Rudyard Kipling - Gesammelte Werke - Rudyard Kipling - E-Book

Rudyard Kipling - Gesammelte Werke E-Book

Rudyard Kipling

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Beschreibung

Mit alphabetischem Index Rudyard Kipling war der große Chronist Indiens zur Zeit des britischen Empires. Kein Zweiter beschrieb in seinen Romanen, Reportagen und Kurzgeschichten die Fremde des Subkontinents lebendiger und spannender. Joseph Rudyard Kipling war ein britischer Schriftsteller und Dichter. Zu seinen bekanntesten Werken zählen "Das Dschungelbuch" und der Spionage-Roman "Kim". Kipling gilt als wichtiger Vertreter des Kurzgeschichten-Genres und als hervorragender Erzähler. 1907 erhielt er als damals jüngster und erster englischsprachiger Schriftsteller den Literaturnobelpreis. - Das Dschungelbuch - Das neue Dschungelbuch - Kim - Wie der Leopard seine Flecke bekam uva. Alle wichtigen Werke auf 2500 Seiten - mit einem Aufsatz zu Leben und Werk. Null Papier Verlag

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Rudyard Kipling

Rudyard Kipling - Gesammelte Werke

Romane, Märchen & Erzählungen

Rudyard Kipling

Rudyard Kipling - Gesammelte Werke

Romane, Märchen & Erzählungen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-91-7

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Ru­dyard Kip­ling -- Le­ben und Werk

Vor­wort des Au­tors

Ro­ma­ne

Das Dschun­gel­buch

Das neue Dschun­gel­buch

Lan­ge Lat­te & Ge­nos­sen

Er­lo­sche­nes Licht

Nau­lah­ka, das Staats­glück

Kim

Mär­chen

Die Ent­ste­hung des Gür­tel­tiers

Die Kat­ze, die al­lein spa­zie­ren­ging

Wie das Rhi­no­ze­ros sei­ne Haut be­kam

Wie der Leo­pard sei­ne Fle­cke be­kam

Der Krebs, der mit der See spiel­te

Wie der Wal­fisch sei­nen Sch­lund be­kam

Der Sings­ang vom al­ten Mann Kän­gu­ruh

Wie das Ka­mel sei­nen Bu­ckel be­kam

Das Ele­fan­ten­kind

Der Schmet­ter­ling, der mit dem Fuß stampf­te

Wie das Al­pha­bet ent­stand

Wie der ers­te Brief ge­schrie­ben wur­de

Er­zäh­lun­gen

Lis­peth

Drei Wal­zer -- und eine Ex­tra­tour

Ver­geu­det

Miss Youg­hals ›Sais‹

Im Joch

Zwie­licht

Pluffles’ Be­frei­ung

Amors Pfei­le

Die drei Mus­ke­tie­re

Der Wen­de­punkt

Uhren

Der An­de­re

Fol­gen

Die Be­keh­rung Au­re­li­an Mc. Gogg­ins

Die Ein­nah­me von Lung­tung­pen

Der Ba­zil­len­tö­ter

Ent­führt

Die Ver­haf­tung des Leut­nants Go­light­ly

Im Hau­se Sud­dhoos

Sei­ne Ehe­frau

Der Re­kord­bre­cher

Jen­seits

Ir­run­gen

Ein Bank­be­trug

Tod­dys An­trag

Die Toch­ter des Re­gi­ments

In der Blü­te sei­ner Ju­gend

Schwei­ne

Die Flucht der Wei­ßen Husa­ren

Die Bronck­hor­st’­sche Schei­dung

Ve­nus An­no­do­mi­ni

Der Bisa­ra von Poo­ree

Mei­nes Freun­des Freund

Das Tor der hun­dert Lei­den

Der Wahn­sinn des Ge­mei­nen Or­the­ris

Die Ge­schich­te von Mu­hammad Din

Auf Grund ei­ner Ähn­lich­keit

Wress­ley vom Aus­wär­ti­gen Amt

Eine münd­li­che Bot­schaft

Ad acta zu le­gen

Krisch­na Mul­va­ney

Der *Deus ex ma­china*

Die Ge­schich­te des Ge­mei­nen Learoyd

Das trun­ke­ne Hei­mats­kom­man­do

Der so­li­de Mul­doon

Auf der Haupt­wa­che

In An­ge­le­gen­hei­ten ei­nes Ge­mei­nen

Am Ende der Fahrt

Na­both

Moti Guj, der Meu­te­rer

»Ohne pries­ter­li­chen Se­gen«

Durchs Feu­er

»Köp­fe«

Serang Pam­bés Har­ren und Hof­fen

Finanz­wirt­schaft der Göt­ter

Das Stig­ma des Tie­res

Im­rays Rück­kehr

Die ge­spens­ti­sche Rik­scha

Mor­row­bie Ju­kes’ Ritt zu den To­ten

Klein-To­brah

Der Mann, der Kö­nig sein woll­te

»Der Pfad zum La­chen­den Brun­nen«

Die Stadt der furcht­ba­ren Näch­te

Der Aus­ge­lösch­te

Ge­or­gie Por­gie

Die Ju­den in Shushan

Über die Gren­ze

Die Bot­schaft vom Jen­seits

Das Tor der hun­dert Sor­gen

In Sod­dhus Hau­se

In­dex

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Rudyard Kipling -- Leben und Werk

Ru­dyard Kip­ling war der große Chro­nist In­diens zur Zeit des bri­ti­schen Em­pi­res. Kein Zwei­ter be­schrieb in sei­nen Ro­ma­nen, Re­por­ta­gen und Kurz­ge­schich­ten die Frem­de des Sub­kon­tin­ents le­ben­di­ger und span­nen­der.

Jo­seph Ru­dyard Kip­ling (Geb. 30. De­zem­ber 1865 in Bom­bay; Gest. 18. Ja­nu­ar 1936 in Lon­don) war ein bri­ti­scher Schrift­stel­ler und Dich­ter. Zu sei­nen be­kann­tes­ten Wer­ken zäh­len »Das Dschun­gel­buch« und der Spio­na­ge-Ro­man »Kim«. Kip­ling gilt als wich­ti­ger Ver­tre­ter des Kurz­ge­schich­ten-Gen­res und als her­vor­ra­gen­der Er­zäh­ler. 1907 er­hielt er als da­mals jüngs­ter und ers­ter eng­lisch­spra­chi­ger Schrift­stel­ler den Li­te­ra­tur­no­bel­preis, den Re­kord als jüngs­ter Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger hält er bis heu­te. Ver­schie­de­ne an­de­re Ehrun­gen und eine Er­he­bung in den Adels­stand lehn­te er ab.

Le­ben

Ru­dyard Kip­ling wur­de im in­di­schen Bom­bay ge­bo­ren. Sein Va­ter war Ma­ler und Leh­rer an ei­ner Kunst­schu­le. Sei­nen Vor­na­men ver­dankt er dem Lake Ru­dyard in Staf­fords­hi­re, an dem sei­ne El­tern sich ver­lobt hat­ten. Kip­ling wur­de mehr­spra­chig er­zo­gen, als Kind emp­fand er Eng­lisch den­noch als Fremd­spra­che. Mit fünf Jah­ren wur­de nach Eng­land ge­schickt und dort bei Pfle­ge­el­tern auf­ge­zo­gen. 1878 wur­de Kip­ling zur Mi­li­tär­schu­le zu­ge­las­sen. Die No­vel­le »Stal­ky & Co«. (deutsch »Lan­ge Lat­te und Ge­nos­sen«) schil­dert die dort ge­mach­ten Er­fah­run­gen. Ein Sti­pen­di­um für eine aka­de­mi­sche Aus­bil­dung wur­de ihm nicht zu­er­kannt. 1882 reis­te Kip­ling zu­rück nach In­di­en. Er be­schrieb dort den Ein­druck wie folgt:

»So, at six­teen years and nine months, but loo­king four or five years ol­der, and ad­or­ned with real whis­kers which the scan­da­li­sed Mo­ther abo­lis­hed wi­thin one hour of be­hol­ding, I found my­self at Bom­bay whe­re I was born, mo­ving among sights and smells that made me de­li­ver in the ver­nacu­lar sen­tences who­se mea­ning I knew not.«1

(»Nun, mit 16 Jah­ren und neun Mo­na­ten, aber vier oder fünf Jah­re äl­ter aus­se­hend und mit ei­nem Schnurr­bart, den die ent­setz­te Mut­ter bin­nen ei­ner Stun­de ent­fern­te, be­fand ich mich in Bom­bay, wo ich ge­bo­ren war, und be­weg­te mich zwi­schen An­bli­cken und Gerü­chen, die mich Sät­ze in der an­ge­stamm­ten Spra­che stam­meln lie­ßen, de­ren Be­deu­tung ich nicht kann­te.«)

Die An­kunft ver­än­der­te Kip­ling we­sent­lich, die Jah­re in Eng­land er­schie­nen ihm als Last, die nun von ihm ab­zu­fal­len be­gann.

1892 hei­ra­te­te er Ca­ro­li­ne Balas­tier; ihr Bru­der, ein ame­ri­ka­ni­scher Au­tor, war ein Freund Kip­lings. Kip­ling leb­te mit sei­ner Frau die nächs­ten vier Jah­re in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten.

Kip­ling war ein ent­schie­de­ner Be­für­wor­ter des Ers­ten Welt­krie­ges. Doch 1915 fiel sein äl­tes­ter Sohn John im Al­ter von nur 18 Jah­ren im Kampf. Kip­ling hat­te John er­mög­licht, mit ei­nem ge­fälsch­ten Ge­burts­da­tum sei­nen Mi­li­tär­dienst an­zu­tre­ten. Vol­ler Schuld schrieb Kip­ling den Grab­spruch für sei­nen Sohn: »If any Ques­ti­on why we died, tell them, be­cau­se our fa­thers lied« (»Wenn je­mand fragt, warum wir star­ben, sagt ih­nen, weil un­se­re Vä­ter ge­lo­gen ha­ben«). Den Tod sei­nes Soh­nes the­ma­ti­sier­te Kip­ling in dem Ge­dicht »My boy Jack«.

Nach dem Ers­ten Welt­krieg war der Op­ti­mis­mus frü­he­rer Jah­re ei­ner zu­neh­mend düs­te­ren Hal­tung ge­wi­chen, was sich in vie­len sei­ner spä­ten Er­zäh­lun­gen nie­der­schlug. Sei­ne li­te­ra­ri­sche Po­pu­la­ri­tät ging zu­rück.

Ru­dyard Kip­ling starb 1936 im Al­ter von 70 Jah­ren an ei­ner Hirn­blu­tung. Er wur­de in der West­mins­ter Ab­bey zu Gra­be ge­tra­gen.

Werk

1882 kehr­te Kip­ling nach La­ho­re (im heu­ti­gen Pa­kis­tan) zu­rück, wo sei­ne El­tern in­zwi­schen leb­ten. Er ar­bei­te­te dort zu­nächst als Re­dak­teur ei­ner ört­li­chen Zei­tung und be­gann, Ly­rik und Er­zäh­lun­gen zu schrei­ben. Ab Mit­te der 1880er Jah­re be­reis­te er den in­di­schen Sub­kon­ti­nent als Kor­re­spon­dent. Gleich­zei­tig wur­den sei­ne Bü­cher er­folg­reich; bis 1888 hat­te er be­reits sechs Bän­de mit Kurz­ge­schich­ten ver­öf­fent­licht.

1889 kehr­te Kip­ling nach Eng­land zu­rück. Zu sei­nen li­te­ra­ri­schen Freun­den und För­de­rern ge­hör­ten Hen­ry Ri­der Hag­gard und Hen­ry Ja­mes. Schnell wur­de er be­rühmt für sei­ne rea­lis­ti­schen Er­zäh­lun­gen und Ge­dich­te. Sein ers­ter Ro­man »Er­lo­sche­nes Licht« (»The Light that Fai­led«) er­schi­en 1890.

Wäh­rend sei­nes Auf­ent­hal­tes in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten (1892-96) be­gann er Kin­der- und Ju­gend­bü­cher zu schrei­ben, un­ter an­de­rem sein be­kann­tes­tes Werk »Das Dschun­gel­buch« (»The Jun­gle Book«) und »Das neue Dschun­gel­buch« (»The Se­cond Jun­gle Book«).

1897 ent­stand an­läss­lich des 60. Thron­ju­bi­lä­ums von Kö­ni­gin Vic­to­ria das Ge­dicht »Re­ces­sio­na« -- ein pes­si­mis­ti­scher, war­nen­der Blick auf die Selbst­ge­fäl­lig­keit und Selbst­herr­lich­keit des Bri­ti­schen Em­pi­res. Im fol­gen­den Jahr reis­te Kip­ling nach Afri­ka und be­gann er­neut, Ma­te­ri­al für ein wei­te­res Kin­der­buch zu sam­meln, »Nur so Mär­chen« (»Just so Sto­ries«), das 1902 er­schi­en. Kip­ling schrieb die­ses Buch für sei­ne Toch­ter Jo­se­phi­ne. In die­sen Ge­schich­ten ver­such­te er, die Wa­rum-Fra­gen klei­ner Kin­der zu be­ant­wor­ten: »Wie das Ele­fan­ten­kind sei­nen Rüs­sel be­kam«, »Wie der Leo­pard zu sei­nen Fle­cken kam« und »Wie der ers­te Brief ge­schrie­ben wur­de«.

Zu ei­nem Syn­onym des Im­pe­ria­lis­mus wur­de der Ti­tel sei­nes Ge­dichts »The Whi­te Man’s Bur­den« (»Die Bür­de des wei­ßen Man­nes«) von 1899, mit dem er die Zi­vi­li­sie­rung der »Wil­den« zu ei­ner ethi­schen Last ver­klärt, die dem »wei­ßen Mann« auf­er­legt sei. Das Ge­dicht gilt als ei­nes der we­sent­li­chen Zeug­nis­se des Im­pe­ria­lis­mus; sein Ti­tel wur­de sprich­wört­lich.

1901 er­schi­en der Ro­man »Kim«, der bis heu­te als ei­nes von Kip­lings be­deu­tends­ten Wer­ken gilt. Kim, Sohn ei­nes iri­schen Sol­da­ten, wächst als Wai­sen­kind auf den Stra­ßen von La­ho­re auf, wo er trotz sei­ner bri­ti­schen Ab­stam­mung als »Ein­ge­bo­re­ner« gilt. Den Ro­man durch­zieht eine Kri­mi­nal- und Spio­na­ge­ge­schich­te, die als An­lass dient, Kim durch große Tei­le In­diens rei­sen und die je­wei­li­gen Ge­bräu­che er­le­ben zu las­sen. Der Ro­man gilt -- auch in In­di­en -- als eine der bes­ten li­te­ra­ri­schen Dar­stel­lun­gen In­diens in der Ko­lo­ni­al­zeit. Er war das Lieb­lings­buch von Ja­wa­har­lal Neh­ru, des ers­ten Mi­nis­ter­prä­si­den­ten ei­nes von Bri­tan­ni­en un­ab­hän­gi­gen In­diens.

Ru­dyard Kip­ling: So­me­thing of my­self and other au­to­bio­gra­phi­cal wri­tings.  <<<

Vorwort des Autors

Im Nor­den In­diens stand einst ein Klos­ter, ge­nannt die Ghu­ba­ra des Dhun­ni Bha­gat. Nie­mand weiß heu­te mehr, wer Dhun­ni Bha­gat ge­we­sen ist. Er hat­te sein Le­ben ge­lebt, wie es eben je­der Hin­du lebt, hat­te ein biß­chen Geld er­wor­ben und es, wie je­der gute Hin­du tun soll, auf ein from­mes Werk ver­wen­det: eben jene Chu­ba­ra. Die­se Chu­ba­ra ent­hielt eine Men­ge ge­mau­er­ter Zel­len, de­ren Wän­de mit Bil­dern von Göt­tern, Kö­ni­gen und Ele­fan­ten bunt be­malt wa­ren. As­ke­tisch aus­se­hen­de Pries­ter pfleg­ten dar­in zu sit­zen und über die Letz­ten Din­ge nach­zu­den­ken. Die Gän­ge wa­ren mit Zie­geln ge­pflas­tert; die nack­ten Füße Tau­sen­der hat­ten sie zu Rinn­stei­nen aus­ge­höhlt. Gras­bü­schel wuch­sen in ih­ren Rit­zen, hei­li­ge Fei­gen­bäu­me brei­te­ten ihre Blät­ter aus über die Brun­nen­win­de, die den gan­zen Tag über knarr­te und ächz­te, Scha­ren von Pa­pa­gei­en schwirr­ten durch das Ge­äst, Krä­hen und Eich­hörn­chen wa­ren zahm wie Haus­tie­re; wuß­ten sie doch, daß ih­nen von den Pries­tern kei­ner­lei Ge­fahr droh­te!

Die wan­dern­den Bett­ler, die Amu­lett­ver­käu­fer und hei­li­gen Land­strei­cher auf hun­dert Mei­len in der Run­de mach­ten die Chu­ba­ra zu ih­rem Un­ter­kunfts- und Ru­he­platz. Mo­ham­me­da­ner, Sik­hs, Hin­dus, ein­träch­tig ge­sell­ten sie sich zu­ein­an­der un­ter den Bäu­men -- Grei­se alle mit­sam­men. -- Wenn der Mensch sich dem Weg­kreuz der großen Nacht nä­hert, er­schei­nen ihm die vie­len, ver­schie­de­nen Glau­bens­for­men der Welt wun­der­bar gleich und farb­los.

Go­bind, der Ein­äu­gi­ge, er­zähl­te mir dies al­les. Er war ein hei­li­ger Mann, hat­te frü­her auf ei­ner In­sel in­mit­ten des Flus­ses ge­lebt und zwei­mal am Tage die Fi­sche mit Brot­kru­men ge­füt­tert. Wenn zur Zeit des Hoch­was­sers auf­ge­dun­se­ne Lei­chen an den Strand ge­trie­ben ka­men, sorg­te Go­bind da­für, daß sie pie­tät­voll be­gra­ben wur­den -- um der Ehre der Mensch­heit wil­len und auch mit Rück­sicht auf sei­ne ei­ge­ne der­eins­ti­ge Abrech­nung mit Gott. Als spä­ter eine Über­schwem­mung zwei Drit­tel der In­sel weg­spül­te, kam Go­bind über den Fluß hin­über in die Chu­ba­ra des Dhun­ni Bha­gat mit sei­nem kup­fer­nen Trink­ge­fäß, das ihm am Brun­nen­seil be­fes­tigt um den Hals hing, mit sei­ner nä­gel­be­schla­ge­nen kur­z­en Arm­stüt­ze, sei­ner Ge­be­trol­le, sei­ner großen Pfei­fe, sei­nem Son­nen­schirm, sei­ner ho­hen zucker­hut­för­mi­gen Kopf­be­de­ckung mit der ni­cken­den Pfau­en­fe­der. -- Er wi­ckel­te sich in sei­ne, aus Fli­cken je­der Far­be und je­des Stof­fes der Welt zu­sam­men­ge­setz­te De­cke, hock­te sich in eine Ecke der fried­voll ru­hi­gen Chu­ba­ra, stütz­te den Arm auf sei­ne kur­ze Krücke und er­war­te­te den Tod. -- Das Volk brach­te ihm Nah­rung und Sträuß­chen von Dot­ter­blu­men, und er gab ih­nen sei­nen Se­gen da­für. -- Er war fast blind und sein Ge­sicht über jede Be­schrei­bung fal­tig, ver­run­zelt und durch­furcht, denn er hat­te schon zu ei­ner Zeit das Licht der Welt er­blickt, als die Eng­län­der noch nicht ein­mal auf fünf­hun­dert Mei­len an das Ge­biet her­an­ge­kom­men wa­ren, in der die Chu­ba­ra des Dhun­ni Bha­gat lag.

Als wir nä­her mit­ein­an­der be­kannt wur­den, er­zähl­te mir Go­bind bis­wei­len Ge­schich­ten mit ei­ner Stim­me, dumpfrol­lend wie eine Holz­brücke, über die schwe­re Ka­no­nen fah­ren. Es wa­ren wirk­lich wah­re Ge­schich­ten, aber un­ter zwan­zig könn­te man auch nicht eine in ei­nem eu­ro­päi­schen Bu­che dru­cken; die Eu­ro­pä­er den­ken in an­de­rer Wei­se als die Ein­ge­bo­re­nen. Sie brü­ten über Din­ge, die zu über­den­ken der Ein­ge­bo­re­ne sich Zeit läßt, bis der ge­eig­ne­te Mo­ment ein­ge­tre­ten ist, und wor­auf sie nicht zwei Ge­dan­ken ver­wen­den wür­den, dar­über grü­belt der Ein­ge­bo­re­ne stun­den­lang nach. -- Wenn sie dann zu ei­ner ge­mein­sa­men Un­ter­hal­tung zu­sam­men­tref­fen -- Ein­ge­bo­re­ne und Eu­ro­pä­er -- so star­ren sie ein­an­der ver­glast an, durch brei­te Klüf­te des Miß­ver­ste­hens ge­trennt.

»Und was ist dein eh­ren­wer­tes Ge­wer­be«, frag­te mich ei­nes Sonn­tag­abends Go­bind, »und wo­mit er­wirbst du dir dein täg­li­ches Brot?«

»Ich bin«, sag­te ich, »ein Kera­ni -- ei­ner, der mit der Fe­der auf Pa­pier schreibt -, ob­gleich ich nicht im Diens­te der Re­gie­rung ste­he.«

»Was schreibst du also?« frag­te Go­bind. »Komm nä­her, denn ich kann dein Ge­sicht nicht se­hen und das Ta­ges­licht schwin­det.«

»Ich schrei­be von al­len Din­gen, die ich ver­ste­he, aber auch von vie­len Din­gen, die ich nicht ver­ste­he. Haupt­säch­lich schrei­be ich über das Le­ben und über den Tod, von Män­nern und von Wei­bern und über Lie­be und Schick­sal, je nach dem Maß mei­ner Kraft, in­dem ich die Ge­schich­ten ei­ner, zwei oder meh­re­ren Per­so­nen in den Mund lege. -- Dann wer­den die Ge­schich­ten ver­kauft, wenn Gott es zu­läßt, und das Geld fließt mir zu, da­mit ich da­von le­ben kann.«

»Ich ver­ste­he«, sag­te Go­bind. »Das­sel­be tut auch der Ge­schich­ten­er­zäh­ler in den Ba­zars, nur spricht er un­mit­tel­bar zu den Män­nern und Frau­en und schreibt nichts auf. Wenn je­doch sei­ne Ge­schich­te die all­ge­mei­ne Er­war­tung er­regt hat und auf dem Punk­te an­ge­langt ist, wo dem Tu­gend­haf­ten in der Schil­de­rung Ge­fahr droht, dann un­ter­bricht er sie plötz­lich und ver­langt Be­zah­lung, be­vor er fort­fährt. -- Machst du es bei dei­nem Be­ru­fe eben­so, mein Sohn?«

»Ich habe ge­hört, daß es auch bei mei­nes­glei­chen so et­was Ähn­li­ches gibt. Wenn eine Ge­schich­te sehr lang ist, dann ver­kauft man sie in Ab­schnit­ten wie eine Me­lo­ne.«

»Oh, ich war auch ein­mal ein be­rühm­ter Ge­schich­ten­er­zäh­ler«, sag­te Go­bind. »Da­mals, als ich auf der Land­stra­ße zwi­schen Kos­hin und Etra bet­tel­te, vor mei­ner letz­ten Pil­ger­fahrt nach Oris­sa. Oh, ich habe sehr vie­le Ge­schich­ten er­zählt und noch viel mehr ge­hört, wenn wir des Abends nach lan­ger Wan­de­rung froh bei­sam­men sa­ßen. Ich tra­ge die Ge­wiß­heit im Her­zen, daß er­wach­se­ne Men­schen so sind wie die Kin­der, wenn es sich um Ge­schich­ten han­delt; die äl­tes­ten Ge­schich­ten sind ih­nen die liebs­ten.«

»Bei dei­nen Leu­ten ist das so«, sag­te ich, »aber die Men­schen mei­nes Vol­kes wol­len im­mer neue Ge­schich­ten und, wenn sie sie ge­le­sen ha­ben, dann ste­hen sie auf und sa­gen, so oder so ge­schrie­ben hät­ten sie ih­nen bes­ser ge­fal­len; sie be­zwei­feln, ob sie auch wahr sei­en, oder spre­chen ge­ring­schät­zig von ih­rer Er­fin­dung.«

»O wie tö­richt!« rief Go­bind und er­hob sei­ne runz­li­ge Hand. »Eine Ge­schich­te ist wahr, so­lan­ge die Er­zäh­lung dau­ert. Und was das Schwät­zen dar­über be­trifft -- nun, du weißt ja, was Bi­las Khan, der doch der Kö­nig al­ler Ge­schich­ten­er­zäh­ler war, zu ei­nem ge­sagt hat, der ihn in ei­nem großen Un­ter­kunfts­hau­se an der Stra­ße nach Jhe­lum un­ter­brach und ver­spot­te­te: -- ›Fahr du jetzt fort, mein Bru­der‹, sag­te er, ›und vollen­de, was ich be­gon­nen habe!‹ -- Der Spöt­ter nahm zwar den Fa­den der Er­zäh­lung auf, aber da er we­der die Stim­me noch die nö­ti­ge Gabe be­saß, blieb er ste­cken und muß­te es sich ge­fal­len las­sen, daß ihn die Pil­ger die hal­be Nacht hin­durch ver­höhn­ten und knuff­ten.«

»Bei uns sind die Leu­te aber in ih­rem Recht, da sie ja ihr Geld da­für her­ge­ben. Man darf doch auch ei­nem Schus­ter Vor­wür­fe ma­chen, wenn die Schu­he nicht gut sind, die man bei ihm ge­kauft hat. Wenn ich wie­der ein­mal ein Buch schrei­be, sollst du es zu se­hen krie­gen und be­ur­tei­len.«

»Ja, ja, auch der Pa­pa­gei sag­te zu dem fal­len­den Baum: War­te, Bru­der, bis ich eine Stüt­ze hole«, sag­te Go­bind und lach­te grim­mig. »Gott hat mir be­reits acht­zig Jah­re ge­ge­ben und noch ein paar dar­über. Ich kann jetzt nur mehr auf Tage rech­nen. Je­der Tag, der mir ge­währt wird, ist eine Gna­de. Du müß­test dich also recht sehr be­ei­len.«

»In wel­cher Wei­se gehe ich wohl am bes­ten bei mei­nem Be­ru­fe vor«, frag­te ich, »o du Fürst al­ler de­rer, die Per­len mit der Zun­ge auf­rei­hen?«

»Wie kann ich das wis­sen?« Go­bind dach­te eine klei­ne Wei­le nach. »Doch warum soll­te ich es auch nicht wis­sen! -- Gott hat vie­le Köp­fe ge­macht, aber es gibt nur ein Herz in der gan­zen Welt, bei dei­nen Leu­ten und bei mei­nen Leu­ten. Alle sind sie Kin­der, wenn es sich um Ge­schich­ten han­delt!«

»Ja, aber ge­ra­de Kin­der kön­nen fürch­ter­lich wer­den, wenn man ein Wort an die falsche Stel­le setzt oder beim zwei­ten­mal Er­zäh­len auch nur um einen Deut ab­weicht.«

»Frei­lich! Das weiß ich! Habe ich doch auch einst sol­chen Kin­dern Ge­schich­ten er­zählt; mach es so: -« Sei­ne al­ten Au­gen ruh­ten ver­son­nen auf den bun­ten Wand­ma­le­rei­en, der blau­en und ro­ten Kup­pel und den flam­men­den Poin­set­ti­en im Hin­ter­grund. »Er­zähl ih­nen zu­erst von den Din­gen, die du mit ih­nen zu­sam­men ge­se­hen hast. Dann wird ihr ei­ge­nes Wis­sen das er­gän­zen, was du un­voll­stän­dig läßt. So­dann er­zäh­le ih­nen, was du al­lein ge­se­hen hast, dann, was du sel­ber ge­hört hast, und dann -- da sie ja alle Kin­der sind -- er­zähl ih­nen von Schlach­ten, von Kö­ni­gen, Pfer­den, Teu­feln, Ele­fan­ten und En­geln; aber ver­giß auch nicht, ih­nen von Lie­be und der­glei­chen zu er­zäh­len. Die Erde ist voll von Ge­schich­ten für je­mand, der hö­ren kann und die Ar­men nicht von sei­ner Türe weist; die Ar­men sind die bes­ten Ge­schich­ten­er­zäh­ler, denn sie müs­sen jede Nacht ihr Ohr an die Erde le­gen.«

Seit je­nem Ge­spräch reif­te der Stoff für mein Buch in mei­nem Kopf von Tag zu Tag, und Go­bind er­kun­dig­te sich wie­der­holt und ein­ge­hend, wel­che Fort­schrit­te es ma­che.

Nach­dem wir uns Mo­na­te nicht mehr ge­se­hen hat­ten, er­hielt ich die Nach­richt, daß ich ver­rei­sen müß­te, und ging, Ab­schied von ihm zu neh­men.

»Ich kom­me heu­te, um dir Le­be­wohl zu sa­gen«, be­gann ich, »denn ich muß eine lan­ge Rei­se un­ter­neh­men, Go­bind.«

»Ich auch! Eine län­ge­re noch als du! Aber wie steht es mit dem Buch, mein Sohn?«

»Es wird recht­zei­tig ge­bo­ren wer­den, wenn es so sein soll.«

»Ich woll­te, ich könn­te es noch se­hen«, sag­te der alte Mann und kau­er­te sich un­ter sei­ner De­cke zu­sam­men. »Aber das wird nicht ge­sche­hen. Ich wer­de in drei Ta­gen ster­ben. Nachts. Kurz vor Son­nen­auf­gang. Die Zahl mei­ner Jah­re ist reif.«

In neun Fäl­len un­ter zehn täuscht sich ein Ein­ge­bo­re­ner nicht über den Tag sei­nes To­des. Er hat in die­ser Hin­sicht das Ah­nungs­ver­mö­gen ei­nes Tie­res.

»Dann wirst du in Frie­den schei­den; dei­ne Rede ist gute Rede, daß das Le­ben dir kei­ne Freu­de ist.«

»Es ist scha­de, daß das Buch noch nicht ge­bo­ren ist. Wie wer­de ich wis­sen, ob mein Name wirk­lich dar­in auf­ge­zeich­net ist?«

»Ich ver­spre­che dir, daß gleich am An­fang des Bu­ches, al­lem än­dern vor­an, ste­hen soll, daß Go­bind, der Sad­dhu, von der In­sel im Flus­se, und in Er­war­tung Got­tes in der Chu­ba­ra des Dhun­ni Bha­gat, mir zu­erst von dem Bu­che ge­spro­chen hat«, sag­te ich.

»Und sei­nen Rat dazu ge­ge­ben hat -- den Rat ei­nes al­ten Man­nes -- den Rat Go­binds, des Soh­nes Go­binds, aus dem Dor­fe Chu­mi im Kreis Ka­raon, im Distrikt Mool­tan. Wird auch das dar­in ste­hen?« forsch­te der Greis.

»Auch das wird dar­in ste­hen.«

»Und das Buch wird über das Schwar­ze Was­ser ge­hen bis in die Häu­ser der Leu­te dei­nes Vol­kes, und alle Sa­hibs wer­den von mir wis­sen, der ich jetzt äl­ter als acht­zig Jah­re bin?«

»Alle, die das Buch le­sen, wer­den von dir wis­sen. Für die an­de­ren kann ich nicht gut­ste­hen.«

»Das ist gute Rede. Ruf sie alle her­bei mit lau­ter Stim­me, die im Klos­ter sind, da­mit ich es ih­nen er­zäh­len kann!«

Und sie ka­men alle her­bei, die Fa­ki­re, die Sad­dhus, die Sun­nya­sis, die Bai­ra­gis, die Ni­han­gis und Mul­lahs, -- Pries­ter al­ler Re­li­gio­nen und in je­dem Gra­de der Zer­lumpt­heit. Go­bind, auf sei­ne Krücke ge­stützt, sprach zu ih­nen mit ei­ner Be­geis­te­rung, daß sie sämt­lich von Neid er­füllt wur­den, bis ein weiß­haa­ri­ger Greis ihn er­mahn­te, an sein Ende zu den­ken, an­statt an den ver­gäng­li­chen Ruhm im Mun­de der Frem­den. Dann gab mir Go­bind sei­nen Se­gen, und ich ging fort.

Die Ge­schich­ten, die ich in dem Bu­che brin­ge, habe ich an al­len mög­li­chen Or­ten ge­sam­melt, habe sie ge­hört aus dem Mun­de so man­chen Pries­ters in der Chu­ba­ra, aus dem Mun­de Ala Yars, des Bild­schnit­zers, und Ji­wun Sing­hs, des Schlos­sers -- von Men­schen ohne Na­men, die ich auf Damp­fern und in Ei­sen­bahn­zü­gen traf, von Wei­bern, die im Zwie­licht vor ih­ren Hüt­ten span­nen, von Of­fi­zie­ren und Gent­le­men, die längst tot und be­gra­ben sind; ei­ni­ge hat mir mein Va­ter auf den Weg mit­ge­ge­ben, sie sind die bes­ten.

Die be­mer­kens­wer­tes­ten Ge­schich­ten kann ich hier nicht brin­gen -- aus leicht­be­greif­li­chen Grün­den!

Romane

Das Dschungelbuch

Moglis Brüder

Nun bringt der Weih die dunkle Nacht, Und ›Mang‹, die Fle­der­maus, er­wacht. Der Stall birgt al­les Her­den­tier, Denn bis zum Mor­gen herr­schen wir! Die Stun­de stol­zer Kraft hebt an Für Pran­ken­hieb und schar­fen Zahn. Jagd­heil! und kühn ge­hetzt, ge­rafft: Das Dschun­gel­recht ist jetzt in Kraft.Nacht­ge­sang im Dschun­gel

Ge­gen sie­ben Uhr an ei­nem recht schwü­len Som­mer­abend in den Sio­ni­ber­gen er­wach­te Va­ter Wolf, gähn­te, reck­te sich und streck­te die Läu­fe, einen nach dem an­de­ren, um das Schlaf­ge­fühl in den Pfo­ten los­zu­wer­den. Ne­ben ihm lag Mut­ter Wolf, die lan­ge graue Nase quer über den vier win­seln­den und quar­ren­den Jun­gen, und von drau­ßen her schi­en der Mond in die Höh­le, in der sie alle haus­ten.

»A-ruff«, knurr­te Va­ter Wolf, »schon wie­der Zeit, auf Jagd zu ge­hen.« Gera­de woll­te er den Hang hin­ab­set­zen, als am Ein­gang der Höh­le ein klei­ner Schat­ten mit bu­schi­ger Rute er­schi­en und win­sel­te: »Glück sei mit dir, Häupt­ling der Wöl­fe! Und viel Glück dei­nen ed­len Kin­dern, wei­ße, schar­fe Zäh­ne sol­len ih­nen wach­sen. Mö­gen sie nie die Hun­gern­den und Dar­ben­den ver­ges­sen in die­ser Welt!«

Der Scha­kal war es -- Ta­ba­qui, der Schüs­sel­le­cker. Die Wöl­fe in In­di­en ver­ach­ten ihn, weil er Un­heil stif­tend um­her­schweift und böse Ge­schich­ten er­zählt. Ja, er ver­schlingt so­gar alte Lum­pen und Le­der­stücke von den Ab­fall­hau­fen der Dör­fer. Aber sie fürch­ten ihn auch, denn Ta­ba­qui wird leicht von Toll­wut be­fal­len, viel leich­ter als ir­gend­ein an­de­res Tier in der Dschun­gel. Dann ver­gißt er, daß er je Angst ge­habt hat, rennt blind­wü­tend durch die Wäl­der und beißt und würgt al­les, was ihm in den Weg kommt. Dann flüch­tet selbst der Ti­ger vor dem klei­nen Ta­ba­qui und ver­birgt sich im Dickicht; denn von der Toll­wut be­fal­len zu wer­den, ist die größ­te Schan­de für die Tie­re der Wild­nis. Wir Men­schen nen­nen es Hy­dro­pho­bie, aber die Be­woh­ner der Dschun­gel sa­gen ein­fach De­wa­nii -- Wahn­sinn -- und flüch­ten da­von.

»Tritt ein und schau«, sag­te Va­ter Wolf. »Fraß fin­dest du hier nicht.«

»Für einen Wolf wohl kaum«, ant­wor­te­te Ta­ba­qui. »Aber für ein so nied­ri­ges Ge­schöpf wie ich ist ein tro­ckener Kno­chen ein Fest­schmaus. Wer sind wir denn, wir Gidur­log, wir ar­mes Scha­kal­volk, daß wir wäh­le­risch sein könn­ten?« Er trat nach dem Hin­ter­grund der Höh­le und fand dort den Kno­chen ei­nes ge­ris­se­nen Bocks mit noch et­was Fleisch dar­an; bald saß er und knack­te ver­gnügt an dem Kno­chen.

»Tie­fen Dank für das präch­ti­ge Mahl«, sag­te er, sich die Lip­pen le­ckend. »Ah, wie schön sind die ed­len Kin­der! Wie groß und klar sind ihre Au­gen. Und so jung sind sie noch, die lie­ben Klei­nen! Frei­lich -- frei­lich, es ist ja all­be­kannt, daß Kin­der von Kö­ni­gen schon Män­ner sind von Ge­burt an.«

Nun wuß­te Ta­ba­qui eben­so­gut wie je­der an­de­re, daß man nichts Un­schick­li­che­res tun kann, als Kin­der ins Ge­sicht hin­ein zu lo­ben -- denn das ist von schlim­mer Vor­be­deu­tung. Und es freu­te ihn, als Va­ter und Mut­ter Wolf be­tre­ten schwie­gen.

Noch eine Wei­le saß Ta­ba­qui und wei­de­te sich an dem Un­heil, das er an­ge­rich­tet hat­te. Dann sag­te er bos­haft:

»Schir Khan, der Ge­wal­ti­ge, hat sei­ne Jagd­grün­de ver­legt. Hier in die­sen Hü­geln wird er ja­gen im nächs­ten Mond -- so sag­te er mir selbst.«

Schir Khan war der Ti­ger, der an den Ufern des Wain­gun­gaflus­ses leb­te -- un­ge­fähr zwan­zig Mei­len ent­fernt.

»Dazu hat er kein Recht!« braus­te Va­ter Wolf auf. »Nach dem Ge­setz der Dschun­gel darf er sei­ne Jagd­grün­de nicht wech­seln ohne vor­he­ri­ge An­kün­di­gung. Al­les Wild wird er uns ver­grä­men auf zehn Mei­len im Um­kreis, und ich -- ich muß jetzt ja­gen für zwei.«

»Sei­ne Mut­ter nann­te ihn nicht ohne Grund Lan­gri, den Lah­men«, warf Mut­ter Wolf ein. »Lahm auf ei­nem Fuß ist er von Ge­burt an. Da­rum auch reißt er nur Rind­vieh. Nun sind die Dör­f­ler am Wain­gun­ga zor­nig über ihn, und jetzt kommt er hier­her und wird un­se­re Dör­f­ler auf­brin­gen. Um sei­net­wil­len wer­den sie die Dschun­gel aus­räu­chern, wenn er schon wie­der weit fort ist; wir aber und un­se­re Jun­gen müs­sen dann flüch­ten, wenn das Gras in Brand ge­steckt ist. Wahr­lich, sehr dank­bar sind wir ihm, dem großen Schir Khan!«

»Soll ich ihm viel­leicht eu­ren Dank über­brin­gen?« frag­te Ta­ba­qui.

»Pack dich!« japp­te Va­ter Wolf. »Geh zu dei­nem Herrn und Meis­ter! Un­heil ge­nug hast du ge­stif­tet in ei­ner Nacht!«

»Ich gehe!« sag­te Ta­ba­qui ge­las­sen. »Da könnt ihr ihn schon hö­ren, den Schir Khan, drun­ten im Dickicht. Die Bot­schaft konn­te ich mir spa­ren.«

Lau­schend spitz­te Va­ter Wolf die Ohren. Dann ver­nahm er un­ten im Tal, das sich zu ei­nem klei­nen Bach hin­ab­senkt, das är­ger­li­che, schnar­ren­de, nä­seln­de Ge­win­sel ei­nes Ti­gers, der nichts ge­schla­gen hat­te und den es nicht küm­mert, daß al­les Dschun­gel­volk sein Miß­ge­schick er­fährt.

»Der Narr, der!« knurr­te Va­ter Wolf. »Die Nacht­ar­beit mit sol­chem Lärm zu be­gin­nen! Glaubt er etwa, daß un­se­re Bö­cke eben­so dumm sind wie sei­ne fet­ten Och­sen am Wain­gun­gafluß?«

»Still!« sag­te Mut­ter Wolf. »Still, Al­ter. Hörst du denn nicht? We­der Och­se noch Bock hetzt er heu­te … den Men­schen jagt er!«

Das Ge­win­sel des Ti­gers ging nun über in ein lang­ge­zo­ge­nes, sum­men­des Schnur­ren -- so laut und doch so un­be­stimmt, daß es schi­en, als käme es aus al­len Him­mels­rich­tun­gen zu­gleich. Das war das Sum­men, das den Holz­fäl­lern und Zi­geu­nern, die in den Lich­tun­gen ras­ten, das Blut er­star­ren macht -- kopf­los flie­hen sie dann, stür­zen wie von Sin­nen da­von, oft ge­ra­de hin­ein in den flam­men­den Ra­chen des Ti­gers.

»Men­schen!« wie­der­hol­te Va­ter Wolf und fletsch­te sei­ne wei­ßen Zäh­ne. »Puh! Gibt es denn nicht ge­nug Ge­würm und Frösche in den Sümp­fen, daß er Men­schen fres­sen muß … und noch dazu in un­se­rem Ge­bie­te?«

Das Ge­setz der Dschun­gel, das nichts ohne gu­ten Grund vor­schreibt, ver­bie­tet den Tie­ren, Men­schen an­zu­grei­fen, mit der ein­zi­gen Aus­nah­me, wenn ein Tier sei­ne Jun­gen das Ja­gen und Tö­ten lehrt. Das aber darf nur ab­seits ge­sche­hen, nie­mals in den Jagd­grün­den des ei­ge­nen Ru­dels oder Stam­mes. Der wah­re Grund da­für ist, daß frü­her oder spä­ter, wenn ein Mensch ge­tö­tet ist, die Bleich­ge­sich­ter an­rücken auf Ele­fan­ten, mit Büch­sen be­waff­net, be­glei­tet von Hun­der­ten von brau­nen Die­nern, mit Gongs, Ra­ke­ten und Fa­ckeln. Dann ha­ben alle in der Dschun­gel zu lei­den. Die Tie­re aber ge­ben als Grund an, daß der Mensch das schwäch­lichs­te und wehr­lo­ses­te al­ler Ge­schöp­fe ist, da­her sei es un­sport­lich, ihn an­zu­grei­fen. Sie sa­gen fer­ner -- und das ist die Wahr­heit --, vom Men­schen­fleisch wür­den sie räu­dig und ver­lö­ren die Zäh­ne.

Lau­ter wur­de das Schnur­ren und en­de­te plötz­lich in ei­nem schar­fen, tief­keh­li­gen »Aaaoh!« beim Auf­sprung des Ti­gers.

Dann er­tön­te Ge­heul -- un­ti­ge­ri­sches Ge­heul und Ge­maunz von Schir Khan. »Er hat ge­fehlt«, sag­te Mut­ter Wolf. »Was war es?«

Va­ter Wolf trab­te ein paar Schrit­te vor die Höh­le und ver­nahm das wü­ten­de Ge­heul Schir Khans, der in den Bü­schen im Tal­grund her­um­feg­te.

»So ein Dumm­kopf«, brumm­te Va­ter Wolf. »In das Feu­er ei­nes Holz­fäl­lers ist er ge­sprun­gen und hat sich da­bei die Pfo­ten ver­brannt! Ta­ba­qui ist bei ihm.«

»Et­was kommt den Hü­gel her­auf«, flüs­ter­te Mut­ter Wolf und stell­te einen Lau­scher hoch. »Auf­ge­paßt!«

In dem Ge­büsch ra­schel­te es lei­se, und Va­ter Wolf duck­te sich, zum Sprun­ge be­reit. Dann aber ge­sch­ah et­was höchst Selt­sa­mes. Der Wolf war ge­sprun­gen, be­vor er noch das Ziel er­kannt hat­te, und such­te sich nun plötz­lich mit­ten im Sat­ze auf­zu­hal­ten. Die Fol­ge war, daß er vier oder fünf Fuß ker­zen­ge­ra­de in die Luft schoß und fast auf der­sel­ben Stel­le lan­de­te, von der er ab­ge­sprun­gen war.

»Ein Mensch!« stieß er her­vor. »Ein Men­schen­jun­ges! Sieh nur!«

Gera­de vor ihm, an einen nied­ri­gen Zweig ge­klam­mert, stand ein nack­ter, brau­ner Jun­ge, der eben erst lau­fen ge­lernt hat­te -- ein ganz zar­tes, klei­nes, kraus­lo­cki­ges We­sen, das da in der Nacht zu ei­ner Wolfs­höh­le ge­kom­men war. Es sah dem Wolf ins Ge­sicht und lach­te.

»Was?« frag­te Mut­ter Wolf. »Ist das ein Men­schen­jun­ges? Ich habe noch nie eins ge­se­hen. Bring es her!«

Wöl­fe, die ihre ei­ge­nen Jun­gen über Stock und Stein tra­gen, kön­nen, wenn nö­tig, ein Ei zwi­schen die Zäh­ne neh­men, ohne es zu zer­bre­chen. Ob­gleich sich Va­ter Wolfs Ra­chen über dem Kin­de schloß, so hat­ten sei­ne spit­zen Zäh­ne doch nicht ein­mal die wei­che Haut des stram­peln­den Klei­nen ge­ritzt, als er ihn zu sei­nen ei­ge­nen Jun­gen leg­te.

»Wie win­zig! Wie nackt und -- wie tap­fer!« sag­te Mut­ter Wolf sanft. Der Klei­ne dräng­te die Wolfs­jun­gen bei­sei­te, um dicht an das war­me Fell der Mut­ter zu ge­lan­gen. »Ahai, er sucht sei­ne Nah­rung ganz wie die an­de­ren. Das also ist ein Men­schen­jun­ges? Sag, hat sich je eine Wöl­fin rüh­men kön­nen, ein Men­schen­jun­ges un­ter ih­ren Kin­dern zu ha­ben?«

»Hier und dort hör­te ich da­von, doch nie­mals in un­se­rem Ru­del oder zu mei­ner Zeit«, ant­wor­te­te Va­ter Wolf. »Wahr­haf­tig, ganz ohne Haar ist der Kör­per. Mit ei­nem Pran­ken­schlag könn­te ich es zer­quet­schen. Aber sieh doch, wie es auf­schaut zu uns, und nicht ein biß­chen Angst hat es.«

Da plötz­lich wur­de es dun­kel in der Höh­le. Dem Mond­lich­te wur­de der Ein­tritt ver­sperrt, denn Schir Khans mäch­ti­ger, ecki­ger Kopf und brei­te Schul­ter scho­ben sich in den Ein­gang. Ta­ba­qui rief hin­ter ihm her mit schril­ler Stim­me:

»Hier, mein Ge­bie­ter -- hier ist es hin­ein­ge­gan­gen.«

»Schir Khan er­weist uns große Ehre!« sag­te Va­ter Wolf, doch Zorn glomm in sei­nen Au­gen. »Was wünscht Schir Khan?«

»Mei­ne Beu­te! Ein Men­schen­jun­ges ist hier her­ein­ge­flüch­tet! Sei­ne El­tern sind da­von­ge­lau­fen. Gib es her­aus! Es ge­hört mir!«

Wie Va­ter Wolf ge­sagt hat­te, war Schir Khan in das Feu­er ei­nes Holz­fäl­lers ge­sprun­gen, und der Schmerz in den ver­brann­ten Pfo­ten mach­te ihn ra­send. Aber Va­ter Wolf wuß­te, daß die Öff­nung der Höh­le zu klein sei, um dem Ti­ger Ein­gang zu ge­stat­ten. Schon in sei­ner jet­zi­gen Stel­lung wa­ren Schir Khans Schul­tern und Vor­der­tat­zen ein­ge­zwängt, und er glich ei­ner wü­ten­den Kat­ze, die ver­ge­bens ver­sucht, in ein Mau­se­loch zu drin­gen.

»Wir Wöl­fe sind ein frei­es Volk«, sag­te der Wolf. »Un­se­re Be­feh­le neh­men wir nur von dem Füh­rer des Ru­dels, aber nicht von ir­gend­ei­nem ge­streif­ten Viehmör­der. Das Men­schen­jun­ge ge­hört uns. Wir kön­nen es tö­ten oder am Le­ben las­sen, ganz nach un­se­rem Be­lie­ben!«

»Be­lie­ben oder Nicht­be­lie­ben! Was schwatzt du für dum­mes Zeug? Bei dem Och­sen, den ich so­eben schlug, soll ich hier ste­hen und mir die Nase wund­sto­ßen am Ein­gang eu­rer Hun­de­be­hau­sung, um das zu ver­lan­gen, was mir ge­bührt? Schir Khan ist es, der mit dir spricht!«

Des Ti­gers Ge­brüll er­füll­te die Höh­le mit rol­len­dem Don­ner. Mut­ter Wolf schüt­tel­te ihre Jun­gen von sich ab; sie sprang vor, und ihre Au­gen starr­ten wie zwei grü­ne Mond­si­cheln in der Dun­kel­heit auf die bei­den lo­hen­den Lich­ter im ge­wal­ti­gen Kop­fe Schir Khans.

»Und ich, Rasch­ka, der Dä­mon, bin’s, der jetzt spricht und dir ant­wor­tet. Das Men­schen­jun­ge ge­hört mir, du lah­mer Lan­gri -- und mein wird es blei­ben. Es soll nicht ge­tö­tet wer­den! Es soll le­ben, um mit dem Pack zu ren­nen und zu ja­gen, und zu­letzt -- sieh dich vor, du großer Jä­ger klei­ner, nack­ter Jun­gen, du al­ter Pad­den­fres­ser, du Fisch­fän­ger! --, sieh dich vor, denn zu­letzt, ganz zu­letzt soll es dich het­zen, un­ser klei­nes Men­schen­jun­ges, ja, und soll dir das Fell über die Kat­ze­noh­ren zie­hen. Und nun pack dich fort! Oder ich schwör’s bei dem letz­ten Sam­bar, den ich schlug (ich ver­grei­fe mich nicht am hung­ri­gen Her­den­vieh), ich schwör’s, du ver­brann­tes Biest, lah­mer sollst du zu dei­ner Mut­ter zu­rück­keh­ren, als du zur Welt ge­kom­men bist. Fort mit dir!«

Ganz ver­blüfft blick­te Va­ter Wolf sie an. Fast ver­ges­sen hat­te er die Zeit, da er Mut­ter Wolf sich er­rang im of­fe­nen, ehr­li­chen Kampf ge­gen fünf an­de­re Wöl­fe -- da­mals, als sie mit dem Pack lief und nicht um­sonst der Dä­mon ge­nannt wur­de.

Schir Khan wür­de es wohl mit Va­ter Wolf auf­ge­nom­men ha­ben, aber ge­gen Mut­ter Wolf an­zu­ge­hen, das wag­te er denn doch nicht, denn er wuß­te, daß sie alle Vor­tei­le der Lage für sich hat­te und es einen Kampf auf Tod und Le­ben ge­ben wür­de. So zog er sich knur­rend aus dem en­gen Ein­gang zu­rück und brüll­te, als er frei war:

»Im ei­ge­nen Hof kläfft je­der Hund! Aber wir wol­len doch erst ein­mal se­hen, was das Ru­del zu die­ser Ge­schich­te sa­gen wird. Mir al­lein ge­hört das Men­schen­jun­ge, und zwi­schen mei­ne Zäh­ne wird es doch noch kom­men zu­letzt, ihr busch­schwän­zi­gen Spitz­bu­ben, ihr!«

Mut­ter Wolf warf sich keu­chend zwi­schen ihre Jun­gen nie­der, und Va­ter Wolf sag­te jetzt mit be­sorg­ter Mie­ne: »Schir Khan hat nicht ganz un­recht. Das Men­schen­jun­ge muß dem Ru­del ge­zeigt wer­den. Willst du es wirk­lich be­hal­ten?«

»Wirk­lich be­hal­ten?« frag­te sie ent­rüs­tet. »Nackt und ganz al­lein kam es zu uns in der Nacht und sehr hung­rig und hat­te doch nicht ein biß­chen Furcht. Sieh doch nur, jetzt hat es schon wie­der eins mei­ner Kin­der bei­sei­te ge­drückt. Und die­ser lah­me Vieh­schläch­ter hät­te es bei­na­he ver­schlun­gen und sich dann zum Wain­gun­gaflus­se aus dem Stau­be ge­macht, wäh­rend die Dorf­be­woh­ner hier alle Schlupf­win­kel durch­sucht hät­ten, um Ra­che zu neh­men! Ihn be­hal­ten? Na­tür­lich will ich das. Lieg still, klei­ner Frosch. Oh, mein Mo­g­li -- denn Mo­g­li, Frosch, wer­de ich dich nen­nen --, der Tag wird für dich kom­men, die­sen Schir Khan zu ja­gen und zu het­zen, wie er dich heu­te ge­hetzt hat!«

»Aber was wird un­ser Ru­del dazu sa­gen?« mein­te Va­ter Wolf.

Das Ge­setz der Dschun­gel stellt es je­dem Wol­fe frei, sich von dem Ru­del zu tren­nen, wenn er die Wöl­fin in sein La­ger holt. So­bald aber sei­ne Jun­gen groß ge­nug sind, um auf ei­ge­nen Läu­fen zu ste­hen, muß er sie zur Rats­ver­samm­lung brin­gen, die ein­mal im Mo­nat zur Zeit des Voll­monds tagt; und dort wer­den sie von al­len Wöl­fen des Rats in Au­gen­schein ge­nom­men und an­er­kannt. Nach die­ser Mus­te­rung ha­ben die Jun­gen das Recht, frei um­her­zu­strei­fen; und be­vor sie nicht ih­ren ers­ten Bock ge­ris­sen ha­ben, darf un­ter kei­nen Um­stän­den ein er­wach­se­ner Wolf sie an­grei­fen oder tö­ten. Das Ge­setz der Dschun­gel ist streng, und wer ge­gen die Vor­schrift fehlt, wird ohne Gna­de mit dem Tode be­straft. Wenn man ein biß­chen nach­denkt, muß man zu­ge­ben, daß es so sein muß.

Va­ter Wolf war­te­te, bis sei­ne Klei­nen lau­fen konn­ten, und dann nahm er sie alle mit Mut­ter Wolf und Mo­g­li ei­nes Nachts mit zum Rats­fel­sen, ei­ner Hü­gel­kup­pe, die mit Stei­nen und Ge­röll be­deckt war und die wohl hun­dert Wöl­fen und mehr ein si­che­res Ver­steck bot. Ake­la, der große, graue Ein­sie­del­wolf, war dank sei­ner Stär­ke und Schläue der Füh­rer des Ru­dels. Er lag lang aus­ge­streckt auf ei­nem ra­gen­den Fels­block, und et­was tiefer un­ter­halb kau­er­ten mehr als vier­zig Wöl­fe von je­der Far­be und Ge­stalt. Da wa­ren dachs­graue Ve­te­ra­nen, die es al­lein mit je­dem Bock auf­nah­men, bis her­un­ter zu den schwar­zen, drei Jah­re al­ten Wöl­fen, die mein­ten, sie könn­ten es auch. Der große, graue Ein­zel­gän­ger hat­te das Ru­del nun schon ein Jahr lang ge­führt. In sei­ner Ju­gend war er zwei­mal in Wolfs­fal­len ge­ra­ten, und ein­mal hat­te man ihn bei­na­he er­schla­gen; des­halb kann­te er ein gut Teil von den Sit­ten und Ge­bräu­chen der Men­schen.

In der Ver­samm­lung wur­de we­nig ge­spro­chen. Mit­ten im Krei­se, um den die El­tern sa­ßen, stol­per­ten und pur­zel­ten die Klei­nen um­her; ab und zu kam ein Alt­wolf laut­los her­bei, sah sich die Jun­gen ge­nau an, be­schnüf­fel­te sie sorg­fäl­tig und schritt dann wie­der gra­vi­tä­tisch auf sei­nen Platz zu­rück. Manch­mal schob eine be­sorg­te Mut­ter ihr Klei­nes recht weit hin­aus in das hel­le Mond­licht, um ganz si­cher zu sein, daß man es nicht über­se­hen habe. Von sei­nem Fel­sen rief Ake­la im­mer wie­der: »Ihr kennt das Ge­setz -- ihr kennt das Ge­setz wohl! Äu­get ge­nau, ihr Wöl­fe!« Und ängst­li­che Müt­ter nah­men den Ruf auf und wie­der­hol­ten: »Äu­get -- äu­get ge­nau, o Wöl­fe!«

Und zu­letzt -- Mut­ter Wolfs Na­cken­haa­re stell­ten sich hoch -- zu­letzt schob Va­ter Wolf »Mo­g­li, den Frosch«, in den Kreis. Da saß er la­chend und spiel­te mit klei­nen Stein­chen, die im Mond­licht glänz­ten. Ake­la hob sei­nen Kopf nicht von den Pran­ken, son­dern wie­der­hol­te den ein­tö­ni­gen Ruf: »Äu­get -- äu­get ge­nau!«

Da kam ein dump­fes Ge­brüll hin­ter den Fel­sen her­vor. Es war Schir Khans Stim­me: »Das Jun­ge ge­hört mir! Gebt es mir! Was hat das freie Volk mit ei­nem Men­schen­jun­gen zu schaf­fen?«

Ake­la rühr­te nicht ein­mal die Lau­scher, er sag­te nur: »Äu­get wohl, ihr Wöl­fe! Was geht das freie Volk die Wei­sung ei­nes Fremd­lings an?«

Da er­hob sich im Rate ein Grol­len und Mur­ren. Ein jun­ger Wolf im vier­ten Jahr griff Schir Khans Fra­ge auf und warf sie Ake­la zu: »Was hat das freie Volk mit ei­nem Men­schen­jun­gen zu schaf­fen?«

Das Ge­setz der Dschun­gel be­stimmt, daß im Fal­le ei­ner Mei­nungs­ver­schie­den­heit, ob ein Jun­ges im Ru­del auf­ge­nom­men wer­den soll oder nicht, min­des­tens zwei Mit­glie­der des Ra­tes zu­guns­ten des Klei­nen spre­chen müs­sen, doch ha­ben die bei­den El­tern kei­ne Stim­me.

»Wer spricht für das Jun­ge?« frag­te Ake­la. »Wer un­ter dem frei­en Vol­ke spricht für ihn?«

Kei­ner mel­de­te sich, und Mut­ter Wolf mach­te sich be­reit zu ih­rem letz­ten Kampf -- denn sie wuß­te, daß es ihr letz­ter sein wür­de, wenn es zum Kamp­fe kam.

In die­sem Au­gen­blick stell­te sich Balu auf die Hin­ter­bei­ne und knurr­te -- Balu, der schläf­ri­ge, brau­ne Bär, der die jun­gen Wöl­fe das Dschun­gel­ge­setz lehrt. Der ein­zi­ge Fremd­ling ist er im Rate der Wöl­fe, er kann ge­hen und kom­men, ganz wie er will, denn er lebt nur von Nüs­sen, Wur­zeln und Ho­nig.

»Das Men­schen­jun­ge, das Men­schen­jun­ge?« frag­te er. »Ich spre­che für das Men­schen­jun­ge. Wa­rum denn nicht? Was kann ein Men­schen­jun­ges dem Pa­cke scha­den? Wie? Schö­ne Re­den hal­ten kann ich nicht, aber ich spre­che die Wahr­heit. Nehmt ihn auf und laßt ihn mit dem Ru­del lau­fen. Ich selbst wer­de ihn un­ter­rich­ten.«

»Noch einen Für­spre­cher brau­chen wir!« sag­te Ake­la. »Ba­lus Wort gilt, er ist der Leh­rer der Jun­gen. Wer spricht noch au­ßer Balu?«

Ein dunk­ler Schat­ten fiel in den Kreis. Es war Bag­hi­ra, der schwar­ze Pan­ther, tin­ten­schwarz über und über, doch mit der Pant­her­zeich­nung, die in der Sei­de des Fel­les zu­wei­len auf­leuch­te­te. Je­der kann­te Bag­hi­ra, und nie­mand kreuz­te gern sei­nen Pfad; denn schlau war er wie Ta­ba­qui, stark wie der Büf­fel und toll­kühn wie Ha­thi, der Ele­fant, wenn er ver­wun­det ist. Aber sei­ne Stim­me war sanft wie wil­der Ho­nig, der vom Bau­me tröp­felt, und sein Fell wei­cher als Flaum­fe­dern.

»Du, Ake­la, und ihr, das freie Volk!« schnurr­te er. »Ich habe kein Recht in eu­rer Ver­samm­lung; doch nach dem Dschun­gel­ge­set­ze kann das Le­ben ei­nes Jun­gen, des­sen Auf­nah­me be­strit­ten wird, für einen Preis er­kauft wer­den. Und das Ge­setz schreibt nicht vor, wer den Preis be­zah­len soll und wer nicht. Spre­che ich wahr?«

»Gut, sehr gut!« jaul­ten die im­mer hung­ri­gen jun­gen Wöl­fe. »Hört, was Bag­hi­ra sagt! Um einen Preis ist das Jun­ge ein­zu­kau­fen in das Ru­del. So steht’s im Ge­setz!«

»Ich habe kein Recht, hier zu spre­chen, so bit­te ich um eure Er­laub­nis!«

»Sprich nur!« schri­en zwan­zig Stim­men.

»Ein nack­tes Jun­ges zu tö­ten ist Schmach und Schan­de. Im üb­ri­gen taugt es bes­ser dazu, euch an ihm zu er­pro­ben, wenn es erst groß und er­wach­sen ist. Balu hat ge­spro­chen. Den Wor­ten Ba­lus füge ich nur einen Bul­len hin­zu -- fett, sage ich euch, und eben erst ge­tö­tet! Kei­ne hal­be Mei­le liegt er von hier, wenn ihr be­reit seid, das Men­schen­jun­ge auf­zu­neh­men nach dem Ge­setz. Leuch­tet euch das ein?«

Da tön­te es bunt durch­ein­an­der: »Wa­rum soll­ten wir nicht? Was kann es scha­den? Es wird ja doch im Win­ter­re­gen um­kom­men oder in der Son­ne ver­dor­ren. Was kann uns denn so ein nack­ter Frosch an­tun? Laßt ihn mit dem Ru­del lau­fen! Wo ist dein Bul­le, Bag­hi­ra! Wir stim­men für den An­trag!«

Und wie­der er­klang Ake­las hei­se­res Bel­len vom Fel­sen her: »Äu­get, ihr Wöl­fe! Äu­get ge­nau!«

Mo­g­li spielt ver­son­nen mit den Stein­chen; so wur­de er es gar nicht ge­wahr, daß die Wöl­fe ei­ner nach dem an­de­ren her­an­ka­men, um ihn zu be­äu­gen. Dann lie­fen sie alle den Hü­gel hin­ab zu dem to­ten Bul­len, und nur Ake­la, Bag­hi­ra, Balu und Mo­g­lis ei­ge­ne Wöl­fe blie­ben zu­rück. Schir Khans Ge­brüll er­füll­te die Nacht, denn er war sehr zor­nig, daß man ihm Mo­g­li nicht aus­ge­lie­fert hat­te.

»Heu­le nur!« brumm­te Bag­hi­ra in sei­nen Bart. »Heu­le nur! Die Zeit wird kom­men, dann wird das nack­te Ding dir in ei­ner an­de­ren Ton­art auf­spie­len -- oder ich weiß nichts vom Men­schen.«

»Gut ge­tan!« sag­te Ake­la. »Men­schen und ihre Jun­gen sind sehr klug. Wer weiß -- er kann uns spä­ter eine Hil­fe wer­den.«

»Wahr­lich, Hil­fe in der Not; denn kei­ner kann hof­fen, das Ru­del ewig zu füh­ren«, sag­te Bag­hi­ra.

Ake­la ant­wor­te­te nicht. Er ge­dach­te der Zeit, die für je­den Lei­ter ei­nes Ru­dels kommt, wenn sei­ne Stär­ke von ihm weicht, wenn er schwach und im­mer schwä­cher wird, bis zu­letzt die ei­ge­nen Wöl­fe über ihn her­fal­len und ihn rei­ßen. Ein neu­er Füh­rer er­steht, bis auch er an die Rei­he kommt, ge­tö­tet zu wer­den.

»Nimm das Men­schen­jun­ge fort mit dir«, sag­te Ake­la zu Va­ter Wolf, »und er­zie­he es, wie es sich ziemt für einen vom frei­en Volk.«

… Und so ge­sch­ah es, daß Mo­g­li im Ru­del der Sio­ni­wöl­fe auf­ge­nom­men wur­de um den Preis ei­nes fet­ten Bul­len und auf Ba­lus Für­spra­che.

Zehn oder zwölf Jah­re müßt ihr nun über­sprin­gen und euch selbst das selt­sa­me Le­ben aus­ma­len, das Mo­g­li un­ter den Wöl­fen führ­te; denn al­les im ein­zel­nen zu er­zäh­len, wür­de Bän­de fül­len. Mit den Wolfs­jun­gen wuchs er auf, aber die­se wa­ren na­tür­lich schon groß und stark, ehe noch Mo­g­li alle sei­ne Milch­zäh­ne hat­te. Va­ter Wolf lehr­te ihn al­les, was ein Wolf wis­sen muß­te, und weih­te ihn in das Le­ben der Dschun­gel ein, bis je­des Ra­scheln im Gra­se, je­der Hauch der war­men Nacht­luft, je­der Ruf der Eule über sei­nem Kopf, je­der Krat­zer von den Kral­len der Fle­der­mäu­se, wenn sie eine Wei­le im Baum ge­ras­tet hat­ten, und je­der klat­schen­de Sprung des kleins­ten Sil­ber­fi­sches im Tei­che -- bis dies al­les sei­ne ge­naue Be­deu­tung für ihn hat­te. Und wenn er nicht lern­te, dann lag er in der Son­ne und schlief und aß und leg­te sich wie­der schla­fen. War er durs­tig oder heiß, schwamm er in den Wei­hern des Wal­des. Hat­te er ein Ge­lüs­te nach Ho­nig (Balu sag­te ihm näm­lich, daß Ho­nig und Nüs­se min­des­tens so gut schmeck­ten wie Fleisch), dann klet­ter­te er in den Bäu­men um­her, und Bag­hi­ra zeig­te ihm, wie er das tun müs­se. Der schwar­ze Pan­ther war ein ver­stän­di­ger Leh­rer. Er sprang zu­erst selbst den Baum hin­auf, als sei es gar kein Kunst­stück, streck­te sich be­quem auf ei­nem Aste aus und rief: »Komm her zu mir, klei­ner Bru­der!« An­fäng­lich woll­te Mo­g­li sich an­klam­mern wie das Faul­tier, aber spä­ter schwang er sich durch die Baum­kro­nen fast so kühn wie der graue Affe.

Er hat­te bald auch sei­nen Platz bei dem Rats­fel­sen in der Ver­samm­lung. Und hier mach­te er ei­nes Ta­ges die selt­sa­me Ent­de­ckung, daß die Wöl­fe sei­nen Blick nicht aus­hal­ten konn­ten. Starr­te er ei­nem von ih­nen ge­ra­de ins Ge­sicht, so senk­te der Wolf die Au­gen. Und so ge­wöhn­te er sich dar­an, rein aus Mut­wil­len, sie an­zu­star­ren. Oft aber auch zog er mit sei­nem klei­nen, flin­ken Hän­den die Dor­nen aus den Bal­len sei­ner Freun­de, denn Wöl­fe lei­den schreck­lich un­ter Dor­nen und Sp­lit­tern in ih­ren Pfo­ten und ih­rem Fell. Zu­wei­len schlich er sich des Nachts nahe an die Dör­fer und be­trach­te­te neu­gie­rig die brau­nen Be­woh­ner der Hüt­ten; aber er miß­trau­te den Men­schen, denn Bag­hi­ra hat­te ihm eine Kas­ten­fal­le ge­zeigt, die mit schwe­ren Fang­ei­sen so ge­schickt im Gra­se ver­bor­gen war, daß Mo­g­li bei­na­he hin­ein­ge­ra­ten wäre. Am liebs­ten ging Mo­g­li mit dem Pan­ther so recht in das dunkle, feucht­war­me Herz des Ur­wal­des, um dort den schwü­len Tag über zu schla­fen und des Nachts Bag­hi­ra auf der Jagd zu be­glei­ten. Wenn der Pan­ther hung­rig war, würg­te er rechts und links al­les, was ihm in den Weg kam, und so tat auch Mo­g­li -- mit ei­ner ein­zi­gen Aus­nah­me. So­bald er alt und ver­stän­dig ge­nug ge­wor­den, sprach Bag­hi­ra zu ihm: »Die gan­ze Dschun­gel ge­hört dir, und du darfst al­les er­le­gen, was du zu tö­ten ver­magst -- aber um des Bul­len wil­len, für den du er­kauft wur­dest, darfst du nie­mals Rind­vieh tö­ten oder es­sen, es sei jung oder alt. So lau­tet das Ge­setz der Dschun­gel.«

Und Mo­g­li ge­horch­te ge­wis­sen­haft. Er wuchs und wur­de so stark, wie ein Kna­be wer­den muß, der nicht weiß, was ler­nen heißt, und an nichts zu den­ken hat, als was man es­sen kann.

Mut­ter Wolf er­zähl­te ihm ein- oder zwei­mal, daß man Schir Khan nicht trau­en dür­fe und daß er die Pf­licht habe, ei­nes Ta­ges den Ti­ger zu tö­ten. Ein Jung­wolf wür­de zu je­der Stun­de die­ser Mah­nung ge­dacht ha­ben; Mo­g­li aber ver­gaß sie im­mer und im­mer wie­der, denn er war nur ein Kna­be. Er selbst wür­de sich al­ler­dings einen Wolf ge­nannt ha­ben, hät­te er die Spra­che der Men­schen re­den kön­nen.

Häu­fig kreuz­te Schir Khan her­aus­for­dernd Mo­g­lis Pfad in der Dschun­gel; denn Ake­la wur­de äl­ter und schwä­cher, und der lah­me Ti­ger schloß Freund­schaft mit den Jung­wöl­fen des Ru­dels, die ihm folg­ten um des Beu­te­ab­falls wil­len. Das aber wäre nie ge­sche­hen in den Ta­gen von Ake­las Macht. Schir Khan schmei­chel­te den jun­gen Wöl­fen und frag­te oft ver­wun­dert, warum sich so star­ke, jun­ge Jä­ger von ei­nem ver­re­cken­den al­ten Wol­fe und ei­nem nack­ten Men­schen­jun­gen lei­ten lie­ßen.

»Man er­zählt sich in der Dschun­gel«, nä­sel­te er dann wohl höh­nisch, »daß ihr in der Rats­ver­samm­lung nicht wagt, dem Men­schen­kind in die Au­gen zu schau­en!« Dann knurr­ten die jun­gen Wöl­fe und sträub­ten das Fell.

Bag­hi­ra, der sei­ne Au­gen und Ohren über­all hat­te, er­fuhr da­von; und er warn­te Mo­g­li, daß Schir Khan ihm ei­nes schö­nen Ta­ges auf­lau­ern und ihn er­wür­gen wer­de. Aber Mo­g­li lach­te nur und ant­wor­te­te: »Ich habe doch das Ru­del und habe dich und habe Balu, der zwar faul ge­wor­den ist, aber im­mer noch für mich ein paar Schlä­ge aus­tei­len wür­de. Wa­rum also mich fürch­ten?«

An ei­nem sehr hei­ßen Tage war es, da über­kam den schwar­zen Pan­ther ein neu­er Ge­dan­ke -- viel­leicht hat­te er et­was ge­hört, oder Ikki, das Sta­chel­schwein, hat­te ihm da­von er­zählt. Kurz und gut, zu Mo­g­li sag­te er plötz­lich in der tiefs­ten Dschun­gel, als des Kna­ben Kopf auf Bag­hi­ras schwar­zem, schim­mern­dem Fell ruh­te:

»Klei­ner Bru­der, wie oft sag­te ich dir schon, daß Schir Khan dein Feind ist?«

»So oft, als Nüs­se an der Pal­me dort hän­gen«, ant­wor­te­te Mo­g­li, der na­tür­lich nicht zäh­len konn­te. »Doch, was soll’s? Schläf­rig bin ich, Bag­hi­ra, und Schir Khan ist nichts als ein lan­ger Schwanz und ein großes Maul, wie Mao, der Pfau.«

»Aber jetzt ist nicht Zeit zum Schla­fen. Balu weiß es; ich weiß es; das Ru­del weiß es, und so­gar die dum­men, dum­men Rehe wis­sen’s. Dir hat es auch Ta­ba­qui er­zählt.«

»Ho, ho«, höhn­te Mo­g­li. »Ta­ba­qui kam vor kur­z­em zu mir, das Maul voll fre­cher Re­dens­ar­ten: ich sei ein nack­tes Men­schen­jun­ges und tau­ge nicht ein­mal, um Erd­nüs­se aus­zu­gra­ben. Aber ich, ich pack­te ihn beim Schwan­ze und schwang ihn zwei­mal ge­gen eine Pal­me, um ihn An­stand zu leh­ren.«

»Dumm­heit war das! Ta­ba­qui ist zwar ein Un­heil­stif­ter, den­noch hät­te er dir von Din­gen er­zäh­len kön­nen, die dich nahe an­ge­hen. Sperr die Au­gen auf, klei­ner Bru­der. Schir Khan wird es nicht wa­gen, dich in der Dschun­gel zu wür­gen; aber be­den­ke, Ake­la ist sehr alt ge­wor­den, und bald wird der Tag kom­men, an dem er nicht mehr den Bock zu rei­ßen ver­mag, und dann -- hört er auf, Füh­rer des Ru­dels zu sein. Vie­le Wöl­fe, die dich da­mals im Rat mus­ter­ten, sind nun schon er­graut; die Jun­gen aber hän­gen Schir Khan an, der ih­nen vor­schwatzt, daß für ein Men­schen­jun­ges kein Platz ist im Ru­del. In kur­z­em wirst du ein Mann sein.«

»Und was ist denn ein Mann, daß er nicht mit sei­nen Brü­dern lau­fen soll?« frag­te Mo­g­li er­regt. »In der Dschun­gel bin ich ge­bo­ren, nach dem Ge­setz der Dschun­gel habe ich ge­lebt. Kei­ner ist im Ru­del, dem ich nicht schon einen Dorn aus der Pfo­te zog. Es sind doch mei­ne Brü­der.«

Bag­hi­ra streck­te sich in sei­ner gan­zen Län­ge aus und schloß halb die Au­gen. »Klei­ner Bru­der«, sag­te er, »füh­le mir ein­mal un­ter den Kie­fer.«

Mo­g­li hob sei­ne star­ke brau­ne Hand, und ge­ra­de un­ter Bag­hi­ras sei­di­gem Kinn, dort, wo die ge­wal­ti­gen Mus­keln spiel­ten un­ter dem glän­zen­den Fell, da fühl­te er eine klei­ne, kah­le Stel­le.

»Kei­ner in der Dschun­gel weiß, daß ich, Bag­hi­ra, die­ses Zei­chen tra­ge -- die Spur ei­nes Hals­rin­ges; und doch, mein klei­ner Bru­der, ist es wahr, daß ich un­ter Men­schen ge­bo­ren bin, und un­ter Men­schen siech­te mei­ne Mut­ter da­hin und ver­en­de­te -- in den Kä­fi­gen des Kö­nigs­pa­las­tes zu Udai­pur. Das war der Grund, warum ich den Preis für dich zahl­te, als du noch ein klei­nes, nack­tes Jun­ges warst. Ja, auch ich kam un­ter Men­schen zur Welt. Ich hat­te nie­mals die Dschun­gel ge­se­hen. Sie füt­ter­ten mich hin­ter ei­ser­nem Git­ter, bis ich ei­nes Nachts fühl­te, daß ich Bag­hi­ra sei, der Pan­ther! … und kein Spiel­zeug für Men­schen. Da zer­brach ich mit ei­nem Schlag mei­ner Tat­ze das Schloß, das dum­me, und war frei … und wur­de erst wirk­lich Bag­hi­ra, der Pan­ther. Und weil ich Men­schen­brauch kann­te, wur­de ich furcht­ba­rer in der Dschun­gel als Schir Khan. Ist es nicht so?«

»Ja, mein Bru­der, alle in der Dschun­gel fürch­ten Bag­hi­ra, alle, au­ßer Mo­g­li.«

»Oh, du bist ein Men­schen­kind!« sag­te der schwar­ze Pan­ther mit zärt­li­chem Knur­ren. »Und so wie ich zur Dschun­gel heim­kehr­te, so wirst du zu­letzt zu den Men­schen zu­rück­fin­den, den Men­schen, dei­nen Brü­dern -- wenn man dich nicht vor­her im Rate tö­tet.«

»Aber warum? Wa­rum soll­ten sie mich tö­ten?«

»Sieh mich an!« sag­te Bag­hi­ra, und Mo­g­li blick­te ihm fest in die Au­gen. Nach ei­ner hal­b­en Mi­nu­te wand­te der große Pan­ther den Kopf zur Sei­te. »Des­halb«, sag­te er und ver­schob die Pran­ke auf dem ra­scheln­den Laub­werk. »So­gar ich ver­mag dir nicht ge­ra­de in die Au­gen zu se­hen, und doch wur­de ich un­ter Men­schen ge­bo­ren und lie­be dich, mein klei­ner Bru­der. Aber die an­de­ren has­sen dich, weil dei­ne Au­gen ih­nen wehe tun, weil du wei­se bist und ih­nen Dor­nen aus den Tat­zen ge­zo­gen hast … kurz, weil du ein Men­sch bist!«

»Von al­le­dem wuß­te ich nichts«, sag­te Mo­g­li, und fins­ter run­zel­ten sich sei­ne schwar­zen Brau­en.

»Wie lau­tet das Ge­setz der Dschun­gel? Erst schla­ge und dann sprich! Gera­de an dei­ner Sorg­lo­sig­keit se­hen sie, daß du ein Mensch bist. Sei aber klug. Mir schwant, wenn Ake­la das nächs­te Mal sei­ne Beu­te fehlt … und je­des­mal wird es ihm schwe­rer, den Bock zu pa­cken … dann wird das gan­ze Ru­del über dich her­fal­len … über ihn und über dich. Ei­nen Dschun­gel­rat wer­den sie hal­ten am Fel­sen, dann aber -- dann -- -- -- Ich hab’s!« rief Bag­hi­ra er­regt und sprang auf. »Höre, klei­ner Bru­der, lau­fe so schnell du kannst ins Tal zu den Hüt­ten der Men­schen und hole die rote Blu­me, die sie dort he­gen. Dann wirst du in der Stun­de der Not einen mäch­ti­ge­ren Freund ha­ben als mich oder Balu oder die vom Ru­del, die dich lie­ben. Lauf schnell und hole die rote Blu­me!«

Bag­hi­ra mein­te mit der ro­ten Blu­me das Feu­er; aber kein Tier der Dschun­gel wird das Feu­er bei sei­nem Na­men nen­nen. In großer Furcht le­ben alle vor dem glü­hen­den Atem der Flam­me und er­fin­den hun­dert Wor­te, sie zu um­schrei­ben.

»Die rote Blu­me?« frag­te Mo­g­li, »die wächst vor den Hüt­ten in der Däm­me­rung. Ich will sie ho­len!«

»So spricht ein Men­schen­jun­ges!« er­wi­der­te Bag­hi­ra mit Stolz. »Ver­giß nicht, in klei­nen Töp­fen wächst sie. Und nun fort! Eile! Und be­wah­re sie wohl für die Zeit der Not!«

»Gut!« sag­te Mo­g­li. »Ich lau­fe. Aber bist du si­cher, mein lie­ber Bag­hi­ra«, er schlang sei­nen Arm um den glän­zen­den Hals sei­nes Freun­des und sah ihm tief in die großen Au­gen, »bist du auch ganz si­cher, daß al­les das Schir Khans Werk ist?«

»Bei dem ge­spreng­ten Schloß, das mich be­frei­te, si­cher bin ich, klei­ner Bru­der.«

»Dann, bei dem Bul­len, der mein Kauf­preis war, dann will ich Schir Khan voll heim­zah­len und viel­leicht auch ein we­nig mehr, als ich ihm schul­de.« Und mit lan­gen Sät­zen sprang Mo­g­li da­von.

Ja, Mensch! Ganz und gar Mensch, dach­te Bag­hi­ra, sich wie­der la­gernd. »Oh, Schir Khan, nie­mals gab es schlim­me­re Jagd als dei­ne Frosch­het­ze vor zehn Jah­ren!«

Mo­g­li rann­te und rann­te durch den Wald, und hoch schlug ihm das Herz. Als der Abend­ne­bel stieg, ge­lang­te er zu der Höh­le, schöpf­te Atem und blick­te hin­ab ins Tal. Sei­ne Brü­der wa­ren fort, aber Mut­ter Wolf lag hin­ten im Däm­mer der Höh­le. Sie hör­te sei­nen keu­chen­den Atem und wuß­te so­gleich, daß ihr klei­ner Frosch Kum­mer hat­te.

»Was hast du, Sohn?« frag­te sie.

»Ach, nichts, nichts, nur dum­mes Ge­schwätz von Schir Khan!« rief er zu­rück. »Ich jage auf den ge­pflüg­ten Fel­dern heu­te nacht!« und fort war er, sei­nen Weg durch das Dickicht bah­nend, fort zum Flus­se im Tal­grun­de. Da plötz­lich stutz­te er, denn er ver­nahm das Ge­heul des ja­gen­den Ru­dels, hör­te dump­fes Röh­ren ge­hetz­ter Sam­bar­hir­sche und das wil­de Schnau­ben des Bockes, der sich den Ver­fol­gern stell­te. Dann er­tön­te das höh­ni­sche, böse Heu­len der jun­gen Wöl­fe. »Ake­la, Ake­la! Der Ein­sie­del­wolf zei­ge sei­ne Stär­ke. Platz dem Füh­rer des Ru­dels. Spring an, Ake­la!«

Und Ake­la sprang, muß­te aber ge­fehlt ha­ben, denn Mo­g­li hör­te das schar­fe Zu­klap­pen des Ge­bis­ses und gleich dar­auf ein Weh­ge­heul, als der wü­ten­de Hirsch mit sei­nen Vor­der­läu­fen den Wolf nie­der­schlug.

Mo­g­li ver­harr­te nicht län­ger, son­dern presch­te wei­ter. Das Bel­len und Heu­len hin­ter ihm ward schwä­cher, als er durch die Äcker und Saat­fel­der lief zu den Woh­nun­gen der Men­schen.

»Bag­hi­ra sprach wahr«, keuch­te er und ließ sich auf ei­nem Stroh­hau­fen ne­ben dem Fens­ter ei­ner Hüt­te nie­der­fal­len, »mor­gen gil­t’s uns bei­den -- Ake­la und mir!«

Dann er­hob er sich ge­räusch­los, preß­te das Ge­sicht ge­gen das klei­ne Fens­ter und be­ob­ach­te­te das Feu­er auf dem Herd. Er sah, wie in der Nacht das Weib des Dör­f­lers auf­stand und dem Feu­er klei­ne schwar­ze Stücke zur Nah­rung gab. Als dann der Mor­gen an­brach und weiß und kalt die Ne­bel zo­gen, ge­wahr­te er, wie der Kna­be des Dör­f­lers einen Wei­den­korb nahm, der in­nen mit Lehm aus­ge­legt war, Stücke rot­glü­hen­der Holz­koh­le hin­ein­tat, ihn zu­deck­te und hin­austrat, um nach den Kü­hen im Stall zu se­hen.

»Ist das al­les?« sag­te Mo­g­li zu sich. »Wenn das ein Men­schen­jun­ges tun kann, so ist kei­ne Ge­fahr da­bei.« Er bog rasch um die Ecke, trat auf den Kna­ben zu, ent­riß ihm den Topf und war im Ne­bel ver­schwun­den, wäh­rend der Jun­ge in ein Angst­ge­heul aus­brach.

Sie se­hen ganz aus wie ich -- die Men­schen, dach­te Mo­g­li und blies in den Topf, wie es die Frau ge­macht hat­te. Es wird ster­ben, wenn ich es nicht füt­te­re. Und er leg­te klei­ne Zwei­ge und Baum­rin­de auf die rote Blu­me. Er war schon wie­der weit den Berg hin­auf, als er Bag­hi­ra traf, auf des­sen Fell die Tau­trop­fen des Mor­gens wie Mond­stei­ne glänz­ten.

»Ake­la hat den Sprung ver­fehlt«, er­zähl­te der Pan­ther. »Sie hät­ten ihn schon die­se Nacht ge­tö­tet, aber auch dich woll­ten sie ha­ben. Über­all in der Dschun­gel such­ten sie nach dir.«

»Bei den Hüt­ten der Men­schen war ich. Jetzt bin ich be­reit. Sieh!« Er hielt den rau­chen­den Topf in die Höhe.

»Gut, aber höre. Ich sah, wie die Men­schen einen tro­ckenen Ast in die Mas­se bohr­ten, und dann blüh­te plötz­lich die rote Blu­me an sei­nem Ende auf. Hast du kei­ne Angst?«

»Nein! Wa­rum soll­te ich denn? Jetzt ent­sin­ne ich mich -- wenn es kein Traum war --, wie ich einst, be­vor ich ein Wolf wur­de, ne­ben der ro­ten Blu­me lag; warm war sie und freund­lich.«

Mo­g­li saß den gan­zen Tag in der Höh­le bei sei­nem Feu­er­top­fe und steck­te tro­ckene Zwei­ge hin­ein, um zu se­hen, wie die rote Blu­me auf­zün­gel­te. Zu­letzt fand er einen star­ken Ast, der ihm ge­fiel. Am Abend dann, als Ta­ba­qui in die Höh­le kam und ihm höh­nisch zu­rief, er wer­de ge­wünscht auf dem Rats­fel­sen, da lach­te er und lach­te, bis Ta­ba­qui ent­setzt da­von­lief. Und la­chend noch ging Mo­g­li zur Rats­ver­samm­lung der Wöl­fe.

Ake­la, der Ein­sie­del­wolf, la­ger­te am Fuß sei­nes fel­si­gen Sit­zes zum Zei­chen, daß die Füh­rer­schaft des Ru­dels frei war. Schir Khan schritt stolz auf und ab, um­schmei­chelt von sei­nem An­hang, den ab­fall­fres­sen­den Wöl­fen. Bag­hi­ra lag dicht bei Mo­g­li, der den Feu­er­topf zwi­schen den Kni­en hielt. Als alle voll­zäh­lig ver­sam­melt wa­ren, hob Schir Khan an zu spre­chen, wie er’s zur Zeit von Ake­las kraft­vol­ler Füh­rung nie ge­wagt ha­ben wür­de.

»Er hat kein Recht zu re­den«, flüs­ter­te Bag­hi­ra. »Sage ihm das! Ein Hun­de­sohn ist er! Sag es ihm! Er wird dann Furcht ha­ben!«

Mo­g­li sprang auf. »Frei­es Volk!« rief er. »Ist Schir Khan des Ru­dels Füh­rer? Was hat ein Ti­ger mit der Füh­rer­schaft zu tun?«

»In An­be­tracht des­sen, daß die Füh­rer­schaft frei ist -- in An­be­tracht, daß ich er­sucht wor­den bin, zu spre­chen…«, be­gann Schir Khan.

»Er­sucht? Von wem?« rief Mo­g­li. »Sind wir denn alle Scha­ka­le, daß wir vor die­sem lah­men Vieh­schläch­ter krie­chen? Die Füh­rer­schaft über das Ru­del steht ganz al­lein dem Ru­del zu.«

Wil­des Ge­schrei er­hob sich: »Schwei­ge, du Men­schen­jun­ges!« Und an­de­re rie­fen: »Er rede! Er hat das Ge­setz ge­hal­ten!« End­lich über­tön­te die don­nern­de Stim­me des Äl­tes­ten des Ru­dels das Ge­wirr: »Der tote Wolf soll spre­chen. Ake­la hat das Wort.« So­bald näm­lich der Füh­rer des Ru­dels sei­ne Beu­te ver­fehlt hat, wird er der ›to­te Wol­f‹ ge­nannt, so­lan­ge er noch am Le­ben ist.

Ake­la hob müde sein grau­es Haupt und sag­te:

»Frei­es Volk, und auch ihr, Scha­ka­le Schir Khans! Zwölf Jah­re lang führ­te ich euch vom La­ger zum Schla­gen, vom Schla­gen zum La­ger, und wäh­rend der gan­zen Zeit ge­riet kei­ner in Fal­len, kam kei­ner zu Scha­den. Nun habe ich mei­ne Beu­te ge­fehlt. Ihr alle wißt von der Ver­schwö­rung ge­gen mich. Ihr wißt, wie ihr mich zu dem Bock in der Brunft ge­bracht habt, um dem Ru­del mei­ne Schwä­che zu zei­gen. Die Fal­le war gut ge­stellt. Euer Recht ist nun, mich hier am Rats­fel­sen zu tö­ten. Ich fra­ge da­her, wer kommt an, um mit dem al­ten Füh­rer ein Ende zu ma­chen? Denn mein Recht ist nach Dschun­gel­ge­setz, daß ihr ein­zeln kommt, um mit dem al­ten Füh­rer ein Ende zu ma­chen. Denn mein Recht ist nach Dschun­gel­ge­setz, daß ihr ein­zeln kommt, um mich an­zu­ge­hen, ei­ner nach dem an­de­ren.«

Tie­fes Schwei­gen herrsch­te rings­um; nie­mand reg­te sich, denn kei­ner hat­te den Mut, Ake­la zu Tode zu kämp­fen. Da brüll­te Schir Khan:

»Bah! Was ha­ben wir denn mit die­sem zahn­lo­sen Nar­ren zu schaf­fen? Er ist so­wie­so dem Tode ver­fal­len! Aber das Men­schen­jun­ge ist’s, um das es sich han­delt! Frei­es Volk, er war mei­ne Beu­te von An­be­ginn! Lie­fert ihn mir aus! Mei­ne Ge­duld mit ihm ist zu Ende! Die­ser Men­schen­wolf hat zehn Jah­re lang in der Dschun­gel sein Un­we­sen ge­trie­ben! Gebt ihn her­aus, oder … ich schwör’s … ich wer­de im­mer­dar in eu­ren Grün­den ja­gen und kei­nen tro­ckenen Kno­chen üb­riglas­sen. Mensch ist er, ei­nes Men­schen Kind -- ich has­se ihn, bis in das Mark mei­ner Ge­bei­ne has­se ich ihn!« Mehr als die Hälf­te des Ru­dels heul­te:

»Ein Mensch ist er! Was ha­ben wir mit ei­nem Men­schen zu schaf­fen? Zum Men­schen­pack gehe er, wo er hin­ge­hört!«

»Um alle Dör­f­ler ge­gen uns auf­zu­het­zen?« frag­te Schir Khan. »Nein, gebt ihn mir. Mensch ist er, und kei­ner von uns ver­mag ihm in die Au­gen zu bli­cken.«

Wie­der er­hob Ake­la den grau­en Kopf. »Er hat mit uns sich ge­sät­tigt. Er hat mit uns ge­schla­fen. Er hat uns das Wild zu­ge­jagt. Er hat nie­mals ein Ge­setz der Dschun­gel ge­bro­chen.«

»Ich zahl­te einen Bul­len für ihn als Preis für sei­ne Auf­nah­me. Ge­wiß, der Wert ei­nes Bul­len ist ge­ring, aber für sei­ne Ehre wird Bag­hi­ra mög­li­cher­wei­se zu kämp­fen wis­sen«, sag­te der Pan­ther mit sanf­ter Stim­me.

»Ein Bul­le, vor zehn Jah­ren be­zahlt«, knurr­te das Ru­del. »Was küm­mern uns alte ge­bleich­te Kno­chen?«

»Auch nicht Ver­trä­ge?« Bag­hi­ra fletsch­te sein wei­ßes Ge­biß. »Frei­es Volk nennt man euch und mit Recht.«

»Kein Men­schen­jun­ges darf lau­fen und le­ben mit den Völ­kern der Dschun­gel«, heul­te Schir Khan. »Gebt ihn mir frei!«

»Er ist un­ser Bru­der in al­lem -- nur nicht im Blu­te!« fuhr Ake­la fort, »und den­noch wollt ihr ihn er­wür­gen? Wahr­lich, zu lan­ge schon habe ich ge­lebt! Man­che un­ter euch sind Vieh­fres­ser ge­wor­den, und an­de­re -- so hör­te ich sa­gen -- schlei­chen sich nachts im Ge­fol­ge Schir Khans in die Dör­fer und steh­len klei­ne Kin­der von den Tür­schwel­len! Feig­lin­ge seid ihr und Hun­de­ge­zücht, und zu Feig­lin­gen spre­che ich jetzt. Ich bin dem Tode ver­fal­len, und kei­nen Wert hat mein Le­ben, sonst wür­de ich es euch an­bie­ten, um das Men­schen­jun­ge zu ret­ten. Aber um der Ehre des Ru­dels wil­len, die ihr -- füh­rer­los ge­wor­den -- ver­gaßt, schwö­re ich euch, daß ich mich nicht weh­ren will, wenn mei­ne Zeit kommt, zu ster­ben! Laßt das Men­schen­jun­ge in sein Dorf zu­rück­keh­ren, und ich las­se mich wil­lig von euch zer­rei­ßen, ohne zu kämp­fen! Das wird zum min­des­tens drei­en aus dem Ru­del das Le­ben ret­ten. Mehr kann ich nicht tun; aber wenn ihr wollt, kann ich euch die Schan­de er­spa­ren, einen Bru­der zu tö­ten, ge­gen den kei­ne Kla­ge ist -- einen Bru­der, für den man sprach und den man ein­kauf­te ins Pack nach dem Ge­setz der Dschun­gel.«

»Er ist ein Mensch -- Mensch -- Mensch!« knurr­te wü­tend das Ru­del, und die meis­ten Wöl­fe be­gan­nen sich um Schir Khan zu scha­ren, des­sen Schwanz die Luft peitsch­te.

»Jetzt ist’s an dir!« sag­te Bag­hi­ra zu Mo­g­li. »Uns bleibt nur der Kampf!«

Mo­g­li stand auf­recht, den Feu­er­topf in den Hän­den. Dann streck­te er die Arme aus und gähn­te den knur­ren­den Wöl­fen ge­ra­de ins Ge­sicht. Aber im Her­zen war er ra­send vor Wut und Trau­er, denn nach Wolfs­art hat­ten die Wöl­fe ihn nie­mals mer­ken las­sen, wie sehr sie ihn haß­ten.