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Ein entsetzter Schrei und eine Frau, die mit gewaltiger Wucht auf den Boden prallt – für eine Sekunde steht die Welt still Zwischen schneebedeckten Bergen, plätschernden Flüssen und spiegelglatten Seen findet alljährlich in Norwegens Westen ein großes Sportfestival statt. Agnes Tveit, ehemalige Starreporterin aus Oslo, ist hautnah mit dabei, als sich der Fallschirm einer der vier Springerinnen nicht öffnet. Vor den Augen hunderter Zuschauer stürzt die junge Frau, Mutter zweier Kinder, in den Tod. Ein tragischer Unglücksfall? Agnes, die seit einem Jahr wieder in ihrem Heimatort wohnt, kannte die Frau seit ihrer Jugend und sucht nach Antworten. Bei den Recherchen für ihre Lokalzeitung entdeckt sie, dass diese idyllische Stadt viele dunkle Geheimnisse birgt, die seit Jahren im Verborgenen ruhen. Ein tödlicher Verrat und die Lügen der Vergangenheit – Agnes Tveit recherchiert in ihrem ersten Fall. »Todesfall« ist ein spannender Kriminalroman der norwegischen Autorin Randi Fuglehaug, der von engen Freundschaften, tödlichem Verrat, von Aufbruch und Rückkehr handelt.
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2022
Randi Fuglehaug
Kriminalroman
Agnes Tveit, ehemalige Starreporterin aus Oslo, ist hautnah mit dabei, als vor den Augen hunderter geschockter Zuschauer eine junge Frau, Mutter zweier Kinder, in den Tod stürzt. Ein tragischer Unglücksfall? Agnes, die seit einem Jahr wieder in ihrem idyllischen Heimatort wohnt, kannte die Frau seit ihrer Jugend und sucht nach Antworten. Bei den Recherchen für ihre Lokalzeitung entdeckt sie, dass diese Stadt zwischen schneebedeckten Bergen, tiefen Seen und tosenden Wasserfällen viele dunkle Geheimnisse birgt, die seit Jahren im Verborgenen ruhen. Ein tödlicher Verrat und die Lügen der Vergangenheit – Agnes Tveit recherchiert in ihrem ersten Fall.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Randi Fuglehaug ist eine norwegische Autorin und Freelance-Journalistin. Sie wuchs in Voss auf und kennt die Gegend, über die sie schreibt, sehr genau. »Todesfall« ist ihr erster Kriminalroman. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Oslo.
Christel Hildebrandt studierte Germanistik und Soziologie an der Universität Hamburg und schloss ihr Studium mit der Promotion zum Doktor der Philosophie ab. Seit 1988 arbeitet sie als freie Übersetzerin aus dem Norwegischen, Dänischen und Schwedischen. Sie lebt in Hamburg.
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[Zitat]
SONNTAG
MONTAG
DIENSTAG
MITTWOCH
DONNERSTAG
FREITAG
SAMSTAG
SONNTAG
DANK
Personenregister
Leseprobe Todesschlag
Oh but you are in my blood
You’re my holy wine
You’re so bitter, bitter and sweet
Joni Mitchell, A case of you
Sie hatte vergessen zu pieseln, und jetzt war es zu spät, um noch mal schnell auf die Toilette zu gehen.
Der Motor lief bereits, als sie an Bord gingen, alle anderen waren schon startklar. Sie wären verärgert, wenn sie jetzt plötzlich wieder aussteigen wollte. Die Eröffnungszeremonie hatte begonnen, der Zeitplan war eng. Während das Flugzeug langsam nach Osten auf die Startbahn rollte, schlug Veslemøy Liland die Beine übereinander und versuchte, das zu ignorieren, was ihre Oma »eine Pennälerblase« genannt hätte. Sie befestigte die Sicherheitsschlaufe in ihrer Ausrüstung, spürte, wie die dicke Wolle an den Schenkeln juckte. Sie hatten lange gebraucht, die Trachtenröcke in die engen Nylonstrumpfhosen zu stopfen. Das Ergebnis: Es war jetzt verdammt heiß. Sie blickte über die Schulter, stellte fest, dass die drei Freundinnen nicht das geringste Anzeichen erkennen ließen, auch von Harndrang oder Juckreiz geplagt zu werden. Joni schaute sie lächelnd und gleichzeitig fragend an. Sie hatte Helm und Brille noch auf dem Schoß liegen, es war zu heiß, um irgendetwas länger als unbedingt nötig auf die roten Locken zu drücken.
Erst als das Flugzeug am Ende der Rollbahn wendete, entdeckte sie den Typen, der den Sprung filmen sollte. Sie konnte ihn hinter Jonis Löwenmähne gerade so erkennen. Sie hatte ihn noch nie getroffen, er schien neu zu sein. Seitdem sie nicht mehr die Zeit hatte, regelmäßig zu springen und zu den Partys zu gehen, war es bei all diesen Neuzugängen im Verein nicht so einfach, auf dem Laufenden zu bleiben.
Durch das Flugzeug ging ein Ruck, dann gab es Vollgas Richtung Westen. Alle saßen sie mit dem Rücken zur Flugrichtung, und als Veslemøy spürte, dass sie vom Boden abhoben, schaute sie durch das kleine Fenster zum Klubhaus. Vor dem Eingang des Cafés wimmelte es von Kindern und Erwachsenen, Teilnehmern und Zuschauern, Bekannten und …
Sie zuckte zusammen.
Ein Mann stand dort, etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte in Richtung Flugzeug.
War es möglich?
Sie versuchte zurückzublicken, aber das Klubhaus und derjenige, den sie gesehen hatte, den sie glaubte, gesehen zu haben, wurden kleiner und kleiner. Bald verschwand das Klubhaus aus ihrem Blickfeld. Und das Gesicht, das sie seit so vielen Jahren nicht gesehen hatte, das Gesicht, von dem sie gehofft hatte, es nie wiedersehen zu müssen.
Eine eiserne Faust schien ihr Herz zusammenzudrücken.
Sie musste sich geirrt haben.
Das war nur ein Mann, der ihm ähnlich sah.
Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich nur noch auf das monotone Brummen des Flugzeugmotors zu konzentrieren, aber die Unruhe hatte sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet. Sie nahm den Geruch von Schweiß und häufig benutzter Ausrüstung wahr, doch plötzlich war da auch noch ein anderer Geruch, ein kräftiges Parfüm. Sie versuchte, die Erinnerung daran abzuschütteln, wollte die Bilder auf keinen Fall heraufbeschwören, aber ihr Magen rebellierte bereits.
Sie musste sich zusammenreißen. Konzentrieren. Positiv denken, an die Sonnenstrahlen, die ihr in die Augen stachen, als sie wieder hinausschaute und die Baumwipfel von Bømoen unter sich verschwinden sah. Bald waren die Bäume zu einer zusammenhängenden, grünspanfarbenen Decke geworden, und das Flugzeug steuerte auf die nahe gelegenen Berge zu, über denen sich ein fast schockierend blauer Himmel wölbte. Schon bald lag der See, das ruhige Lundarvatnet, unter ihnen, sie flogen weiter zum Lønavatnet. Sie spürte, wie sich der dunkle Griff um ihr Herz ein wenig lockerte. Was für ein Timing mit dem Wetter. Sie konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal so phantastisch gewesen war, wann der Nebel nicht darauf bestanden hatte, alles, was schön war, auszuradieren. Der Frühling war durchgehend zu nass gewesen, und die Wettervorhersagen für Voss hatten davor gewarnt, dass das diesjährige Festival buchstäblich ins Wasser fallen würde. Sie hatte sich schon darauf eingestellt, dass sie sich bei allen angereisten Fallschirmspringern entschuldigen würde, die ohne jeden Zweifel von gutem Wetter ausgegangen waren. Den Veteranen waren ja das Klima und die Bierpreise bekannt, sie kamen so oder so, aber die Neuen, die Jungen, Eifrigen, die lange Anfahrtswege auf sich nahmen, um über the beautiful fjords abzuspringen, sie wären enttäuscht gewesen, wenn die Veranstaltung hätte abgesagt werden müssen. Und dabei war das Vangsvatnet überhaupt kein Fjord.
Positiv denken. Das würde eine richtig gute Woche werden. Noch bis vor wenigen Minuten hatte sie sich sonderbar erleichtert gefühlt, obwohl ihre Blase sich auf so peinlich unroutinierte Art bemerkbar machte. Sie starrte auf ihr Handgelenk, der Höhenmesser zeigte siebentausend Fuß, und im gleichen Moment kam eine SMS von Steven.
I hate you for this, schrieb er.
Sie spürte einen festen Druck im Bauch. In erster Linie war das schlechte Gewissen daran schuld, aber auch die Angst davor, was er machen könnte. Die tanzenden Punkte auf dem Display zeigten, dass er immer noch schrieb, und kurz darauf kam eine weitere Nachricht.
But I will never let you go.
Sie hätte ihm schon viel früher die Wahrheit sagen müssen, das bereute sie jetzt. Aber sie hatte es einfach nicht gekonnt. Und auch wenn es weh tat, war es jetzt doch am besten so. Sie liebte ihn, hasste aber die Person, zu der er geworden war. Und den ewigen Streit, der sich jedes Wochenende wiederholte, und die Wut darüber, dass er so spät nachts nach Hause kam und nach Schnaps stank. Nur selten hatte sie sich beschwert, aber selbst bemerkt, dass sie diesen strammen Gesichtsausdruck bekam, von dem sie genau wusste, dass er dem ihrer Mutter ähnelte. Sie wollte ja so gern verständnisvoll sein, wusste, wie wichtig es für ihn war, den Tag entspannt ausklingen zu lassen, der viel zu früh begonnen hatte und der sich täglich aufs Neue wiederholte. Der Tag, dessen Tonspur von den Zwillingen kam, dessen kennzeichnender Geruch aus dem Windeleimer aufstieg. Sie selbst hatte sich an das Leben zu viert gewöhnt, es gefiel ihr sogar. Er dagegen hatte sich wahrscheinlich niemals vorstellen können, jemals in so einem Alltag festzusitzen. Er hätte in Queenstown bleiben sollen, billiges Bier trinken und auf einer Matratze auf dem Boden schlafen, in einem 25-Quadratmeter-Apartment. So sah das gute Leben für Steven aus.
Sein großer Fehler war es gewesen, dass er mit ihr zurückgekommen war.
Und dafür mussten sie nun beide zahlen.
Oft dachte sie an den Tag, an dem sie den ersten Ultraschalltermin im Krankenhaus hatten. Er hatte ihn als point of no return bezeichnet. Die Hebamme hatte ihre Begeisterung darüber, dass da zwei im Bauch waren, nicht verbergen können. Sie platzte damit heraus, noch bevor sie selbst etwas auf dem kleinen Monitor erkennen konnte, und Veslemøy hatte Stevens Gesichtsausdruck genau lesen können, als er tapfer so tat, als würde er sich genauso sehr freuen wie sie selbst. Danach war er nie wieder wirklich glücklich gewesen.
Sie hätte es ihm schon damals sagen müssen.
»Two minutes call, guys!«
Die Stimme des Piloten riss sie schnell und effektiv aus den Gedanken. Kurz danach spürte sie, wie er die Motorkraft drosselte und das Flugzeug langsamer wurde. Zwölftausend Fuß. Sie richtete sich auf, denn sie saß am nächsten an der Tür der kleinen Cessna 206 und sollte als Erste rausspringen. Das LIFO-Prinzip – »last in, first out« – war wohl mit das Erste, was sie im Anfängerkursus gelernt hatte, zu einer Zeit, die inzwischen hundert Jahre zurückzuliegen schien. Und dort hatte sie außerdem gelernt, dass es keine schlechte Idee war, noch einmal auf die Toilette zu gehen, bevor man an Bord des Flugzeugs stieg.
Sie kam auf die Beine, zog die Tür auf, und der ungewöhnlich warme Wind wehte ihr ins Gesicht.
Sie schob die Brille zurecht, klopfte sich zweimal oben auf den Helm.
Jetzt volle Konzentration.
Noch einmal schaute sie über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass die Freundinnen bereit waren. Drei Daumen streckten sich ihr entgegen. Auch Gro und Katten, die bis zu diesem Zeitpunkt die Augen nur aufs Handy gerichtet hatten, waren jetzt konzentriert bei der Sache. Vorsichtig trat sie auf den Absatz auf der Flugzeugaußenseite, die drei anderen Frauen direkt hinter sich. Sie griff mit einer Hand Gros Arm, die wiederum eine Hand auf Jonis Arm gelegt hatte, und diese wiederum bei Katten.
»READY – SET – GO«, rief sie, und dann sprangen alle vier gleichzeitig.
Die Schwerkraft übernahm die Kontrolle, und das weiche, vertraute Windbett nahm sie in Empfang. Sie hielten einander weiterhin an den Armen fest, die Gesichter in der Sternformation einander zugewandt. Alle hatten Augenkontakt miteinander. Auf Veslemøys Kommando hin begannen sie mit der Choreographie, die sie schon so oft gemeinsam ausgeführt hatten, vor dem Himmel als Bühne. Aber dieses Mal gelang es Veslemøy nicht wie sonst, alle anderen Gedanken auszuschalten.
Die Frage ließ sie einfach nicht los, ob er es tatsächlich gewesen war, den sie da gesehen hatte.
Und wenn ja, dann war es wohl kaum ein Zufall, dass er ausgerechnet hier auftauchte.
Aber dieses Mal musste sie vorbereitet sein. Es war an der Zeit, dass sie allein zurechtkam, für sich sprechen, sich selbst verteidigen konnte.
Sie schaute auf ihr Handgelenk.
Fünftausend Fuß.
Das war schnell gegangen.
Veslemøy Liland fing die Blicke ihrer Freundinnen ein letztes Mal ein, dann ließ sie los.
Sie flog ein wenig vor den anderen, zog die Reißleine für den Schirm und wartete auf den vertrauten, aber immer etwas unangenehmen Ruck.
Der nicht kam.
Mehrere Pizzastücke mit sich herumzutragen, ohne sie zu essen, das konnte man damit vergleichen, einen Orgasmus zurückzuhalten, obwohl er sich bereits ankündigte, dachte Agnes Tveit. Sie freute sich auf das, was kommen sollte, aber andererseits erschien ihr das Warten auch unerträglich. Genau genommen tat sie so etwas sonst eigentlich nie, und es war ja auch noch nicht wirklich lange her, seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Der Plan sah so aus, dass sie sich ihre Reserve aufbewahren wollte, bis der letzte Artikel abgeliefert war. Die Reste der selbst gemachten Pizza würden so oder so nach der natürlichen Wärmebehandlung in ihrer Tasche besser schmecken. Bei dem Gedanken an den halb geschmolzenen Käse lief ihr bereits das Wasser im Mund zusammen.
Sie wollte sich stattdessen ein Eis kaufen, blieb jedoch enttäuscht stehen, als sie die Schlange vor dem Kiosk sah. Eigentlich sollte sie sich für die Festivalbetreiber freuen. Das war garantiert ein neuer Publikumsrekord für die Extremsportwoche. Die Eröffnungszeremonie Ende Juni lockte normalerweise viele Bewohner von Voss aus ihrer Sonntagslethargie, aber nicht selten waren Nieselregen und zwölf Grad eine gute Entschuldigung, doch lieber zu Hause zu bleiben. Heute hingegen konnten die Festivalleitung wie auch der Besitzer des Eiskiosks erleichtert aufatmen. Auf dem Prestegardslandet, dem Gelände rund um das Festivalzelt herum und dem eigentlichen Zentrum des Ortes, wimmelte es nur so von Menschen. Nachdem Vossevangen im Krieg fast vollkommen zerstört worden war, hatte man hier, nur einen Steinwurf von der Kirche und den Einkaufsstraßen entfernt, neue Häuser gebaut. Die Sonne schien ungehindert vom Himmel und warf ihren goldenen Glanz über die grünen Berge. Auf den Spitzen von Gråsida und Horndalsnuten lagen kleine, theatralische Schneeflecken, die nie ganz verschwanden. Totenstill lag das Vangsvatnet inmitten dieser grandiosen Natur, der Ort spiegelte sich in seinem Wasser, wodurch er doppelt so schön wurde.
An solchen Tagen wurde sie immer nostalgisch. Sie erinnerten sie an die Sommer ihrer Kindheit, als sie fest davon überzeugt war, in der schönsten Stadt der Welt zu leben. Stets ähnelte der Ort den Bildern auf den Ansichtskarten, die sie in dem Souvenirladen mit dem großen Troll vor der Tür verkauften. Die kompakten, ansprechenden Gebäude waren übersichtlich, nicht zu groß, aber auch nicht zu klein. Voss erschien ihr immer wie eine Art Mittelpunkt, auch wenn er eigentlich an der Peripherie des Binnenlandes lag.
Ein kleines Stück der Rasenfläche war mit Reklameschildern der Festivalsponsoren abgegrenzt. Das war offensichtlich der Landeplatz. Die Postkartenfotografen hielten schon ihre Kameras bereit. Bilder von vier Schönheiten, gekleidet in der ortsüblichen Tracht, die von einem wolkenfreien Himmel herabschwebten –, das war ein Motiv, das die Touristen später aus den Ständern reißen würden. Sicher lag es zum Teil am Sommerwetter, aber auch das Interview mit der Freundinnengruppe hatte Agnes in außergewöhnlich gute Laune versetzt. Sie hatte Gros und ihre drei Freundinnen seit der Schulzeit nicht mehr gesehen, und ehrlich gesagt war sie überrascht, dass sie immer noch zusammenhielten. Die vier Frauen hätten unterschiedlicher nicht sein können: die bürgerliche, angepasste Gro Skutle, die hitzige, schnell aufbrausende Kathrine Bøe, Spitzname Katten, die Katze, die Schönheit mit dem Superstarnamen, Joni Roberta Farestveit, und die charmante, aber etwas verhuschte, sprunghafte Veslemøy Liland.
Auf den ersten Blick schien es, dass das Fallschirmspringen das Einzige war, das die Frauen verband. Aber wenn Agnes tiefer darüber nachdachte, so war das in jedem Fall mehr, als die meisten Freundschaften aus Kindheitstagen verband.
Vielleicht verlor man sich auch deshalb so oft aus den Augen, weil es schwer war, Freundschaften allein auf alten Erinnerungen aufzubauen.
Was Agnes schmerzlich selbst erfahren hatte. Bis auf zwei Ausnahmen hatte sie keinen Kontakt mehr zu irgendjemandem aus ihrer Jugend. Deshalb war es umso schöner, ja, fast rührend, zu sehen, wie diese Frauen immer noch zusammenhielten und ihre Leidenschaft pflegten. Dieses Jahr sollten sie das Festival eröffnen, als die erste reine Frauengruppe. Was, vorsichtig ausgedrückt, auch höchste Zeit war.
»Die werden uns noch die Trachtenpolizei auf den Hals hetzen«, hatte Kathrine während der letzten Vorbereitungen auf dem kleinen Flugplatz Bømoen gesagt. »Ich persönlich finde ja, dass die Konfirmationskleider nie besser ausgesehen haben.«
Sie grinste und fuhr sich mit der Hand durch den Pony, der verschwitzt auf der Stirn klebte. Die weiße, etwas steife Trachtenbluse saß perfekt, der Brustschmuck war an seinem Platz, und sie hatten soeben mehrere Minuten gebraucht, um den voluminösen fußlangen Wollrock der Vossatracht, dosset, in die schwarzen Strumpfhosen zu stopfen, die sie alle trugen. Sie hatten »ein wenig mit dem Nationalschatz experimentiert«, hatte Gro gemeint. Um die Beinriemen des Fallschirms unter dem Stoff zu verstecken, hatten sie die Trachtenröcke an der Seite etwas aufgebauscht. Der Rock musste unter Kontrolle gehalten werden, bis der Schirm sich geöffnet hatte und sie ruhig dahinflogen, und er musste rechtzeitig aus der Strumpfhose herausgezerrt werden, bevor das Publikum unten sie entdeckte. Aber jetzt sahen die vier erst einmal von der Taille abwärts aus wie fest gestopfte Würstchen.
»Ihr könnt uns die fliegenden Sennerinnen nennen!«, rief Kathrine und breitete die Arme aus, während Veslemøy hinter ihr stand und Jonis Brusttuch zurechtzupfte – eigentlich ziemlich unnötig, wenn man den Zustand der restlichen Kleidung in Betracht zog.
Agnes notierte »fliegende Sennerinnen/gestopfte Würstchen« auf ihrem Block, aber dann startete der Motor der kleinen Cessna, die direkt neben dem Klubhaus stand, und sofort wurde es schwierig, noch irgendetwas zu verstehen. Sie winkte der Fallschirmgruppe zum Abschied und fuhr selbst hinunter ins Zentrum. Es war verabredet, dass die Frauen direkt nach der Landung für ein kurzes Resümee-Interview zur Verfügung standen.
Das mit den Trachten war eine raffinierte Idee, machte aber das Fallschirmspringen nur marginal publikumsfreundlicher. Wie sehr man auch versuchte, Extremsportarten einem breiteren Publikum näherzubringen, es schien auf jeden Fall ein größerer Spaß zu sein, selbst mitzumachen als nur zuzusehen. Agnes fand beides uninteressant, aber sie war nun einmal ohne den Adrenalinbedarf geboren, den ein durchschnittlicher Vossbewohner hier hatte. Überhaupt schienen sich ihre Mitbewohner in diesem Ort für ganz andere Dinge zu interessieren als sie.
Die Hände als Sichtschutz über den Augen, blickte sie hoch in den Himmel. Noch war nichts zu sehen, dafür konnte sie im Augenwinkel erkennen, wie jemand auf sie zustapfte, an jeder Hand ein Kind.
»Agnes Tveit!«, sagte die schöne, dunkelhaarige Frau, deren Lächeln Agnes wiedererkannte, auch wenn sie sich nicht an den Namen der Person erinnern konnte.
»Oh, hallo!«
»Mein Gott, wie lange ist das her«, fuhr die Frau fort und schob eine Sonnenbrille mit riesigen Gläsern ins Haar hoch, so dass ihre strahlenden Augen zum Vorschein kamen.
»Haben wir uns seit der Schule eigentlich jemals wiedergesehen?«
Absolute Tabula rasa. Sie waren also zusammen in der Schule gewesen?
Wie blöd.
»Ich glaube nicht. Wie ist es dir denn seitdem ergangen?«, fragte Agnes. Die Taktik, den Fokus auf den anderen zu lenken, funktionierte eigentlich immer ganz gut.
»Ach, weißt du, es geht so seinen Gang. Der Kleine ist inzwischen schon drei, und die große Schwester soll im August in die Schule gehen. Die Zeit rast! Wir wohnen in Bergen. Und du bist immer noch in Oslo, wie ich bei Facebook gesehen habe?«
»Nein, wir sind letztes Jahr hierhergezogen.«
Seitdem hatte sie kaum etwas in den sozialen Medien gepostet.
»Das ist ja toll!«, erwiderte die Frau und schien sich wirklich darüber zu freuen. »Die meisten kommen ja irgendwann zur Vernunft und ziehen wieder Richtung Westen. Also, ich selbst habe nie viel von Oslo gehalten, in dieser Stadt gibt es einfach zu viele Bettler und zu wenige Berge. Es muss doch schön sein, wieder nach Hause zu kommen und in der Nähe der Eltern zu wohnen, nicht wahr?«
Die Frau ohne Namen sah Agnes erwartungsvoll an, während die Kinder ungeduldig an ihren Armen zerrten. Jetzt wäre eigentlich der Zeitpunkt im Gespräch gekommen, an dem Agnes von ihren eigenen Kindern hätte berichten sollen.
»Ja, einfach schön«, erwiderte sie und hoffte, dass die andere nicht weiter nachbohrte.
Es gab viele Treffen wie dieses hier, die ganze Zeit. Leute, die ihr Gesicht wiedererkannten, an die sie sich selbst aber absolut nicht erinnern konnte. Häufig war es auch nicht so einfach, das zu sagen, zwanzig Jahre später. Das beunruhigte sie. Ständig musste man auf der Hut sein vor einer Vergangenheit, die sich verkleidet hatte. Das konnten Kostüme in Form von fünfzehn Gemütlichkeitskilo sein oder einer Glatze, die wie eine Bowlingkugel glänzte. Vielleicht war der Typ, den sie um ein Interview für eine Umfrage bat, jemand, den sie früher am Billardtisch im Jugendklub Vangsgryto bewundert hatte. Vielleicht war der neue Leiter des Supermarkts derjenige, mit dem sie damals ganz eng in der Dorfdisco in Grimshalli getanzt hatte. Und dazu kamen noch all diejenigen, die sie tatsächlich wiedererkannte. Mehrfach am Tag ging sie an jemandem vorbei und dachte: Müsste ich jetzt nicht stehen bleiben und Hallo sagen?
Die Folge war, dass sie meistens intensiv auf den Boden starrte.
Und glücklicherweise liefen die meisten anderen genauso herum.
So gesehen war die dunkelhaarige Frau wirklich eine Ausnahme. Sobald sie sich verabschiedet hatten, holte Agnes ihr Handy heraus und versuchte, auf Facebook herauszufinden, wie sie hieß. Sie beruhigte sich erst wieder, als sie den Namen gefunden hatte und feststellte, dass die Frau so eine war, die ihre eigenen Kinder als Profilbild benutzte.
Sie vermisste Viktor. Seitdem er verheiratet und Vater war, konnte sie viel zu selten mit ihrem früheren besten Freund einfach nur abhängen. Es war dieser tägliche lockere Schlagabtausch, der ihr am meisten fehlte, das vertraute Verhältnis zwischen ihnen, als sie noch in Oslo zusammengewohnt und es nicht einen Menschen aus der Heimat gegeben hatte, mit dem sie sonst hätten reden können. Vor ein paar Monaten hatten sie und Fredrik Viktor und seine Frau Gro zum Essen eingeladen, aber das war nicht das Gleiche. Die Gespräche zogen sich unendlich zäh dahin, denn sie mussten auf einen Arzt Rücksicht nehmen, der nicht aus Voss stammte, und auf die Erbin einer Möbeldynastie, die nie woanders gelebt hatte.
Sie holte die Samstagsausgabe der Zeitung aus der Fototasche und warf einen Blick auf das Titelfoto. Sie hatte es bei einer überraschenden Hochzeit aufgenommen, über die sie letzte Woche geschrieben hatte. Die Feier war von einer Freundesgruppe arrangiert worden, die der Meinung war, der Schweinebauer und seine Freundin seien nun lange genug ohne Trauschein zusammen gewesen. Auf dem großen Farbfoto, das Zweidrittel der Seite einnahm, stand das glückliche, frischgebackene Ehepaar im Stall, mit einer Flasche Champagner und ein paar schmutzigen Ferkel, die sich an den Hosenbeinen des Bräutigams rieben. Das war ein witziges Bild, auch technisch gut, und sie war zufrieden damit. Aber war es auch gut genug für fast die gesamte Titelseite? Merkwürdig. Hätte es auf der Titelseite von Verdens Gang, der Zeitung, bei der sie bisher in Oslo gearbeitet hatte, auch nur einen kleinen Hinweis auf ein derartiges Ereignis gegeben, hätten am nächsten Tag Hunderte Leser gemailt, ob »das tatsächlich das Wichtigste sei, was in Norwegen passiert sei«. Und hätte sie die gleiche Rückmeldung hier in der Stadt bekommen, dann hätte sie mit ja antworten können. Die spontane Hochzeit war tatsächlich das Aufsehenerregendste, das in der letzten Woche passiert war.
»Eine prima Sache für die Future-Abteilung«, hatte Eskildsen bei der Morgenkonferenz am Mittwoch erklärt. Agnes war sich nicht sicher, ob der Redakteur feature absichtlich falsch aussprach, aber sie vermutete es, schließlich handelte es sich bei ihm um einen schlauen und nicht zuletzt sehr erfahrenen Journalisten. Wahrscheinlich war das als kleiner Seitenhieb auf ihre Person gedacht, weil sie die sogenannte future-Abteilung alleine bestritt. Schon seit ihrem Einstellungsinterview, in dem sie ausführlich dargelegt hatte, dass eine Lokalzeitung guten »Lesestoff« brauche, mehr zeitlose Journalistik und weniger unkritische Berichte von Fußballspielen, Gemeinderatssitzungen und privaten Flohmärkten, sondern stattdessen mehr Nähe zu den Menschen, hatte er immer wieder seine Späße auf ihre Kosten gemacht. Schließlich hätten alle ja eine Geschichte, hatte sie insistiert, der Gemeindepfarrer genau wie die Romni, und sie wolle ja nicht angeben, aber gerade diese menschlichen Geschichten seien in der Wochenendausgabe von Verdens Gang und Rampelys ihre Spezialität gewesen. Sie habe Promis dazu gebracht, von ihrer schwierigen Kindheit oder der kräftezehrenden Scheidung zu erzählen, und nicht selten habe sie die Titelgeschichte am Wochenende alleine verantwortet.
Eskildsen hatte dazu nur gebrummt und sein Mantra wiederholt, »das Leben sei zu kurz, um Verdens Gang und Dagbladet zu lesen«. Aber er hatte ihr den Job gegeben, obwohl sich wahrscheinlich noch einige andere dafür beworben hatten. Fredrik und sie hatten die letzte Ausgabe der Zeitung oben auf die Umzugskartons gelegt, bevor sie westwärts fuhren, weg von Rationalisierungsprozessen und dem Anfang vom Ende der Papierzeitung und all dem anderen Mist, den sie ihm gar nicht erzählt hatte.
Noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, bereute sie schon ihren Entschluss. Auf halbem Weg über die Hardangervidda wechselte das Wetter. Sie ließen den blauen Himmel über Austlandet hinter sich und fuhren in ihr neues Leben in trübem Grau und Nebel. In den Landesteil, in dem die Einwohner von niederschlagsfreiem Wetter mit der gleichen Begeisterung sprachen, wie andere über Sonnentage redeten. Seitdem hatte sie mehr Artikel übers Wetter als über alles andere geschrieben.
Hier in Voss ging es der Lokalzeitung immer noch prächtig, auch wenn ihnen weniger Ressourcen zur Verfügung standen, die Mitarbeiter trotzdem genauso viel arbeiten mussten und Eskildsen bei jeder zweiten Konferenz forderte, dass sie im digitalen Bereich besser und in den sozialen Medien sichtbarer werden müssten.
Agnes zog ihr Handy heraus und schaute sich die aktuelle Seite von Bergens Tidende an. Gott sei Dank hatte sie eine überregionale Zeitung als treuen Helfer an ihrer Seite, da gab es viel, woraus man kurze Zitate verwenden oder Kurznachrichten erstellen konnte. Sie hatte eine ganze Zeitung fast allein zu füllen, der Netzauftritt musste aktualisiert werden, und am liebsten hätte sie das meiste von ihrem Schreibtisch in der Redaktion aus gemacht. Denn das Beste an dieser Lokalzeitung war, dass sie, wie die anderen Journalisten, immer noch die Tür hinter sich schließen und allein in ihrem Büro arbeiten konnte. Sie war wirklich froh, kein Großraumbüro ertragen zu müssen. Ein ungestörter Arbeitsplatz war ein Geschenk, das allein schon fast den Job wert war. Aber man konnte sich nicht verstecken und Patience legen. Denn die ganze Zeit passierte etwas, besonders jetzt im Frühsommer. Und das immer dann, wenn sie Wochenenddienst hatte. An einem einzigen Vormittag war sie bei der Jahresversammlung der Landfrauen gewesen, beim Konzert eines lokalen Hardanger-Fiedelspielers, bei einem Treffen der Liebhaber von american cars, und sie hatte die Mütter von Fußballtalenten beim Voss Cup interviewt. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass es hier genauso anstrengend war zu arbeiten wie bei der überregionalen Presse. Auch wenn die Lokalzeitung nur dreimal in der Woche erschien.
Vieles an diesen überschaubaren Verhältnissen hier amüsierte sie geradezu. Sie freute sich zum Beispiel, wenn sie den Polizeibericht übernehmen sollte. In erster Linie, weil sie schon im Voraus zu erraten versuchte, was der örtliche Polizeidienststellenleiter Sigmund Storedal über die Ereignisse in den Nächten am Wochenende zu berichten hatte. Meldungen wie: »Mann unter Alkoholeinfluss von der Polizei nach Hause gefahren«, oder »Mann unter Alkoholeinfluss musste in der Ausnüchterungszelle übernachten.«
Oder es gab die klassischen Nicht-Nachrichten, wenn absolut nichts passiert war: »Im Monat Februar wurde niemand mit Drogen angetroffen.« Oder »Dieses Wochenende saß niemand in der Ausnüchterungszelle.«
Viktor las ihr die Neuigkeiten immer gewissenhaft mit ernster Stimme am Telefon vor, aber ab und zu musste sie so lachen, dass er sich gezwungen sah zu unterbrechen. Sicher, das war kindisch von ihr, und das sagte er ihr auch ohne Umschweife. Aber es war doch auch irgendwie absurd, dass sie beide, die Tausende von Weinflaschen gemeinsam geleert und stets den Überblick über die Bettgenossen des anderen gehabt hatten, plötzlich so ein professionelles und formales Arbeitsverhältnis zueinander haben sollten.
Es war einfach absurd, dass ihr bester Freund Polizist geworden war.
Sie fragte sich, ob Viktor nicht vielleicht als Gärtner glücklicher gewesen wäre, denn das hatte er eigentlich werden wollen. Jetzt bewies er in Voss, dass er den absolut grünen Daumen und somit den schönsten Garten der Stadt hatte. Schon während der Studienzeit in Oslo waren sein ganzer Stolz die Yuccapalmen und die Bonsaibäume in der WGgewesen. Aber alles änderte sich in einer nassen Winternacht, als ihm auf dem Heimweg von einer Kneipentour der Kopf gegen einen eiskalten Laternenpfahl geschlagen wurde. Das war das einzige Mal, dass jemand, den sie kannte, blinder Gewalt ausgesetzt war. Sie hatte ihn in der Notaufnahme nicht gefragt, ob er eventuell den anderen gereizt hatte, obwohl er eine Neigung dazu hatte. Denn etwas an Viktor veränderte sich ab diesem Zeitpunkt, das bemerkte sie an seinem Blick in dieser Nacht. Und im folgenden Frühling begann er zu laufen. Er lief und lief, und zum ersten Mal in seinem Leben war er richtig durchtrainiert. Sie war überrascht, als er ihr ein paar Monate später erzählte, dass er sich bei der Polizeihochschule beworben habe. Und sie beide waren überrascht, als er genommen wurde. Viktor tauschte Schnaps und Zigaretten gegen Vitamindrinks und Proteinpulver, und plötzlich war er einer von den Guten, genauso wie ihn sich das alte Norwegen wünschte. Später gab es wieder Schnaps und Zigaretten, wenn sich die Gelegenheit bot, aber er schaffte das Studium erstaunlich problemlos, und plötzlich war er der angepasste Polizist, dein Freund und Helfer, mit fester Anstellung, Frau und Kind.
Die Schlange vor dem Eiskiosk war noch länger geworden. Also würde sich der Traum von einem Eis so bald nicht verwirklichen lassen. Agnes zog den Reißverschluss des Rucksacks auf. Der Duft dessen, was Fredrik als Neunziger-Jahre-Pizza bezeichnete, breitete sich sofort aus, obwohl die Stücke in einer verschlossenen Plastiktüte steckten. Sie holte die Tüte heraus, fasste einen schnellen Beschluss und riss den Zippverschluss auf. Vorsichtig nahm sie ein Stück heraus. Langsam führte sie es zum Mund und biss ein winziges Stück von der Spitze ab, klappte es zusammen, biss ein größeres Stück ab und stöhnte vor Wohlbehagen laut auf.
Nachdem sie sich auch noch über das Pizzastück Nummer zwei hergemacht hatte, konnte sie sich wieder etwas entspannter umschauen, um zu sehen, ob andere Presseleute gekommen waren. Der Einzige, der ihr ins Auge fiel, war ein bleicher, übergewichtiger Typ mit Notizblock in der Gesäßtasche und einer teuren digitalen Spiegelreflexkamera um den Hals. So typisch ein Journalist, dass er auch ohne Pressekarte in der Hutkrempe sofort als solcher zu erkennen war. Aber ihn interessierte momentan nur sein Eis in der Waffel, das er eifrig schleckte. Offenbar hatte er also genug Motivation gehabt, um sich am Kiosk anzustellen.
Sie holte ihr Handy heraus, scrollte sich schnell durch die Neuigkeiten bei Facebook und Instagram und spürte, dass sie sogar an einem so schönen Sommertag die hässliche Hauptstadt vermisste, von der sie doch gar nicht schnell genug hatte wegkommen können. Eine ehemalige Kollegin hatte das Bild eines Bratens im Ofen, ein kleiner Hinweis auf eine mögliche Schwangerschaft, mit mehreren zwinkernden Smileys darunter, gepostet. Schnell fügte sie ein Herz hinzu, schloss dann den Browser und schaute übers Wasser.
Der entsetzte Schrei eines Kindes war das Erste, was sie hörte.
Sie blickte nach oben und entdeckte etwas Rotes, Weißes und Schwarzes, das in voller Fahrt vom Himmel herunterschoss. Etwas, das kurz darauf mit gewaltiger Wucht auf der Grasfläche aufprallte, nur wenige Meter vom Publikum entfernt.
Im ersten Moment schien es, als würden alle Menschen, der ganze Ort wie auch die Zeit trotz des warmen Wetters zu Eis erstarren. Die Welt stand lange genug still, dass Agnes denken konnte: Was ist da passiert?
Dann explodierte das Prestegardslandet in einem Inferno aus Schreien, Chaos und Panik.
Das blonde Haar breitete sich wie ein Heiligenschein auf dem Gras aus.
Veslemøy Liland sah aus wie eine kaputte Trachtenpuppe, die jemand achtlos weggeworfen hatte.
Auf der nach oben gewandten Gesichtsseite hatte sie nicht einen einzigen Kratzer.
Es war fast kein Blut zu sehen.
Sie hätte tatsächlich schön und friedvoll aussehen können, wäre die Haut um beide Augen nicht blaurot und Teile des Schädels … deformiert gewesen. Sie musste mit der linken Seite auf den Boden aufgeschlagen sein. Die ganze Seite des Kopfes schien zusammengedrückt zu sein. Zwischen Nase und Hinterkopf war fast nichts mehr.
Die rechte Körperhälfte machte, von außen betrachtet, einen verhältnismäßig unbeschadeten Eindruck. Das linke Bein ragte jedoch in einem unnatürlichen Winkel unter dem Körper hervor.
Agnes wollte nicht hinsehen, konnte aber den Blick nicht abwenden.
Immer wieder musste sie schlucken.
Sie hatte ein Gefühl, als wollte die Pizza jeden Moment wieder hochkommen.
Das Chaos, das entstanden war, nachdem halb Voss mit angesehen hatte, wie ein Mensch vom Himmel fiel, hatte sich inzwischen gelegt. Die meisten waren nach Hause gegangen, Notfallseelsorger kümmerten sich vor Ort um sie, außerdem ein Krisenteam, das zu Agnes’ Überraschung schnell von der Gemeinde zusammengestellt worden war. Neugierige, die sich immer noch nicht hatten losreißen können, wurden durch die Absperrbänder der Polizei ferngehalten.
Jetzt war es totenstill auf dem Gelände des Prestegardslandet.
»Leider kann ich nicht behaupten, dass mich das besonders überrascht hat«, bemerkte der örtliche Polizeichef Sigmund Storedal mit trauriger, aber strenger Miene. »Es ist noch gar nicht lange her, da haben wir gleich da hinten einen Deutschen aus einer Birke herausgeangelt. Sein Leben hing nicht am seidenen Faden, sondern an einem brüchigen Birkenast. Off the record: Manchmal glaube ich, dass diese Leute ab und zu ein wenig übereifrig sind.«
Agnes sagte nichts.
»Es gibt da so einige … und ich sage damit nicht, dass die Liland dazugehörte …, aber es gibt da so einige, die mehr am Adrenalinkick interessiert sind als daran, mit heiler Haut runterzukommen. Off the record, wie gesagt. Zum Glück endet es nur selten so böse. Etwas wie das hier habe ich ehrlich gesagt noch nie gesehen. Das Letzte kannst du gern zitieren«, erklärte er, dann klingelte sein Handy, und mit verärgerter Stimme rief er: »Viktor, wo, zum Teufel, steckst du?«
Agnes starrte weiter auf die Verunglückte, bis Storedal das weiße Laken über Veslemøy Liland zog. Agnes ließ den Blick über das Park Hotel in der Ferne schweifen, über die Kirche und die weiterführende Schule hinter den grünen Bäumen, bis zum Schwimmbecken, in dem sie als Kind den größten Teil der Sommerferien herumgeplantscht hatte, dann weiter runter bis zum Campingplatz und wieder zurück. Zu dem Körper, der jetzt mit einem Tuch bedeckt war, aber immer noch eingewickelt in Fallschirmleinen und einer zerrissenen Tracht.
Die Abendsonne warf ein weißes, viel zu schönes Licht auf den Schauplatz. Wie abrupt ein Leben in nur einem einzigen Augenblick ausgelöscht werden konnte.
Agnes erinnerte sich, dass sie Veslemøy Liland schon einmal scheinbar leblos gesehen hatte. Damals trug sie eine hautenge Miss-Sixty-Hose und ein Top, das ihr gerade mal bis zum Bauchnabel reichte. Zu dieser Zeit trank Agnes noch keinen Alkohol, es war die Zeit, in der sie auf den Sturmfreie-Bude-Partys nur eine interessierte Beobachterin war. Stocknüchtern streifte sie in dem großen Nachbarhaus herum, und als sie ins Badezimmer ging, entdeckte sie Veslemoy in der Badewanne. Das blonde Haar breitete sich wie ein Fächer über dem Badewannenrand aus. Veslemøy lag vollkommen ruhig da, als nähme sie gerade ein Bad, nur lag sie nicht im Wasser und war angekleidet. Agnes bekam einen Riesenschreck. Wenn im Film jemand so scheinbar friedlich schlafend dalag, stellte sich bei näherer Betrachtung meistens heraus, dass er tot war. Und da Veslemøy nicht reagierte, als Agnes sie anstupste, tat sie etwas, das sie schon im Film gesehen hatte: Sie drehte die Dusche auf. Da erwachte der schmächtige Körper mit einem Schrei zum Leben und zitterte für einige Sekunden. Im nächsten Moment war Veslemøy quicklebendig. Während sie sich mit einem Handtuch abtrocknete, schaute sie Agnes im Spiegel an.
»Keiner kann mich aufhalten«, sagte sie.
»Nein?«, erwiderte Agnes fragend.
»Er weiß selbst nicht, was das Beste für ihn ist«, fuhr Veslemøy fort.
»Aha«, sagte Agnes nur und fühlte sich klein und dumm.
Dann verließ die Ältere, sie ging damals schon in die zweite Klasse des Gymnasiums, mit nassem, durchsichtigem, bauchfreiem Top das Badezimmer. Kurz darauf saß Veslemøy auf der Treppe, ein neues Bier in der Hand. Agnes dagegen ging nach Hause und kuschelte sich zu den Eltern in die Sofaecke.
Das war jetzt gut zwanzig Jahre her, und das war, soweit sie sich erinnern konnte, das einzige Mal, dass sie mit Veslemøy geredet hatte – bis heute Vormittag.
Aber heute gab es nichts, was Veslemøy Liland wieder zum Leben hätte erwecken können.
Agnes drehte sich um und lief zu ihrem Wagen, wollte ins Büro fahren, da sah sie Viktor über die Wiese herankommen, sein Uniformhemd nur halb zugeknöpft. Das war auch der Moment, als die Trachtenpuppe auf eine Bahre gelegt wurde.
Zwei Gläser Wein standen auf dem Wohnzimmertisch, eines halb leer und eines voll.
»Ich bin davon ausgegangen, dass du das jetzt brauchen kannst«, sagte Fredrik und nickte zu den Gläsern hin, bevor er auf sie zukam und sie in die Arme nahm.
Sie legte den Kopf an seine Schulter, registrierte den schwachen Krankenhausgeruch. Im Gegensatz zu den amerikanischen Fernsehserien trug er zwar seinen Kittel nicht mehr, wenn er nach Hause kam, aber der sterile Geruch setzte sich in Haut und Haaren fest.
»Danke«, sagte sie und befreite sich aus seinen Armen, ließ sich aufs Sofa fallen, rührte das Weinglas aber nicht an.
Ihre Hände zitterten immer noch. Auch die Übelkeit wollte nicht weichen.
»Hast du den Sturz gesehen?«, fragte er.
»Alle haben ihn gesehen. Kinder und sämtliche Zuschauer. Mehrere haben ihn mit ihren Handys gefilmt.«
»Oh, scheiße.«
»Apropos Handy, kannst du meines anrufen? Ich finde es nicht.«
Fredrik öffnete die »Finde-Iphone-App«, wie er es immer in Oslo gemacht hatte, immer wenn sie ihre Handys lokalisieren mussten, die beim Absacker oder in Taxis irgendwo in der Stadt vergessen worden waren. Das erschien ihr jetzt wie ein vollkommen anderes Leben.
»Sieht so aus, als ob das Telefon … hier ist.«
»Ich weiß, dass es hier ist. Deshalb habe ich dich ja auch gebeten, mich anzurufen.«
Endlich fand sie ihr Handy ganz unten in der Kameratasche.
»Übrigens hast du morgen einen Termin beim Zahnarzt«, sagte Fredrik, immer noch mit dem Blick auf dem Display, aber jetzt offensichtlich auf der Kalender-App.
»Das weiß ich, Papa.«
Sie zwinkerte ihm zu, und er erwiderte das mit einem schiefen Grinsen, was aber reichte, dass sich seine Grübchen zeigten. Für eine ganze Weile sagte keiner von beiden etwas. Agnes ließ ihren Blick auf den Leichtathletikwettbewerben ruhen, die er im Fernsehen anschaute, ohne sich wirklich dafür zu interessieren. Hochsprung – Weitsprung, Hochsprung – Weitsprung, das lief in einer Endlosschleife und erforderte keinerlei Gehirnaktivitäten, trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – ermüdete es sie nach einer Weile. Sie hätte ihn fragen sollen, wie sein Wochenenddienst gewesen war. Sie wusste, dass er das Rikshospitalet in Oslo vermisste, seine Kolleginnen und Kollegen, seinen Job dort, aber er erwähnte das nur selten. Und wenn er sich nicht beklagte, brachte sie heute nicht die Energie auf, es an seiner Stelle zu tun.
Immer wieder tauchte auf ihrer Netzhaut ein Bild von Veslemøy auf, von dem Glorienschein im Gras.
Verstohlen schaute sie zu Fredrik. Wie hätte er reagiert, wenn sie diejenige gewesen wäre, die ganz plötzlich gestorben wäre? Würde er in Voss bleiben oder so schnell wie möglich wieder nach Oslo zurückkehren, kaum dass ihre Leiche kalt war? Und was hätte sie getan, wenn er es gewesen wäre, der starb? Sie versuchte, sich selbst als trauernde Witwe zu sehen, versuchte, eine physische Reaktion auf das, was sie heute erlebt hatte, zu erzwingen. Schon ein paar Tränen hätten geholfen.
Doch es kamen keine. Aber sie musste merkwürdig ausgesehen haben, denn Fredrik drehte sich um und schaute sie fragend an. Sie erwiderte seinen Blick.
»Willst du drüber reden?«, erkundigte er sich, »ein kurzes Debriefing sollte ja wohl das Mindeste sein, wenn einer von uns einen Todesfall hat mitansehen müssen, oder?«
Sie gab keine Antwort, denn plötzlich spürte sie ein Knurren im Magen. Was aber ebenso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war, doch Agnes blieb mucksmäuschenstill sitzen und versuchte, in sich hineinzuhorchen. Fredrik erzählte sie davon nichts. Vielleicht hatte sie ja auch nur Hunger.
»Ein Debriefing?«, bemerkte sie nach einer Weile. »Ja, kann schon sein. Aber jetzt habe ich gerade den Artikel über den Unfall ins Netz gestellt. Im Augenblick möchte ich mich einfach nur ein bisschen entspannen.«
Sie schmiegte sich in seine Armbeuge, während die Erkennungsmelodie für die Vestlandsrevyen gespielt wurde und die Moderatorin mit dem überdeutlichen Hardanger-Akzent die erste Schlagzeile vorlas:
»Dramatischer Todesfall bei der Eröffnung der Extremsportwoche in Voss.«
Eine Reporterin aus Bergen war auch schon vor Ort. Sie hielt zwei Finger ans Ohr und sprach mit ernster Miene in die Kamera. Sie hatte sich für ihren Bericht eine Stelle mitten auf dem Prestegardslandet ausgesucht. Schon merkwürdig, das Wasser, das Gras und die Berge, die Agnes so gut kannte, als Kulisse für eine traurige Meldung zu sehen.
»Auf dieser Rasenfläche, direkt vor dem beliebten Vangsvatnet im Zentrum von Voss, ist heute gegen siebzehn Uhr eine Fallschirmspringerin abgestürzt, direkt vor den Augen von Hunderten schockierter Zuschauer«, sagte die Journalistin. »Die Polizei hat soeben mitgeteilt, dass es sich bei der Toten um die vierzig Jahre alte Mutter zweier Kinder, Veslemøy Liland aus Voss, handelt. Bis jetzt sieht es so aus, als ob sie bei einem tragischen Unfall starb. Bei uns ist nun der örtliche Polizeibeamte Viktor Vormedal. Können Sie uns mehr darüber erzählen, was hier passiert ist?«
Im Gegensatz zu der gut frisierten, sorgfältig geschminkten Fernsehjournalistin sah Viktor vollkommen zerzaust aus und schien sich neben ihr äußerst unwohl zu fühlen. Agnes konnte sehen, wie ihr Jugendfreund in seiner Uniform fast verschwand. Und sie verstand nicht, wieso ausgerechnet er den Auftrag bekommen hatte, mit der Presse zu sprechen. Normalerweise ließ Storedal keine Gelegenheit aus, wenn es darum ging, im Rampenlicht zu stehen.
»Wir können bis jetzt leider noch keine genaueren Informationen über die Todesursache geben … aufgrund des Stands der Ermittlungen, meine ich«, stotterte Viktor und hielt den Blick der Journalistin in einer eher manischen als professionellen Art fest. »Ach ja, und die Polizei wünscht sich natürlich Hinweise von allen, die etwas Näheres über die Sache wissen. Und … ja … das war es eigentlich.«
Er nickte, als wollte er sich bedanken. Agnes tat er von Herzen leid. Man konnte ja viel über Viktor behaupten, aber ein Narzisst war er nicht. Ganz im Gegensatz zu dem großen, muskulösen, glatzköpfigen Kerl, zu dem der Kameramann jetzt schwenkte.
»Bei uns ist außerdem der Leiter des Sportfestivals, Birger Flakne«, erklärte die Reporterin. »Herr Flakne, wie schlägt sich die Nachricht vom Todesfall heute Abend auf die Stimmung hier im Ort?«
Flakne, der ein T-Shirt mit dem Slogan
Voss – Erleben Sie Großes
trug, reckte sich und machte tatsächlich eine kleine Kunstpause, bevor er antwortete: »Mit großer Trauer haben wir die Nachricht vernommen, dass Veslemøy Liland tot ist. Sie war ein wichtiges Mitglied unseres Vereins, und unsere Gedanken sind heute Abend bei ihrer Familie. Der Zusammenhalt im Verein wie auch in der Stadt ist glücklicherweise sehr stark, in dieser schwierigen Zeit stehen wir alle eng beieinander.«
Der Festivalleiter präsentierte sich als sicherer und ruhiger Kopf, der sowohl die Organisation als auch seine eigenen Gefühle unter Kontrolle hatte. Aber die Fernsehzuschauer kamen nicht umhin, das große Veilchen zu bemerken, das um sein linkes Auge prangte. Das und die Tatsache, dass sein Gesichtsausdruck sich abrupt änderte, nachdem er gesagt hatte, was er offensichtlich zu sagen geplant hatte. Agnes meinte, Angst und Schock aus seinem Blick lesen zu können – oder war das Scham?
Wir wissen, dass die Verstorbene sich gewünscht hätte, dass das Festival weiter wie geplant durchgeführt wird, stand in der Pressemitteilung. Die Mail war unterschrieben vom Leiter des Festivals, und Agnes wunderte sich wieder einmal, wie jemand etwas Derartiges im Namen der Verstorbenen behaupten konnte. Wie konnte Birger Flakne wissen, dass Veslemøy Liland sich gewünscht hätte, dass alles weiter seinen Lauf nahm? Das war so ähnlich wie diese trauernden Witwer, die sich dafür rechtfertigten, dass sie schnellstens wieder eine neue Frau suchten: Sie hätte gewünscht, dass ich rasch eine neue Liebe finde. Blödes Gerede. Fredrik sollte es nur nicht wagen, sich einer anderen Frau zu nähern, bevor nicht mindestens ein Jahr vergangen war. Da war zuerst Rotz-und-Wasser-Heulen angesagt und nicht das Sonntagshemd und geradewegs auf Tinder.
Flakne hatte zumindest so viel Pietät gezeigt, den Fallschirmsprungpart im Programm abzusagen – eventuell war ihm das auch befohlen worden –, bis die Polizei Lilands Fallschirm untersucht hatte. Das konnte sie sehen, als sie einen schnellen Blick auf den Rest der Pressemitteilung warf. Sie schnappte sich Block, Stift und einen Becher, auf dem OSLove stand, und ging ins Büro des Chefredakteurs. Eskildsen hatte die Augenbrauen gehoben, als sie das erste Mal mit dem Becher ankam, aber inzwischen trank sie konsequent nur daraus, um ihn ein bisschen zu ärgern.
Die anderen Kollegen saßen bereits um seinen großen Tisch herum, der in dem kleinen Büro als Konferenztisch diente. Eskildsens Zimmer war keinen Quadratzentimeter größer als ihr eigenes. Ihr gefiel diese flache Hierarchie, aber es missfiel ihr, so eng Schulter an Schulter mit den Kollegen zu sitzen. Das fühlte sich eher wie ein Liederabend am Lagerfeuer an als eine pulsierende Zeitungsredaktion. Schnell nahm sie sich einen frisch gebrühten Kaffee aus der Pumpkanne. Auf den hatte sie sich schon gefreut. Sie hätte jetzt mindestens zehn Becher davon trinken können, denn sie hatte letzte Nacht am Küchentisch noch alle Artikel vom Wochenende verfasst.
Erstaunlicherweise war das Treffen des Gemeinderats der erste Punkt auf der Liste des Chefredakteurs. Nachdem der Pensionär, wie Agnes den Ältesten in der Redaktion ein wenig provozierend nannte, seinem Chef versichert hatte, dass er die volle Kontrolle über deren Tagesordnung hatte – wie es der Pensionär immer hatte –, wandte Eskildsen sich Agnes zu.
»Tveit, du bist mit den Organisatoren des Festivals im Gespräch«, sagte er, »ich möchte gern einen Nachruf auf Liland, jetzt, nachdem ihr Name öffentlich bekannt gegeben wurde. Kriegst du ein Interview mit den Mädels hin, die zusammen mit ihr gesprungen sind? Möglichst noch im Laufe des Tages?«
»Ich denke, das müsste klappen. Die wollen doch bestimmt noch etwas Nettes über ihre Freundin sagen.«
»Vielleicht sollten wir ein Kondolenzbuch ins Internet stellen und das mit Facebook verlinken?«, schlug die Sommerpraktikantin vor.
Sie war jetzt die zweite Woche hier, und Agnes hatte mit Frida Grådal noch nicht gesprochen, aber sie stellte fest, dass dieses kurzhaarige kleine Mäuschen mit den merkwürdig weiten Kleidern nicht dem bescheidenen Typus angehörte.
»Ja, ausgezeichnet«, sagte Eskildsen, und Agnes erwischte sich selbst dabei, wie sie die Neue heimlich wütend anstarrte.
Sie hatte erwartet, im Triumph nach Voss zurückzukehren. Oder, wenn nicht im Triumph, dann zumindest als jemand, zu dem die Dorfbewohner aufschauten. Eine, vor der sie Respekt hatten, was ihre fachliche Kompetenz anging. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, ob nicht vielleicht die Abonnenten bemerkten, dass sie zurück war, und dass die Leute von Vangen darüber redeten: »Hat sich das Niveau der Zeitung nicht deutlich gesteigert in letzter Zeit?« – »Oh ja, dieses Tveit-Mädchen kann wirklich mit Worten umgehen.« Vielleicht gebrauchte jemand auch Begriffe wie »Wortkünstlerin« oder »goldene Feder«. Während der Jahre in Oslo bei VG hatte sie immer wieder insgeheim darauf gehofft, dass in der Lokalzeitung ihrer Geburtsstadt endlich einmal ein Porträt von ihr erschien, in dem sie den Leuten zu Hause von ihren spannenden Erfahrungen als Journalistin in der Hauptstadt berichten konnte. Und jedes Mal, wenn sie daheim zu Besuch war, wurde sie enttäuscht. Sie konnte selbst nicht sagen, warum der Blick aus dem Westen für sie so wichtig war.
Das Gefühl, nicht gebührend gesehen zu werden, gab es immer noch. Nur wenig hatte sich geändert, seit sie nach Hause zurückgekommen war. Ganz im Gegenteil, manchmal hatte sie das Gefühl, nie weggezogen zu sein, als wäre sie wieder achtzehn Jahre alt. Nach jetzt einem Jahr im neuen Job hatte sie nicht ein einziges Mal eine lobende Rückmeldung für ihre Artikel erhalten, weder per E-Mail noch mündlich. Die Einzigen, von denen sie ein Feedback bekam, waren ihre Eltern und der nörgelnde Alte, der immer anrief, um Kommafehler zu bemängeln.
»Gute Initiative, Grådal«, sagte Eskildsen noch, bevor er die Konferenz beendete. »Wir brauchen einen digitalen Spürhund in der Future-Abteilung.«
Die Tür wurde von etwas geöffnet, das aussah wie ein außerirdisches wunderschönes Lebewesen.
Joni Roberta Farestveit erinnerte an die ungeschminkten, bildhübschen Hippiefrauen aus den Siebzigern, heute sah sie aber so aus, als wäre sie eben erst auf der Erde gelandet. Die roten Locken tanzten um ein bleiches Gesicht, und die großen grünen Augen blickten gläsern und leer. Der Blick huschte ziellos zu Agnes, dann wieder zur Seite. Joni war nie Model geworden, worauf Agnes gewettet hätte, als sie noch in die Oberstufe gingen. Ihre langen Beine, das markante Gesicht mit den hohen Wangenknochen, ihr Name, der schon immer einen Hauch von großer weiter Welt versprach. Man konnte sich Joni problemlos auf dem Cover der Vogue vorstellen. Aber für so etwas war sie zu smart. Jetzt war sie garantiert die Schönste im Mitarbeiterstab der Universität.
»Mein Beileid«, sagte Agnes nur. »Wie geht es euch?«
»Beschissen«, antwortete Joni.
Agnes zuckte zusammen, so hatte sie sie noch nie reden hören. Joni musste die Reaktion bemerkt haben, denn sie schüttelte den Kopf, als wollte sie das zurücknehmen, was sie gerade gesagt hatte.
»Sorry«, sagte sie. »Komm rein.«
Die große gelbe Villa im Schwedenstil lag in dem Wohngebiet direkt oberhalb des Wasserfalls, desPalmafossen, und kam Agnes erstaunlich vertraut vor. Sie erkannte die dunkelblauen Fensterrahmen und Türen wieder, sie erinnerte sich, dass für sie das Haus schon immer etwas Schwedisches gehabt hatte. War sie früher schon mal hier gewesen? Zumindest war sie früher öfter daran vorbeigeradelt, denn ihre Tante wohnte ein Stück weiter in der gleichen Straße. Und vielleicht hatte sie das Haus auch in einer Immobilienannonce gesehen? Kathrine Bøe, die in diesem Haus lebte, war ja erst vor kurzem nach Voss zurückgezogen, da war es nicht ausgeschlossen, dass sie es gerade erst gekauft hatte. Es lag nur einen Steinwurf vom Vereinshaus des Fallschirmclubs entfernt. Von einem so schönen Haus konnten Agnes und Fredrik nur träumen.
Agnes hatte Gro angerufen, um einen Termin auszumachen. Deren Stimme am Telefon klang belegt, aber so verhalten freundlich wie immer. Und obwohl Viktors Ehefrau fast so etwas wie eine Schwägerin war, waren sie nie wirklich warm miteinander geworden. Gro hatte Agnes erzählt, dass die drei Freundinnen »zu Hause bei Katten am Palmafossen saßen, aber keine von ihnen momentan besonders große Lust zum Reden hätte«. Agnes hatte versprochen, dass es schnell gehen würde, und erst hinterher war ihr der Gedanke gekommen, dass Gro vielleicht höflich versucht hatte, das Gespräch abzulehnen.
Agnes hatte ihren Wagen auf der Straße abgestellt, denn auf der mit Kies belegten Einfahrt standen bereits zwei Autos, ein kleines Elektroauto und ein protziger Tesla. Der Weg zum Haus führte an einem Briefkastenstativ vorbei. Auf zwei Kästen stand Bøe – K. Bøe und M. Bøe. Es gab auch zwei Klingeln neben der Haustür, mit den gleichen Initialen. Agnes hatte bei K geklingelt, und jetzt ließ Joni sie herein und führte sie eine Treppe höher in den ersten Stock. Offensichtlich gab es zwei Wohnungen im Haus, und Kathrine bewohnte es mit einem älteren Verwandten. Vielleicht war es sogar ihr Elternhaus? Jedenfalls lebten keine Kinder hier, alle Schuhe auf dem Flur waren für erwachsene Füße gedacht, und die wenigen Familienfotos, die an der Wand hingen, stammten aus den siebziger und achtziger Jahren.
Als sie die oberste Stufe der knarrenden alten Treppe erreicht hatten, entdeckte Agnes die zwei anderen Frauen auf dem Sofa. Agnes fiel auf, dass sie, obwohl sie soeben eine aus ihrem Kreis verloren hatten, ziemlich bunt gekleidet waren. Kathrine trug ein schockrosa Top, das einen riesigen tätowierten Tiger auf dem linken Oberarm freigab. Gro in ihrem himmelblauen Homedress sah aus, als sei sie bereit für einen gemütlichen Abend zu Hause. Und Jonis T-Shirt war fast genauso rot wie ihr Haar. Aber das fröhliche Farbspektrum passte in keiner Weise zur Stimmung. Schwermut erfüllte den Raum zwischen den grau gestrichenen, holzgetäfelten Wänden, die bis auf einen Fernseher nur mit wenigen Bildern und vier großen Buchstaben dekoriert waren, die das Wort »HOME« bildeten. Agnes war von der Unordnung in diesem Wohnzimmer überrascht. Eine ganze Wand entlang standen Pappkartons übereinandergestapelt, als wäre Kathrine gerade erst eingezogen und hätte es noch nicht geschafft auszupacken. Auf dem Wohnzimmertisch lagen – zwischen Gläsern, Tassen und Tellern mit Brotkrümeln – Nadeln und Fäden, und in der Mitte thronte eine Nähmaschine. Unter dem Fenster entdeckte Agnes Glasscherben auf dem Boden, zusammen mit Resten von Blumenerde. Eine Schaufel lehnte an der Wand.
Aber irgendwie roch es hier angebrannt?
Und plötzlich fiel ihr wieder ein, wann sie das Haus schon einmal gesehen hatte.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte Kathrine, und Agnes brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie heißes Wasser mit ein wenig Geschmack hasste, und das erst recht an heißen Sommertagen.
»Ja, gern.«
Denn das hier war definitiv eine Tee-Situation.
Veslemøy war Mutter von Zwillingen gewesen, zwei Jungs, wie Gro berichtete. Knapp anderthalb Jahre alt. Kathrine und Joni saßen schweigend da und schauten auf ihre Hände, während Gro erzählte, dass sie mit Kaiserschnitt geboren worden waren und weniger als tausend Gramm gewogen hatten, als sie zur Welt kamen. Es hatte Komplikationen gegeben, sie mussten mehrere Wochen vor dem Termin geholt werden und monatelang im Krankenhaus bleiben. Joni, die mit Mann und zwei Stiefkindern in Oslo lebte, war damals nach Voss gekommen und fast die ganze schwierige Zeit über geblieben. Sie und Gro hatten mit dem Pflegepersonal in der Neugeborenenabteilung gesprochen und einen Plan für Tages- und Nachtwachen aufgestellt. Veslemøy war mit der Situation vollkommen überfordert gewesen, und »Steven war auch keine große Hilfe gewesen«, wie Gro in einem Ton erklärte, der den Eindruck erweckte, dass sie nicht besonders angetan von ihm war. Aber inzwischen waren die beiden Zwillinge wohlauf und fröhliche kleine Wesen, die gut zurechtkamen. Zumindest physisch, wie sie betonte.
Gro sprach, zwischen den beiden anderen Frauen sitzend, jeder mütterlich eine Hand auf die Schulter gelegt. Agnes dachte, dass hier ihre eigene Erfahrung, Interviews mit Leuten in persönlicher Krisenlage zu führen, von Vorteil war. Schon merkwürdig, wenn man daran dachte, wie gut die Stimmung noch vor nur einem Tag gewesen war. So entspannt, so optimistisch und erwartungsvoll. Agnes hatte sich auf den einzigen freien Stuhl im Wohnzimmer gesetzt, hinten am Kamin, gegenüber dem Sofa. Mit einem gewissen Abstand betrachtete sie die Übriggebliebenen dieser merkwürdigen Freundinnengruppe, so wie sie diese, damals immer zu viert, schon so oft beobachtet hatte.
Als Kathrine einmal in der großen Pause auf ein Mädchen eindrosch, stand Agnes in sicherer Entfernung. Das war mit das Absurdeste, das Dramatischste, was im Laufe der drei Jahre, die sie auf diese Schule ging, passiert war. Sie wusste zu dem Zeitpunkt nicht, wer mit der Schlägerei angefangen hatte, aber hinterher behaupteten einige, das Mädchen aus der Parallelklasse hätte über eines der Mädchen aus der Fallschirmtruppe gelästert. Agnes würde nie den Anblick des Mädchens vergessen, das mit blutender Nase vor der Sporthalle lag, nachdem die Freundinnen Kathrine von ihr weggerissen hatten. Agnes konnte nicht hören, was Joni, Veslemøy und Gro zu ihr sagten, aber sie sah immer noch die vier vor sich, wie sie dicht nebeneinander zurück ins Gebäude gingen. So ist das, wenn man Teil einer festen Clique ist, dachte sie damals. Als frische Erstklässlerin war sie gleichzeitig beeindruckt und erschrocken.
Und jetzt arbeitete Kathrine, »Katten« Bøe, die Katze also, als Ärztin im Krankenhaus von Voss. Es war merkwürdig, sich das vorzustellen. Kathrine hatte heute noch etwas Strenges an sich. Die Augen schmal, als wären sie stets halb geschlossen, oder aber lauernd wie bei einer Katze. Vielleicht hatte sie deshalb ihren Spitznamen bekommen. Oder war der Grund dafür die Tigertätowierung? Der strenge Eindruck wurde auf jeden Fall von der gewölbten Snuslippe und dem kurzen, blonden Pony verstärkt. Heute verrieten Spuren in ihrem Gesicht, dass sie offensichtlich stundenlang verzweifelt geweint hatte, während die Augen aber gleichzeitig etwas anderes signalisierten, etwas, das man auch als Angst oder Wut deuten konnte.
Gro sah so irritierend gepflegt und in sich ruhend aus wie immer. Sicher war sie auch von der Situation geprägt, auf jeden Fall, aber sogar an einem Tag wie diesem lag nicht eine einzige braune Haarsträhne um das herzförmige Gesicht da, wo sie nicht hingehörte. Der Seitenscheitel saß perfekt. Agnes hatte sich oft gefragt, ob Gro schon immer kurzes Haar gehabt hatte, vielleicht, weil sie die Größte in der Gruppe war. Oder war es zu dünn, um es lang zu tragen? Agnes hatte sie stets an eine junge Gro Harlem Brundtland erinnert, sicher durch den Scheitel und dazu noch der Name. Aber auch, weil sie so entschlossen und selbstsicher wie die frühere Ministerpräsidentin wirkte. Auch die Stimme passte zu ihrem Aussehen, etwas dunkler und etwas rauer als der Durchschnitt. Gro hatte einen Leberfleck rechts vom Mundwinkel auf der Wange. Der Schönheitsfleck und die Whiskystimme, das waren die Dinge, die Viktor als Erstes hatten schwach werden lassen, wie er gern erzählte.
Er und Gro waren damals ein paar Jahre ein Liebespaar gewesen, und nachdem beider Eltern kurz nacheinander starben, waren sie wieder zusammengekommen. Agnes war ein wenig überrascht, dass Viktor tatsächlich zurück nach Voss und zu Gro zog. Er erzählte ihr, sie hätten einander in der Trauerzeit wiedergefunden, was sie für eine merkwürdige Begründung hielt, da Viktor doch genau genommen damals gar nicht gewusst hatte, ob sein Vater wirklich tot war. Denn tatsächlich war der alte Vormedal zur allgemeinen Überraschung nach Jahren wieder aufgetaucht, weshalb Viktor vielleicht seine Bemerkung von damals bereute.