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Ein zweifelhaftes Erbe, ein dunkles Familiengeheimnis und eine Leiche im Keller . . . Am Neusiedler See wird's heiter bis tödlich. Ex-Polizist Nikolaus Lauda ist gern für sich – und ausgerechnet er wird in den Erbschaftsstreit einer großen Unternehmerfamilie verwickelt. Dass das hinterlassene Weinlogistik-Imperium auf wackeligen Füßen steht, ist bei der Lösung der Querelen genauso wenig hilfreich wie die mumifizierte Leiche, auf die er im Keller der Familienvilla stößt. Gemeinsam mit seinem ehemaligen Todfeind Vito Violino versucht Lauda, Licht ins Dunkel zu bringen, doch das wird schnell gefährlicher, als ihm lieb ist . . .
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Seitenzahl: 446
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Lukas Pellmann wurde 1979 in Essen geboren und lebt seit 1990 in Wien. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft und arbeitete jahrelang als Journalist. Seit 2015 hat er mehrere Kriminalromane sowie einen Roman veröffentlicht. Daneben schreibt er unter anderem Kurzgeschichten mit Usern von derstandard.at, organisiert Foto-Ausstellungen mit der Wiener Instagram-Community und bloggt auf booksinvienna.at.
www.lukaspellmann.at
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: lookphotos/Peter Umfahrer, stock.adobe.com/Markus
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-221-5
Originalausgabe
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Samstag
Wir müssen los! Jetzt!
»Komm mit, das wird lustig«, hatte die Prucknerin gesagt.
In jenem Moment, in dem ich eingewilligt hatte, hatte ich schon gewusst, dass ich meine Zusage bereuen werde. Aber es war Daniela Pruckner, meine Taxiprucknerin.
Die Dinge zwischen uns hatten sich in den vergangenen Wochen und Monaten weiterentwickelt. Da kam ich also nicht aus, selbst wenn ich gewollt hätte.
Wir hatten uns mittags auf den Weg nach Weiden am See gemacht. Es war das erste Novemberwochenende, und somit hatte es standesgemäße neunzehn Grad und schönsten Sonnenschein. Alte weiße Männer würden sagen, es sei nicht alles schlecht am Klimawandel. Dieselben würden sich dann im nächsten Frühjahr gehörig beschweren, wenn die nicht vom strengen Winterfrost vernichteten Schädlinge aus ihren Höhlen kriechen und ihnen ordentlich auf den Geist gehen würden.
Ich hatte ja nach wie vor keine Ahnung von Flora und Fauna, aber bereits einen Sommer am Neusiedler See hinter mir. In puncto kleiner Quälgeister wusste ich also, wovon ich sprach.
Weiden am See lag gleich neben Neusiedl und war eines dieser Straßendörfer, deren Zentrum sich rund um die Kirche und die örtliche Filiale der Pannonia Bank gruppierte. Auch hier dominierten die Weinbauern mit ihren Weingütern und Heurigen das Ortsbild. Am Rand der Gemeinde hatten sich Supermarkt und Drogerie angesiedelt, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass es keinen Greißler mehr im Ortszentrum gab und auch die älteren Bewohner zum Einkaufen auf die grüne Wiese hatschen mussten. Aber das würde erst in gut drei Jahrzehnten zu meinem Problem werden, sofern ich im biblischen Alter von fünfundsiebzig Jahren noch hier in der Gegend herumstrawanzen sollte.
Anders als die hohen Temperaturen, die es sich erst seit ein paar Jahren im November gemütlich eingerichtet hatten, gehörte das Martiniloben schon seit Menschengedenken zum November in Weiden dazu. Bevor die Prucknerin Bella und mich in ihr Taxi verfrachtet hatte, stellte ich mir darunter einen Gottesdienst vor, bei dem der heilige Martin gepriesen und ihm gehuldigt wurde. Doch wie das so ist mit der Phantasie, sie hat nur selten etwas mit der Realität gemein.
»Ich war heut Vormittag schon bei der Riedenwanderung dabei, das war so super«, sprudelte es aus der Taxiprucknerin hervor.
»Aha!«
»Der Hareter Markus hat das voll interessant gemacht. Hast du zum Beispiel gewusst, dass …?«
Sie sah mich aufrichtig begeistert an. Mein Blick dagegen dürfte zwischen aufrichtigem Desinteresse und ebensolcher Langeweile hin- und hergeschwankt haben. Ein Ding der Unmöglichkeit, zu entscheiden, was überwog.
»Ach, warum erzähl ich dir das alles«, sagte sie schließlich resignierend. »Weißt, Niko, ein bisserl mehr Interesse für die Region und was sie ausmacht, das wär schon toll. Außerdem bist so schlecht drauf irgendwie in letzter Zeit.«
»Ich interessiere mich sehr für die Region«, entgegnete ich. »In Gols gibt’s eine Wahnsinnsbrauerei.«
Sie seufzte.
»Ich schlaf schlecht«, gab ich außerdem noch zu Protokoll. »Da bin ich nicht so der Li-La-Launebär.«
»Ich hab schon g’wusst, warum ich dich nicht schon zur Wanderung mitgenommen habe«, erklärte sie etwas bockig, als wir kurz vor Weiden waren.
Sie hatte mich in der Früh im warmen Bett zurückgelassen, ihren Platz hatte kurz darauf Bella eingenommen. In ihr Schlabbermaul hatte ich an diesem Morgen als Erstes geblickt, nachdem ich meine müden Augen geöffnet hatte. Und da wunderte sich die Prucknerin darüber, dass ich nicht gar so happy war.
»Aber die Veranstaltung jetzt, die wirst dir anhören«, fuhr sie fort. »Und danach schauen wir zu den Winzern und kosten den ein oder anderen Wein. Und wenn ich ›wir‹ sage, dann meine ich auch ›wir‹.«
Oida. Bella hatte es gut, der blieb die Weintrinkerei erspart.
»Was für eine Veranstaltung ist das denn?«, tat ich so, als ob ich mich dafür interessieren würde.
»Eine Lesung«, erklärte die Prucknerin. Ich sah mich in Gedanken schon durch die Reben hirschen und Trauben zupfen. »Aber vorher holen wir noch unsere Weinglasbeutel.«
In Weiden angekommen, zerrte sie mich in einen Raum, in dem zwei Damen hinter dem Counter damit beschäftigt waren, Geld zu kassieren und im Gegenzug Täschchen auszugeben, die sich die frohen Kunden alsdann um den Hals hängten. In den Beuteln steckte, ich traute meinen Augen nicht, ein Weinglas. Was für eine phantastische Erfindung. Wenn ich das nächste Mal in Essen mit Ralf durch die Kneipen ziehen würde, bräuchten wir unbedingt ein solches Teil. Mit einem Bierglas wohlgemerkt.
Ich bekam meinen Weinglasbrustbeutel umgehängt, während die Prucknerin löhnte. Bella beäugte mich eifersüchtig.
»Weißt, Martiniloben gibt’s in allen Weingemeinden rund um den See. Da öffnen die Winzer ihre Keller, und man kann von Weingut zu Weingut spazieren und den Jungwein kosten. Und natürlich auch alle anderen Weine, aber eigentlich geht’s um den Jungwein.«
Ich traute mich nicht, ihr schon wieder mein »Aha«-Gesicht zu präsentieren. Also quälte ich mich zu einem Lächeln und murmelte etwas, das man mit viel Wohlwollen als »interessant« deuten konnte.
»Wenn der Jungwein schon ausgeschenkt wird, warum müssen wir dann jetzt noch lesen?«, fragte ich und hoffte, dass mir dieses Nachhaken nicht als Kritik oder gar Unwillen ausgelegt werden würde.
»Sei nicht so ein Depp«, erklärte die Prucknerin und haute mir mit den Fingern auf meine schwarze Baseball-Cap, sodass mir der Schirm ins Gesicht hing und der Depp nichts mehr sah.
Kurz darauf wusste ich auch, warum die Prucknerin so reagiert hatte. Denn anstelle einer Lesung im Weinberg fanden wir drei uns bei einer Lesung im Gemeindesaal wieder. Ich war mir nicht sicher, ob die Outdoorvariante mit den Weintrauben nicht sogar eher mein Fall gewesen wäre als eine schnarchige Buchlesung.
Ich sah zu Bella, die auf dem Sessel neben mir hockte. Für sie war der Fall klar, sie hätte eine Wanderung durch die Weinberge inklusive Kaninchen- und Rehjagd definitiv vorgezogen. Armer Hundemädchenbub.
Der Obmann des lokalen Weinbauernverbandes und eine der Winzerinnen hatten kurzen Prozess gemacht und die Veranstaltung mittels einiger warmer Begrüßungsworte eröffnet sowie anschließend an den Autor übergeben.
Der Typ trug eine Jeans und ein dunkelblaues Jackett sowie ein rotes T-Shirt, auf dem irgendwas mit Neusiedler See stand. Die Laiberln hatte ich schon des Öfteren in der Gegend gesehen. Schien so was wie eine regionale Trademark zu sein. Auf dem Kopf trug er ein Vogelnest, das ihm sein Friseur wohl als Frisur verkauft hatte.
Er schien mit seinem Kriminalroman guter Dinge zu sein und machte das ein oder andere Witzchen in seiner Einleitung. Nachdem es den Leuten im proppenvollen Gemeindesaal zu gefallen schien, war es nicht an mir, für schlechte Stimmung zu sorgen. Dazwischen sprach er über das Schreiben an sich, zum Beispiel, dass es ihm immer sehr schwerfalle, nach Beendigung eines Buches von den Protagonisten Abschied zu nehmen. Aha.
Ich ließ das ganze Schauspiel über mich ergehen und freute mich darauf, vielleicht ein paar Minuten Schlaf nachholen zu können. Die Nächte waren in letzter Zeit eine einzige Tortur. Immer wieder schreckte ich hoch, weil ich Stimmen oder andere Geräusche gehört hatte. Ob im Traum oder in echt, war dabei nicht so ganz klar ersichtlich.
Wenn ich mich so umsah, hatte ich einige Leidensgenossen um mich herum. Während sich die anwesenden Frauen bei den Witzchen und beim vorgelesenen Text sichtlich zu amüsieren schienen, schauten die meisten männlichen Begleiter gelangweilt durch die Gegend. Einem waren sogar schon die Augen zugefallen. Und das war nicht ich, ich schwöre.
Immerhin hatte der Autor dafür gesorgt, dass man abseits der Lesung auch noch ein bisschen Entertainment hatte, denn er hatte vor Beginn seines Vortrags einen Zettel mit sechs Quizfragen ausgeteilt. Im Anschluss wurde unter allen Teilnehmern mit den richtigen Antworten eine Flasche Wein verlost. Ich für meinen Teil verpasste also nichts, wenn ich nicht am Quiz teilnahm.
Aber je länger der Typ quatschte, desto mehr catchte er mich. Das lag nicht daran, dass ich plötzlich zum Buchliebhaber avancierte oder sein Geschwafel so unglaublich spannend war. Sondern am Inhalt seines Buches. Der Kerl hatte einen Kriminalroman geschrieben, in dem der Protagonist während einer Kreuzfahrt über den Neusiedler See einen Mord aufklären musste. Hä? Hatte da etwa jemand im vergangenen Sommer die Berichte der Lokalpresse zum Anlass genommen, mein Seeabenteuer in Form eines Kriminalromans herauszubringen?
Er hatte nun auf jeden Fall meine vollste Aufmerksamkeit.
»Was?«, schrie auf einmal die Prucknerin neben mir.
Auch ihr schien die Geschichte bekannt vorzukommen. Doch bei näherem Hinsehen bemerkte ich, dass sie nicht dem Kerl mit dem Vogelnest zugehört hatte, sondern auf ihr Handy starrte.
»Wir müssen los«, sagte sie im Befehlston zu mir.
»Aber jetzt wird es doch gerade spannend«, keifte ich.
So läuft das immer. Erst wird man angefixt, und wenn man dann voll dabei ist, wird man weggezogen.
»Wir müssen los! Jetzt!«
So schnell konnte ich gar nicht schauen, da war Bella schon zur Tür hinaus.
Brauchst net gleich eifersüchtig werden
»Und warum ganz genau fahren wir da jetzt hin?«
Die Prucknerin sah mich verständnislos an. So wie jemanden, dem man eine Sache schon zigmal erklärt hatte und von dem man nun aufgefordert wurde, es ein zigundzwanzigstes Mal zu tun.
»Nach Jois, zum Pasche!«
»Und was mach ma dort?«
»Da ist was passiert. Die Karin hat mir gerade geschrieben, dass wir unbedingt kommen sollen.«
»Wir? Warum wir?«
»Also ich«, besserte sie sich aus, als sie wieder einen auf »schnelle Gerdi« machte und im Ortsgebiet von Neusiedl konsequent Tempo fünfzig ignorierte. Schien die Exekutive nicht sonderlich zu stören, denn der Polizist, der am Hauptplatz auf Höhe des Reformhauses mit seiner Radarpistole stand, nickte uns nur freundlich zu und machte keine Anstalten, die Prucknerin rauszuwinken.
»Und warum fahren wir mit?«, wiederholte ich mich.
»Weil du vielleicht helfen kannst.«
»Bei was kann ich denn schon groß helfen?«, fragte ich, und gleich im nächsten Augenblick schwante mir Böses. »Wer ist Karin?«
»Die Tochter vom Pasche.«
Aha. Ich verharrte in abrupter Stille, versuchte so, das unweigerlich Kommende vielleicht doch noch abwenden zu können. Die Prucknerin tat mir den Gefallen, meine Frage im luftleeren Raum des Autos verkümmern zu lassen.
Ich sah auf die Rückbank. Bella hockte treudoof hinter mir und sah aus dem Fenster. Sie schien nichts Besonderes entdeckt zu haben, genoss wohl einfach die nun an uns vorbeiziehende Landschaft, die sanften Hügel des Leithagebirges, die Weingärten und die Kreisverkehre. Sie musste gecheckt haben, dass ich sie beobachtete, denn nun richtete sie ihre Murmelaugen auf mich. Dieses gutmütige Tier, dessen Fell jetzt im Herbst wieder dunkler zu werden schien. Das war ein Phänomen. Im Winter hatte sie fast pechschwarzes Fell. Je wärmer und heller es im Frühling wurde, desto mehr mutierte sie zu einem braunen Fellknäuel. Sie sah mich an wie eine Freundin einen jahrelangen Freund, grundehrlich und mit einem Sabberfaden, der ihr aus dem Maul hing.
Im Kreisverkehr nahmen wir die Ausfahrt in Richtung Jois. Viel lieber hätte ich hier einen Stopp eingelegt und in der Alten Mauth einen geschmorten Rindsbraten zu mir genommen.
»Du solltest deinem Vordermann nicht zu dicht auffahren«, erklärte ich, mehr aus einem Reflex heraus.
Besserwisserische Mitfahrer waren mir ja eigentlich ein Graus. Aber wenn ich selbst der Beifahrer war, fand ich das schon in Ordnung so.
»Okay«, sagte die Prucknerin, drückte ordentlich aufs Gaspedal, überholte den Golf in einem absolut irrwitzigen Tempo und schnitt in einem ebenso irrwitzigen Manöver wieder auf unsere Fahrspur zurück. Gerade rechtzeitig, bevor ein stattlicher Lkw uns zu seinem neuen Kühlergrill verformen konnte.
»Besser so?«
»Viel besser«, erklärte ich, nachdem ich mich kurz vergewissert hatte, ob ich mir in die Hosen gemacht hatte.
»Du hast mir nie von einem Herrn Pasche erzählt«, stellte ich fest, als wir in Jois vom Ortseingangsschild sowie einer überdimensionierten schwarzen Hillinger-Weinflasche begrüßt wurden. Was es mit diesem Hillinger auf sich hatte, wusste sogar ein Bierfetischist wie ich.
»Brauchst net gleich eifersüchtig werden, Lauda«, konterte die Prucknerin, obwohl da eigentlich gar kein temporeicher Gegenstoß vonnöten war. War ja nur eine Feststellung gewesen. »Der Pasche ist ein alter Mann, jenseits der siebzig. Als Herr der alten Schule wesentlich charmanter als du, am Ende des Tages dann aber doch ein bisserl zu alt. Oder was meinst du, Bella?«
Die nicht minder charmante Hundedame wuffelte und ließ sich von uns nicht davon abhalten, weiterhin aus dem Fenster zu schauen. Seit wann war meine vierbeinige Begleiterin, die bei genauerer tierärztlicher Untersuchung ja eigentlich ein vierbeiniger Begleiter war, eigentlich im Team Prucknerin? Wer hatte sich denn die letzte Zeit aufopfernd um sie gekümmert, nachdem sie mitten im Winter total verlassen im Hof des Bahnhofsheiserls gestanden war? Das war ja doch wohl ich gewesen! Okay, und die Prucknerin. Und die alte Prucknerin. Und die kleine Nicole von Karners, die ab und zu mit ihr spazieren ging. Gut, also war Bella nicht nur im Team Niko. Aber sie lebte immerhin unter meinem Dach. Da konnte man sich ja wohl ein bisschen mehr Solidarität erwarten.
»Mit der Karin bin ich seit der Schule ziemlich eng, deshalb kenn ich auch ihren Papa schon urlang. Und dann, als ich den Taxiservice aufg’macht hab und er irgendwann nimma so gut beisammen war, hab ich ihn immer wieder gefahren, wenn er mal zu einem Arzt oder einer Therapie musste.«
»Dann scheint er ja nicht allzu armutsgefährdet zu sein, wenn er es sich leisten kann, dich regelmäßig als Chauffeurin zu buchen.«
»Na ja«, beschwichtigte die Prucknerin, »er ist kein Maximilian Plünder.« Was ein Glück. »Aber er hat mit seiner Frau dort oben beim Ochsenbrunnen schon ein sehr feines Anwesen. Die Pasches haben ursprünglich selber Wein angebaut, der Vater vom Hans hat dann aber schon früh damit begonnen, Weinerntemaschinen an andere Weinbauern auszuleihen und andere Geschäftsfelder zu erschließen. Wirklich groß rausgekommen sind sie dann aber erst, als sie ein total innovatives Weinflaschenrecycling aufgezogen haben. Das ist urspannend, da kann dir die Karin einiges erzählen.«
Bitte nicht.
»Und jetzt genießt er sein Altenteil in seinem Altersruhesitz?«, fragte ich.
»Ach i wo, das ist die Familienvilla, in der auch nach wie vor seine Kinder leben. Zugleich der Sitz seiner Firma. War früher mal ein Bauernhof, den sein Vater dann sehr mondän ausgebaut hat.«
»Vielleicht sollte ich auch Weinbauer werden«, erklärte ich.
So eine Villa für Bella und mich. Hmm. Die Prucknerin würde dann in der herrschaftlichen Auffahrt mit dem Rolls-Royce auf uns warten, um Madame und mich zu einem Termin bei der Fuß- beziehungsweise Pfotenpflege zu kutschieren. Das hätte was.
»Glaub mir, die Zeiten sind vorbei. Wobei die Zeiten früher eigentlich auch nicht so waren, dass du als Weinbauer automatisch ein g’machter Mann warst.«
Sie hielt an der Ampel in Downtown Jois. Dank der Hinweisschilder war ich geografisch bestens im Bilde. In Fahrtrichtung ging es zum Hillinger. Links führte eine Straße zum Bahnhof und zum See, das wusste ich bereits, quasi alteingesessener Eingeborener. Jois franste so ein bisserl nach unten in Richtung See aus, leistete sich noch eine parallel zur Bundesstraße verlaufende Hauptstraße und war kein klassisches Straßendorf. Wobei der Joiser Bürgermeister und das Tourismusbüro mich wahrscheinlich teeren und federn würden, wenn sie erfahren würden, dass ich ihren schmucken Ort als »Dorf« bezeichnete.
Am Eck jener Gasse, in die die Prucknerin nun einbog, stand ein olivgrünes Eckhaus mit einem niedlichen Erkertürmchen. Was auf der Fassade zu lesen war, konnte ich nicht entziffern. Viele der ein- und zweistöckigen Häuser in der Gasse, durch die wir nun bergauf fuhren, verfügten über diese hohen Hofeinfahrten. Ein Hinweis auf den ursprünglich landwirtschaftlichen Charakter der Gebäude. Da musste also mindestens ein Traktor durchpassen.
Wir folgten dem Straßenverlauf auch dann noch, als die Häuser mit den Hofeinfahrten von Einfamilienhäusern neueren Errichtungsdatums abgelöst wurden. Dann verkündete auch schon ein weißes Schild mit blauem Rand, schwarzer Schrift und rotem Diagonalstrich feierlich das Ende der Gemeinde Jois.
Nun könnte man annehmen, dass am Ende des Gemeindegebiets, dort, wo die Wiesen, Weingärten und Äcker samt den dazugehörigen Güterwegen das Zepter übernahmen, die Straße von minderer Qualität wurde. Aber Pustekuchen. Feinster, frisch aufgetragener Asphalt führte den Hang des Leithagebirges nach oben, so als ob die Straßenmeisterei erst gestern hier alles blank poliert hätte. Es war dieser jungfräuliche schwarze Straßenbelag, der noch nicht von der Sommersonne ausgebleicht worden war und noch nicht die Narben von einstmals eiskalten Wintern, vulgo Schlaglöchern, trug. Dazu edle Straßenlaternen, auf die die Lamperln unten in Jois sicher neidisch waren.
»Warum darf Bella eigentlich im Auto mitfahren? Ist deine Desiree nicht allergisch gegen Hundehaare?«
»Die Desiree ist mit ihrem Vater für eine Woche bei seinen Eltern in Niederösterreich«, klärte mich die Prucknerin über den Verbleib ihrer Tochter auf. Und gleichzeitig wusste ich somit nun, dass Stefan Krammer vom Landeskriminalamt nicht in der Gegend war. Da war mir gleich leichter ums Herz.
Als sich immer mehr Bäume an den Straßenrand gesellt und sich die Weingärten schließlich immer mehr in Wald verwandelt hatten, hinderte uns eine Schranke an der Weiterfahrt.
»Komisch, normalerweise steht die tagsüber offen«, wunderte sich die Prucknerin.
Aus dem kleinen weißen Häuschen neben der Schranke traten zwei Personen. Eine von ihnen hatte eine Sicherheitsphantasieuniform an, wie sie sich HR-Abteilungen von privaten Securityfirmen ausdachten, um ihren Mitarbeitern zumindest den Anschein von Autorität und Seriosität zu verleihen. Ein Unterfangen, das auch hier und jetzt kläglich scheiterte, denn der rührige alte Mann hätte eher mit einer Zeitung von gestern in den Aufenthaltsraum eines Seniorenheimes als in diese grün-graue Uniform gepasst. Auch das Kapperl auf seinem Kopf, auf das in Manier eines Sheriffs aus dem Wilden Westen ein goldener Stern eingenäht worden war, ließ anstelle von Respekt eher Mitleid in mir hochkommen. Zum Glück hatte ich damals auf der MS Maximilian nicht eine solch lächerliche Uniform tragen müssen.
Flankiert wurde er von einem Polizisten in einem verdammt echt aussehenden Outfit.
»Servus, Michl, was genau ist denn passiert?«, erkundigte sich die Prucknerin, nachdem sie das Seitenfenster hatte heruntergleiten lassen.
»Was wollts ihr denn?«, antwortete der Polizist anstelle des Michls.
»Hallo, Lucki«, sagte Daniela, »die Karin hat mich verständigt. Es ist was passiert, oder?«
»Es gab einen Todesfall«, antwortete er.
»Oh nein«, schienen sich die Befürchtungen der Prucknerin zu bestätigen. »Der Hansl?«
Der Michl im Hintergrund nickte traurig, was jetzt doch irgendwie zu seiner Uniform passte.
Und obwohl der Michl die Befürchtungen der Prucknerin schon bestätigt hatte, war sich Lucki, ganz der staatstragende Polizist, nicht zu blöd, folgenden Satz zu sagen: »Das dürfen wir euch nicht sagen.«
Für den nächsten Todesfall sollten sich die beiden wohl ein bisserl besser abstimmen.
»Weißt eh, ich hab den alten Pasche oft g’fahren«, sagte nun wieder die Prucknerin.
»Jaja, das hat sie, das kann ich bestätigen«, erklärte der rüstige Security-Opa, nicht ohne Stolz in seiner Stimme.
Er konnte der Polizei helfen. Er konnte etwas beitragen. Er stand nicht umsonst da herum. Das hier war sein großer Tag.
»Immer montags, mittwochs und freitags«, fuhr die Prucknerin mit bedrückter Stimme fort.
»Die Stef ist oben, vielleicht kannst ihr ein bisserl was erzählen«, sagte Lucki. »Also wennst magst.«
»Sicher«, sagte die Prucknerin.
»Wer ist er da?«, beugte sich der Kieberer ein Stückerl hinunter und zeigte mit dem nackten Finger auf mich. Machte man eigentlich nicht, so was.
»Ich bin der Heilmasseur«, erklärte ich.
»Geh, Niko, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für deine depperten Witze«, fuhr die Prucknerin mich an. »Aber stimmt schon, er g’hört zu mir«, sagte sie in Richtung Lucki.
Dieser schien darauf zu warten, dass der Security-Opa auch diese Aussage bestätigen konnte – doch umsonst. Trotzdem ließ er kurz darauf den Schranken hochfahren. Die Prucknerin startete den Elektromotor, und ihr neues Taxi schob uns langsam den sanften Hügel hinauf.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und legte meine Hand auf Danielas Schulter.
Sie nickte. Ich ließ meine Hand an Ort und Stelle.
Die Gartenanlage, durch die wir in – Pardon – Totenstille fuhren, hätte genauso gut in England oder Irland liegen können. Äußerst gepflegter Rasen, majestätische Bäume und bunte Gewächse, die wie Hortensien aussahen, zu beiden Seiten der kleinen Straße, die sich durch den großvolumigen Vorgarten schlängelte. Ob es wirklich Hortensien waren, wusste ich nicht. Um das Grünzeug mit meiner Pflanzen-App am Smartphone bestimmen zu können, hätte die Prucknerin anhalten und ich aussteigen müssen. Hätte die Prucknerin wohl nicht gut gefunden, wenngleich sie das Gewächs sicher schon längst identifiziert hätte, bevor ich überhaupt die App gestartet hätte. Aber war am Ende des Tages ja auch egal, was da für Zeugs wuchs.
Dahinten stand noch so ein weißer achteckiger Holzpavillon in der Gegend herum, den ich eher nicht im Leithagebirge vermutet hätte. Der hätte sich auch in einem Schloss von König Charles oder in der Verfilmung eines Skandinavien-Krimis gut gemacht.
Auf dem kieseligen Parkplatz, in den sich die Straße ergoss und für den wohl kein fescher, neuer Asphalt mehr übrig gewesen war, standen ein Rettungswagen und drei Einsatzfahrzeuge von unseren Freunden und Helfern. Dazu so ein edler schwarzer Leichenwagen. Ein Mercedes-Benz von jener seltenen Sorte, die noch über einen aufrecht auf der Kühlerhaube stehenden Mercedes-Stern verfügte. Bei einem Leichenwagen trauten sich die coolen Kids wohl nicht, den Stern als Souvenir abzubrechen.
Das eigentliche Highlight der Anlage erhob sich aber hinter dem Parkplatz in den blauen Himmel. Eingerahmt von Mammutbaum-ähnlichen Riesengewächsen stand da eine fesche dreistöckige Villa. Die Fassade war zwar weiß verputzt worden, die Struktur der Natursteine darunter war aber trotzdem noch gut erkennbar. Auf dem obersten Stock formten schwarze Schindeln das Dach, das lediglich von drei Dachlukenfenstern in seiner Perfektion gestört wurde.
Analog zur Parkanlage passte auch dieses Statement von Reichtum und Pracht nicht so recht ins Nordburgenland, sondern eher in nordeuropäische Gefilde. Dazu der leicht grünliche Bewuchs an der Fassade. War das Moos? Die Baumriesen sorgten für ausreichend Schatten hier in dieser Einöde. Ich wusste bereits von meinen Freunden in Rust, dass es rund um den See das ein oder andere Mikroklima gab. Warum dann also nicht auch hier in dieser Waldinsel?
»Ziemlich beeindruckend«, purzelten zwei Wörter aus mir heraus, die sich im Nachhinein als Eisbrecher gegen die Pruckner’sche Stille erwiesen.
»Voll schön hier, gell?«, gab sie mir recht.
Die beiden Polizisten, die vor der aus schwarzem Massivholz gezimmerten Doppeltür standen, nahmen keine weitere Notiz von uns. Auch dass mit Bella plötzlich ein Vierbeiner herumwuselte, schien sie nicht zu interessieren. Wir hatten immerhin die peinlich genaue Sicherheitsüberprüfung an der Schranke gemeistert, also schienen wir in den Augen der beiden die uneingeschränkte Erlaubnis zu besitzen, uns hier auf dem Grundstück bewegen zu dürfen.
»Wie kommt man zu solch einer Hütt’n?«, fragte ich, während wir uns der Eingangstür näherten.
»Du hörst mir nicht zu, oder?«
»Nicht, wenn es um Wein geht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Der Pasche Hans hat quasi das Weinflaschenrecycling erfunden. In den 1990ern hat er damit begonnen, richtig losg’angen ist es dann nach dem EU-Beitritt. Da hat er expandiert, nach Deutschland, Jugoslawien und sogar bis nach Frankreich. Bring die Flasche zum Pasche, hieß damals der Werbeslogan, der auf Ö2 rauf und runter gespielt wurde.«
Wenn ich für jeden Reim so gut bezahlt werden würde, könnte ich mir auch eine größere Hütte leisten. Wobei ich mich mit meinem Bahnhofsheiserl in Rust ja eh nicht beschweren konnte.
Das Innere der Villa spielte genauso alle Stückerl’n, wie uns das Äußere zuvor in Aussicht gestellt hatte. Eine geschwungene Stiege verband das Erdgeschoss mit den beiden oberen Etagen. Der Empfangsraum hatte alles, worüber sich auch die Anfangsszene eines Agatha-Christie-Krimis gefreut hätte. Ein kleiner Empfangstisch mit goldfarbenen geschwungenen Beinen, hinter dem ein teuer aussehender verwaister Sessel stand. Ölschinken in goldenen Rahmen an der Wand, alle Türklinken ebenfalls goldfarben. Im Schachbrettmuster gestalteter schwarz-weißer Marmorboden. Der Empfangstisch langweilte sich vereinsamt, der Privatsekretär war wohl gerade unpässlich.
Vor dem von der Wand protzenden riesigen Spiegel stand eine Anrichte aus dunklem Holz, die genauso gut in den Privatgemächern der Habsburger in Schönbrunn hätte stehen können. Von der Decke hing an einem ewig langen Kabel ein eindrucksvoller Kronleuchter, der sich im Musikvideo zum gleichnamigen Song von Sia außerordentlich gut gemacht hätte.
»Ist das moderne Kunst?«, fragte ich vor mich hin, als ob ich die Prucknerin angesprochen hätte. Über jenem Teil der Stiege, der das Erdgeschoss mit dem ersten Stock verband, hing ein Bild von einer schwarz gekleideten Frau. Der ausufernde weiße Kragen ihres Kleides wäre bei uns in der Schule als Kuchenkranz durchgegangen.
»Expressionismus. ›Bella mit weißem Kragen‹, ein echter Chagall«, sagte Daniela und beeindruckte mich nachhaltig. Bella sah aufmerksam zur Prucknerin. »Angeblich«, schob sie noch hinterher.
Ob der Schinken echt war oder nicht, war mir natürlich wurscht. Aber dass die Prucknerin über solch fundiertes Kunstwissen verfügte – alle Achtung! Ich stellte mir für einen kurzen Moment vor, wie Bella mit einem solchen Kuchenkranz um den Hals ausschauen würde, als wir auch schon in Empfang genommen wurden.
»Daniela, Bella, da seids ihr ja schon!«, rief der Poidl aus dem ersten Stock zu uns hinunter. Abgenommen hatte er über den Sommer, das sah man ihm an. Stand ihm gut. Durfte man ihm aber nicht sagen, da war er dann ein bisserl g’schamig. Er nahm das dann so auf, als ob er sich absichtlich runtergehungert hatte oder so. Er wollte seinen vierwöchigen Aufenthalt im Diät-Boot-Camp in der ungarischen Wildnis aber lieber so ausschauen lassen, als ob er die zwölf Kilogramm quasi im Vorbeigehen irgendwo verloren hätte.
»Ich bin eh auch da!«, rief ich der Vollständigkeit halber nach oben.
»Das sehe ich«, grummelte er. So langsam konnte er sich sein Ang’fressensein aber echt sparen.
Mit einer fast schon höfischen Leichtigkeit schwebte er die Treppe hinunter.
»Was ist denn passiert?«, fragte Daniela, als er bei uns angekommen war.
»Tot sind s’«, sagte der Poidl.
»Ermordet?«, erschrak die Prucknerin.
»Geh, naa, Daniela, sonst würden wir euch da ja nicht so am Tatort herumspazieren lassen.«
Da schilderte er seine Truppe jetzt ein bisserl professioneller und vorschriftshöriger, als ich sie in Erinnerung hatte. Damals, im Steinbruch, als Carlotta Woods tot aufgefunden worden war, hatten die Arbeiter vom Plünder dort schon am Nachmittag wieder alles platt getrampelt. Ganz zu schweigen davon, als wir mit der MS Maximilian fröhlich nach Illmitz geschippert waren, ohne dass die Spurensicherung das gesamte Schiff auf Spuren zum Tod vom Weinkaiser gesichert hätte.
»Nimma woll’n dürften s’ haben«, erklärte der Poidl.
»Der Hansl und die Liesl? Du meinst, sie haben sich hamdraht?«
»Schaut zumindest danach aus. Bis jetzt gibt’s keine Anzeichen für Fremdeinwirkung.«
»Soll ich mir den Tatort mal anschauen?«, bot ich Unterstützung an.
Der Krammer vom LKA war nicht im Lande, insofern würde ich vielleicht auf einen Beamten treffen, der die Dienste eines ehemaligen LKA- und Spezialeinsatzgruppenbeamten zu schätzen wusste.
»Fix net«, sagte der Poidl und stellte sich mir auf dem ersten Stiegenabsatz protzig in den Weg. Blattelte sich richtig auf vor mir. Dafür reichte seine runtergehungerte Statur allemal. »So ein Zuagroaster wie du hat mit der Sache nix am Hut. Und das soll auch so bleiben.« Da hat man ihm jetzt so richtig die Freude im G’sicht angesehen, dass er mich ausg’stochen hat. Aber gut, jeder hat seine fünf Minuten Ruhm. Ich würde mich bei Gelegenheit revanchieren und ihm ordentlich was eintunken.
»Ist die Karin da? Und die anderen?«
»Die Karin ist drüben im Salon«, beantwortete er die Frage der Prucknerin und deutete zu der Tür, die unterhalb der geschwungenen Stiege irgendwohin führte. Vielleicht in besagten Salon. »Aber total fertig. Weiß net, ob die nicht vielleicht lieber in Ruhe g’lassen werden will.«
»Grad jetzt braucht sie eine Freundin«, erklärte die Prucknerin und machte sich auf den Weg zu besagter Tür, Bella dicht hinter ihr im Schlepptau. »Sonst hätt sie mich ja net sofort verständigt!«
»Und was mach ich jetzt hier?«, fragte ich in die unendliche Weite der Vorhalle.
»Keine Ahnung«, erklärte der Poidl. »An mir vorbei kommst jedenfalls nicht.«
»Bist wirklich noch immer ang’fressen wegen der Sache vor ein paar Wochen?«
Jetzt waren wir unter uns, die Mädchen kümmerten sich im Salon umeinander. Wir konnten also offen sprechen und etwaige Differenzen ausräumen. Wie Männer das halt so taten.
»Bevor du dich net bei mir entschuldigst, red ich gar net mehr groß mit dir.«
Sprach’s und ließ mich stehen. So eine beleidigte Leberwurst. Na gut, dann halt den Mädchen hinterher in den Salon.
Ich wollte gerade loshirschen, da hörte ich ein seltsames Gepolter aus dem Keller. Dazu musste man wissen, dass die elegant geschwungene Stiege über eine weitaus weniger exquisite Fortsetzung ins Untergeschoss verfügte. Da stand eine braune Metalltür offen, ein Lichtschein erhellte den Beginn der Stiege. Noch mal Gepolter.
Ich sah mich um, erblickte niemanden von den Offiziellen, den ich auf die seltsamen Geräusche dort unten hätte aufmerksam machen und um Nachschau bitten können. Da war was. Fix war da was. Quasi Gefahr im Verzug.
Ich schlich die Stiege hinunter, es waren siebzehn Treppenstufen, also nicht gerade wenige, und lugte, unten angekommen, vorsichtig um die Ecke. Da war so eine Art Gewölbe. Vollgestellt mit Regalen, die ihrerseits vollgeräumt waren mit Zeugs. Werkzeuge, Schläuche, Flaschen, Kartons. Schwereres Gerät stand auf dem Boden verteilt. Sah nach landwirtschaftlichen Apparaturen aus, die man guten Gewissens in dieser feuchtkalten Atmosphäre vor sich hin schimmeln lassen konnte. Aber was wusste schon ein Stadtkind wie ich. Ich blickte noch mal nach oben, dorthin, wo die Prucknerin kurz zuvor in den Salon verschwunden war. Niemand zu sehen. Also hinein in den Keller.
Kurz darauf wieder Gepolter. Wobei ich es jetzt präziser hören konnte. Es klang wie ein Ächzen von schwerem Metall, das nicht mehr so recht wollte und einfach in die Jahre gekommen war. Die Geräusche kamen von weiter hinten, das Gewölbe schien sich hinter einem großzügigen Bogendurchgang fortzusetzen.
Ich schlich weiter. Im nächsten Teil des Kellers bot sich mir das gleiche Bild. Ein schmaler Gang in der Mitte, links und rechts davon reichlich Gerät. An einer Seite des eindrucksvoll hohen Raumes befand sich ein Regal, das über und über mit grünen Weinflaschen vollgeräumt worden war. Im nächsten Raum standen zwei riesige längliche Tanks aus Edelstahl. An jeweils beiden Enden befand sich ein verschlossener Auslaufstutzen. Wie viel Wein da wohl in so ein Ding reinpasste? Tausend Liter allemal.
Ich fuhr mit der Hand den kalten Edelstahl entlang. Prüfte meine Fingerkuppen. Reichlich Staub darauf. Erneutes Ächzen. Es schauderte mich ein bisserl. Ich war ja nicht unbedingt ein schreckhaftes Wesen, aber da war jetzt schon eine kleine Prise Halloween mit von der Partie. Bis ich checkte, dass nicht ich das Geräusch ausgelöst hatte, sondern der Ton erneut von weiter hinten kam. Dieses Mal wesentlich lauter.
Ich hatte mich also offenbar bis auf wenige Meter dessen Ursache genähert. Wer oder was auch immer hinter dem nächsten Rundbogen sich an Metall zu schaffen machte, war wahrscheinlich zu beschäftigt, um darauf zu achten, ob sich jemand vom Nebenraum anpirschte. Zu sehr hatte er oder sie damit zu tun, schweres Gerät zu bewegen. Was darauf schließen ließ, dass es sich wohl eher um einen Er handelte. Um einen Er, der eventuell körperlich besser in Schuss war als ich.
Trotzdem schlich ich mich nun bis an die Mauer heran, stand ganz dicht an der feuchtkalten Steinwand. Die Fäulnis des Gemäuers breitete sich in meiner Nase aus. Roch wie eine Mischung aus eingeschlafenen Füßen und nasser Bella. Nur ungefähr dreißigmal schlimmer. Ich realisierte erst nach ein paar Sekunden, dass es nicht die kalte Wand war, die so roch. Die Geruchsbelästigung kam aus dem Raum nebenan.
Ich wagte einen Blick, entdeckte einen weiteren Edelstahltank. Dieser stand jedoch aufrecht und schien in das gesamte Gewölbe eingemauert zu sein. Das war schon mehr Zisterne als Tank, Wahnsinn. Sah allerdings nicht so gepflegt aus wie seine kleinen Brüder im Gewölbe davor. Das Ding hier sah alt aus, richtig alt. Und wirkte nicht so, als ob es in letzter Zeit für was auch immer benutzt worden war. Auch dieser riesige Bottich verfügte über einen Auslaufstutzen, der an einer runden Öffnung befestigt war, die einen Durchmesser von vielleicht achtzig Zentimetern aufwies.
In besagter Luke zerrte ein Kapuzenmann gerade an etwas herum. Als ob er in total umständlicher Manier etwas herauszuziehen versuchte. Der Kerl war ziemlich kräftig, es musste sich also um etwas reichlich Schweres handeln. Der Verschluss des Tanks schepperte immer wieder gegen dessen Außenwand. Daher das ächzende Geräusch, das mich hierhergeführt hatte.
»Ist da jemand?«, hörte ich auf einmal den Poidl hinter mir rufen.
Da hatte wohl noch jemand die offen stehende Kellertür entdeckt und war neugierig geworden. Was dazu führte, dass der Kapuzenmann mir plötzlich sein Gesicht zuwandte und mir in die Augen sah. Ich tat das Gleiche. Konnte ihm ja auch nicht woandershin schauen, er war ja komplett in Schwarz gekleidet. Viel mehr als die Augen war von ihm nicht zu erkennen. Neben der tief ins Gesicht hängenden Kapuze trug er auch einen schwarzen Schal um Nase und Mund. Wie bei einer Burka waren also wirklich nur die Augen zu sehen. Er drehte sich wieder um, ließ das Ding aus der Öffnung fallen und rannte einen schmalen Gang entlang, der mir bisher gar nicht aufgefallen war.
»Hier hinten!«, rief ich in Poidls Richtung und folgte dem Typen mit der Amateur-Burka.
Im Vorbeilaufen versuchte ich, das Ding, das aus der Öffnung des Tanks halbert heraushing, zu erkennen. Doch mein Hirn erklärte meinen Augen, dass sie sich geirrt haben mussten. Das, was sie dort gesehen haben wollten, hatte nämlich in einem Weintank nichts zu suchen.
Wir rannten eine Rampe aus Backsteinen hinauf, mehr schlecht als recht, denn die Ziegel waren weit entfernt davon, in einem ebenen Zustand und gut verputzt gewesen zu sein. Der Kerl war vielleicht fünfzehn Meter vor mir, als er am Ende der Rampe zu einer Tür gelangte, die nur angelehnt gewesen zu sein schien. Er stieß sie auf, helles Tageslicht durchströmte den engen Gang und blendete meine Augen, die auf einen solchen Lichtschwall nicht vorbereitet waren. Das sorgte dafür, dass ich über die Kante eines der Backsteine stolperte, woraufhin ich zwar nicht auf der Nase landete, aber immerhin ordentlich ins Trudeln geriet. Wäre mir wohl nicht passiert, wenn ich besser in Form und vor allem ausgeschlafen gewesen wäre.
Als ich im Tageslicht angekommen war, stand ich im Park der Villa. Von hier aus konnte ich den weißen Gartenpavillon sehen, der mir bei der Anfahrt ins Auge gefallen war.
Der Kerl war offenbar in die andere Richtung gerannt, denn ein paar der stattlichen Rhododendren am hinteren Ende des Grundstücks raschelten auffällig hin und her. Ich sprintete in dieselbe Richtung, vorbei an einem malerischen Naturteich, kämpfte mich durch das Gestrüpp, hechtete über eine Begrenzungsmauer und fand mich auf der anderen Seite des Grundstücks wieder. Dort war ein Weg. Nicht so schön und gut in Schuss wie die Privatstraße, auf der die Prucknerin und ich hergekommen waren. Aber ausreichend instand gehalten, damit eine schwarze Limousine auf ihm davonfahren konnte. Schnell genug, sodass ich weder Automarke noch Kennzeichen identifizieren konnte.
Onkel Wolfgang!
»Was war denn da los?«, fragte der Poidl. Er erwartete mich an jener Tür zum Garten, durch die ich zuvor den Kapuzenmann verfolgt hatte. »Ich hab dich im Keller gesucht. Aber gefunden habe ich dann etwas ganz anderes.«
»Was denn?«, fragte ich schnaufend.
»Bist ganz schön außer Atem«, stellte er fest.
Da klang fast ein bisschen Spott in seiner Stimme durch. Soll doch der Poidl mal einem Typen über ein Grundstück hinterherjagen, das gefühlt größer ist als zehn Fußballplätze. Ich warf einen Blick zu den Bäumen, hinter denen sich die Mauer verbarg. Na gut, vielleicht wie zehn Badmintonplätze.
»Wer auch immer das war, er hat etwas mit dem Ding in dem Weintank zu schaffen«, erklärte ich und marschierte an ihm vorbei. Am Ende des nach unten führenden Gangs, dort, wo sich diese Weinzisterne in den Raum ausbreitete, hatten bereits zwei Streifenpolizisten ein Absperrband gespannt und sich dahinter postiert. Sie schienen auf die Kollegen zu warten. Es würde ein kurzer Anfahrtsweg werden, denn es war nicht weit vom dritten Stock der Villa hier nach unten in das Kellergewölbe.
»Du darfst da net so einfach reinspazieren, das ist ein Tatort«, dozierte der Poidl.
»Das ist in erster Linie mal ein Fundort, würd ich meinen«, dozierte ich zurück.
Die beiden Polizisten tuschelten miteinander, schienen sich darüber zu amüsieren, dass ich mich mit dem Poidl da gerade ein bisschen anbitchte.
»Komm, schleich dich«, fuhr der Poidl fort, packte mich an der Schulter und schob mich weg, sodass ich die Öffnung des Weintanks nicht genauer unter die Lupe nehmen konnte. »Das ist nix für dich. Und wenn dich die Gruppeninspektorin hier unten sieht …«
»Dann passiert was?«, wollte ich jetzt eigentlich sagen. Doch noch bevor das Broca-Areal und der Motorcortex in meinem Hirn diese drei Begriffe auf die Reise zum Mund schicken konnten, war mir schon eine Dame zuvorgekommen und hatte besagte drei Wörter ausgesprochen.
Ich drehte mich um. Die kannte ich. Aber woher?
»Äh, ich wollte dem Herrn klarmachen, dass er hier unten nix verloren hat«, stotterte der Poidl herum.
Sie trug einen sportlichen grauen Anzug, dazu eine weiße Bluse und ebenso weiße Sneaker. Ihre roten Locken, die hier unten in dem fahlen Kellerlicht einen orangefarbenen Touch entwickelten, hatte sie zu einem Zopf gebunden. Die waren definitiv ein bisserl heller als jene der Prucknerin. Spitzbübischer Blick in ihren Augen, den auch die Brille nicht verbergen konnte.
»Schau an, der Sicherheitsoffizier. Immer wenn ich Sie sehe, liegt irgendwo eine Leiche«, sagte die Beamtin betont beiläufig, ohne mich dabei zu mustern, während sie sich bückte, um das halb aus dem Tank ragende Ding genauer zu betrachten. »Heute gar nicht auf hoher See unterwegs?«
Ach ja, klar, das war die Beamtin, die der Poidl im Sommer im Schlepptau hatte, als die Polizei vor Illmitz die Leiche vom Weinkaiser von Bord der MS Maximilian geschmuggelt hatte. Die hatte damals einen ziemlich toughen Eindruck bei mir hinterlassen und dem Poidl so ein bisserl die Show gestohlen.
Aber, Moment mal. Was hatte sie da eben gesagt? Leiche? Ich drehte mich wieder zu dem Tank. Fuck. Und was für eine Leiche das war. Erinnerte mich an eine Mumie aus einem Indiana-Jones- oder Piratenfilm. Hatten meine Augen vorhin doch recht gehabt, als ich im Vorbeilaufen einen Blick auf die Tanköffnung geworfen hatte.
»Das Leben auf See war dann doch nichts für mich«, stammelte ich. »Sie haben aber auch einen Ortswechsel vollzogen.«
»Geh, Niko, ich bitt dich, stör die Frau Gruppeninspektorin nicht und zupf dich«, versuchte der Poidl erneut, mich wie einen Auswechselspieler vom Spielfeld zu bugsieren.
»Sie haben den Toten gefunden?«, fragte sie, ohne auf meinen oder Poidls Kommentar einzugehen. Schien recht fokussiert zu sein, die Dame. Wie hieß sie noch gleich? Irgendwas Norddeutsches steckte da im Nachnamen, oder?
»Das wäre zu viel der Ehre, gefunden hat ihn jemand anders«, erklärte ich. »Als ich oben in der Halle war, habe ich Geräusche aus dem Keller gehört. Inspektor …« Verdammt, wie hieß der Poidl eigentlich mit Nachnamen? »Ihr Kollege hier«, ich deutete auf den Poidl, »wurde zeitgleich nach oben gerufen, deswegen bat er mich, hier unten Nachschau zu halten.«
Die Polizistin gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass sie mir den Großteil meiner Aussage nicht abnahm. Ich hoffte trotzdem, damit vielleicht beim Poidl ein paar Punkte gutmachen zu können.
»Auf jeden Fall bin ich dann runter in den Keller und habe einen Mann dabei überrascht, wie er sich an der Luke dieser Zisterne zu schaffen gemacht hat. Als er mich bemerkt hat, ist er getürmt. Ich hinterher. Beim Weg hinter dem Grundstück habe ich ihn dann leider aus den Augen verloren.«
»Getürmt?«, fragte sie erstaunt. »Aus welchem Jahrhundert sind Sie denn hier gelandet, dass Sie solche Wörter verwenden?« War sie etwa von der Wortpolizei? »Können Sie den Mann beschreiben?«, fuhr sie fort, während sie immer noch die Mumie von allen Seiten betrachtete.
Das hier hatte echt was von einem Schatzversteck, irgendwo in einer vergessenen Höhle in der Karibik. Ein Pirat hatte es auf seiner Suche nach dem Gold zwar bis hierher geschafft, war dabei allen Fallen aus dem Weg gegangen. Doch in seiner Gier hatte er den letzten Hinterhalt, das ausströmende tödliche Gas oder etwas vergleichbar Heimtückisches, nicht bemerkt. Als er es schließlich realisiert hatte, hatte er noch versucht, aus der Höhle zu flüchten, doch er blieb auf halbem Wege – im Auslass des Tanks – liegen.
Ich würde diese Theorie aber wohl erst mal für mich behalten.
»Das ging alles recht schnell«, erklärte ich. »Groß, sicher größer als ich. Schlanke Statur, sportlich, sonst hätte er mich nicht so schnell abhängen können.«
Sie musterte mich mit einem Blick, der jenem vom Poidl ähnelte, als mich dieser nach der Rückkehr von meinem Sprint im Park in Empfang genommen hatte. Okay, vielleicht war ich wirklich mittlerweile ein bisschen außer Form. Die letzten Leistungstests beim LKA lagen aber halt auch schon ein Zeiterl zurück. Und wie gesagt, die vergangenen Nächte waren der reinste Horror gewesen.
»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
»Nein, nichts. Er trug einen schwarzen Kapuzenpullover.«
»Und in seinem schwarzen Kapuzenpullover ist er Ihnen dann davongerannt?«
»Eigentlich eher davongefahren«, trug ich zu meiner Verteidigung vor. »Schwarze Limousine, mehr habe ich aus der Entfernung nicht erkannt.«
»Interessant, dass sich ein ehemaliger Polizist an nur so wenige Details eines Flüchtenden erinnert«, bemerkte sie.
»Der Niko ist ja schon lang nicht mehr bei der Polizei«, beeilte sich der Poidl hinzuzufügen.
Nahm er mich in Schutz, oder ritt er mich dadurch tiefer rein? Hmm.
»So lange nun auch wieder nicht«, entgegnete ich. »Aber der Typ war einfach verdammt schnell. Keine Chance, mehr als die Rückansicht von ihm zu erkennen. Und dann ist er mir davongefahren.«
»Er dürft den Weg hinterm Ochsenbrunnen meinen«, präzisierte der Poidl.
Konnte er die Beamtin nicht wenigstens einmal mit ihrem Namen ansprechen, damit ich wieder wusste, wie sie hieß?
»Interessant«, sagte sie und widmete sich wieder der Mumie, während aus dem hinteren Bereich des Kellers Schritte und Gemurmel zu hören waren. Da rückte wohl die Kavallerie an. »Eine solch mumifizierte Leiche kenne ich nur aus dem Lehrbuch. Wie eine Mumie in einem ägyptischen Grab«, erklärte sie fasziniert.
Die starren Beine hingen ziemlich waagrecht aus der Öffnung des Tanks. Vielleicht hatten sich die Arme an der Öffnung verhakt, weswegen der Kapuzenmann sich schwer damit getan hatte, die Leiche aus dem Tank zu ziehen. Oder hatte er sie hier verstecken wollen?
Steffi! Der Polizist am Eingangstor hatte doch erwähnt, dass eine Stef bereits vor Ort sei, als ich mit der Prucknerin aufs Gelände gefahren war. Das war dann vielleicht der Name der Gruppeninspektorin.
Während der Poidl seinen kindischen Widerstand gegen meine Anwesenheit offenbar aufgegeben hatte, wagte Gruppeninspektorin Steffi einen Blick in den Tank. Ohne eine Miene zu verziehen, steckte sie ihr Gesicht zwischen dem Rand der Öffnung und der Mumie hindurch. Alle Achtung, die war hart im Nehmen, die Frau. Ich war ja schon froh, dass es mir halbwegs gelang, diesen latent muffigen Geruch durch konsequente Mundatmung von meinen Riechzellen in der Nase fernzuhalten.
»Das Gesicht hat die Zeit im Tank nicht so gut überdauert wie der Rest des Körpers«, stellte sie fest, während sie sich wieder aufrichtete und sich die Hände rieb, um allfälligen Staub oder Dreck loszuwerden. »Wo bleibt denn die Rechtsmedizin?«, rief sie ungeduldig in die Weiten des Kellers.
»Schon da, so schnell schießen die Eisenstädter auch wieder nicht!«, erklärte kurz darauf ein Kerl in weißem Anzug. In der Hand hielt er einen silberfarbenen Koffer. Klischee olé. »Hat man ja auch nicht jeden Tag, dass man in einem Haus zwei verschiedene Tatorte beackern muss.« Der Kerl sollte mal in Wien oder im Ruhrgebiet für die Pathologie arbeiten, da würde er es auch mal mit drei und mehr Orten in einem Gebäude zu tun bekommen, an denen Leichen rumlagen. »Besteht ein Zusammenhang mit den beiden Toten im dritten Stock?«
»Unwahrscheinlich«, erklärte die Polizistin, »zumindest kein direkter Bezug. Aber wer weiß das schon. Vielleicht haben sie die Leiche hier unten entdeckt, und der Fund hat sie so sehr mitgenommen, dass sie nicht mehr leben wollten?«
Die Gruppeninspektorin lachte. Der Pathologe lachte. Der Poidl wirkte peinlich berührt, rang sich aber trotzdem zu einem Grinsen durch.
Der Gerichtsmediziner machte sich ans Werk. Angesichts des Geruchs hier unten hätte ich vollstes Verständnis dafür gehabt, wenn er sich eine Mentholpaste oder etwas anderes unter die Nase gerieben hätte. Pathologen, die sich bei einer Untersuchung absichtlich des Geruchssinns beraubten, gehörten aber genauso ins Fernsehen wie jene, die bei der Obduktion klassische Musik hörten oder außerhalb der Pathologie selbst zu ermitteln begannen.
Steffi, der Poidl und ich verzupften uns nach oben und ließen die Herrschaften ihre Arbeit tun.
Unter den Anwesenden im Wohnzimmer herrschte gedämpfte Stimmung, fast schon – nun ja – Totenstille. Die Taxiprucknerin unterhielt sich in dezenter Lautstärke mit einer mir unbekannten Frau. Beide saßen an einem modernen Glastisch. Auf der Couchlandschaft ein Mann, der uns drei nun mit großen Augen anglotzte. Dezent im Hintergrund hielt sich einer im klassischen schwarzen Frack und mit weißen Haaren. Er stand neben einem schönen alten Sekretär und schien auf weitere Instruktionen zu warten.
»Ich weiß, dass das heute ein schwerer Tag für Ihre Familie ist«, sagte die Gruppeninspektorin zu der Runde. »Aber die Ausgangslage hat sich noch mal verändert, sodass ich Ihnen leider noch einige Fragen stellen muss.«
Die Prucknerin sah mich verständnislos an. Sie konnte sich nicht erklären, warum ich hier neben der Gruppeninspektorin und dem Poidl Aufstellung genommen hatte und was die nochmalige Befragung sollte. Ich verließ meine Position und absentierte mich ein bisschen von den beiden Polizisten, was zumindest der Poidl mit Genugtuung zur Kenntnis zu nehmen schien.
»Inwiefern hat sich denn die Ausgangslage verändert?«, fragte der Mann auf der Couch. Das war so ein Schönling, in akkuratem Jackett und hübschem Hemd, die Haare so ein bisschen nach hinten gegelt, trotzdem verfügten sie über das nötige Volumen. Sportliche Statur und groß. Er hätte auch eine halbe Stunde zuvor mit einem Kapuzenpullover durch die Parkanlage rennen können.
»Kann mir jemand von Ihnen sagen, was es mit dem großen Tank auf sich hat, der unten im Keller steht? Wird der noch benutzt?«
»Welchen meinen Sie denn?«, fragte nun die Frau, die neben der Taxiprucknerin saß. Sie erhob sich, vielleicht um ihrer Position den nötigen Ausdruck zu verleihen. »Wir verfügen über drei Weintanks, noch von früher.« Die Frau hatte lange dunkle Haare und unglaublich große und ausdrucksstarke Augen, mit denen sie die Polizistin fixierte. Ihr Blick verriet so eine innere Stärke, ohne dabei jedoch furchteinflößend zu wirken. Dazu trugen auch die weichen Gesichtszüge und die grundsätzlich zarte Statur bei. Sie trug ein lockeres rotes Kleid, das fast bis zum Boden reichte. Eher was für den Sommer. Ich stellte mir vor, wie sie in diesem Kleid über eine Wiese schwebte, während ihr Antlitz dabei von der untergehenden Sonne in ein warmes Licht getaucht wurde. Keine Ahnung, wie ich da gerade drauf kam. Machte wohl der warme November in Kombination mit meinen unausgeschlafenen Nächten aus mir.
»Es geht um den großen Tank im hintersten Kellergewölbe. Von dort führt eine Rampe in den Park«, präzisierte Steffi. »Wird der noch genutzt?«
»Schon lange nicht mehr, nein«, entgegnete die über die Wiese laufende Frau. »Die Tankanlagen stammen noch aus der Zeit, als unsere Familie selber Wein angebaut und verarbeitet hat. Die Rieden in der Umgebung unseres Anwesens, vor allem Satz, Freudhofer und Altenberg, haben wir früher allesamt selbst bewirtschaftet. Bevor das Recyclinggeschäft irgendwann immer einträglicher wurde und wir die Weingärten an Bauern aus der Umgebung verpachtet haben. Die Zisterne, die Sie meinen, hat ein Fassungsvermögen von über fünfzehntausend Litern. Darin hat die Familie früher den Landwein gelagert. Aber das ist schon lang vorbei.«
»Was ein schwerer Fehler war«, brachte sich der schöne Kerl auf dem Sofa ein und schüttelte energisch seinen schmalen Kopf, »das habe ich ja schon oft gesagt!«
»Nur weil man etwas oft sagt, heißt das noch lange nicht, dass es deshalb wahrer wird«, entgegnete die Frau.
Die Taxiprucknerin und Bella verfolgten das Schauspiel gebannt, genauso wie der wie ein Butler wirkende Weißhaarige am anderen Ende des Raumes. Er schien von der Auseinandersetzung peinlich berührt zu sein und begann damit, verlegen den Sekretär neben sich abzustauben.
»Können Sie in etwa abschätzen, wie lange der Tank schon nicht mehr genutzt wird?«
»Viel zu lange jedenfalls«, erklärte der Typ.
Der wirkte irgendwie unentspannt. Im wörtlichen Sinn. Konnte der nicht ruhig sitzen bleiben? Machte mich nervös.
»Wir wissen es mittlerweile, Norbert, lass gut sein!«, bügelte die Frau ihn nieder. »Ich müsste Ihnen das in den Unterlagen nachschauen«, fuhr sie in Richtung der Gruppeninspektorin fort. »Aber dreißig Jahre werden das sicher schon sein. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, die Befüllung der Behälter selbst miterlebt zu haben.«
»Und seitdem ist mit den Tanks da unten nichts mehr passiert?«, hakte Steffi nach.
Der Kerl auf der Couch schüttelte nach wie vor den Kopf und setzte dazu ein ungläubiges Lächeln auf. Dazu verschränkte er die Arme vor dem Körper, typische Trotzhaltung. Und dann spannte er für einen kurzen Moment die Schulterblattmuskulatur an. War das eine Dehnübung?
»Nein, soweit ich weiß, insbesondere seitdem ich in die Leitung des Unternehmens eingebunden bin, wurden diese Tanks nicht mehr benutzt.«
»Das ist ja der nächste Witz, Karin«, fuhr der Kerl namens Norbert fort. »Dass du von Vater in die Leitung eingebunden wurdest.«
»Herr Pasche, sofern Ihre Wortmeldungen nichts zur Erweiterung unseres Erkenntnisstands beitragen, würde ich Sie bitten, Ihre private Meinung zur Unternehmensführung außen vor zu lassen«, schob die Gruppeninspektorin dem Typen einen rhetorischen Riegel vor.
Ich fand das aus taktischen Gründen nicht ganz so clever. Je deutlicher hier die Konflikte ausgetragen wurden, desto hilfreicher wäre das wahrscheinlich für die Ermittlungen.
»Sie haben mir in meinem eigenen Haus ja wohl nichts vorzuschreiben«, echauffierte sich Norbert und erhob sich von seinem gemütlichen Couchuntersatz.
»Das ist immer noch unser Haus«, erklärte die hinter ihm stehende Frau. Mein detektivisches Gespür sagte mir, dass das wohl seine Schwester war. Ihre Wortmeldung schien den Kerl nicht gerade zu beruhigen.
»Frau von Kiel, können Sie uns endlich mal sagen, was diese Fragen zu unserem Keller sollen? Und warum Sie uns damit in dieser schweren Stunde für die ganze Familie behelligen?«, fragte sie.
Von Kiel. Das war ihr Name! Na endlich! Ich wusste doch, es hatte irgendwas mit Norddeutschland zu tun.
Sie sah zum Poidl, der ihren Blick nichtssagend retournierte.
»Wir haben eine weitere Leiche in besagtem Weintank gefunden«, erklärte die Gruppeninspektorin.
Die überschaubare Zuhörerschaft blickte sie erstaunt an.
»Sie haben was?«, fuhr der stehende Sofatyp fort.
»Es dürfte sich um einen Mann handeln. Dem Zustand der Leiche zufolge dürfte die Leiche schon sehr lange dort unten im Tank gelegen haben.«
»Onkel Wolfgang!«, rief der Kerl plötzlich aus und hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund.
Entweder er hatte da gerade tatsächlich eine schreckliche Eingebung zu seinem Onkel gehabt oder er war ein verdammt schlechter Schauspieler.
Darauf hat hier echt niemand gewartet
Es gab da diesen Onkel in meiner Familie, den ich immer recht seltsam fand. Und nicht nur ich, wie ich glaube.
Gregor, der von allen nur Greg genannt werden wollte, hatte einen leichten Hang zu seltsamen Gestiken. Es hatte was von einem Tourettesyndrom, wenn er mal wieder seine Handfläche in der Achselhöhle des anderen Arms einklemmte und, begleitet von erratischem Augenzucken, »Nik, nik, nik« rief. Wie Jack Nicholson in »Easy Rider«. Oder wenn er sich während des Abendessens einfach mal so das T-Shirt auszog und vor allen Anwesenden einen Eurodance-Beat tanzte. Niemand wusste, was es mit solchen Aktionen auf sich hatte. Aber mit der Zeit gewöhnten sich alle an seine seltsamen Marotten. Bis auf das Mitglied einer Rockerbande, dem er quasi im Vorbeigehen den Vogel zeigte. In Gregs Verständnis war das nur ein humoriger Gag, der Rocker dagegen, der schlug Greg ganz humorlos krankenhausreif.
Was ich mit dieser kleinen Anekdote sagen will, ist, dass man einen Onkel nicht gleich in einem Weintank einsperren und verrotten lassen muss, wenn man mit ihm nicht zurechtkommt. Wolfgang Pasche, der Onkel von Karin und Norbert, musste also etwas wirklich Schlimmes angestellt haben oder jemand wirklich Schlimmem im Weg gestanden haben, dass er dieses Schicksal hatte erleiden müssen. Falls es sich denn bei der Mumie aus dem Weintank tatsächlich um die luftgetrocknete Variante von ihm handelte.
»Du kannst echt froh sein, dass du ein Hund bist«, sagte ich zu Bella.
Wir hatten uns zum Luftschnappen auf die großzügige Terrasse verzogen, die sich hinter der Villa in die Parklandschaft schmiegte. Von hier hatte man die Gartenanlage schön im Blick, bis hinunter zum Ochsenbrunnen. Der Teich wurde von einigen Bäumen eingerahmt, den Quellbach, der in diesen mündete, hörte man bis hier oben malerisch plätschern. Wenn man die Augen schloss, konnte man sich für einen kurzen Moment im Paradies wähnen, das Gesehene und Gehörte aus dem Inneren der Villa vergessen. Nicht daran denken, dass in dem Haus drei Leichen lagen. Dass hier irgendwo in der Gegend Mafiapate Vito Violino sein Unwesen trieb. Was sein Clan mit meiner Frau Luise gemacht hatte. An alles und nichts denken. Die Gedanken schossen durch meinen Kopf, wie sie es oft taten, wenn ich mich mal für einen Moment gehen ließ, zur Ruhe kam. Erst als Bella meine vom Gartensessel herabhängende Hand ableckte, kam ich wieder hierher zurück, in den großzügigen Garten der Villa Pasche.
Ich ließ sie gewähren, bis sie irgendwann genug Salz von meiner Haut aufgenommen hatte. Danach plumpste sie mit einem zufriedenen Seufzer neben mich auf den Boden, und ich streichelte ihr über das dunkle Fell. Es war ein seltsamer Hund, der mir da vor einem Jahr im Innenhof des Ruster Bahnhofsheiserls plötzlich gegenübergestanden war.
»Du bist mir schon sehr wichtig, weißt du das?«, sagte ich zu Bella.