ich atme tief ein. Im Hintergrund ist Partylärm zu hören, und am Klang von Lilys Stimme merke ich sofort, dass mich ihre Nachrichten völlig umsonst in Aufruhr versetzt haben. Meiner besten Freundin geht es offensichtlich blendend — was habe ich auch anderes erwartet?

»Lily?«, frage ich mit geschlossenen Augen ins Telefon, das Kinn in die Hand gestützt.

»Chéri! Endlich meldest du dich!«

»Du hast mir ganz schön Angst eingejagt. Warum habe ich tausend ungelesene Nachrichten von dir? Ist was passiert?« Zwar kenne ich die Antwort bereits, trotzdem frage ich nach.

»Nö.« Vermutlich hört sie mich schlecht, denn gleich darauf brüllt sie wieder: »Ich bin feiern und du musst un-be-dingt herkommen! Es ist die erste Semesterparty des Jahres, Willy, und es ist absolut crazy hier!«

Argh. Und deshalb ruft sie mich mit einer Dringlichkeit an, als wäre gerade der letzte Babydelfin auf Erden gestorben? Nach Feiern steht mir im Moment wirklich nicht der Sinn. Ich will einfach in die Bib, an der Hausarbeit weiterschreiben, die ich nächste Woche abgeben muss, und mich von nichts und niemandem ablenken lassen.

»Oh, nee, sorry, Lily, ich kann nicht. Ich wäre supergerne dabei, aber —«

Sie lässt mich gar nicht ausreden. Entweder ist die Musik bei ihr so laut, dass sie meine Ausflüchte nicht hört, oder sie hat inzwischen gelernt, mich vollständig zu ignorieren. »Chéri, du MUSST einfach kommen. Du brauchst auch mal ein bisschen Entspannung! Ständig bist du nur am Lernen. Und wer weiß? Vielleicht triffst du heute Abend den Mann deines Lebens! Lieber einmal zu viel aufkreuzen als einmal zu wenig.«

Jetzt wird Lily in ihrem Redefluss unterbrochen. Ich höre johlende Partygänger, klirrende Gläser, hysterisches Gelächter. Ich kann mir die Szene bildlich vorstellen: Jemand hat meiner besten Freundin einen Shot angeboten, und sie hat ihn geext. Typisch.

»Im Ernst, Lily. Ich komme gerade von der Arbeit und bin fix und alle. Ich bin nicht in Feierlaune, ich muss an meiner Hausarbeit weiterschreiben.«

»Ach, komm schooon!«

Es ist immer dasselbe. Sie zwingt mich, auf eine Party zu gehen, und am Anfang ist es auch wirklich nett. Aber dann wird Lily irgendwann von Leuten umringt, die ich noch nie gesehen habe und die mir meine beste Freundin klauen. So habe ich in einem Nachtclub einmal fünf Stunden auf sie gewartet, ehe mir klar wurde, dass sie längst mit einer anderen Meute zur Afterparty aufgebrochen war. Darauf habe ich heute Abend keine Lust. Die Partylöwin von uns beiden ist eindeutig sie.

»Chériii, ach bitteeee …«, schmollt sie.

Es klingt niedlich, wenn sie das macht. Ich sehe ihre Welpenmiene förmlich vor mir. Anscheinend ist sie schon ein bisschen beschwipst, und in diesem Zustand ist sie immer unwiderstehlich. Ich brummele, seufze, verdrehe die Augen und muss kein Wort sagen: Lily weiß, dass sie gewonnen hat.

»Ich schicke dir die Adresse!«, ruft sie aufgeregt, dann legt sie auf.

Eins zu null für Lily.

Diese Nummer zieht sie jedes Mal ab, und jedes Mal falle ich darauf herein. Ich kann ihr einfach keinen Wunsch abschlagen. Zu der Party gehe ich weder, weil ich dort den Mann meines Lebens kennenlernen, noch in irgendeiner Form eine unvergessliche Nacht verbringen werde, sondern einzig, weil ich so ein paar Stunden mit Lily verbringen kann — und das genügt mir.

Außerdem hat sie womöglich recht. Ein kleiner Drink oder auch zwei, mich ein bisschen unters Volk mischen — vielleicht täte mir das gut. Und sobald Lily, so wie jedes Mal, von der feiernden Menge verschluckt wird, gehe ich einfach unauffällig wieder. Was soll schon schiefgehen? Abgesehen davon gehört das doch auch zu meinem Traum vom Studium: Ich will mir die Nächte nicht nur mit Lernen, sondern auch mit legendären Studentenpartys um die Ohren hauen. Wie sich Ersteres anfühlt, weiß ich inzwischen, aber Letzteres? Es wird wirklich Zeit, mir den Ehrentitel »Student« zu verdienen.

Was mich dann endgültig überzeugt, ist eine weitere SMS von Lily. Die Adresse, die sie mir schickt, befindet sich zu Fuß nur eine Viertelstunde vom Café entfernt. Ich schließe zweifach hinter mir ab, lasse die elektrischen Rollläden herunter und mache mich auf den Weg.

Es ist ein sommerlich warmer Herbstabend. Unterwegs schaue ich dreimal in mein E-Mail-Postfach — nichts. Vielleicht hätte ich Lilys Einladung doch nicht annehmen sollen. Zwar hat das Semester gerade erst begonnen, aber ich versinke schon jetzt unter einem Berg an To-Dos. Hausarbeiten wollen geschrieben, Lernstoff gebüffelt und Recherchen für mein Abschlussprojekt angeleiert werden. Keine Ahnung, wie die anderen alles unter einen Hut kriegen; ich fühle mich, als würde ich ertrinken.

Aber ich habe Lust, Lily zu sehen. Also marschiere ich weiter.

Lily ist mein Lichtblick. Zu einer Zeit, als ich es bitter nötig hatte, ist sie als Einzige auf mich zugegangen. Ich weiß nicht, was sie im ersten Studienjahr geritten hat, doch sie hat ein Gespräch mit mir angefangen. Zu diesem Zeitpunkt lief das Semester bereits seit Wochen. Ich hatte die Jobs im Café und als Hundesitter an Land gezogen, den Rest der Zeit saß ich in Vorlesungen, in der Bib oder an meinem Schreibtisch im Wohnheim.

Wenn Mama anrief, versicherte ich ihr jedes Mal: »Ja, klar habe ich Freunde. Nein, keine Sorge, alles ist gut. Natürlich genieße ich die Uni. Nein, selbstverständlich mache ich auch noch was anderes als Lernen.«

In Wirklichkeit war ich verdammt einsam. Eines Tages saß ich allein beim Mittagessen über meine Bücher gebeugt, da hat Lily mich gesehen und angesprochen. Einfach so. Ohne Mitleid oder Spott. Sie setzte sich mir gegenüber an den Tisch und fragte, wie ich heiße, was ich gern mache und woran ich arbeite. Ich war derart verdattert, dass ich nur einsilbig antwortete und überhaupt keine Gegenfragen stellte. Als sie nach einer Weile wieder aufstand, um in ihre Vorlesung zurückzugehen, meinte sie trotzdem: »Das war nett! Sehen wir uns morgen wieder? Gleicher Ort, gleiche Zeit?«

Ich nickte, und weg war sie. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, sie nie wiederzusehen. Einen schlechteren Gesprächspartner als mich konnte man sich nicht vorstellen! Aber sie kam. Am nächsten Tag, am übernächsten und auch am überübernächsten.

Irgendwann gelang es mir dann doch, ihr Fragen über ihr Leben zu stellen und mit ihr zu witzeln. Nach einiger Zeit haben wir uns auch privatere Dinge anvertraut. Schließlich verabredeten wir uns außerhalb der Mensa, sogar am Wochenende. Wir riefen uns gegenseitig an, schrieben uns ständig Nachrichten, und sie lud mich zu einer ersten Party ein, dann zu einer zweiten.

Von da an konnte ich, wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, endlich ehrlich antworten: Ja, ich hatte eine Freundin gefunden und war an der Uni nicht allein.

In gewisser Weise hat Lily mir das Leben gerettet. Ohne sie hätte ich das erste Jahr niemals überstanden.

Auch wenn ich also weiß, dass sie den Abend garantiert mit anderen Freunden zu Ende feiern wird und nicht mit mir, finde ich es nicht schlimm. Die paar Stunden, die sie für mich erübrigt, genügen mir vollkommen.

Als ich ankomme, muss ich zugeben: Die Party ist der Hammer. Die feiernde Meute belagert einen ganzen Park, in dem normalerweise tote Hose herrscht. Im Sommer komme ich manchmal hierher und lege mich auf den Rasen in die Sonne, aber jetzt ist der Ort kaum wiederzuerkennen. Ein riesiges Banner verkündet das Thema: »Kindheitsglück«. Wobei die Deko derart gelungen ist, dass die Erklärung gar nicht nötig gewesen wäre.

In den Bäumen hängen Papierlampions; bunte Wimpel und Luftballons zieren das Eingangstor. An Ästen baumeln Piñatas, denen zum Großteil bereits übel mitgespielt wurde. Ich entdecke ein geköpftes Lama und eine aufgestochene Hello Kitty. Karussells und aufblasbare Wasserrutschen runden das Kinderparadies ab. Ich bahne mir einen Weg durch Studierende in Windelhöschen, in pastellfarbenen Jumpsuits oder im Badeanzug mit Schwimmflügeln. Alle sind verkleidet.

Manche lutschen an Halsketten aus Zuckerperlen, andere haben sich die Haare mit bunten Gummis zu Pferdeschwänzen hochgebunden. Ein guter Teil der Gäste tummelt sich auf der Tanzfläche, manche unterhalten sich, und wieder andere vergnügen sich bei einer Wasserbombenschlacht. Ehemalige Kinderspiele erleben ein Comeback als Trinkspiele.

Ich komme an einer Studentin vorbei, die sich als Grundschülerin aus den 90ern kostümiert hat und an einem Lollyring lutscht. Sie steuert auf ein meterlanges Büfett zu, das am Rand des kleinen Parks aufgebaut und nicht zu verfehlen ist. Die zusammengeschobenen Tische sind mit rosa und babyblauen Papiertischdecken geschmückt.

Als ich schüchtern näher trete, stelle ich fest, dass alle Getränke in Nuckelflaschen serviert werden. Eine Zuckerwatte- und eine Popcornmaschine stehen bereit. Es gibt Kekse in giftig bunten Farben. Alle Snacks sind überproportional groß, so als sähe man sie mit den Augen eines Kindes.

Die Party ist der Wahnsinn! An das kleinste Detail wurde gedacht. Ich schlürfe an meinem schlumpfblauen Fläschchen (wonach es schmeckt, kann ich nicht näher identifizieren) und beobachte die Leute. Mehr brauche ich nicht, um mich zu amüsieren. Ein Student, der aussieht, als sei er soeben den Teletubbies entsprungen, küsst eine Barbie. Starke Kerle in Windelhöschen vergnügen sich in einem Planschbecken mit Einhornmotiv. Mehrere Typen haben sich als Feen verkleidet, ein paar Mädels als Ritter. An diesem einen Abend sehe ich genug Farben für ein ganzes Leben.

Inmitten des bunten Treibens bin ich, wie könnte es auch anders sein, fast der Einzige in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen. Das Ganze auch noch in Grautönen. Ich bin echt der Großvater vom Dienst.

Mit den Augen suche ich das Partytreiben nach Lily ab und finde sie umringt von einer Horde Bewunderer. Alle Blicke ruhen auf ihr, wie üblich, während sie lauthals lacht und mühelos die komplette Schar unterhält. Ich beneide sie darum, wie leicht es ihr fällt, Freunde zu finden oder sich mit neuen Leuten zu unterhalten, ohne dabei je zu stottern oder rot anzulaufen.

Auf keinen Fall werde ich sie jetzt sofort ansprechen. Lieber bleibe ich ein wenig abseits stehen und nippe an meinem Fläschchen. Von hier aus kann ich nur Lilys bonbonrosa Outfit und einige komische Flecken auf ihren Wangen ausmachen.

Da bemerkt Lily mich und strahlt übers ganze Gesicht. Kurzerhand lässt sie die anderen links liegen und springt auf mich zu. Ich schließe sie in die Arme; meine Nasenspitze berührt ihren Scheitel.

»Chéri! Ich dachte schon, du kämst nicht mehr! Oh Mann, ich bin so froh, dich zu sehen. Krasse Party, oder?«

»Echt krass.«

Ich grinse bis über beide Ohren. Wie lange ist es her, dass mir das zuletzt passiert ist?

»Als was bist du verkleidet?«, frage ich und mustere Lily von oben bis unten.

»Na, als Donut natürlich!«

Jetzt sehe ich es auch. Klar! Das sind keine »komischen Flecken«, das sind Pailletten, die an das Topping auf einem Krapfen erinnern. Ich muss lachen, und auch das tut gut. Mit ihrer roten Lockenpracht, den Sommersprossen und funkelnd grünen Augen ist Lily bei Weitem der schönste Donut, der mir je untergekommen ist. Kein Wunder, dass sie von hungrigen Typen umringt wird.

Sie reicht mir ein XXL-Fläschchen, nimmt meine Hand und zieht mich mit sich. »Komm jetzt. Genug am Büfett herumgestanden. Das wird langsam creepy. Oder willst du, dass die Leute Angst kriegen?«