12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Der zweite Fall für Journalistin Agnes Tveit in Norwegens malerischen Vestlanden Die Woche vor Ostern steht ganz im Zeichen des renommierten Jazz-Festivals, das alljährlich in Voss stattfindet. In diesem Jahr wird es eröffnet von der Königin des Saxophons: Marta Tverberg. Sie spielt zwei Stunden ohne Pause. Hält eine flammende Rede gegen den Sexismus im Musikbetrieb. Nimmt ihr Instrument für ein letztes Solo. Und bricht tot auf der Bühne zusammen. Agnes Tveit sitzt im Publikum. Sie schreibt an einer Biographie über die weltberühmte Musikerin aus Voss. Als Agnes die Tagebücher der Diva zugespielt werden, erhärtet sich ein Verdacht: Wurde Marta auf der Bühne vergiftet? In ihren Aufzeichnungen finden sich gleich mehrere Verdächtige. Doch wer war Marta Tverberg wirklich? Agnes ermittelt undercover und schwebt plötzlich selbst in Lebensgefahr. Denn Voss ist klein und jeder kennt hier jeden … Ein neuer Fall für die Journalistin Agnes Tveit führt die Leser:innen in die beeindruckende Natur rund um Voss in den Vestlanden Norwegens, wo seit 50 Jahren das berühmte Vossa-Jazz-Festival stattfindet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2023
Randi Fuglehaug
Ein Agnes-Tveit-Krimi
Kriminalroman
Der zweite Fall für Agnes Tveit und ein Drama auf offener Bühne
Die Woche vor Ostern steht ganz im Zeichen des renommierten Jazz-Festivals, das alljährlich in Voss stattfindet. In diesem Jahr wird es eröffnet von der Königin des Saxophons: Marta Tverberg. Sie spielt zwei Stunden ohne Pause. Hält eine flammende Rede gegen den Sexismus im Musikbetrieb. Nimmt ihr Instrument für ein letztes Solo. Und bricht tot auf der Bühne zusammen. Agnes Tveit sitzt im Publikum. Sie schreibt an einer Biographie über die weltberühmte Musikerin aus Voss. Als ihr die Tagebücher der Musikerin zugespielt werden, kommen Agnes Zweifel über die Todesumstände. Gleich mehrere Verdächtige tauchen dort auf. Doch wer kannte Marta Tverberg wirklich? Agnes recherchiert, stellt unbequeme Fragen. Und schwebt plötzlich selbst in Lebensgefahr. Denn Voss ist klein, und jeder kennt hier jeden …
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Randi Fuglehaug ist eine norwegische Autorin und Free-Lance-Journalistin. Sie wuchs in Voss auf und kennt die Gegend, über die sie schreibt, sehr genau. »Todesschlag« ist der zweite Kriminalroman in der Agnes-Tveit-Reihe. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Oslo.
Hanne Hammer ist in der Nähe von Bonn aufgewachsen. Nach einer Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und längeren Aufenthalten in Norwegen und Dänemark hat sie sich 1997 als Übersetzerin norwegischer, dänischer und englischsprachiger Autorinnen und Autoren selbstständig gemacht. Sie lebt heute in Köln.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Motto
Palmsamstag
Palmsonntag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Gründonnerstag
Karfreitag
Karsamstag
Ostersonntag
Ostermontag
Elf Monate früher
Personenregister
Die Musik wählt sich ihre Musiker.
Patricia Barber
Diese verdammten Idioten, allein schon, wie sie da saßen. Die Frauen mit rotem Lippenstift, die Männer in schwarzen Mänteln. Die aufgesetzten ernsten Gesichter, die leeren Blicke. Die Hände, die rhythmisch klatschten. Die Pseudo-Insider, die sich mit geschlossenen Augen auf ihren Plätzen leicht vor- und zurückwiegten, als wollten sie zeigen, dass sie – im Gegensatz zum Rest des Publikums – in die Musik eintauchten.
In Augenblicken wie diesem, wenn das grelle, auf die Bühne gerichtete Licht kurz ausging und sie selbst mehr von dem Saal sah, ließ Marta Tverberg den Blick gern über die Menschen unten in den vorderen Reihen schweifen. Vielleicht wurde sie langsam alt und gebrechlich, doch ihre Augen funktionierten noch einwandfrei.
Sie sah alles.
Sie sah den Bürgermeister in einem Anzug, der eigentlich hätte gebügelt sein sollen, und einem Hemd, das über dem Bauch spannte, wie er sich nach Hause in seine Sofaecke und nach einer Schale mit Süßigkeiten sehnte, die sicherlich das ganze Wochenende bereitstand und ständig von seiner Frau neu aufgefüllt wurde.
Sie sah den stolzen, aber nervösen Blick des Festivalleiters unter den braunen Locken, wie er ihren Blick suchte und aufmunternd lächelte wie ein gehorsamer Hundewelpe.
Sie sah all die Freaks, die vor dem Konzert zu viel Rotwein getrunken hatten und schliefen.
Marta wartete, bis der Applaus verstummt war, bevor sie die Lippen noch einmal an das Mundstück des Tenorsaxophons legte. Das Licht funkelte auf dem Messing und ließ das Horn glänzen. Hinter ihr rasselten die Trommeln, sie hörte, wie der Bass einsetzte, bevor die sanften Töne, die sie geschrieben hatte, aus dem großen Flügel strömten. Wenn sie genauso reibungslos zum Ende kamen, hatte sie nicht den geringsten Zweifel, dass diese Auftragskomposition als eine der hervorragendsten und am besten ausgeführten in die Geschichte von Vossa Jazz eingehen würde. Das Stück war wahrhaftig das beste, das sie während ihrer ganzen Karriere komponiert hatte.
Und zwar in gerade mal sieben Monaten.
Allein das war historisch.
Gewöhnlich brauchten Musiker mindestens ein Jahr für diesen prestigeträchtigen Auftrag, das wusste sie, manche sogar zwei. In Rekordzeit hatte sie Jazzmusik der Weltklasse geschaffen. Von diesem klassischen, grandiosen Instrumentalstück erwartete sie sich die ganz große Anerkennung.
Der Chor der Unzufriedenen würde seine Worte zurücknehmen müssen.
Selbstverständlich hatte sich niemand dazu geäußert. Sie hatten nicht den Mumm, ihr auch nur ein Wort ins Gesicht zu sagen. Aber sie hatte das Gerede natürlich mitbekommen. Die Diskussionen. Wie sie über sie hergezogen waren. Zuletzt gestern bei der Probe, als sie die letzten kosmetischen Änderungen an dem Plan für die Aufführung vorgenommen hatten. Sie war auf der Toilette gewesen, als sie draußen Stimmen gehört hatte.
»Jetzt bleibt nur noch abzuwarten, ob ihre Lungen das mitmachen«, hatte ein Mann gemurmelt.
»Ich finde es viel interessanter, ob ihr Gesicht das mitmacht«, hatte der andere gesagt. »Ihre Botox-Fratze dürfte im Scheinwerferlicht doch ständig Gefahr laufen, aufzuplatzen.«
Der Erste hatte gekichert und noch hinzugefügt: »Ich habe gehört, dass sie im Nacken Gaffatape benutzt, damit ihr Hals auf den Bildern straffer aussieht.«
Sie war wütend hinausgestürmt, sobald sie drinnen fertig gewesen war, doch da waren sie bereits verschwunden. Waren das die Typen von Voss Lyd? Während der intensiven Probetage hatten nicht so viele Zugang zum Olavsaal, eigentlich nur die Tontechniker, die Musiker, der Produzent und ein paar ausgewählte Journalisten. Sie fragte sich immer noch, wer das gewesen war, der so etwas über sie gesagt hatte, denn die Kommentare nagten noch an ihr. Am ärgerlichsten war, dass sie jetzt wieder auftauchten, wo sie sich auf ihr Spiel konzentrieren sollte. Zum Glück war ihr diese Musik so vertraut, dass sie wie auf Autopilot spielen konnte, oder als spielte ein anderer für sie. Plötzlich sorgte sie sich, dass einer der Journalisten genau das in seiner Besprechung schreiben könnte, nämlich dass sie nicht im Augenblick anwesend war.
Sie versuchte, sich wieder zu fokussieren, doch alles fühlte sich plötzlich falsch an.
Was war es schlussendlich wert, hier zu stehen und sich in dem sogenannten Glanz zu sonnen? Müsste das, worauf sie so lange gewartet hatte, sich nicht bedeutender und wichtiger anfühlen? Sie, deren Tourneen sie rund um die Welt geführt hatten, die vor Präsidenten und Königshäusern gespielt und Konzerte in der Royal Albert Hall und in der Oper in Sydney gegeben, aber noch nie die Auftragskomposition für Vossa Jazz komponiert und aufgeführt hatte. Warum war sie von diesem Auftrag in ihrer kleinen Heimatstadt regelrecht besessen gewesen?
Vielleicht, weil es so lächerlich lange gedauert hatte, bis man sie gefragt hatte. Vielleicht, weil ein Mann ihr all die Jahre Knüppel zwischen die Beine geworfen hatte.
Sie hatte trotzdem auf seiner Beerdigung gespielt. Es hätte seltsam ausgesehen, hätte sie das nicht getan. Und in der vollen Kirche war es trotz allem schön gewesen, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatte sogar eine weiße Rose auf seinen Sarg gelegt, als sie zu Ende gespielt hatte.
Kurz darauf war der Anruf gekommen, auf den sie seit den Achtzigern gewartet hatte.
Aber jetzt, wo sie hier stand und endlich die volle Kontrolle hatte, schien das alles nichts mehr zu bedeuten.
Doch.
Es bedeutete etwas.
Sie fühlte sich mächtig und sinnlich in dem Rauch, der sie und die anderen Musiker umhüllte. Der Blick des Ortes ruhte auf ihr. Vielleicht sahen die Männer keinen Grund mehr, sich zu ihr hingezogen zu fühlen, vielleicht betrachteten noch mehr sie als Botox-Fratze, doch wenn sie keinen Respekt vor dem hatten, was sie machte, davor, wer sie war, dann machte sie das wütend.
Sie war Marta Tverberg, die Jazzdiva.
Und jetzt würde sie ein ernstes Wort mit diesen Idioten reden.
Während der Applaus wie eine Welle durch den Raum schwappte, legte sie das Instrument zur Seite. Trat direkt vor das Mikrophon.
Das Herz schlug hart in ihrer Brust.
Sie fühlte sich sehr viel wohler, wenn sie spielte, als wenn sie redete.
»Liebes Festivalpublikum. Lieber Bürgermeister. Liebe Vosser«, sagte sie, bevor ihr Blick über die Versammlung schweifte, die sofort aufmerksam und erwartungsvoll zu ihr aufsah.
»Was für verdammte Idioten ihr doch seid.«
Agnes Tveit liebte Vossa Jazz.
Wäre da nur nicht die Musik gewesen.
Irgendetwas war mit dem Jazz, das sie nicht zu fassen bekam. Selbstverständlich verstand sie, dass die Leute sich alte Legenden wie Billie Holiday und Louis Armstrong anhörten, aber moderner Jazz oder – o Schreck, o Graus – Freejazz. Das waren entweder endlose und richtungslose Instrumentalsoli, bei denen sie Schwierigkeiten hatte, nicht einzuschlafen, oder ein hektisches, abgehacktes und disharmonisches Musikinferno.
So wie jetzt.
Der Klang des Saxophons versuchte seit über einer halben Stunde, sie in den Schlaf zu lullen. Sie unterdrückte ein weiteres Gähnen, indem sie sich zu ihrer Tasche hinunterbeugte und diskret einen Blick auf ihr Handy warf, um zu sehen, wie viel Zeit vergangen war. Die Auftragskomposition sollte nicht länger als eine gute Stunde dauern, doch ihr kam es vor, als säße sie bereits drei Stunden hier. Vielleicht, weil sie auch bei den Proben dabei gewesen war. Genau genommen hatte sie sich diese gottserbärmlich langweilige Musik die letzten drei Tage fast ununterbrochen angehört, doch im Gegensatz zu anderer Musik, die sie so oft hörte, blieb ihr diese nicht im Kopf. Gott sei Dank.
Marta Tverberg hatte nie besser ausgesehen, das musste man ihr lassen. In ihrem bodenlangen königsblauen Kleid mit dem glitzernden Muster und der kleinen Schleppe sah sie genau wie der Star aus, der sie war. Leider genügte ihr Anblick Agnes nicht, die Augen offen zu halten.
Das Einzige, was half, war der Gedanke an Essen. Sie versuchte, das Kebab zu visualisieren, das sie sich einverleiben würde, sobald sie wieder draußen war. Sie musste nur die Treppe hochgehen, aus der Tür schlüpfen und die Straße überqueren, dann warteten saftiges Fleisch, weiches Brot und eine scharfe Sauce auf sie. Sie meinte, den Duft der Gewürze bereits riechen zu können. Nach dem feuchtfröhlichen gestrigen Tag verlangte ihr Körper verzweifelt nach Fett und Kohlehydraten.
Der gestrige Abend war bis auf eine Ausnahme – das Zusammentreffen mit Tor Erik Åkervold – grandios gewesen. Plötzlich hatte er vor ihr gestanden, der aufgeblasene VG-Journalist, den sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie im vergangenen Sommer beschämt sein Hotelzimmer verlassen hatte.
»Was, zur Hölle, tust du hier?« Es war ihr so herausgerutscht, obwohl er ihr vor einigen Wochen eine kryptische SMS geschickt hatte, dass er sich auf das Festivalleben im Vestland freue.
Åkervold grinste und hielt zwei Halblitergläser hoch.
»Ich trinke Bier!«, rief er in seinem nasalen südnorwegischen Dialekt, um den Lärm im Raum zu übertönen. »Und ich höre Jazz. Du hast vielleicht nicht gewusst, dass ich ein begnadeter Gitarrist bin? Oder hast du das an der Art erkannt, wie ich … letztes Mal deine Saiten gespielt habe?«
Der Mann mit dem glatten Äußeren, das Agnes immer an eine Ken-Puppe erinnerte, zwinkerte ihr zu. Sie blickte mit steinerner Miene zurück. Wenn Åkervold gewusst hätte, was alles seit der fatalen Nacht passiert war … Und was war das jetzt, stalkte der Typ sie oder interessierte er sich wirklich für Musik?
»Ich erinnere mich nur an die falschen Töne von deinem Fingerspiel«, sagte sie. »Aber ich wünsche dir ein richtig gutes Festival.«
Zufrieden mit ihrer Antwort war sie gegangen und hatte ihn seitdem zum Glück nicht mehr getroffen.
Jetzt ließ Agnes den Blick wachsam über den Saal schweifen, um zu sehen, ob Åkervold hier war. Sie weigerte sich zu glauben, dass er nur wegen der Musik zurück nach Voss gekommen war.
Gerade als sie erneut auf ihr Handy sehen wollte, begegnete sie Martas Blick. Es war, als würde die Frau sie von der Bühne aus anstarren. Agnes blieb ganz ruhig sitzen. Wagte nicht, das Risiko einzugehen, sich einen Rüffel einzuhandeln. Sie kamen jetzt gut miteinander aus, aber sie erinnerte sich mit Grauen an die Anfänge ihres gemeinsamen Buchprojekts.
Sie war so müde.
Wegen allem.
Sich nur ein ganz kleines bisschen ausruhen, das war es, was sie brauchte. Eine halbe Minute die Augen schließen.
Mit etwas Glück würde es so aussehen, als wäre sie ganz in die Musik versunken.
Sie erwachte von einer lauten Stimme und einem unangenehmen Gefühl im Bauch; sie war sich sicher, dass jemand sie ausschimpfte, weil sie schlief. Doch als sie sich umsah, schaute niemand in ihre Richtung. Alle sahen zur Bühne hin; Marta Tverberg hatte aufgehört zu spielen.
Sie stand da und redete laut ins Mikrophon – schrie beinahe –, während die Musiker der Band hinter ihr die Köpfe einzogen.
»Die Art und Weise, wie dieses Festival geleitet wurde, ist sowohl für die Jazzszene als auch für Voss eine Schande!«, rief Marta.
Mein Gott, was tat die Frau da?
Wollte sie plötzlich jetzt schon auspacken, nicht erst in dem Buch?
»Viele Scheinheilige sind heute Abend hier erschienen«, sagte Marta, und Agnes meinte sehen zu können, wie ihre Augen hinter der Brille funkelten und blitzten. »Ihr sitzt hier und klatscht höflich, doch eigentlich seid ihr randvoll mit Vorurteilen. Ihr haltet mich sowohl für zu alt als auch für nicht avantgardistisch genug, und vielleicht bin ich euch auch zu sehr Frau. Euch allen möchte ich sagen: LECKT MICH AM ARSCH! Und um bei den körperlichen Metaphern zu bleiben: Voss wäre nicht mehr als ein Pickel am Rumpf der Jazzwelt, hätte ich nicht den Weg gebahnt und in all den Jahren weltweit für das Festival geworben. Und ich hoffe – nein, ich erwarte –, dass der neue Festivalleiter diese Tradition auf eine sehr viel bessere Weise verwaltet, als der Elefant das getan hat. Jetzt liegt die Verantwortung bei dir, Alexander Kosanovic. Ich nehme Anteil an deinem Tun und vertraue darauf, dass du mit dem erbärmlichen Jugendwahn Schluss machst, Vielfalt hervorbringst und, was am wichtigsten ist, gut auf die Musik aufpasst. Das war’s. Danke für eure Aufmerksamkeit.«
Sie trat wieder einen Schritt zurück. Vereinzelt wurde im Saal geklatscht, das Publikum war eindeutig verunsichert, wie es reagieren sollte.
Marta Tverberg bückte sich und griff nach ihrem Saxophon.
Sie schloss die Augen und begann zu spielen.
Nach einigen Minuten wurde die Musik plötzlich experimenteller. Das musste der, wenn überhaupt möglich, noch unerträglichere Improvisationsteil der Komposition sein.
Kurz darauf fiel Agnes eine weitere Veränderung auf.
Die Töne wurden kürzer und schwächer.
Hin und wieder mischten sich Misstöne darunter.
Bald darauf hörten die anderen Musiker auf zu spielen – einer nach dem anderen.
Sie sahen besorgt zu Tverberg hin, die jetzt mit dem Instrument um den Hals von einer Seite zur anderen schwankte wie in einem sonderbaren, rauschhaften Solotanz.
»Marta?«, sagte die Schlagzeugerin.
Dann kippte die Diva um.
Agnes hatte bei der fürchterlichen Vorstellung einen Orchesterplatz, genau wie der Rest des Publikums im Saal.
Sie sah die Musiker, die sich über Marta beugten. Die Leute in den gelben Jacken, die aus verschiedenen Teilen des Raums herbeigeeilt kamen. Alexander, der die vier Stufen zur Bühne hochsprang und mit schriller Stimme ins Mikrophon rief: »Ist ein Arzt im Saal?« Sie sah den jungen Mann in dem Anzug, der gleich darauf herbeigeeilt kam und sich aus dem Jackett schälte, sah, wie er sich über die bewusstlose Frau auf dem Boden beugte. Wahrscheinlich um zu prüfen, ob sie noch Puls hatte, was mit Sicherheit nicht der Fall war, denn kurz darauf kniete der Arzt neben ihr und begann mit einer Herz-Lungen-Wiederbelebung. Zuerst kam eine Herzdruckmassage, gefolgt von einer Mund-zu-Mund-Beatmung. Dann begann er von vorn. Das Saxophon, oder das Horn, wie Marta ihr Instrument nannte, lag die ganze Zeit wie ein treuer Hund, der seinem Besitzer nicht von der Seite wich, neben ihr auf dem Boden.
Nach ein paar Minuten, im gleichen Augenblick, in dem zwei Sanitäter mit einer Trage in den Vossa-Saal gestürmt kamen, richtete der Arzt sich auf.
Agnes sah, dass er in Richtung derjenigen, die um ihn herumstanden, den Kopf schüttelte.
Marta blieb am Boden liegen, ganz ruhig.
Hä? Was passierte da? Sie war doch wohl nicht …
Als Agnes zu schlucken versuchte, spürte sie einen großen, harten Kloß im Hals.
Mein Gott.
Marta war tot.
Agnes saß ganz still. Ihre Hände lagen noch immer in ihrem Schoß, als sei sie bei einem Gottesdienst in der Kirche. Eine Schweißschicht hatte sich auf beiden Handflächen gebildet, die sie an ihrem schwarzen Rock abwischte.
Das hier passierte wirklich.
Marta Tverberg hatte ihren letzten Ton gespielt.
Agnes ließ den Blick über die Stuhlreihen schweifen, registrierte, dass die Stimmung im Saal erstaunlich ruhig und kontrolliert war. Gott sei Dank waren nur Erwachsene vor Ort. Mit Grauen erinnerte sie sich, wie Veslemøy Liland letzten Sommer während der Extremsportwoche vor den Augen Hunderter Kinder zu Boden gestürzt war. Erst jetzt erhoben sich auf die freundliche, aber bestimmte Aufforderung der ehrenamtlichen Helfer in den gelben Festivaljacken die Leute von ihren Plätzen. Die Geräusche im Saal kamen allmählich zurück, nachdem sie auf stumm gestellt worden waren. Man hörte Menschen sprechen, Absätze klacken.
Als hätte die Vorstellung bis jetzt gedauert.
»Ist sie tot?«
Agnes zuckte zusammen, obwohl die Stimme leise war. Hans Haukur »Hauki« Thorsson war neben sie getreten. Unbeweglich stand er da und starrte zur Bühne hin.
Sie drehte sich zu ihm um, ohne etwas zu sagen, richtete sich auf und legte dem großen Isländer stattdessen die Hand auf die Schulter. Marta Tverbergs Mann, mit dem sie seit über vierzig Jahren verheiratet war, stand ein wenig vornübergebeugt, die Arme hingen an den Seiten herunter, als würde er sich bemühen, für seine Frau strammzustehen.
Er hustete ein paarmal, sonst nichts. Ob seine Lippen zitterten, verbarg der große weiße Bart. Ob die Augen feucht waren, war unter den buschigen Brauen unmöglich zu erkennen. Agnes war überrascht, dass er neben ihr verharrte. Sie hätte gedacht, dass er auf die Bühne hinaufstürmen würde, um seiner Frau ein letztes Mal über die Wange zu streichen. Doch sie und Hauki standen beide bewegungslos da und sahen zu, wie Marta auf die Trage gehoben wurde. Die Schleppe ihres königsblauen, glitzernden Kleids hing über die Seiten, selbst jetzt sah sie aus wie eine Königin, wie sie da lag.
Einmal Diva, immer Diva.
Agnes sah Hauki an.
Er hatte die Augen geschlossen.
Dann drehte er sich um und ging zum Ausgang.
Agnes blickte ihm nach, schockiert über sein Verhalten.
Sie blieb stehen, ohne zu wissen, was sie mit sich anfangen sollte. Wäre sie als Journalistin hier gewesen, hätte sie sofort mit der Arbeit begonnen. Sich einen Überblick verschafft, ermittelt, was passiert war, mit den Involvierten gesprochen, herausgefunden, was sie am nächsten Tag über den Todesfall schreiben konnte und welche Perspektive sie anlegen sollte.
Was konnte sie jetzt tun?
Plötzlich sah sie Tor Erik Åkervold am Eingang stehen und telefonieren. Bestimmt war er schnell wieder nüchtern geworden und besprach schon mit der Abendschicht von VG, dem Hauptstadtjournal, was er liefern sollte. Dieses Mal würde die Zeitung die Nachricht noch schneller bringen als sonst, da ihr Stern unter den Kriminalreportern bereits am Tatort gewesen war, bevor es passierte.
Er würde den Ort wohl so bald nicht verlassen.
Verdammt.
Auf dem weißen Rasen hinter dem Park Hotel Vossevangen wimmelte es von Menschen. Agnes war vor allem damit beschäftigt gewesen, sich an den VG-Fritzen vorbeizuschleichen, doch jetzt sah sie ein, dass sie besser ihre Jacke an der Garderobe hätte holen sollen, bevor sie hinausgegangen war. Sie hatte völlig vergessen, wie eiskalt es an diesem Aprilabend war. Sechshundertfünfzig Zuschauer waren gleichzeitig hinausgeworfen worden, und keiner von ihnen schien daran gedacht zu haben, Mantel oder Jacke mitzunehmen, so dass sie von vielen teils betrunkenen, teils übellaunigen Leuten umgeben war. Der Krankenwagen wartete mit offener Heckklappe, und viele der Dünnbekleideten hatten sich in einem Halbkreis außen herum versammelt. Was war mit den Leuten los, bekamen sie denn nie genug? Warteten sie auf eine Zugabe? Agnes schielte so konzentriert zu ihnen hin, dass sie jemanden anstieß, als sie sich wieder umdrehte.
»Sorry«, murmelte sie verärgert.
»Agnes?«, sagte er.
Sie roch ihn, bevor sie hochblickte.
Es war der Geruch nach Teenagerverliebtheit und Unschuld und Spannung. Alexander Kosanovic roch nach dem gleichen Aftershave, das er sein ganzes Leben lang benutzt haben musste, zumindest seit sie vor zwanzig Jahren ein Paar gewesen waren. Der Geruch weckte diese Sehnsucht in ihr, wie er das immer getan hatte, wenn sie in seiner Nähe war. Während des Konzerts hatte er ein paar Reihen vor ihr gesessen, so dass Agnes nur seine braunen Locken und seinen Nacken gesehen hatte, soweit er sichtbar gewesen war. Sie hatte seit dem letzten Abend der Extremsportwoche nicht mehr mit ihm gesprochen, nicht mehr, nachdem sie mit Tor Erik Åkervold im Bett gewesen war.
Es hatte nicht so viel Sinn ergeben, schließlich war Alexander nach vielen Jahren in Brüssel mit Frau und Kindern zurückgekommen. Aber sie hatte seine Aktivitäten aufmerksam verfolgt und sowohl das Porträtinterview in Hordaland als auch in der Bergens Tidende gelesen, als der freischaffende Musiker und Fußballspieler zum neuen Festivalleiter von Vossa Jazz ernannt worden war.
Er war angespannt an diesem Wochenende. Sein sonst goldbraunes Gesicht war weiß wie ein Laken. Große Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, obwohl auch er es nicht geschafft hatte, sich einen Mantel über den dunklen Anzug zu ziehen. Er hielt das Handy in der einen und ein paar Papierbögen in der anderen Hand.
»Mein Beileid«, sagte Agnes und hätte ihn gern umarmt. Es sah nicht so aus, als hätte er das gleiche Bedürfnis, deshalb legte sie ihm nur vorsichtig eine Hand auf den Arm. Sie spürte die Muskeln unter dem Pullover spielen.
»So ein Mist, dass so etwas während deiner Dienstzeit passieren muss.«
»Ich brauche kein Mitgefühl«, sagte er und schaute sich um, als würde ihm der Ernst der Lage erst jetzt so richtig bewusst, denn schließlich war er der Verantwortliche. Sie hatte Alexander noch nie hektisch erlebt. »Ich muss meine Leute sammeln. Ich muss herausfinden … was zu tun ist. Mein Gott.«
»Du schaffst das«, sagte Agnes ruhig und begegnete seinem Blick.
Es sah so aus, als würden ihre Worte ihn wirklich ein wenig beruhigen. Er nickte.
»Ich muss los«, sagte er. »Aber danke.«
Sie blieb stehen und blickte ihm nach, als er wieder ins Hotel eilte, gegen den Strom der Menschen in hochhackigen Stiefeletten und blank geputzten Schuhen, die noch immer auf dem Weg nach draußen waren. In der Menge entdeckte sie ihren besten Freund. Viktor trug seine Uniform mit der dicken Polizeijacke und ragte vielleicht deshalb über die meisten hinaus. Es sah aus, als hätte man ihn dorthin beordert, um sicherzustellen, dass alle gut hinauskamen. Sie lief zu ihm.
»Beamter Vormedahl«, sagte sie ernst, »was willst du dafür, dass du mir deine Jacke leihst?«
Er zog eine Braue hoch.
»Sorry, aber du musst wohl zusammen mit dem Abschaum der Gesellschaft hier stehen und mit den Zähnen klappern, wenn du dich nicht richtig für das Wetter angezogen hast.«
In einer anderen Situation hätte sie ihm eine kecke Antwort gegeben. Doch das war nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze.
»Weißt du, was passiert ist?«, fragte sie stattdessen.
Viktor schüttelte den Kopf.
»Nicht mehr als du und der Rest dieser halb besoffenen Meute, nehme ich an. Ich bin gerade erst gekommen und fungiere im Moment als Türsteher, wie du siehst. Dafür bin ich allerdings nicht drei Jahre auf die Polizeihochschule gegangen«, fügte er für ihn ungewöhnlich ärgerlich hinzu. »Aber nein, ich weiß nichts. Hatte sie früher schon mal einen Herzinfarkt oder so etwas?«
»Marta? Nicht, soweit ich weiß.«
»Sie hat möglicherweise nichts ausgelassen im Leben?«
Agnes stutzte. Marta Tverberg war einer der gesündesten Menschen, die sie kannte. Es war schon irritierend gewesen, wie viel sie trainierte und wie gesund sie aß.
Agnes konnte Hauki nirgendwo entdecken. Den feinen Mann, den sie auch etwas besser kennengelernt hatte; sie hatten sich angewöhnt, miteinander zu reden, während sie auf Marta warteten. Sie wollte mit ihm sprechen, hören, wie es ihm ging.
Er musste unter Schock stehen.
Für Agnes war es faszinierend und rührend zugleich, wie gegensätzlich er und Marta waren. Während Tverberg der glamouröse Stern war und rund um die Welt tourte, war Hauki Thorsson der besonnene, normale Ehemann, der zu Hause blieb und das Haus hütete. Agnes gefiel es, dass die Jazzsaxophonistin und der Besitzer von Thorsson Bygg AS so lange verheiratet gewesen waren. Es hatte etwas von Dolly Parton und ihrem Ehemann. Er war ein Typ, den niemand in der Musikindustrie kannte und der absolut null Interesse daran hatte, im Rampenlicht zu stehen, doch zu dem nach Hause zu kommen sich sicher und gut anfühlte und mit dem Dolly Campingferien machte.
Agnes wusste nicht, ob Marta und Hauki Campingferien machten.
Sie bezweifelte es.
Aber er gehörte definitiv zu den mildernden Umständen, was Marta anging.
War Fredrik ein mildernder Umstand gewesen, was Agnes anging? War sie ohne ihn unerbittlicher und weniger sympathisch?
»Aus dem Weg!«
Sie drehte sich um und sah die beiden Sanitäter mit der Trage durch die Menge geeilt kommen. Es war einer von ihnen, der gerufen hatte.
Warum diese Eile, da sie bereits tot war?, konnte Agnes noch denken, bevor sie an ihr vorbeiliefen.
Erst jetzt sah sie, dass nicht Marta Tverberg auf der Trage lag.
Sondern der Arzt in dem Anzug, der versucht hatte, Marta das Leben zu retten.
»Hast du gesehen, was passiert ist?«
Agnes fragte das erste bekannte Gesicht, das sie entdeckte. Es war einer der Rogne-Brüder aus Marta Tverbergs Band. Alfred und Didrik sahen sich dafür, dass sie erwachsen waren – und keine Zwillinge –, immer noch schockierend ähnlich. Beide hatten dickes, blondes Haar. Beide trugen Jeans und schwarze Hemden. Und trotzdem waren sie grundverschieden.
Alfred, der Pianist, war auf dem Gymnasium in Agnes’ Parallelklasse gegangen und sehr viel fleißiger gewesen als sein großer Bruder. Er war immer stilgerecht gekleidet und hatte eine Frisur, die nicht stylish sondern durchdacht aussah. Sein großer Bruder, Didrik, der den Bass spielte, sah oft aus, als könnte er eine ausgiebige Dusche und eine Nacht Schlaf vertragen. Außerdem war seine Nase gerötet und unförmig. Die klassische Alkoholikernase war ein bisschen ungewöhnlich bei einem Typen Anfang vierzig. Aber Didrik Rogne hatte wohl »nichts ausgelassen«, wie Viktor es ausgedrückt hätte.
Er war es, der jetzt vor ihr stand und den Kopf schüttelte.
»Sie ist bestimmt tot«, sagte Didrik und begegnete ihrem Blick. Er zog an seiner Zigarette und stieß eine Mischung aus Nikotin und Frostatem aus.
»Ja«, sagte Agnes ruhig, ohne zu verbergen, wie ungeduldig sie war. »Ich habe mich gefragt, was anschließend mit dem Arzt passiert ist?«
Didrik sah sie eindringlich an. Sein Blick war dunkel.
»Ist was mit ihm passiert?«
»Er ist gerade im Krankenwagen weggefahren worden.«
»Verdammt«, sagte er wie zu sich selbst.
»Kennst du ihn?«
Didrik nickte. Seine Augen waren ein wenig feucht, und es dauerte ein paar Sekunden, bis er antwortete.
»Er ist mein Schwager.«
Agnes hatte nicht gewusst, dass die Rogne-Jungen eine Schwester hatten, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, nach den Familienverhältnissen zu fragen.
»Ich drücke die Daumen, dass alles gut geht«, sagte sie. »Ja, und herzliches Beileid sollte ich wohl sagen.«
Er sah sie fragend an.
»Wegen Marta, meine ich«, fügte Agnes hinzu.
Didriks Augen schweiften von ihr weg über die Versammlung aus frierenden Festivalgästen. Dann blies er eine weitere Wolke aus Frostatem und Rauch aus.
»Verdammt!«, sagte er noch einmal, drückte die Zigarette aus und ging.
Der Schnee fiel dicht, als Agnes nach Hause in den Russarveg kam. Vor ihrer Eingangstür lag bereits eine weiße Schicht. Sie blieb stehen, seufzte und fluchte. Was war aus den nassen, milden Wintern des Vestlands geworden? Das war ja, als würde sie wieder in Oslo wohnen, das Einzige, was ihr an ihrem Leben in der Hauptstadt nicht gefallen hatte. Sie hasste Schnee und verabscheute Schneeschippen. Jedes Mal, wenn sie die Schaufel in die Hand nahm, überlegte sie, ihren Vater anzurufen. Jedes Mal kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die Hilfe von einem Mann brauchten. Und dass ihr Vater mehr als genug damit zu tun hatte, seiner krebskranken Frau beizustehen.
Sie klopfte erst den einen Schuh an der Wand ab und dann den anderen, bevor sie schwerfällig durch die Tür schlurfte, stehen blieb und dem leeren, stillen Haus lauschte. Dann drehte sie sich um und schloss schnell die Tür ab. Plötzlich fühlte es sich unangenehm an, allein hier zu sein.
Als würden die Ereignisse erst jetzt langsam in ihr Bewusstsein sickern.
War Marta wirklich tot?
Was hatte sich heute Abend eigentlich vor ihren Augen abgespielt?
Es konnte doch kein Zufall sein, dass der Arzt auch ins Krankenhaus gebracht worden war.
Agnes hatte versucht, Viktor auszufragen, doch sobald sich die Situation von kontrolliert zu dramatisch hin veränderte, hatte er seine Polizistenautorität herausgekehrt, die grenzenlos irritierend war. Sie wusste, dass man nichts aus ihm herausbekam, wenn er die Stirn auf diese bestimmte Art runzelte, dass die Augenbrauen sich in der Mitte trafen, und das hatte er getan, als der Krankenwagen mit dem Arzt davongefahren war. Sie musste warten, bis sie mal allein waren.
Das unangenehme Gefühl rührte auch von den Reaktionen auf den Todesfall her – oder deren Fehlen. Weder Hauki Thorsson noch Didrik Rogne hatten nennenswert Trauer gezeigt. Es war fast … als hätten sie darauf gewartet? Oder als würde es sie nicht sonderlich kümmern? Sie spürte, wie verletzt sie in Martas Namen war, wie die Sympathie für sie wuchs. Konnte die unsentimentale Haltung daher rühren, dass sie keine trauernden Nachkommen hinterließ? War das so, wenn eine kinderlose Frau von fast siebzig Jahren starb, dass die Leute lediglich dachten: Tja, tja, die besten Jahre hat sie ohnehin hinter sich, und eigentlich wird niemand sie vermissen?
Selbst wenn diese Frau von Fans auf der ganzen Welt geliebt und gefeiert wurde?
Das war unendlich traurig, wenn es zutraf.
Agnes trat ihre Stiefeletten von den Füßen. Die Schneereste schmolzen sofort auf dem beheizten Boden. Schuhe lagen herum, doch jedes Mal, wenn sie hereinkam, dachte sie, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, das Schuhzeug von nur einer Person wegzuräumen. Hier hätte ein Chaos aus ungleichen Schuhen herrschen sollen. Hier hätten Kinderschuhe liegen sollen. Zumindest Herrenschuhe. Dieses Haus war viel zu groß für sie allein.
Das Buchprojekt war jetzt bestimmt auch gestorben. Bald würde sie nicht mehr die Mittel haben, allein ein ganzes Haus zu unterhalten, vor allem dann nicht, wenn Fredrik seine Hälfte loswerden wollte.
Nein, das war nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstmitleid. Nicht zu fassen, dass Marta einfach tot umgefallen war, ganz plötzlich. Nicht auszudenken, wenn Agnes das passiert wäre, hier und jetzt. Wie lange hätte es gedauert, bis jemand sie überhaupt vermisst hätte? Wie viele wären traurig gewesen?
Aber es ging hier nicht um sie.
Der Magen machte sich ungeduldig bemerkbar. Natürlich war aus dem Kebab nichts geworden, nachdem erst der Arzt – und später, mit sehr viel mehr Ruhe, Marta – in dem Krankenwagen weggebracht worden war. Es erschien ihr plötzlich respektlos, Kebab zu essen. Doch jetzt wurde das Bedürfnis kritisch, denn der Kater war immer noch spürbar.
Sie hatte gestern getrunken, als gäbe es kein Morgen. Es hatte sich angefühlt wie ein Besuch in dem Leben, wie es einmal war: spaßig, unkompliziert, mit Weinflaschen ohne Boden und Nächten auf dem Sofa mit einer Tüte Bacon Chips. Der Freitagabend bei Vossa Jazz war immer das Beste, denn da gab es mindestens noch einen anderen Künstler im Programm, der etwas anderes als Jazz spielte. Nicht dass die Musik einen großen Raum einnahm. Für sie und viele andere im Ort war das Festival vor allem ein fester, alljährlicher Termin, um alte Bekannte zu treffen. Zunächst hatte es sie irritiert, dass ein Großteil des Publikums nach der Jahrtausendwende geboren zu sein schien, doch als sie festgestellt hatte, das sowohl der Sänger als auch der Gitarrist einer der weniger bekannten Rockbands Freunde aus Oslo waren, hatte der Abend zusehends gewonnen. Sie hatte die gute, alte Aufregung gespürt, als sie zu der anschließenden Feier eingeladen wurde. Aber trotz ihrer heftigen Flirterei war sie ungeküsst aus dem Hotel geschwankt.
Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Es war nach Mitternacht, doch sie griff nach dem großen Stück Norvegia. Holte einen Topf heraus, in den sie eine viertel Packung Makkaroni gab und füllte mit Wasser auf, bis alles bedeckt war. Dann stellte sie den Topf auf die Platte und drehte sie voll auf. Während das Wasser kochte, rieb sie ein Stück von dem Käse. Als fast das ganze Wasser verkocht war, gab sie Käse und Makkaroni in eine feuerfeste Form und schob alles in den Ofen. Dann öffnete sie einen Karton Pepsi Max, setzte sich auf die Küchenbank und lehnte den Kopf nach hinten gegen den Schrank.
Nachts zu kochen war eines der Dinge, die Fredrik gehasst hatte. Er machte sich Sorgen, dass ein Feuer ausbrechen könnte, sagte er immer. Sie hatte erklärt, dass sie kochen müsse, wenn sie sich inspiriert fühle, bis zu dem Mal, wo sie auf dem Sofa eingeschlafen war, während die Spaghetti kochten. Sie waren beide aufgewacht, als das ganze Wasser im Topf verkocht war und der Rauchmelder angefangen hatte zu heulen. Fredrik hatte nichts gesagt, sie nur angesehen, als wäre sie ein Kind, von dem er enttäuscht war. Der Geruch hatte trotz geöffneter Fenster noch mehrere Tage im Haus und in den Kleidern gehangen.
Jetzt bestand keine Gefahr, dass sie einschlafen würde, was nicht nur an dem Geruch des Gratins lag, der aus dem Backofen neben ihr strömte. Sie hatte die Augen weit offen, und ihr Kopf war bis zum Bersten voll mit Gedanken.
Sie sprang von der Bank auf und öffnete die Ofentür. Der Käse hatte bereits angefangen, Blasen zu werfen, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Einige Vorteile hatte es definitiv, allein zu wohnen.
Das Letzte, was Fredrik in dieser Küche gekocht hatte, war ein Coq au vin.
Er war richtig geschwätzig gewesen an diesem Abend. Während er über den Topf gebeugt dastand, hatte er unablässig darüber geredet, wie viele Gäste sie zu der Hochzeit einladen sollten, ob sie drei Tage feiern oder das Wochenende nur mit einem einfachen Grillen am Freitagabend beginnen sollten. Ob er einen Smoking oder einen Anzug mit Schlips tragen sollte. Er hatte sogar Vorschläge für den Blumenschmuck in der Kirche gemacht. Es war ihr so vorgekommen, als hätte Fredrik, der sich vorher vor allem für sein Training und für Bergtouren interessierte, plötzlich einem ganz neuen Hobby gefrönt, nachdem sie seinen Antrag angenommen hatte.
Er war zum Groomzilla geworden.
Und je eifriger er plante, desto mehr bekam sie ein schlechtes Gewissen.
Zwei Monate hatte sie so gut wie jede Nacht wach gelegen, während die Gedanken in ihrem Kopf kreisten und es nicht einmal etwas brachte, die Augen zu schließen. Die ersten Wochen hatte die Angst dominiert. Würde Fredrik herausfinden, was passiert war? Würde Tor Erik Åkervold den Mund halten?
Dann war die unklare Angst gewichen und hatte einem klaren Gefühl der Scham Platz gemacht.
Sie war nicht nur eine, die im Rausch mit verheirateten Ex-Kollegen ins Bett ging – sie war eine, die das an dem Tag tat, an dem sie einen Antrag bekommen hatte. Wer machte so etwas?
Die Scham saß noch immer in ihr, als sie rational und lautlos mit sich zu diskutieren begonnen hatte, ob es das Cleverste war, Fredrik zu erzählen, was sie getan hatte, oder besser nicht.
Es war die reinste Hölle gewesen.
Wie schafften es Leute, jahrelang fremdzugehen?
Dieser One-Night-Stand im betrunkenen Zustand, an den sie sich kaum erinnerte, war es jedenfalls nicht wert gewesen.
Die letzten zwei Wochen vor dem Bruch waren die allerschlimmsten. Zwei Wochen, in denen sie auf die Periode gewartet hatte, die immer auf den Tag genau kam, die ihre Hoffnung, Eltern zu werden, Monat für Monat enttäuscht hatte. Das Universum hielt sie zum Narren. Nach über einem Jahr ergebnisloser Versuche war das Schlimmste passiert, das passieren konnte: Sie war schwanger.
Jetzt, wo sie einen Punkt erreicht hatte, an dem sie nicht mehr sicher war, ob sie sich wirklich ein Kind wünschte, war sie sicher, dass sie schwanger war.
Und wenn sie schwanger war, wer war der Vater?
Mit einem Abstand von einem Tag war sie mit zwei Männern zusammen gewesen.
All das war ihr nicht mehr nur nachts durch den Kopf gegangen, es eroberte auch langsam ihre Tage, obwohl sie intensiv an dem Buch über den Fallschirmmord arbeitete. Als sie an diesem Abend am Küchentisch saß und Fredrik zuhörte, wie er über dem Hühnertopf vom Hochzeitskuchen redete, war ihr der Traum eingefallen, der sich in den wenigen Stunden, die sie schlief, immer wiederholte.
Sie schritt in einem weißen Kleid und mit einem dicken Bauch in der Kirche zum Altar. Entlang der Bankreihen standen die Gäste, und alle hielten einen DIN-A4-Bogen hoch. Auf der einen Hälfte stand der Name »Fredrik«, auf der anderen »Åkervold«. Als sie bei dem Pfarrer angekommen war, sah er sie erwartungsvoll an und fragte: »Ja, jetzt sind wir alle gespannt! Wer ist denn der glückliche Papa?«
In dem Moment, als Fredrik den Topf mit dem Coq au vin auf den Tisch gestellt hatte, war sie zusammengebrochen. Sie begann heftig zu weinen und ließ den Tränen freien Lauf. Sie konnte nicht mehr. Ertrug den Gedanken nicht, wie erfreut er geschaut hätte, wäre sie mit einem positiven Schwangerschaftstest gekommen.
Da hatte sie ihm alles erzählt.
Nicht nur, was sie am letzten Abend der Extremsportwoche in dem Hotelzimmer im Park Hotel gemacht hatte, sondern auch, dass sie bei der Weihnachtsfeier in Oslo, bevor sie nach Voss gezogen waren, bereits mit Åkervold Sex gehabt hatte.
Fredrik hatte auf der anderen Seite des Tisches gesessen und zugehört, ohne etwas zu sagen. Er hatte die Gabel in der einen und das Messer in der anderen Hand gehabt, als wollte er sich bedienen. Aber er bewegte sich nicht. Der Dampf aus dem warmen Topf verhüllte sein Gesicht, doch sie würde nie vergessen, wie traurig er ausgesehen hatte. Da hatte sie es noch nicht gewusst, aber es war dieser Blick, den an den sie sich erinnern würde, wenn sie in den nächsten Monaten wach lag.
Er wurde nicht wütend.
Er packte am selben Abend zwei Koffer und fuhr Richtung Osten.
Am nächsten Morgen bekam sie ihre Periode.
Der Coq au vin hatte mehrere Tage unberührt auf dem Tisch gestanden.
Auf dem Vossa Jazz-Festival gestern war sie besserer Laune gewesen als seit langem, zumindest bis die VG-Fritzen aufgetaucht waren, und das hatte nicht nur an ihrem Alkoholkonsum und den alten Bekannten gelegen. Leute hatten sie angesprochen und nette Bemerkungen gemacht. Es war erst knapp einen Monat her, dass ihr Buch herausgekommen war, und wie es schien, hatten viele Vosser Der Fall wirklich gelesen. Die Bergens Tidende hatte dem Buch vier von sechs Herzen gegeben und geschrieben, dass sie »die Geschichte von dem Fallschirmmord auf eine spannende Weise erzählte«.
Wer hätte gedacht, dass sie als Autorin schließlich in ihrer Heimatstadt Anerkennung finden würde?
Wer hätte gedacht, dass sie knapp ein Jahr, nachdem sie ihren Job als Journalistin bei Hordaland gekündigt hatte, an ihrem zweiten Buch arbeitete?
Sie hatte es nicht geschafft, das Angebot zurückzukommen auch nur in Erwägung zu ziehen. Der Chefredakteur Eskildsen war – auf Druck von oben, wie sie vermutete – letzten Herbst in Frührente gegangen, und der »Pensionär« hatte den Chefsessel eingenommen. Es vergingen nicht viele Wochen, bis er Agnes angerufen und gesagt hatte, dass sie ihren Job bei der Zeitung zurückhaben konnte, wenn sie wollte. Doch da hatte sie sich bereits in das Fallschirmbuch gestürzt, das ein kleiner Verlag in Oslo sie zu schreiben beauftragt hatte. Sie hatte Tag und Nacht an dem Projekt gearbeitet, es als Serie von Artikeln betrachtet, die zusammengehörten. Es war gut gewesen, etwas anderes zu haben, woran sie denken konnte; sie hatte fast nur geschrieben und gegessen. Und direkt, nachdem das Buch fertig gewesen war, hatte der Redakteur sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, ein neues Projekt anzufangen: eine Biographie.
Wie auf Autopilot hatte sie ja gesagt, bevor sie überhaupt wusste, über wen sie schreiben sollte.
Sie hatte gewusst, dass sie sich beschäftigen und dafür sorgen musste, aktiv zu sein. Ansonsten fürchtete sie, morgens nicht aus dem Bett zu kommen.
»Du kennst doch bestimmt diese Jazzdiva aus deiner Heimatstadt?«, hatte der Redakteur im Verlag gefragt. Agnes hatte das bejaht, aber im Stillen hatte sie gedacht, dass das nie funktionieren würde. Sie hatte Marta Tverberg nämlich einmal für ein Porträt interviewt, als sie bei Hordaland gearbeitet hatte.
Und das war, milde ausgedrückt, schlecht gelaufen.
Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie mit einem leeren Aufnahmegerät und einem vollen Notizbuch in dem großen Haus in Een erschienen war. Sie hatte sich gut vorbereitet und viele Fragen gehabt. Sich gefreut anzufangen.
Marta hatte bereits einen übellaunigen Eindruck gemacht, als sie die Tür öffnete.
»Ich habe keinen Kaffee.«
»Das ist in Ordnung. Sollen wir den Plan für das Interview kurz durchgehen?«
»Okay.«
»Ich habe mir gedacht, dass wir vielleicht damit beginnen, dass du etwas über deine Entwicklung als Künstlerin sagst?«
»Hast du keinen Humor?«
»Was meinst du?«
»Ich meine das, was ich gesagt habe: Hast du überhaupt keinen Humor?«
»Äh, doch, ich denke schon.«
»Davon merke ich aber nichts. Du bist so von dir eingenommen.«
»Vielleicht sollten wir einfach anfangen?«
»Okay.«
»Wenn du auf deine lange Karriere zurückblickst und ein Konzert auswählen müsstest, welches fällt dir spontan ein – und warum?«
»Auf so idiotische Fragen antworte ich nicht. Du kommst hierher und willst mich über mein Leben interviewen, und die erste Frage, die du mir stellst, ist die, an welches Konzert ich mich spontan erinnere? Also eine richtig dumme Frage, wie sie alle geistig zurückgebliebenen Journalisten stellen. Was glaubst du, was ich davon halte?«
»Ich glaube, dass du denkst, dass ich eine Idiotin bin.«
»Bingo! Da hast du vollkommen recht. Und warum meine ich das?«
»Weil ich von mir eingenommen bin und keinen Humor habe?«
»Jetzt bist du schlagfertig.«
»Weißt du was … Ich denke, wir sollten vielleicht hier aufhören.«
»Sollen wir den Rest dann morgen machen?«
»Was meinst du?«
»Gleiche Zeit, gleicher Ort? Jetzt, wo wir uns ein wenig kennengelernt haben, bin ich bereit anzufangen. Wo kaufst du übrigens deine Aufnahmegeräte?«
Am darauffolgenden Tag war Agnes wiedergekommen. Danach hatte sie das Porträtinterview geschrieben. Doch der Eindruck, dass Marta Tverberg ein Rätsel war und dass die Jazzdiva weder von Agnes’ Arbeit als Journalistin noch von ihr als Mensch besonders beindruckt war, war geblieben.
Deshalb hatte sie auch ihren Ohren nicht getraut, als der Redakteur ihr erzählt hatte, dass es Tverbergs ausdrücklicher Wunsch gewesen war, dass Agnes das Buch schreiben sollte.
Seit damals hatten sie viele und lange Gespräche geführt. Einige waren sogar gut gewesen, ein paar annähernd nett. Agnes hatte ihre Ehre darein gesetzt, zu zeigen, dass sie Humor hatte. Doch dass es schwierig war, Marta wirklich kennenzulernen, daran bestand kein Zweifel. Auf persönliche Fragen, die etwas mehr über sie als Mensch aussagten, bekam man nur zögerlich eine Antwort. In den letzten Wochen war Agnes sowohl der Frau als auch der Musik und des ganzen Buchs gründlich überdrüssig gewesen. Vielleicht fehlte es ihr ein wenig an Geduld, um Autorin zu sein. Sie wurde schnell einer Sache müde, das war schon immer ein Problem gewesen, in vielen Bereichen ihres Lebens. Doch jetzt hatten Marta und sie sich der Ziellinie genähert, zumindest der Phase mit den Gesprächen und dem Sammeln von Material. Die Aufführung der Auftragskomposition sollte den Rahmen für den Text bilden. Der Vorschlag war von Marta gekommen. Sie war letzten Monat sehr konzentriert gewesen. Vielleicht war es das Faszinierendste an diesem Projekt, einen Musiker auf ein konkretes Ziel hinarbeiten zu sehen. Ansonsten war sie damit beschäftigt gewesen, sich zu beklagen, wie schlecht sie sich von der norwegischen Jazzszene im Allgemeinen und von der Vosser im Besonderen behandelt fühlte, so wie sie das gestern auf der Bühne zum Ausdruck gebracht hatte. Sie war im eigenen Land nie zum Propheten geworden, hatte sie gesagt. Genau das hatten sie gemeinsam, hatte Agnes gedacht, aber nicht ausgesprochen.
Die »explosiven Enthüllungen über das norwegische Kulturleben«, mit denen die Musikerin laut Verlag rauskommen wollte, hatte sie bisher noch nicht geliefert. Sie erzählte viel über viele andere, doch es ging nicht über Klatsch und Tratsch und Tverberg’schen Rufmord sowie über Gerüchte hinaus, die sich schwerlich in einem Buch verwenden ließen, wollte man keine Beleidigungsklage riskieren. Vielleicht war die Jazzdiva letztendlich doch nicht so interessant. Vielleicht war sie genauso feige wie die meisten.
Vielleicht war das auch eines der Dinge, die Marta und sie gemeinsam hatten.
Und jetzt war sie tot.
Mein Gott.
Erneut spürte Agnes so etwas wie einen Schlag in die Magengrube, nur dass es sich jetzt fast so anfühlte, als wäre ein Familienmitglied gestorben. Ihre Beziehung zueinander war mit Sicherheit turbulent, aber es war trotzdem eine Beziehung gewesen. Die arme Marta. Sie sollte irgendeine Saxophonmusik auflegen, um sich an sie zu erinnern.
Nein, noch mehr Jazz ertrug sie wirklich nicht.
Stattdessen setzte sie sich an ihren Mac und öffnete den Ordner mit ihren Gesprächen. Sie starrte auf all die kleinen Dateien, all die Informationen, die sie gesammelt hatte. Jede Aufnahme war lediglich durch das Datum gekennzeichnet, an dem sie gemacht worden war, doch zumindest hatte sie einen Teil davon in verschiedenen Unterordnern abgelegt, die thematisch sortiert waren.
Agnes stützte den Kopf in die Hände und seufzte.
Was tat ein Autor, wenn das Biographie-Objekt während der Arbeit verstarb?
Falls das Buchprojekt hier sein Ende fand, hatte sie zumindest keine Zeit auf den verdammten Job verschwendet, die Gespräche zu transkribieren. Noch hatte sie kein Wort geschrieben. Es hatte ihr davor gegraut, sich die nicht immer interessanten Unterhaltungen oder Ausführungen noch einmal anzuhören und zumindest den Versuch zu machen, das, was in den Aufnahmen gesagt wurde, zu verstehen.
Jetzt verspürte sie ein unerklärliches Bedürfnis, Marta Tverbergs Stimme zu hören.
Sie wählte irgendeine Aufnahme aus dem Ordner mit dem nichtssagenden Namen Diverses, und als Martas Stimme aus dem Gerät kam, zuckte sie kurz zusammen.
Dann wurde sie ganz ruhig.
Es war, als wäre Marta noch hier.
»Was für ein Verhältnis ich dazu habe, als Diva bezeichnet zu werden? Pah! Eigentlich ist das doch total falsch, weißt du.«
»Wieso?«
»Eine Diva singt Opern oder gewinnt Oscars, ist nicht mit einem Bauingenieur verheiratet und wohnt nicht in Een.«
»Mit anderen Worten, du magst es nicht?«
»Ich habe nichts dagegen. Es passt zu mir, findest du nicht?«
»He-he, ja, vielleicht.«
»Heutzutage braucht man das Wort ohnehin eher als Adjektiv. Du bist so Diva, hat ein Fotograf einmal zu mir gesagt. Danke, habe ich geantwortet. Aber er hatte das nicht als Kompliment gemeint, das war ganz deutlich, so sauer, wie er war.«
»Hattest du ihm denn etwas getan?«
»Nichts anderes, als dass er kurz warten musste, bis wir anfangen konnten, weil ich noch nicht fertig geschminkt war.«
»Wie lange musste er warten?«
»Keine Ahnung, ein oder zwei Stunden? Aber so etwas toleriert man hier in Norwegen nicht, nein, hier verhält man sich bitte wie alle anderen auch, bildet keine Ausnahme. Wenn ich eines auf meinen Tourneen um die Welt beobachtet habe, dann, dass fast alle Länder Diven gegenüber mehr Toleranz aufbringen als die Norweger. Man muss nicht weiter als bis Schweden gehen, wo es ganz normal ist, frischen Fisch zum Mittagessen zu verlangen, selbst wenn man einen Auftritt mitten im Land hat. Hier zu Hause ist es das Beste, was man über eine bekannte Persönlichkeit sagen kann, dass sie wie alle anderen ist.«
»Und das ärgert dich?«
»Das ärgert mich grenzenlos.«
Die Stoppuhr am Ofen schrillte. Agnes klappte schnell ihren Mac zu, öffnete die Ofentür und nahm ein Küchentuch, um die heiße Form herauszuholen, die sie direkt auf den Küchentisch stellte. Dann holte sie eine Gabel und fuhr damit an der Seite entlang, wo der Käse am stärksten gebacken und ein wenig hart war. Sie schaffte es nicht zu warten, zog ein paar Makkaroni heraus, verbrannte sich prompt die Zunge und fluchte verärgert. Der Geruch war tröstlich, und während der Geschmack von Pasta und geschmolzenem Käse sich in ihrem Körper ausbreitete, kam ihr die Welt nicht mehr ganz so kompliziert vor.
Agnes konnte jetzt nicht aufhören, sie musste weiterarbeiten.
Morgen würde sie den Redakteur anrufen und darauf bestehen, einen Entwurf der Biographie fertig zu schreiben. Sie würde sich alle Aufnahmen anhören und Worte wie »Legende« und »unsterblich« in den Text einfließen lassen.
Das schuldete sie Marta Tverberg.
Sie war satt, und sie wurde unruhig, als ihr einfiel, dass sie nicht mehr auf ihr Handy geblickt hatte, seit sie nach Hause gekommen war.
Sie hatte eine neue Nachricht von Viktor. Nur einen Satz.
Der Arzt ist auch tot.
Das Schlafzimmer kam ihr wie eine Tiefkühltruhe vor. Agnes hatte das Fenster geöffnet, bevor sie sich hingelegt hatte; nach der Nachricht von Viktor gestern Abend hatte sie das Bedürfnis nach frischer Luft verspürt.
Trotzdem hatte sie schlecht geschlafen. Und war früh aufgewacht, es war erst zehn nach sieben.
Sie hatte gesehen, wie Marta Tverberg auf der Bühne gestorben war.
Sie hatte den Arzt leblos auf der Trage liegen sehen.
Zwei Menschen waren tot.
Das konnte kein Zufall sein.
Im selben Moment kam ihr der Gedanke: Jemand musste das Saxophon von Marta mit irgendetwas präpariert haben.
Mit etwas, das bei der Mund-zu-Mund-Beatmung auf die Lippen des Arztes geraten war.
Warum hatte sie nicht schon gestern Abend daran gedacht?
Agnes schauderte und zog sich die Decke über das Gesicht. Sie blieb liegen und lauschte der ungemütlichen Stille im Haus.
Sie hasste es, allein zu wohnen und niemanden zu haben, mit dem sie reden oder an den sie sich kuscheln konnte, wenn die Welt aus den Angeln zu geraten schien.
Agnes schaltete das Radio der Sonos-Anlage ein, die Fredrik dagelassen hatte, doch sowohl auf P1 als auch auf P2 und allen anderen Sendern plauderten morgenfrische und leutselige Feiertagsprogrammredakteure über Wohlfühlthemen, die mit Ostern zu tun hatten. Wie konnte das im Radio ein ganz normaler Tag sein? Niemand redete von Voss, niemand redete vom Tod, und bis zur nächsten Nachrichtensendung dauerte es noch eine Dreiviertelstunde.
Sie ging auf Spotify, suchte nach Marta Tverberg und ließ die Saxophontöne, von denen sie in den letzten Tagen eigentlich die Nase voll gehabt hatte, durch das Zimmer strömen.
Es war anders, sie jetzt zu hören.
Die Musik füllte den Raum und machte ihn ein wenig heiterer.
Ohne die Musik abzuschalten, wählte sie Viktors Nummer auf dem Handy; sie wollte ihm ihre Theorie darlegen. Er antwortete nicht. Das tat Ingeborg, ihre beste Freundin, auch nicht, doch sie schickte ihr gleich darauf eine Nachricht, dass sie verschlafen hatte und auf dem Weg zur Arbeit war. Zum Schluss rief Agnes ihren Vater an.
»Bist du unterwegs?«, fragte er.
»Dir auch einen guten Morgen«, antwortete sie und dachte, wie gut es doch war, die Stimme eines lebendigen Menschen zu hören. »Ich glaube, ich muss in Anbetracht dessen, was gestern Abend passiert ist, das Sonntagsfrühstück bei euch heute absagen.«
»Ja, eine traurige Sache ist das. Weißt du, dass wir mal ein Paar waren?«, sagte der Vater. »Ich und Marta Tverberg, meine ich.«
»Hä? Ich sitze seit drei Monaten an einem Buch über die Frau, und du kommst erst jetzt, wo sie tot ist, mit dieser Information rüber?«
»Ich habe das nicht für so wichtig gehalten. Das ist schon ewig her, das war auf der Mittelschule, dass Marta und ich zusammen waren, und es ist auch viele, viele Jahre her, seit ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Sie hat aufgehört, mit uns gewöhnlichen Sterblichen zu reden, als sie eine Diva geworden ist.«
»Tverberg?«, fragte Agnes’ Mutter im Hintergrund. »Die wurde doch schon als Diva geboren, oder nicht?«