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Nach Geheimnissen und Royal Romance der Coming-of-Age-Reihe Royalteen: Wie geht es weiter mit den norwegischen Freund:innen? Als ein Video von Tess viral geht, in dem zu sehen ist, wie sie Popstar TÖS mitten ins Gesicht schlägt, verstehen Tess' Freund:innen die Welt nicht mehr. Wie konnte die sonst so erwachsene Tess so etwas tun? Tess gerät erst in Erklärungsnot - und wird dann für ihren Einsatz gegen Rassismus von allen und auf Social Media gefeiert. Über Nacht avanciert sie zum krassen Social-Media-Sternchen, ergattert einen Platz in einer Reality Show und ihre Meinung zu Alltagsrassismus ist überall gefragt. Als sich dann auch noch der tolle und attraktive Jugendpolitiker Jonas für sie interessiert, scheint ihr Leben perfekt. Doch dann vernachlässigt sie ihre Freund:innen mehr und mehr und auf einmal gerät sie selbst auf Social Media in Kritik und muss sich der Frage stellen, ob die Welt vielleicht doch nicht so schwarz weiß ist, wie sie geglaubt hat. Band 3 der royalen Jugendbuchreihe für alle, die nicht genug von der königlichen Clique aus Norwegen bekommen. Weitere Bücher des norwegischen Autorinnenduos bei Arena: Royalteen (1). Kiss the Prince Royalteen (2). Kiss the Soulmate
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2024
Karoline Hippe,aufgewachsen an der Ostseeküste, studierte u. a. Skandinavistik und Anglistik in Leipzig und Berlin. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen und Englischen. Für die Übersetzung des Kinderbuches Sommer ist trotzdem wurde sie gemeinsam mit dem Autor Espen Dekko mit der Silbernen Feder ausgezeichnet.Sie lebt in Oslo und Berlin.
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »På Tronen«
bei H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Norwegen.
Text © 2021 by Randi Fuglehaug and Anne Gunn Halvorsen.
Published in agreement with Oslo Literary Agency.
Diese Übersetzung wurde gefördert von:
1. Auflage 2024
© 2024 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann,
unter Verwendung von Illustrationen von Petra Braun
Cover und Innenillustrationen: © Petra Braun
E-Book-ISBN 978-3-401-81068-3
Besuche den Arena Verlag im Netz:
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HINWEIS
In dieser Geschichte werden rassistische Sprache, Bilder oder Handlungen dargestellt. Dies ist nicht die persönliche Meinung der Autorinnen, der Übersetzerin oder des Verlages, sondern soll aufzeigen, welchem Rassismus und fehlerhaften Vorstellungen People of Colour ausgesetzt sind. Dies können sensible Themen sein.
»Heeeey, Leute! Hoffe, euch geht’s gut! Endlich ist Mai, mein Lieblingsmonat, und das werde ich so richtig feiern mit einem frühlingshaften Make-up, inspiriert von der Queen herself, Kylie Jenner. Wir fangen an mit einem Lidschatten-Primer von …«
»TESS!«
Stöhnend stoppte sie die Aufnahme. Die wütende Stimme ihres Bruders hatte alles versaut. Tess machte sich auf einiges gefasst, als sie Lamin die Treppe hinaufpoltern hörte. Eine Sekunde später flog die Tür zu ihrem Zimmer auf.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Guten Morgen? Dein Ernst, Tess?«
Lamin kam geradewegs auf sie zu. Sein Name bedeutete »vertrauenswürdig« auf Mandinka, einer der Sprachen Gambias. Normalerweise passte das sehr gut zu ihm. Tess’ zehn Jahre älterer Bruder war nämlich eigentlich ziemlich ruhig und besonnen. Aber nicht jetzt. Jetzt war er außer sich, wie er da so vor ihr stand, mit Krümeln im Bart, das Handy in der ausgestreckten Hand.
Sie wusste genau, was er wollte; sie hatte das dramatische Video selbst schon tausend Mal gesehen. Das Video, in dem man zuschauen konnte, wie sie vor nur wenigen Stunden ihre Faust geballt und einem der bekanntesten Sänger Norwegens mitten ins Gesicht geschlagen hatte.
»Das bist doch du! Was hast du dir dabei gedacht? Der wird dich anzeigen!«
Tess seufzte und versuchte es mit einem wohlwollenden Lächeln. Noch immer bebte sie am ganzen Körper, wenn sie an gestern Nacht dachte.
Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu, reckte und streckte sich träge. Dann besann sie sich darauf, ganz gemächlich ihre Schminksachen zu sortieren, und stellte zufrieden fest, wie sehr ihre aufgesetzte Entspanntheit Lamin provozierte. Er war kurz davor, aus seinem prächtigen, sanftmütigen Schafspelz zu fahren.
»Was?«, fragte sie und tat so, als würde sie gähnen. »Du willst wissen, wie es mir geht?«
Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl und nahm die weiße Seidenbluse, die sie vor dem Schlafengehen fein säuberlich zusammengelegt hatte. Ihr Bruder öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder wie ein frustrierter Fisch an Land.
»Danke der Nachfrage. Es geht mir gut, obwohl ich heute Nacht angegriffen wurde«, sagte Tess.
»Angegriffen, ja klar«, erwiderte Lamin.
Tess legte den Kopf schief, knüllte die Bluse zu einem Stoffball und zielte auf ihren Bruder. Lamin fing das Kleidungsstück verdattert auf.
»Schon gut, ich komm schon klar. Obwohl mir ein rassistisches Arschloch nachgerannt ist und mich so krass gepackt hat, dass meine Bluse aufgerissen ist und ich beinahe oben ohne vor der ganzen Crowd in Tryvann rumstand«, sagte sie und musste schlucken.
Plötzlich ließ sie der spöttische, kontrollierte Ton im Stich. Sie begann zu zittern.
»Ich musste mich doch verteidigen«, fügte sie mit einer anderen, viel dünneren Stimme hinzu.
Tess ließ sich aufs Bett sinken. Sie starrte ausdruckslos auf den Boden und versuchte, die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, wegzublinzeln.
Anscheinend konnte sie jetzt doch noch nicht die Coole spielen.
Das alles war einfach nur scheißfrustrierend.
Und das ausgerechnet an dem Abend, der so vielversprechend begonnen hatte! Sie und ihre Gang hatten die Chance, die fetteste Party der Abiturienten zu crashen, denn Arnie hatte seinen allerersten Gig als DJ gelandet. Sie hatte sich wie verrückt darauf gefreut. Nicht zuletzt aus dem Grund, dass Arnie absurderweise ausgerechnet Support Act für TÖS sein sollte, der das ganze Jahr über die Spotify-Top-Ten angeführt hatte. Klar, TÖS brachte echt die peinlichsten Songs auf den Markt, mit den bescheuertsten Texten, und er lief immer in dieser überdimensionalen Goldjacke herum, wie irgend so ein Wannabe-Pimp. Aber auf Insta war er megawitzig und voller Selbstironie, was dazu führte, dass Texte wie Die Nacht gehört uns ganz allein/Willst du meine Hure Nr. 69 sein? eher wie eine Parodie wirkten. Außerdem hatte er über eine halbe Million Follower. Arnie hatte ihr versprochen, sie einander vorzustellen, und sie hatte sich schon überlegt, was sie in die Caption des Bildes schreiben würde, in dem sie TÖS taggte. Ihre 67.530 Insta-Follower und die Leute, die ihre Schminkkanäle auf YouTube und TikTok abonniert hatten, waren vor allem junge Mädels. Die würden es lieben, dass sie, Tess, mit TÖS abhing!
Leider lief der Abend nicht wie erhofft. Zwar hatte Tess TÖS getroffen, in den hektischen Minuten vor seinem Auftritt im Backstage. Aber danach war alles aus dem Ruder gelaufen. Die Scham brannte ihr im Gesicht, während sie Revue passieren ließ, wie sie sich vor TÖS und seinen Kumpels benommen hatte.
Zum Glück hatte jemand aus dem Publikum gefilmt, was kurz darauf passiert war. Dass TÖS ihr nachgelaufen war. Dass auch er immer schneller wurde, als sie vor ihm wegrannte. Dass er sie, als sie ihn anschrie, sie endlich in Ruhe zu lassen, an ihrer weißen Bluse gepackt hatte.
Wie die Bluse riss, als Tess versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Also …«
Lamin verlagerte sein Gewicht ratlos vom einen Fuß auf den anderen, wusste wie immer nicht, wie er angesichts ihrer Emotionen reagieren sollte. Tess rieb sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und spürte, wie er sich neben sie auf das Bett fallen ließ. Ihr großer Bruder zog sie dichter an sich heran, in einer unbeholfenen Seitwärtsumarmung.
»So hab ich das nicht gemeint. Ich weiß doch, dass du stark bist und dass da draußen viel Scheiße passiert, aber gleich Gewalt anzuwenden …? Jemandem ins Gesicht zu schlagen, ist gefährlich! Und strafbar! Egal was der Auslöser war, das ist es doch gar nicht wert.«
Vorsichtig strich er ihr über ihre Braids.
Sie knuffte ihn sanft weg und trocknete ihre Tränen.
»Die waren so eklig«, sagte sie und spürte, wie sich allein bei dem Gedanken, wie die Typen sie vorgeführt hatten, alles in ihr zusammenzog.
»TÖS und seine Freunde waren einfach krass rassistisch. Ich hatte echt Schiss.«
»Das versteh ich«, erwiderte Lamin. »Aber wo waren die anderen? Wo waren deine Leute?«
Tess schluckte.
»Die waren schon weg.«
Ihr Bruder runzelte die Stirn.
»Sind die schon wieder ohne dich abgehauen?«
Tess atmete tief ein, vorbei an dem Kloß in ihrem Hals, bis ganz tief zu dem Klumpen in ihrer Magengegend. Sie hatte jetzt wirklich keine Lust, darüber zu reden. Lamin würde nur verstimmt aus der Wäsche gucken und ihr erklären, dass ihre Leute schlechte Freunde waren und dass sie nicht zu viel Energie darauf verschwenden sollte, immerzu mit ihnen unterwegs zu sein. Das sagte der Richtige, er, der er selbst keine Kumpels hatte. Außerdem hatten ihr die anderen ja Bescheid gegeben, wohin sie fahren würden, sie hatten sich also nicht vor ihr versteckt. Sie hatten sie einfach nur … vergessen. Mal wieder. Tess hatte ewig lange in der Kloschlange gestanden und als sie endlich wieder auf dem Festivalgelände gewesen war, hatte sie weit und breit nur noch Fremde gesehen. Auf ihrem Handy leuchteten Nachrichten von Ingrid und Lena auf, sie solle sich beeilen und nachkommen.
Lamin starrte auf sein Smartphone.
»Was glaubst du, was Mama und Papa dazu sagen?«
Tess lachte laut auf, tonlos und kalt.
»Ich glaube, die haben Besseres zu tun, als die norwegischen Nachrichten zu lesen«, sagte sie und stand auf.
Sie konnte es nahezu vor sich sehen, wie ihre Eltern in ihren Büros im Nahen Osten saßen, resigniert lächelten und abwinkten. Was ist das schon wieder für ein Quatsch, Tess?, würden sie sicher fragen und verständnislos ihre Köpfe schütteln. So wie sie es immer taten, wenn sie von sich erzählte, wenn sie zum Beispiel neue Werbepartner bekam oder eines ihrer Videos viral ging. Quatsch und unnötige Energieverschwendung. So würden sie bestimmt auch über Tess’ Ausraster denken: dass sie sich nur in den Mittelpunkt drängen wollte. Jux und Dallerei!
Sie verdrehte die Augen.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie davon Wind bekommen werden. Wenn man dich kennt, checkt man ja sofort, dass du es bist. Zum Glück steht nirgends dein Name«, seufzte Lamin und sank in sich zusammen, als wäre ihm sämtliche Luft entwichen.
Das Handy auf dem Schminktischchen vibrierte. Eine Nachricht von Ingrid. Sie hatte für zehn Uhr einen Tisch im Vandelay reserviert. Thema: DEBRIEF!, schrieb sie. Tess musste grinsen. Nur TÖS hatte bislang von den Medien identifiziert werden können. Ihr Name wurde nicht genannt, das Video war verpixelt, und nur Ingrid und die anderen wussten, wer die andere Person auf dem Video war. Die dunklen Braids, die weiße Bluse. Man erkannte sie nur, wenn man genau hinsah und Tess auch in echt nahestand.
»Jetzt hoffen wir einfach, dass der Typ dich nicht anzeigt«, sagte Lamin. »Stell dir mal vor, was passiert, wenn dein Name an die Öffentlichkeit gelangt. Und wenn du dich in den USA auf einen Studienplatz bewirbst und die da drüben deinen Namen googeln, was dann?«
Er stand auf, als könnte er es nicht ertragen, an die endlose Aneinanderreihung von katastrophalen Konsequenzen zu denken, zu denen diese Aktion führen könnte.
»Ja, stell dir mal vor«, äffte Tess ihn nach. »Stell dir mal vor, deine Schwester würde Aufmerksamkeit erregen, weil sie sich gegen Rassismus zur Wehr setzt!«
Lamin kratzte sich am Kopf und ging auf die Tür zu. Genervt beobachtete Tess im Spiegel, wie er das Zimmer verließ.
Shit, nun würde sie es nicht schaffen, das Tutorial fertigzustellen, sonst würde sie zu spät zum Brunch kommen. Sie musste sich noch schnell schminken, also drückte sie eine kleine goldene Schlange ihres neuen Primers auf den pinken Schwamm. Vorsichtig, aber beständig trug sie die Creme auf und spürte, wie die gewohnten Bewegungen sie langsam, aber sicher beruhigten. Sie fuhr mit etwas Highlighter fort, dann öffnete sie ganz behutsam das kleine Döschen mit schimmernd goldenem Lidschatten und zog sich jeweils einen sanften Pinselstrich über die Augenlider. Anschließend nahm sie etwas Rot von der großen Palette, und etwas Dunkelrot für die Augenwinkel, um den perfekten Kontrast zu erzielen. Sie blinzelte ein paar Mal, begegnete ihrem eigenen Blick im Spiegelbild und schüttelte genervt ihren Eyeliner. Er war leer. In der Schublade ihres Schminktischchens fand sie einen neuen, riss die Verpackung auf und zog sich mit geübter Hand einen geraden Strich um die Augen. Immer ein bisschen mehr als Kylie. Sie strich mit der Bürste ihrer Mascara über ihre Wimpern, erst oben, dann unten und ließ schließlich das Setting Powder über ihr Gesicht rieseln. Für einige Sekunden studierte sie das fertige Ergebnis im Spiegel. Dann zog sie sich das zitronengelbe T-Shirt aus Biobaumwolle über den Kopf.
Vielleicht schaffte sie trotzdem noch ein kurzes Video.
Sie schüttelte die Seidenbluse auf und ließ sich den kühlen Stoff vorsichtig über den Kopf gleiten. Er roch noch schwach nach Zigaretten und Bier.
Als TÖS sie an der Schulter gepackt hatte, war die Bluse an den Nähten aufgerissen. Das Loch war riesig. Sie richtete ihren BH, stemmte die Hand in die Seite, hob ihr Handy in die Luft, stellte sich mit dem Rücken zum Spiegel und filmte, während sie sich langsam umdrehte, damit das große Loch auf dem Video gut zur Geltung kam.
Scheißguten Morgen wünscht euch Tess, die nicht die 69. Hure sein will, schrieb sie in die Caption.
Sie legte einen Filter über den Clip und postete ihn blitzschnell auf Instagram. Dann schlüpfte sie wieder aus der Bluse, setzte sich die überdimensionale gelbe Sportsonnenbrille auf und verließ die Wohnung, ohne sich von Lamin zu verabschieden.
So. Jetzt bestand gar kein Zweifel mehr, wer da auf dem Video zu sehen war.
Wenn sie etwas aus dem gestrigen Tag gelernt hatte, dann, niemals die Regie an andere abzugeben.
Tess hörte sie sofort, als sie das Vandeley betrat. Ihre Freundinnen und Freunde hatten mehrere Tische zusammengeschoben und nahmen so fast die Hälfte des kleinen Restaurants ein. Sie plapperten alle wild durcheinander und lachten, als wären sie bei sich zu Hause und nicht in einem der hippsten Lokale der Stadt.
Ganz am Rand saß Margrethe. Ihr Haar rahmte ihr schmales, herzförmiges Gesicht perfekt ein. Irgendetwas war anders an der norwegischen Prinzessin. Oder kam es Tess nur so vor? Anderes Make-up oder geliftete Augenbrauen konnten es nicht sein, Margrethe mochte keine solchen Experimente. Aber doch wirkte ihr Ausdruck verändert. Tess runzelte die Stirn. Hatte sie sich etwa … Fillers spritzen lassen? Margrethe kicherte und knuffte ihrem Sitznachbarn, Arnie, in die Seite, der sich vor Lachen die Hand vor den Mund hielt. Tess musste grinsen, als sie endlich kapierte, warum Margrethe wie ausgewechselt wirkte. Ihr geplagter Gesichtsausdruck, die säuerlichen Züge um ihren Mund – sie waren verschwunden! Waren die Prinzessin und Arnie jetzt tatsächlich ein Paar? Sie hoffte es. Das würde der mürrischen Margrethe wirklich guttun. Solange Arnie nicht zum Langweiler mutierte …
Das wäre das Letzte, was die Clique jetzt gebrauchen könnte.
»Tess!«, rief Ingrid. »Da bist du ja endlich!«
Ihre beste Freundin sprang auf, sodass der Schmuck um ihren Hals nur so klimperte. Obwohl sie mitten zwischen den anderen saß, streckte sie ihr die Arme entgegen. Tess hätte sie nicht umarmen können, ohne alles, was auf dem Tisch stand, umzuschmeißen. Also warf sie ihr stattdessen einen Handkuss zu. Ingrid setzte sich wieder.
Lenas Gesicht leuchtete auf, sie kuschelte eng mit Kalle und winkte Tess zu. Wie immer hatte die Freundin des Kronprinzen eine für ihren hellen Hauttyp zu dunkle Foundation aufgetragen. Links von ihr hockte Fanny, Margrethes loyale Freundin Slash Sklavin.
Alle schauten Tess mit verständnisvollen Blicken und neugierigen Gesichtern an. Ganz anders als ihr wutschnaubender Bruder.
Plötzlich stiegen ihr beinahe die Tränen in die Augen, als ihr klar wurde, wie sehr ihre Freunde sich um sie sorgten. Sie zuckte mit den Schultern und fand ihre Stimme wieder.
»Hey. Schön, euch zu sehen.«
Ingrid presste als Antwort ihre Hände melodramatisch an ihr Herz und sagte: »Jetzt erzähl schon, Tess. Wie geht’s dir? Was ist passiert? Was hat TÖS gemacht, bevor du zugeschlagen hast?«
Tess zögerte, zog einen Stuhl an den Tisch.
»Na, das habt ihr ja eigentlich alles mitbekommen. Es war krass dunkel und er kam mir hinterher, als ich auf dem Weg zu den Taxen war. Und dann hat er mir die Bluse vom Leib gerissen. Das war … das war richtig scheiße«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu.
Ingrid nickte.
»Scheiße, ja. Aber hat er was zu dir gesagt?«
Tess öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. Die anderen lehnten sich zu ihr vor. Wenn sie ihnen jetzt erzählte, was vorgefallen war, würden sie wahrscheinlich sofort aufspringen, nach Fredrikstad rennen, oder wo auch immer TÖS wohnte, und ihn grün und blau schlagen.
Konnte sie ihnen die Wahrheit anvertrauen? Wie sie eine halbe Stunde vor dem Übergriff allein über das Festivalgelände geirrt war und dann erleichtert TÖS und seine beiden Kumpels entdeckt hatte? Wie sie all ihren Mut zusammengenommen hatte und auf sie zugegangen war? Welche Blicke sie ihr zugeworfen hatten, woraufhin sie … Nein. Sie schloss den Mund. Sie konnte es ihnen nicht erzählen. Sie hatte sich total idiotisch verhalten, aber TÖS war noch immer der größere Idiot gewesen.
»Nein, er hat nichts gesagt. Genau das war ja irgendwie das Problem.«
»Hä?«
»Er hat den Mund nicht aufbekommen, aber seine Kumpel. Die waren einfach nur total furchtbar«, sagte sie.
»Was haben die denn gesagt?«, drängte Ingrid.
Tess starrte ihre Freunde an, die mit erwartungsvollen Blicken vor ihr saßen. Sollte sie von dem Typen in dem rosa Shirt erzählen? Von TÖS’ Manager? Er war der Schlimmste von allen gewesen. Als sie auf die Gruppe zugekommen war und ihr Bier hochhob, das sie überraschenderweise ohne Probleme hatte kaufen können, hatte TÖS sie zunächst total verblüfft angeschaut. Dann hatte er sie wiedererkannt. Eine von Arnies Freundinnen. Er hatte gelächelt und Hallo gesagt, doch statt sie vorzustellen, hatte er sich einfach wieder den anderen beiden Typen zugewandt. Sie hatten sich weiter unterhalten, als hätten sie Tess gar nicht wahrgenommen. Doch sie war bei ihnen stehen geblieben, war sich dumm und unsichtbar vorgekommen. Hatte schneller getrunken, um ihr Glas zu leeren und somit einen legitimen Grund zu haben, sich zu entschuldigen und abzuhauen. Warum war sie nur so blöd gewesen und überhaupt zu ihnen rübergegangen?
Und noch schlimmer: Warum war sie nicht einfach gleich wieder verschwunden?
Tess’ Freunde rutschten ungeduldig auf ihren Stühlen herum und beugten sich noch weiter vor.
»Ach, eigentlich spielt es überhaupt keine Rolle, was genau sie gesagt oder getan haben. Ich will nicht darüber reden. Die waren einfach ziemlich scheiße zu mir«, erwiderte Tess und lächelte tapfer.
Sie brachte es nicht übers Herz, ihnen zu erzählen, wozu die Typen sie genötigt hatten.
Keiner ihrer Freunde erwiderte ihr Lächeln. Ganz verwirrt starrten sie sie an. Tess hatte den Eindruck, dass sich ein Schatten über ihre Gesichter legte. Plötzlich kam es ihr so vor, als befände sie sich in einem Verhör, und die Wut begann in ihr zu brodeln. Warum musste sie hier sitzen und sich rechtfertigen?
»Er hat mich angegriffen und ich bin einfach nur froh, dass ich so glimpflich davongekommen bin«, wiederholte sie mit Nachdruck. Sie hob den Kopf, durchbohrte jeden einzelnen ihrer Freunde mit ihrem Blick, wie um den Ernst der Lage zu unterstreichen. »Und ich bin froh, dass es gefilmt wurde, so können alle sehen, was passiert ist.«
Ingrid ließ von dem Strohhalm ab, auf dem sie die ganze Zeit herumgekaut hatte.
»Äh, also das, was man in dem Video sieht, ist nur, wie du einem Typen ins Gesicht schlägst, der versucht, ganz normal mit dir zu reden.«
Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht.
Oder direkt in die Magengrube.
Resigniert schüttelte sie den Kopf und konnte nicht fassen, was sie da gerade gehört hatte. Ebenso sehr, wie sie es nicht fassen konnte, was die Typen in Tryvann von sich gegeben hatten.
»Was hast du da gerade gesagt?«
Ingrid zuckte mit den Schultern.
»Na ja, er streckt halt die Hand aus und berührt dich an der Schulter. Du drehst dich um und mähst ihn weg. Ich hab nicht mitgezählt, wie oft ich schon angegrapscht wurde. Wisst ihr noch – Lasse? Wie der in der achten Klasse drauf war? Er war hinter allem her, was Brüste hatte.«
Sie streckte ihren Arm in Richtung Fanny aus und illustrierte Lasses Übergriffigkeiten mit einer grapschenden Handbewegung. Erschrocken zuckte Fanny zurück. Alle lachten, bis auf Arnie, der sich räusperte und seinen Blick zwischen Tess und den anderen hin und her wandern ließ. Er hielt es nie aus, wenn die Stimmung mal gedämpft war. Tess funkelte ihn trotzig an. Was hatte er jetzt vor? Eine Runde Shots springen lassen, tanzen, einen Song draus machen?
»Du hast sicher recht, Tess«, sagte er. »Es war schon ziemlich creepy, dass er dir so gefolgt ist. Aber ich kenne TÖS, also Truls, und er ist meganett! Wäre schon ’ne ziemliche Enttäuschung, falls er sich jetzt als Idiot entpuppt.«
»Falls?«, fauchte Tess und starrte Arnie unentwegt an.
Er grinste nervös.
»Nein, also, dass. Ist schon ’ne ziemliche Enttäuschung, dass er sich jetzt so als Idiot entpuppt.«
»Aber wirst du dich bei ihm entschuldigen?«, fragte Ingrid plötzlich. »Wenn du dich entschuldigst, zeigt er dich vielleicht auch nicht an.«
Tess griff nach der Karte, um irgendetwas in den Händen zu halten. Mit verbissenem Gesichtsausdruck scannte sie die unterschiedlichen Angebote. Es war dieselbe Scheißkarte wie in all diesen bescheuerten, fancy Restaurants. Burger und Entrecôte und Tartar. Tausend Versionen Fleisch zu kranken Preisen.
Sie versuchte zu überspielen, was ihre Freunde gesagt hatten. Waren sie allen Ernstes der Meinung, dass sie diejenige war, die zu Kreuze kriechen müsste? Was zur Hölle? Zitternd konzentrierte sie sich darauf, ihre Atmung zu kontrollieren.
Nein.
Sie weigerte sich.
Sie würde sich nicht dafür shamen lassen, sich verteidigt zu haben. Zum Glück gab es dieses Video. Darauf war ein großer, muskulöser Mann zu sehen, der einer Siebzehnjährigen in kurzem Rock nachgelaufen kam. Sie war auf eine Welle an Hasskommentaren im Netz vorbereitet. Aber was, wenn alle so dachten wie ihre Freundinnen? Das wäre noch schlimmer als der gewöhnliche Shitstorm, der bereits über sie hineingebrochen war. Bisher hatte sie noch keinen Bock gehabt, ihre DMs zu öffnen.
Ach, fuck noch mal.
Vielleicht musste sie ihre Freunde doch in mundgerechten Häppchen damit konfrontieren, was gerade los war.
Sie nahm ihr Handy, öffnete ihre DMs und klickte ganz willkürlich auf irgendeine der ungelesenen Nachrichten: Scheiß N****-F***e, wird Zeit, dass du deine gerechte Strafe erfährst. Wenn die Bullen das nicht regeln, erledigen wir das selbst.
Sie las die Nachricht laut vor und ergänzte trocken: »Das N-Wort ist hier übrigens ausgeschrieben.« Sie holte erneut tief Luft. »Nächste Nachricht.«
Und ja. Die nächste Nachricht war genauso krass wie die erste.
»Wer glaubst du, wer du bist. Scheiß Affenf***e. Das wirst du noch bereuen«, las sie mit monotoner Stimme.
Zum ersten Mal war es totenstill am Tisch. Als sie gerade nach unten scrollte, um die nächste Nachricht zu öffnen, hob Fanny die Hände.
»Nein, nein, hör auf. Wer schreibt denn so was?«
»Keine Ahnung. Fremde. Aber so ist das. Jeden Scheißtag. Andauernd«, sagte Tess und schaute ihre Freunde herausfordernd an.
Sie sahen allesamt aufrichtig betroffen aus. Kalle schüttelte den Kopf. Arnie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und guckte ganz bedröppelt aus der Wäsche. Ingrid atmete schwer aus.
»Was für Arschlöcher, ey. Aber zum Glück sind sie nicht mehr als das. Arschlöcher! Arme Loser, die in ihren hässlichen Kellerwohnungen hausen und mit ihren dicken Wurstfingern ihren Scheiß in die Tastatur hauen. Mach dir keinen Kopf!«
»Ja, klar. Es sind Arschlöcher. Aber ist es deswegen in Ordnung?«, protestierte Tess mit erhobenem Kinn.
»Natürlich nicht! Aber was haben diese Leute mit TÖS zu tun? Ich hab das Gefühl, du stehst gerade total unter Strom und bringst zwei ganz unterschiedliche Dinge durcheinander«, erwiderte Ingrid. Ihre Augen glänzten plötzlich, als hätte sie selbst den Shitstorm abbekommen.
Tess schüttelte den Kopf und schob ihr Handy zurück in die Jackentasche.
»Nee, okay. Vergesst es einfach. Aber ich werde mich niemals, nie im Leben dafür entschuldigen, dass ich für mich selbst einstehe«, sagte Tess mit harter Stimme und klammerte sich an der Speisekarte fest. Sie tat so, als würde sie sich in den Inhalt der Karte vertiefen, doch ihre Hände zitterten.
Sie hatte es gewusst. Sie stand ganz allein da.
Sie drehte sich um und hielt nach einem Kellner Ausschau.
»Okay, dann muss ich wohl selbst an die Bar und was bestellen«, sagte sie genervt und stand auf.
Margrethe sprang auf.
»Ich komm mit, ich muss auf die Toilette.«
Gemeinsam durchquerten sie das Lokal. Margrethe schenkte Tess ein zaghaftes Lächeln.
»Tut mir leid, dass du solche Nachrichten bekommst. Aber ich hoffe, dass es bald abebben wird. Er wird dich sicher nicht anzeigen. Das passt doch alles perfekt zu seinem Badboy-Image. Mach dir wirklich keinen Kopf. Ich bin froh, dass es so glimpflich ausgegangen ist«, sagte sie und griff nach Tess’ Hand, drückte sanft zu.
Tess nickte dankbar. Margrethe war sonst immer diejenige, die tausend Verschwörungstheorien hatte und Tess gegenüber vollkommen paranoid war. Doch nachdem Tess ihr geholfen hatte, sich einen ekligen Typen vom Hals zu schaffen, der Gerüchte über die Prinzessin hatte verbreiten wollen, hatte sie wohl endlich gecheckt, dass sie und Tess auf derselben Seite standen.
Tess sah Margrethe nach, als sie auf dem Klo verschwand, und stellte dabei fest, wie sämtliche Restaurantgäste völlig aus dem Konzept gerieten, als sie merkten, wer da eigentlich durchs Lokal schritt. Tess spürte einen kleinen Stich von Neid. Seit mehr als sechs Jahren hatte Tess für ihre unterschiedlichen Accounts fotografiert, geschrieben und gefilmt. Die 67.530 Follower, die sie über die Jahre hatte ansammeln können, waren ganz wunderbare Fans, die sie unterstützten, sie anfeuerten und ihr nach und nach zu einer soliden Einnahmequelle verhalfen. Aber Prinzessin Margrethe und ihr Bruder Kalle hatten mehr als fünf Millionen Follower. Ein ganzes Königreich. Ohne jemals etwas dafür getan zu haben. Tess lehnte sich über den braunen Tresen und versuchte, die Aufmerksamkeit der Bartenderin auf sich zu lenken, die gerade mit starrem Blick ins Nichts ein Glas polierte.
»Ein Burger und ein Ginger Ale«, rief sie ihr zu.
»Wir nehmen die Bestellungen am Tisch an«, antwortete die Bartenderin, ohne sie anzusehen, ehe sie das Glas abstellte und zum Kühlschrank mit den Limoflaschen ging.
»Nein, offenbar tut ihr das nicht«, erwiderte Tess.
Das Mädchen griff nach einer Flasche Ginger Ale und hebelte den Kronkorken ab. Sie schaufelte ein paar Eiswürfel in ein Glas.
»Doch, tun wir. Aber okay, ich tipp es hier ein.«
Tess verdrehte die Augen und nahm das Glas mit zurück zum Tisch. Als sie sich setzte, wurde es wieder ganz still. Arnie war knallrot im Gesicht und Ingrid nickte ihm aufmunternd zu. Kalle schüttelte resigniert den Kopf und lachte leise.
»Was?«, fragte Tess. »Was ist los?«
»Arnie hat einen Vorschlag«, verkündete Ingrid.
Arnie wich Tess’ Blick aus.
»Na ja, mein Vorschlag war das nicht gerade …«
»Was denn?«
»Jetzt sag schon«, drängte Ingrid.
»Na ja, also, ich hab ja die Nummer von TÖS«, murmelte Arnie. »Und wenn du willst, kannst du ihn anrufen und dann redet ihr mal über die ganze Sache. Dann muss niemand von euch das … in sich reinfressen.«
In Tess begann es zu brodeln. Lamin war die eine Sache. Ihr Bruder hatte immer Schiss, irgendetwas könnte ihr den Lebenslauf versauen, und führte sich so auf, als wäre das ganze Leben ein Casting für eine Führungsposition. Aber so was von den Leuten, die ihre Freunde sein wollten?
»Ist das euer Ernst? Ich soll mich bei einem Typen entschuldigen, der mich verfolgt hat und mich festhalten wollte? Der mir die Bluse vom Leib gerissen hat? Von welchem Planeten kommt ihr eigentlich?«
Ingrid beugte sich über den Tisch.
»Ja, aber du hast ihn geschlagen. Willst du es wirklich riskieren, angezeigt zu werden? Was ist, wenn du deshalb nicht in die USA gehen kannst? Denn du«, sagte Ingrid und zeigte mit dem Finger auf Tess, »du wirst in einer Villa in L. A. wohnen. Was anderes kommt überhaupt nicht infrage!«
Der Enthusiasmus und der schroffe Ton ihrer besten Freundin schmerzten. Die Einsicht tat weh: Ihre Freundinnen schienen sich wirklich nicht in ihre Lage versetzen zu können. Tess wusste, dass die anderen von dieser Art Nachrichten verschont blieben, aber trotzdem war sie davon ausgegangen, dass sie wenigstens Verständnis für sie hatten. Seit sie in den sozialen Medien aktiv war, waren erst wenige, dann immer mehr solcher Nachrichten in ihrer Inbox und in ihren Kommentaren gelandet. Schmerzende und erschreckende Kommentare; sie solle verprügelt werden, vergewaltigt, misshandelt, abgeschoben, vergast. Alles nur weil sie nicht weiß war. Ja, die Absender waren irgendwelche Loser, aber trotzdem. Jedes Mal, wenn sie sich einloggte, war es, als müsste sie irgendwie mit dem Rücken voran reingehen, mit halb geschlossenen Augen, um dann den ganzen Mist erst mal wegzuschippen, bevor sie mit ihrer Arbeit weitermachen und auf all die netten Follower reagieren konnte, die es zum Glück auch gab und sie mit Herzen und Likes überschütteten. Es war, als müsste sie ständig kalte Regenschauer ertragen, während die anderen in strahlendem Sonnenschein lebten, ohne überhaupt zu merken, wie gut es ihnen ging.
Sie verstanden es nicht einmal dann, wenn die Hater dabei gefilmt wurden, wie sie Tess nachliefen und ihr die Klamotten zerrissen.
»Ihr kapiert es einfach nicht«, sagte sie und hob resigniert den Arm Richtung Ingrid.
Dabei erwischte sie die Ginger-Ale-Flasche. Die Flasche kippte um und die braune Flüssigkeit schwappte über den Tisch.
»Oh nein, mein Handy!«
Ingrid fischte ihr Smartphone aus einer klebrigen Limopfütze.
»Entspann dich doch bitte mal«, sagte sie verärgert zu Tess. »Wir versuchen nur, dir zu helfen.«
»Shit, bitte entschuldige«, rief sie und sprang auf.
Sie drehte sich um, um der Bartenderin zu signalisieren, dass sie einen Lappen bräuchten, doch stattdessen starrte sie direkt in zwei hübsche Gesichter.
»’tschuldigung, bist du Tess?«
Verblüfft nickte sie den beiden unbekannten Mädchen of Colour zu, die vor ihr standen. Die anderen schauten ebenfalls zu ihnen auf, während sie versuchten, die Ginger Ale-Pfütze mit ihren Servietten aufzuwischen.
Eines der Mädchen hob ihr Handy. Auf dem Display leuchtete der Artikel über sie und TÖS auf.
»Bist du das? Hast du zurückgeschlagen?«
Tess schaute sich im Lokal um.
Was wollten die beiden von ihr? Wollten sie ihr ebenfalls Vorhaltungen machen, sich gegen TÖS gewehrt zu haben? Dass sie somit alle Frauen of Colour in ein schlechtes Licht rückte?
»Wir haben gerade über dich gesprochen. Es ist so geil, dass endlich mal was passiert. Alle labern immer nur und nichts ändert sich. Das ist so frustrierend und ich glaube nicht, dass irgendwer versteht, wie das ist, wenn man es nicht selbst …«
Die beiden warfen sich einen Blick zu, als müssten sie erst nach den richtigen Worten suchen.
» … ja, wenn man nicht selbst so viel Scheiß erlebt. Also, wir wollten nur Danke sagen. Danke, dass du ein Zeichen gesetzt hast. Genug ist genug.«
Es schimmerte golden in ihren Augenwinkeln. Sie trug die türkisen Ohrstecker, für die Tess schon auf einer Warteliste stand. Diese Mädchen waren also offensichtlich nicht nur cool, sondern hatten auch noch Stil.
»Wir stören euch auch nicht länger«, sagte die andere der beiden und warf einen flüchtigen Blick Richtung Kalle. »Aber ich hoffe, dass das Video viral geht.«
Sie hob ihre Faust.
»Schlag zurück!«
Tess nickte verblüfft und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken.
Im selben Augenblick kam die Bartenderin zu ihnen an den Tisch und stellte einen Teller mit einem Burger vor ihr ab.
»Guten Appetit«, sagte sie mit scheißfreundlicher Stimme.
»Danke«, murmelte Tess und nahm das Besteck in die Hände.
Wärme breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Mit vorgeschobenem Kinn schaute sie ihre Leute an.
»So ist es«, sagte Tess und fragte sich, ob sie es kapierten. »Schlag zurück – es ist wichtig, sich zu wehren.«
»Das ist ein Hashtag«, murmelte Fanny mit starrem Blick aufs Handy. »Du hast deinen eigenen Hashtag, Tess.«
Tess starrte Fanny an.
»Und du trendest!«
Tess lag auf dem Bauch in ihrem Bett, kaute auf dem Plastikdeckel ihrer Flasche Vitaminwasser herum und sah zu, wie das Internet vor ihren Augen implodierte.
Die Leute teilten nicht mehr nur Bilder und Videos von ihr.
Der Hashtag hatte mittlerweile ein Eigenleben entwickelt.
Wenn du mit gebrochener Nase in der Notaufnahme hockst, weil ein besoffener Idiot der Meinung ist, dass es »genug Affen in diesem Land gibt«. #schlagzurück
Bin Barkeeperin, aber wenn ich jemandem, der schon viel zu besoffen ist, keinen Drink mehr ausschenke? Dann bin ich plötzlich eine N****f***e. #schlagzurück #keinbockmehr
Im letzten Jahr hab ich mich auf 37 Jobs beworben und nur eine Zusage bekommen. Aber großzügig waren sie. Haben mir fünftausend angeboten, wenn ich mit dem Chef vögele. #schlagzurück
So viele Horrorgeschichten kamen hier ans Tageslicht. Tess war schockiert und wurde mit jeder neuen Story, die auf Instagram, Twitter und TikTok geteilt wurde, trauriger. Erfahrungen, die viel, viel schlimmer waren als ihre eigenen. Berichte von gewaltsamen Übergriffen, bei denen den Opfern nicht geglaubt worden war. Von systematischer Diskriminierung, von rassistischen Lehrerinnen und brutaler Gewalt.
Aber die Erfahrungsberichte stachelten sie auch an. Denn spätestens jetzt würden ihre Freundinnen und Freunde sie doch verstehen? Und Lamin! Und ihre Eltern. Das war doch der endgültige Beweis, dass sie etwas Sinnvolles getan hatte. Dass ihre Social Media-Arbeit nicht oberflächlich, dass es das einzig Richtige gewesen war, TÖS gegenüber handgreiflich zu werden, und dass sie sich durch ihren – wie ihre Eltern es gerne formulierten – Schminkquatsch eine Plattform erschaffen hatte, auf der nun wichtige gesellschaftliche Themen verhandelt wurden!
»In fünf Minuten gibt’s Essen!«, rief Lamin aus der Küche.
Der Duft von Pasta mit Tomatensoße und Basilikum zog schon langsam in ihr Zimmer.
»Okay«, rief sie zurück.
Ihr Handy plingte.
Eine Nachricht von ihrer Mutter.
Liebe Tasatou, wie ich sehe, hattest du ein aufregendes Wochenende? Ich verlass mich darauf, dass du das selbst alles wieder in Ordnung bringst. Solange du dich nicht zu sehr verausgabst und die richtigen Prioritäten setzt … Und es tut auch mal ganz gut, sich in Zurückhaltung zu üben. Hier läuft alles blendend mit der Eröffnung, am Wochenende hatten wir volles Haus. Kuss, Mama.
Tess seufzte. Natürlich würde sie das selbst in Ordnung bringen. Wann hatte sie jemals irgendetwas nicht selbst in Ordnung gebracht? Sie musste an ihre erste Zeit in der Grundschule denken. Ständig war sie über ihre eigenen Füße gestolpert, weil ihre Schnürsenkel immer wieder aufgegangen waren. Die ganzen Ferien über hatte sie geübt, sich die Schuhe zu binden. Klar, Lamin hatte angeboten, ihr zu helfen, aber sie wollte es selber schaffen, und schon bald war Tess diejenige mit den perfekten Schleifen. Und sie hatte es allein geschafft.
Lamin hatte recht, ihre Eltern hatten zwar immer auf dem Schirm, was gerade los war, aber trotzdem schien es ihnen doch recht egal zu sein, wie es ihrer Tochter ging. Sie könnten ja mal nachfragen. Oder das Telefon einmal öfter in die Hand nehmen und anrufen. Aber für so was hatten sie eh fast nie Zeit. Es gab immer irgendein neues Hotel an irgendeinem neuen Ort, das eröffnet werden musste. Und dieser neueste Einfall ihrer Eltern …
Tess hatte schon ihre Gründe, warum sie nicht ranging, wenn ihre Eltern doch einmal auf die Idee kamen, anzurufen und sich zu erkundigen, wie es bei ihr lief. Die ganze Sache war einfach so … falsch! Peinlich und total falsch! Sie hatte ihre Meinung zu den neusten Hotelplänen ihrer Eltern bereits deutlich gesagt, als sie noch in der Entstehungsphase waren, aber niemand hatte auf sie gehört. Dass ihre Eltern es einfach nicht wahrhaben wollten, wie ihnen die Sache um die Ohren fliegen könnte! Tess schämte sich für ihre Familie, konnte aber mit niemandem darüber sprechen. Es war einfach viel zu peinlich. Dass ihre sonst so professionellen Eltern mit so was durchkamen.
Alles okay, Mama. Schön zu hören, dass bei euch alles läuft.
Das musste reichen. Hoffentlich war es genug, um sie zu beruhigen, damit sie ihr nicht weiter auf die Nerven ging.
Lamin war da noch mal eine andere Nummer. Nachdem ihre Eltern das Familienunternehmen übernommen hatten und deshalb nun ständig im Ausland unterwegs waren, um ihre Hotels zu führen, war ihr großer Bruder strenger geworden, als ihre Eltern es jemals gewesen waren. Unter seiner Aufsicht sollte alles besonders perfekt ablaufen. Er hatte gelernt zu kochen und er war richtig obsessed, dass ausschließlich gesundes Zeug auf den Tisch kam, die Wohnung immer aufgeräumt war und Tess nur die besten Noten mit nach Hause brachte. Lamin war ein Streber und würde immer einer bleiben, sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause.
Tess gönnte sich noch eine Runde auf Twitter und Insta. Krass, was da abging. Sie konnte dabei zuschauen, wie ihre Followerzahlen stiegen. Das hatte schon fast etwas Hypnotisches. Und all die Liebe, die ihr entgegenschlug! Von wildfremden Leuten!
Ihre Neugier wurde geweckt: Ob auf TÖS’ Profil wohl gerade das Gegenteil los war? Oder – bei dem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken runter – wurde der Hass gegen sie in seinen Kommentaren befeuert?
Mit schnellen Fingern tippte sie seinen Namen in die Suchleiste und öffnete sein Profil.
Er hatte keine aktuellen Storys. Sie scrollte schnell durch seine Bilder. Die meisten hatte sie schon gesehen, es waren vor allem Aufnahmen von Konzerten. Entweder von riesigen Publikumsmengen oder von ihm in Aktion in seiner bescheuerten goldenen Bomberjacke. Das neuste Bild war tatsächlich von gestern. Ein Selfie auf der Tryvann-Bühne.
Taking over nach dem legendären @arnieboy featuring @prinzessinmargrethe, stand in der Caption. Keine Ahnung, wer heute Abend der wahre Headliner ist, aber die Party geht ab!
Sie scrollte sich durch die über tausend Kommentare. Anfangs waren es vor allem positive, unzählige Herzen und Emojis mit Sternen in den Augen. Doch dann kippte die Stimmung in den Kommentaren ganz plötzlich. Es versetzte ihr einen Stich, als sie das Wort Rassist las. Dort stand es, schwarz auf weiß. Es folgte eine Welle aus Hass, Anschuldigungen, zerbrochenen Herzen und kotzenden Emojis. Die Welt war also doch noch nicht komplett aus den Angeln gehoben. Die meisten schienen es nicht in Ordnung zu finden, Mädchen auf dunklen Festivalgeländen hinterherzurennen und ihnen die Klamotten zu zerreißen. Nur Lamin und ihre eigenen Freunde hatten das noch nicht begriffen.
Sie ging aus den Kommentaren zurück zu seinem Grid und wollte das Handy gerade weglegen, als ihr Blick auf ein paar ältere Bilder fiel, die sie bisher nicht weiter beachtet hatte. Eines davon schien auf einer Hütte aufgenommen worden zu sein. TÖS saß an einem Tisch vor einem gigantischen Puzzle. Jetzt fügen sich die Teile zusammen. Bin halt auch nur ein Nerd, stand unter dem Foto. Es war eindeutig in den Osterferien aufgenommen worden. Er trug einen Wollpulli und sah so viel mehr aus wie ein Truls Øystein, gar nicht mehr wie ein Popstar.
Ganz unerwartet ergriff sie eine Art Traurigkeit. Plötzlich kam es ihr so vor, als würde sie das Foto eines verstorbenen Bekannten anschauen – oder eines Ex-Freundes. Langsam wurde ihr bewusst, wie dumm es von ihr gewesen war zu glauben, sie und TÖS könnten Freunde werden. Sie folgte seinen Profilen schon seit Jahren, sodass es ihr so vorgekommen war, als kannte sie ihn bereits ewig. Wie naiv! Sie hatte sich von seinem Charme einlullen lassen. Hatte sich zu ihm und seinen Leuten gestellt, obwohl die sie zunächst keines Blickes gewürdigt hatten. Und sie war einfach stehen geblieben. Nicht nur, weil sie kein gutes Manöver in petto gehabt hatte, um sich elegant aus dem Staub zu machen, sondern auch weil sie sich eingebildet hatte, TÖS hätte ihr mit seinen Blicken etwas signalisiert. Als hätte er schweigend um Entschuldigung für seine selbstverliebten Kumpel und deren Geltungsdrang gebeten. Sie hatte sein Verhalten mit einem Lächeln erwidert und sich eingebildet, dass sie einander verstanden. Und plötzlich, als sie da so zwischen TÖS und den anderen stand, hatte der Typ im rosa Hemd mit dem Finger auf sie gezeigt.
»Worüber lachst du eigentlich? Bist du dabei gewesen, oder was?«, hatte er sie angefahren, als wäre es ein Verbrechen, so zu tun, als wäre sie ein Teil der Unterhaltung.
Tess hatte ihm ihr breitestes Lächeln geschenkt. Man konnte ihr unmöglich ansehen, dass ihr Puls im selben Moment ins Unermessliche stieg. Der Kerl strahlte eine aggressive Selbstsicherheit aus, aber mit solchen Typen war sie ständig konfrontiert, jeden Tag. Solche wie ihn hatte sie in der Hosentasche, in ihrem Laptop, in den Ohren, manchmal sogar im Briefkasten. Es gefiel ihr beinahe, endlich einmal etwas anderes tun zu können, als zum abertausendsten Mal auf Blockieren zu drücken.
»Worüber ich lache? Über dich vielleicht?«, hatte sie geantwortet und sich spielerisch fragend auf die Lippe gebissen.
Das war zwar nicht der beste Konter, aber offenbar frech genug, dass es den Typen aus dem Konzept brachte. Er musterte sie forsch und sein Blick brannte sich in ihre Haut. Automatisch zog sie den Bauch ein, schob die Schultern zurück, nahm die Haltung einer Soldatin an. Sie schaute ihm tief in die Augen.
»Du siehst nicht aus wie eine Abiturientin«, hatte er gesagt.
»Nee, ihr auch nich, oder?«, lautete ihre kesse Antwort.
Alle lachten.
TÖS war erst einundzwanzig, das wusste sie, aber seine Kumpel mussten weit über dreißig sein.
»Wir sind quasi bei der Arbeit. Du vielleicht auch?«, hatte TÖS mit besonnener Stimme eingeworfen.
Überrascht hatte sie ihn angelächelt. Kannte er etwa ihren Kanal? Das konnte tatsächlich sein, er war schließlich selbst eine Art Influencer! Wie immer machte es Tess megaglücklich, wenn jemand sie erkannte und dann auch noch anerkannte, dass das, was sie tat, richtige Arbeit war.
»Immer bei der Arbeit«, hatte sie geantwortet und mit dem Kopf zur Musik gewippt, die im Hintergrund aufgedreht worden war.
»Yesss!«, rief der Dritte in der Runde und streckte die Hände in die Luft.
Der Typ im rosa Hemd tat dasselbe und sie knallten ihre Hände in einem High Five aneinander.
»Mein Manager«, erklärte TÖS mit peinlich berührter Miene und zeigte auf den Typen in Rosa, der plötzlich begann, eine Art Jubeltanz aufzuführen. »Und er ist auch der Glückspilz, der diesen Künstler managt«, fügte er hinzu und hob ebenfalls die Hände in die Luft, wie um auf den Hit zu zeigen, der, wie Tess wusste, gerade überall rauf und runter lief.
Sie musste lächeln. Seine Bescheidenheit stand ihm gut. Sie wiegte ihren Körper im Takt zum Rhythmus.
»Zeig mal, was du kannst«, rief TÖS’ Manager und machte eine pumpende Bewegung mit seinem Arm.
»Was?«, fragte Tess und beugte sich zu ihm vor, um ihn besser zu verstehen.
»Kannst du twerken?«, fragte er.
Sie grinste überrascht und sah TÖS fragend an. Er schüttelte den Kopf, um zu signalisieren, dass er nicht verstand, worüber sie sprachen. Der Manager tanzte nun wild um sie herum, eine ironische Mischung aus Bauchtanz und Arschgewackel. Tess lachte und hatte plötzlich große Lust, ihn zu battlen. Ihm zu zeigen, dass sie tausend Mal besser war. Denn YouTube sei Dank konnte sie tatsächlich twerken. Vorsichtig shufflete sie los. Langsam schaukelte sie ihre Hüften und ließ sie gleichzeitig kreisen. Im Takt der Musik schob sie ihren Po nach oben und senkte ihren Oberkörper nach vorn. So stand sie da und schüttelte ihren Po in der Luft, hörte die Jubelrufe der Typen und spürte, wie sich all die Nervosität in ein Nichts auflöste. Tanzen war so großartig! Twerkend drehte sie sich zu den anderen um, erstarrte jedoch sofort und richtete sich auf.
Die Typen hatten aufgehört zu tanzen.
In einem Halbkreis standen die drei Männer um sie herum, die Arme vor der Brust verschränkt, und geiferten sie einfach nur an. Der Manager griff sich in die rosa Brusttasche seines Hemdes und bewarf sie mit etwas. Alle Blicke folgten dem zerknitterten Zweihundertkronenschein, der erst Tess’ Arm traf und dann in das niedergetrampelte Gras segelte. Die Musik wummerte weiter, als wäre nichts passiert, aber in Tess’ Innerem war es ganz still geworden. Sie starrte vom einen zum anderen.
»Hä?«, rief der Manager und wedelte mit der Hand. »Ich denke, du bist gerade bei der Arbeit? Zeig mir mehr von deinem N***arsch!«
Tess wusste beim besten Willen nicht, warum, aber sie konnte nicht aufhören zu lächeln. Sie stand dort und grinste wie die größte Idiotin, grinste sie alle drei abwechselnd an und wartete darauf, dass eine Entschuldigung folgte, ein »Sorry, sorry, sorry, das war der schlechteste Scherz ever!«. Aber niemand sagte etwas und der eklige Typ in Rosa gaffte sie weiter erwartungsvoll an. Der Dritte sah aus, als wäre er eine Mischung aus beeindruckt und peinlich berührt. TÖS starrte einfach nur ausdrucklos ins Leere.
Vierundzwanzig Stunden später zog sich bei dem Gedanken an diese Szene immer noch alles in ihr zusammen. Wie sie in die Hocke gegangen war und mit dem Arsch gewackelt hatte. Oh, wie sie sich schämte.
»Essen!«, rief Lamin.