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Jans Welt steht Kopf: Seine kleine Schwester Katja befindet sich in den Händen eines Entführers. Bislang gibt es keine Lösegeldforderung, die Polizei tappt im Dunkeln. Als Jan eine Datenbrille und einen Hinweis auf Katja zugesandt bekommt, steigt er über eine Social-Network-Plattform in das interaktive Spiel RUN ein. Der ominöse Spielleiter Zero schickt ihn und sechs weitere Jugendliche auf einen Adrenalintrip quer durch Wien, bei dem eine Reihe riskanter Aufgaben zu bewältigen sind, die mittels Videofunktion der Datenbrille aufgezeichnet und im Internet auf der Seite von RUN präsentiert werden. Täglich stellt Zero ein neues Rätsel auf der Seite von RUN ein, das bei richtiger Lösung Austragungsort und Uhrzeit des nächsten Levels verrät. Die eigentliche Aufgabe des Levels nennt Zero meist kurz vor Spielbeginn und hierbei entscheiden Zeit und Geschicklichkeit über die Platzierung der Spieler. Spieler, die ein Level nicht bewältigen, scheiden aus. Nach Auswertung der Videos gibt Zero die jeweils aktuelle Reihung bekannt. Ziel des Spiels ist es, durch Punktehöchststand den Sieg zu erringen und einen auf den Spieler individuell zugeschnittenen Preis zu kassieren. Bald wird Jan klar: Er spielt um Katjas Leben … Packend bis zur letzten Seite: ein Jugend-Thriller, in dem alles auf dem Spiel steht!
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Seitenzahl: 443
© Traumstoff
Mara Lang begann in ihrer Jugend zu schreiben, als ihr der Lesestoff ausging. Hin- und hergerissen zwischen Buch und Film wollte sie ursprünglich Filmregisseurin werden, heute erschafft sie Kopf-kino für ihre Leser:innen. Ob Thriller oder Fantasy – sie spinnt mit Vorliebe spannende Geschichten und hat bereits mehrere Romane veröffentlicht.
Aus dem Genre Fantasy stammen »Das Juwel der Finsternis« und »Der Atem des Lichts«, beide erschienen im DrachenStern Verlag, einem Imprint des Bookspot Verlags. Mara Lang lebt mit ihrem Mann in Wien.
Mehr über die Autorin unter www.mara-lang.com
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.
Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen
Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.
Copyright © 2015 by Buntstein Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH
2. Auflage 2023
Lektorat: Christiane Geldmacher
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Covergestaltung: Ilaria Doro
Titelmotiv: © Image by GarryKillian on Freepik
eISBN 978-3-95669-203-1
www.bookspot.de
Der Verlust einer geliebten Personmag tief in deine Seele schrammen –der Verlust deines Kindeskann sie vernichten.
Er könnte aussteigen.
Jederzeit.
… dieser überraschte Ausdruck in seinem Gesicht …
Niemand zwang ihn dazu.
Niemand.
… wie er da liegt. Leblos. Gleichzeitig warm, noch erhitzt vom Fight …
Aussteigen.
Sofort.
… als würde er gleich aufspringen. Über unsere erschrockenen Gesichter lachen …
Schluss.
Schluss.
Schluss!
… das wird er nicht. Nie wieder. Lachen. Weinen. Denken. Reden. Sein. Er ist tot …
»Riskier nicht dein Leben für dieses Spiel, Jan«, hatte Raphael gesagt. »Überlass das der Polizei.«
… und Katja?
»144 Notruf Niederösterreich, guten Tag.«
»Hallo? Ja, ich möchte einen Mord … also, ich habe eine Leiche gefunden. Im Wald … ein Junge. Sieht so aus, als sei er erschossen worden.«
Kälte kroch seine Beine empor. Erst als seine Finger klamm wurden, fiel ihm auf, dass er aus unerfindlichen Gründen innegehalten hatte und die Spinatpackung mit Blicken durchlöcherte. Ein Aussetzer?
Fröstelnd lockerte Jan den Griff, warf den Blattspinat ins Fach und räumte auch den Rest des Einkaufs in den Gefrierschrank. Pizza und Lasagne für die Eltern, Tiefkühlgemüse für ihn. Sie würden eine Weile damit auskommen. Seine Mutter aß seit Montag so gut wie nichts, sein Vater hatte meist nach ein paar Bissen genug, und Jan kam das Grünzeug bereits zu den Ohren raus. Als Allergiker hatte er es besonders schwer, was Fertiggerichte betraf, sogar bei Würstchen musste er aufpassen. Allerdings sah es nicht so aus, als würde seine Mutter in absehbarer Zeit den Kochlöffel schwingen.
Tag vier. Donnerstag. Kein Hinweis auf Katja.
»Ich habe Pizza gekauft. Und für mich das übliche Zeug«, warf er seiner Mutter über die Schulter zu.
Erstaunlicherweise erhielt er eine Antwort. »Hm? Oh, danke. Gib alles ins Tiefkühlfach.«
Hatte er schon.
Mit einem Ruck drehte er sich um. »Mama?«
Nichts. Seine Mutter saß mit gebeugten Schultern am Küchentisch und starrte vor sich hin. Jan setzte sich zu ihr. Sie umklammerte das Telefon so fest, als könnte sie das Läuten herausquetschen. Er mochte Aussetzer haben, bei ihr konnte man von einem Systemcrash sprechen. Er legte seine Hand auf ihre.
»Mama? Eva!«
Sie blickte auf, die Augen vom vielen Weinen gerötet. Gott, sie war völlig fertig. Sind wir das nicht alle?, dachte er. Die Nächte brachten kaum Schlaf. Wirbelten nur die Gedanken durcheinander.
»Sie finden sie«, sagte Jan, für seine Begriffe mit einer ordentlichen Portion Zuversicht versehen. »Die Polizei hat bestimmt bald eine Spur. Die arbeiten schnell.«
Hoffnung huschte über ihr Gesicht, sie nahm einen tiefen Atemzug.
Nachschub, Jan. »Irgendjemand muss was gesehen haben. Oder gehört. Du weißt doch«, er zwinkerte ihr zu, »Katjas Gekreische lässt selbst Glas splittern.«
Vor einem Jahr hatten sie sich zu Silvester einen Spaß erlaubt, Katja und er. Sie hatten ein Sektglas präpariert und es vor den Augen der Eltern zerspringen lassen, nur durch Katjas Stimme. Sie konnte quietschen, dass einem Hören und Sehen verging.
Der Scherz verfehlte nicht an Wirkung. Seine Mutter lächelte schwach. »Ach, Jan. Tut mir leid. Ich bin momentan zu nichts zu gebrauchen.«
»Kein Problem. Ich komme damit klar.« Eine glatte Lüge. Die Situation machte ihn wahnsinnig. Nichts tun zu können, nur zu warten und zu hoffen, war zermürbend. Er hätte sich jemanden zum Reden gewünscht, ein wenig Rückhalt, nicht diese stumme Verzweiflung.
»Geben Sie auf Ihre Frau acht«, hatte der Polizeipsychologe seinem Vater geraten. »Nicht, dass sie in eine Depression kippt.« Der hatte genickt und Jan einen von diesen Wenn-ich-nicht-da-bin-bist-du-der-Mann-im-Haus-Blicken zugeschossen. Super. Sein Vater war Staatsanwalt und steckte mitten in einem wichtigen Fall. Also blieb alles an Jan hängen.
Er drückte die Hand seiner Mutter. Wollte so viel sagen und brachte doch nichts raus. »Ich bin oben, okay?«
»Okay. Danke für deine Hilfe, mein Schatz.«
Jan wollte gerade durch die Küchentür, da rief sie ihm nach: »Da ist ein Paket für dich gekommen. Liegt in deinem Zimmer.«
Ein Paket? Wer sollte ihm ein Paket schicken? Er hatte nichts bestellt. Werbung vielleicht?
Er nickte. »Dann schau ich mal nach, was es ist.«
Sie nickte auch. Schluchzte auf. Immer wieder diese Tränen, ohne jede Vorwarnung. Verständlich, sicher, aber schwer zu ertragen.
Im Treppenhaus war es düster. Früher hatte ihn das nie gestört, doch nun, da Katjas Lachen fehlte, ihr Getrampel und Gehopse, ihr täglicher Quälgeist-Radau, fiel es ihm zum ersten Mal negativ auf. Die Welt hatte ihr Licht verloren.
Neunzehn Stufen führten in den Oberstock. Neunzehn, Primzahl. Durch nichts teilbar, außer durch sich selbst. Katja ist auch so eine Primzahl, dachte Jan. Et-was Besonderes. Unser Kätzchen. Grausige Bilder stiegen vor seinen Augen auf, als er darüber nachdachte, was sie wohl mit ihr anstellten. Ihre kleinen Hände, gefesselt. Ihr zarter Mädchenkörper, gekrümmt auf einer Matrat-ze. Männer, die über sie herfielen.
Sie war doch erst fünf.
Und jetzt war sie weg. In der Gewalt von Irren, die noch nicht einmal Lösegeld gefordert hatten. Ein pädophiles Pärchen, vermutete die Polizei. Oder Mädchenhändler. Es gab eine Menge Möglichkeiten.
Mit einem Blinzeln löschte Jan seine schwarzen Fantasien. Trat in sein Zimmer. Schloss die Tür hinter sich und die Welt aus.
Das Paket lag auf seinem Schreibtisch, klein und unscheinbar zwischen all den Büchern, Heften und Zetteln. Seit Katjas Verschwinden hatte er nicht einen Strich für die Schule gemacht. Die mit gelbem Textmarker hervorgehobenen Abschnitte in seinem Mathematikbuch blitzten ihn anklagend an, als wollten sie ihn daran erinnern, dass er Anfang Juni mündliche Matura hatte. Wen juckt’s, dachte er achselzuckend. Noch genügend Zeit.
Er würde erst wieder zur Schule gehen, wenn seine Mutter sich besser fühlte. Das ersparte ihm auch die lästigen Fragen seiner Mitschüler. Alle hatten von Katjas Entführung gehört, viele hatten ihm auf Whatsapp geschrieben, wie leid ihnen die Sache täte. Er hatte nie zurückgeschrieben. Die Polizei hatte ihnen geraten, nichts zu dem Fall in der Öffentlichkeit oder im Internet verlauten zu lassen.
Jan schluckte. Seine kleine Schwester war »ein Fall«. Er wollte seine Wut herausschreien, jemanden schütteln oder schlagen. Stattdessen presste er die Faust vor den Mund und sank auf den Schreibtischstuhl.
Die Schrift auf dem Paket war rot. Auf einen weißen Aufkleber gedruckt.
Jan Rakits
Roterdstraße 25
1160 Wien
Das war eindeutig er.
Der Signalton seines Handys riss seinen Blick vom Paket los. Eine Whatsapp von Raphael:
Wie wär’s mit Klettern? Um drei?
Eine Klettersession mit seinem besten Freund klang verlockend. Endlich wieder auspowern, den Kopf freibekommen, nur an die Route und den nächsten Zug denken.
Nicht an Katja.
Sie hatten sie vom Kindergarten abgeholt. Eine Frau, die behauptete, Katjas Mutter sei verunglückt und werde im Krankenhaus notoperiert, hatte sie mitgenommen. Die Kindergartenhelferin hatte nicht genauer nachgefragt, auch nicht, als Katja anfangs nicht mit der Fremden gehen wollte. Falsch reagiert. Viel zu spät waren ihr doch Bedenken gekommen. Sie war der Frau nachgerannt, hatte aber nur noch einen blauen Lieferwagen wegfahren sehen. Blau oder auch schwarz, nicht einmal das Kennzeichen hatte sie erkennen können.
Jan knallte die Faust auf den Tisch. Blöde Gedankenspirale!
Ja, Klettern war eine gute Idee. Sein Vater hatte versprochen, heute früher nach Hause zu kommen. Das passte.
Kann erst um fünf. CYL?, schickte er an Raphael.
Während er auf Antwort wartete, widmete er sich dem Paket. Es war ungewöhnlich leicht. Nun war er doch gespannt. Mechanisch öffnete er den Karton. Darunter kam eine Schachtel aus Styropor zum Vorschein. Für Sekunden blitzte eine Warnung in seinem Kopf auf: Nicht, das könnte eine Bombe sein!
Sicher doch, Jan. Er lachte trocken. Erst entführen sie deine Schwester und dann jagen sie dich in die Luft.
Immer noch grinsend öffnete er die Schachtel und stutzte. In eine Plastikfolie eingeschweißt lag eine Brille. Das Gestell ein Mix aus Metall und Kunststoff, extra breite Bügel, die Gläser verspiegelt, ein Fixierband für den Kopf. Auf den ersten Blick ähnelte sie einer Sonnenbrille für Sportler oder einer dieser Actionbrillen, mit denen man Fotos oder Videos aufnehmen konnte.
Jan nahm sie aus dem Styroporbett und drehte sie in der Hand. Der Firmenname SPEC war auf den linken Bügel geprägt, und gleich daneben AR-Vision 4.7.
AR? Seine Gedanken fuhren Achterbahn und rasteten schließlich ein. Er hatte kürzlich mit Raphael über Wearables diskutiert und der hatte ihm von diesen Smartglasses erzählt. Raphaels Vater arbeitete in der Computerbranche und war eine unerschöpfliche Quelle an Informationen, wenn es um die neuesten Hightech-Errungenschaften oder Games ging. AR war die Kurzform für ›Augmented Reality‹, was wiederum ›erweiterte Realität‹ bedeutete. Das Ding war eine Datenbrille.
Weshalb bekam er eine Datenbrille zugesandt?
Diese Brillen waren ziemlich teuer und wurden seines Wissens momentan hauptsächlich in der Arbeitswelt eingesetzt, bei Tätigkeiten, die es erforderten, beide Hände frei zu haben. War er als Testperson ausgewählt worden? Vielleicht war es nur eine Attrappe? Ein Werbegag zur Einführung eines neuen Modells? Er suchte nach einer Erläuterung der Herstellerfirma, nach einer Bedienungsanleitung, irgendetwas. Aber nichts. Bis auf ein Ladekabel war die Schachtel leer.
Schließlich siegte die Neugier. Er riss die Folie auf und nahm die Brille genauer unter die Lupe. Das Kunststoffmaterial war angenehm griffig, nur am rechten Bügel befand sich eine glatte Fläche. Ein Touchpad? Außerdem entdeckte er eine Kameralinse, ein Mikrofon und einen Lautsprecher, eine quadratische Einbuchtung, unter der er den Kontakt für das Ladekabel vermutete, und einen winzigen Schalter.
Probeweise setzte er die Brille auf und stellte sich vor den Spiegel am Schrank.
Nice! Wie für ihn gemacht. Die Brille saß gut, ausgezeichnet sogar, als er die Nasenstege enger stellte. Sie machte jede Kopfbewegung ohne Rutschen mit, das Fixierband war nicht nötig. Und sie war extrem leicht. Seine Finger tasteten nach dem Schalter. Er drückte ihn und ärgerte sich sogleich über seine Dummheit. Schon mal was von Laden gehört, Jan?
Schon wollte er das Ladekabel holen, als ein zartes Summen ertönte. Das Ding war betriebsbereit! Rechts oben leuchtete im Brillenglas ein Text in einem Sichtfenster auf:
- Standort: Europa, Österreich, Wien, 1160, Roterdstraße 25
Krass. Ein Schauer lief Jan über den Rücken. Dieses Ding ermittelte automatisch seinen momentanen Aufenthaltsort. Auch Datum und Uhrzeit waren eingestellt. Die Anzeige verschwand wieder und machte dem Logo der Plattform Live Platz. Von Live hatte er schon gehört. Im Vergleich zu Instagram und TikTok war das eine unbedeutende Plattform, doch sie hielt sich beständig. Jan hatte ein einziges Mal reingeschaut und keine große Lust verspürt, einem weiteren Social Network beizutreten. Viel zu mühsam. Im Übrigen waren sämtliche seiner Freunde bei Instagram zu finden, und wen interessierte schon eine Plattform ohne Kontakte?
Einen Moment später registrierte er, dass er sich nicht mehr auf der Startseite von Live befand, sondern zu einer Seite namens RUN umgeleitet worden war.
RUN – Das Spiel, stand da in knalligem Rot zu lesen. Also von daher wehte der Wind. Vermutlich war die Datenbrille ein Marketing-Auftritt der Spielehersteller. Woher hatten sie seine Adresse? Zufall? Cooler Zufall jedenfalls.
Kopfschüttelnd betrachtete Jan den Header von RUN. Die Display-Darstellung war perfekt, ganz so, als säße er vor dem Bildschirm seines PCs am Schreibtisch. Die Farben leuchteten, die Schrift war gestochen scharf. Dabei beeinträchtigte die AR sein Sichtfeld nicht. Er brauchte nur geradeaus durch die Brillengläser in die Wirklichkeit zu schauen – oder nach oben auf die digitale Welt. Phänomenal. Bestimmt konnte man mit der Brille auch bei Instagram einsteigen. Doch wie kommunizierte man? Das Mikrofon ließ auf Sprachsteuerung schließen.
»Instagram«, sagte er leise, fast fragend. Nichts. »Sprachsteuerung«, befahl er, schon ein wenig lauter. Wieder nichts.
Enttäuscht wollte er die Brille abnehmen, da wechselte RUN die Ansicht.
- Nimmst du die Herausforderung an?
»Klar«, sagte Jan spöttisch.
Wieder änderte sich die Anzeige.
- Willkommen bei RUN, Jan!
Ach. Du. Scheiße.
Jan riss sich die Brille vom Kopf. Das Spiel kannte ihn beim Namen. Warum auch nicht, dachte er. Die Brille kannte seinen Standort, wie viel fehlte wohl bis zu seinem Namen?
Eine Menge. Jeder in seiner Familie hätte das Paket öffnen und die Brille in Betrieb nehmen können. Seine Mutter, sein Vater, sogar Katja …
Wenn sie denn da gewesen wäre.
Jan setzte die Brille wieder auf. Er wollte jetzt nicht an Katja denken. Diese Ablenkung kam wie gerufen. In der Menüleiste bot ihm RUN zwei Möglichkeiten an:
- Das Spiel
- Level 1
»Das Spiel«, sagte er, in der Annahme, dass er irgendwas über die Regeln erfahren würde. Diesmal reagierte das System sofort auf seinen Sprachbefehl.
- RUN – Das Spiel
Begib dich mit RUN auf eine atemberaubende Jagd und sammle Punkte beim Bewältigen der Levels. Der Punktehöchststand führt zum Sieg. Und der Preis?Who knows?
RUN – Gib dir den Kick!
Das war etwas dürftig. Eine atemberaubende Jagd und ein Preis, der unbenannt blieb? Vermutlich war dies die Demoversion und man kassierte das komplette Spiel, wenn man alle Level bewältigte. Ob es außer ihm überhaupt jemanden gab, der sich für RUN interessierte?
»Auflistung Spieler.«
Die Hauptseite rutschte nach rechts und gab die Sicht auf sechs Namen frei: Florian, Nina, Jasmin, Mark, Vincent, Tom.
Und Jan. Mit ihm waren sie zu siebt.
Jan holte Luft. Ansehen kostet nichts, dachte er. »Level 1.«
Ein Foto poppte auf. Darauf waren ein paar Mülltonnen vor einer kahlen Hausmauer zu sehen. Links kletterte Efeu die Wand empor. Auf einer der Tonnen lag ein Schuh. Unter dem Foto stand im typischen Knallrot von RUN zu lesen:
- Welcome to level 1!
Triff noch heute Mittag deine Gegner! Schieße ein Foto von: Nina.
RUN – Gib dir den Kick!
Es war der Schuh, der Jans Herz Kapriolen schlagen ließ. Eine hellgrüne Sportsandale für Kinder mit weißer Sohle. Funkelnagelneu. Mit zitternden Fingern berührte er das Touchpad und zoomte das Foto heran. Am Rand der Sohle stand mit schwarzem Stift etwas geschrieben. Ein Name, deutlich zu lesen:
Katja.
Jan wurde heiß und kalt zugleich. Das war der Schuh seiner Schwester! Er war mit beim Kauf gewesen und hatte sich furchtbar gelangweilt, weil Katja sich nicht zwischen den pinkfarbenen und den hellgrünen Sandalen entscheiden konnte. Keine zwei Wochen war das her. Zu Hause hatte seine Mutter mit Kugelschreiber den Namen auf die Seitenwände der Sohlen geschrieben. »Damit du sie nicht verwechseln kannst«, hatte sie erklärt. »Bestimmt haben auch andere Mädchen im Kindergarten solch tolle Sandalen.« Katja hatte ihren Schmollmund gegen ein breites Lachen getauscht und altklug gesagt: »Das denke ich nicht. Die anderen hätten die Sandalen in Pink genommen. Meine Schuhe sind einzigartig.«
Einzigartig. Wie Katja.
Am Tag ihrer Entführung hatte sie die Sandalen zum ersten Mal getragen. Und jetzt stand einer dieser Schuhe auf einer Mülltonne in einem Hinterhof.
Heute Mittag … Er warf einen Blick auf sein Handy. Bald zwölf Uhr.
Er musste dorthin. Sofort.
Jan riss die Jacke vom Haken an der Tür, schnappte das Handy und seine Ausweispapiere. Hatte er Geld dabei? Mit einem Griff in die Hosentasche förderte er einen Zwanzig-Euro-Schein zutage. Gut, man konnte nie wissen. Die Brille … Nein, er konnte unmöglich mit der Brille ins Erdgeschoss laufen. Ohne sie auszuschalten, steckte er sie in die Jackentasche.
Als er über die Treppe lief, vernahm er aus der Küche das Schluchzen seiner Mutter und eine aufgebrachte Stimme. Sein Vater war hier? Um diese Uhrzeit? Das konnte nur bedeuten, dass es Neuigkeiten gab.
Die Küchentür war zu. Er sollte wohl nichts von ihrer Diskussion mitbekommen. Aber da hatten sie sich geschnitten. Schon wollte Jan in die Küche platzen, dann hielt er inne, um zu lauschen.
»… nichts weiter. Tag für Tag dasselbe. Bewegen die überhaupt ihren Hintern?«
Erst gestern Abend war das Team der Polizei mitsamt der Ausrüstung abgerückt. Drei Tage hatten sie auf den Anruf mit der Lösegeldforderung gewartet. Oder auf eine Mail, einen Brief, irgendein Lebenszeichen. Umsonst. Der oder die Entführer hatten offenbar anderweitige Interessen an Katja. Und die Polizei tappte im Dunkeln.
»Ich halte das nicht länger aus, Bernd«, erwiderte Jans Mutter.
Stille. Dann sagte sein Vater sanfter: »Natürlich tust du das. Du gehst noch heute zu dieser Ärztin und lässt dir Tabletten verschreiben. Die werden dir helfen. Wir müssen stark bleiben, Eva. Denk an Jan. Bald steht die mündliche Matura an. Er braucht unsere Unterstützung.«
Ein Schnäuzen, danach: »Ich weiß. Er versucht alles, um mich aufzumuntern, aber Bernd … Katja … unser Kätzchen …«
Leise zog sich Jan zurück. Polterte über die Treppe und stieß die Küchentür auf.
Die Eltern fuhren auseinander. Jans Mutter wischte sich verstohlen über die Wangen. »Jan …«
»Hallo, Papa. Schon zu Hause?«
Sein Vater schenkte ihm sein jugendliches Vater-Sohn-Lächeln. Er hatte die fünfzig überschritten, aber das merkte man nur, wenn er den abgebrühten Staatsanwalt raushängen ließ. Erst die Karriere, danach Kinder, hatten sich seine Eltern einst vorgenommen, ein Plan, der durch Jans Geburt kräftig durcheinandergeraten war. Katja hingegen, die Nachzüglerin, das Nesthäkchen, war ein absolutes Wunschkind. Von allen, Jan eingeschlossen.
»Ich bin auf dem Sprung«, sagte sein Vater. »Ich habe einen Termin in der Nähe und dachte, ich statte euch einen kurzen Besuch ab.«
Jan ging zum Kühlschrank, durchforschte ihn und entschied sich für Orangensaft. Die Packung war fast leer, er trank sie in einem Zug aus. Das übliche »Kannst du dir kein Glas nehmen?« von seiner Mutter blieb aus. Es musste wirklich schlimm um sie stehen.
»Gibt’s was Neues?«, fragte Jan möglichst beiläufig.
Sein Vater schüttelte den Kopf.
»Nein. Die Polizei sucht nach wie vor nach Augenzeugen, aber erfolglos. Beim Kindergarten will niemand etwas gesehen haben. Und andere Anhaltspunkte gibt es nicht. Das Phantombild wurde gestern an die Medien weitergeleitet. Etliche Leute haben bei dieser Hotline angerufen, doch das waren alles Falschmeldungen.«
Sie schwiegen. In den Augen seiner Mutter schimmerten Tränen.
»Ich fahre kurz mit dem Motorrad weg«, sagte Jan, um die Situation zu entschärfen.
Sein Vater runzelte die Stirn. »Wohin? Zur Schule?«
»Nein. Zahlt sich heute nicht mehr aus.«
»Also hör mal! Ich verstehe dich ja, aber …«
Jan fiel ihm ins Wort. »Schule ist wichtig, du hast bald die Mündliche – jaja, ich weiß, Papa. Mach dir keine Sorgen, ich schaffe das mit links. Es sind ja nur Vorbereitungsstunden. Du hast selbst gesagt, dass es kein Pro-blem ist, wenn ich ein paar Tage daheim bleibe. Außerdem ist Mama sonst allein.«
Seine Mutter war Grafikerin. Sie hatte sich nach Katjas Geburt selbstständig gemacht und arbeitete zu Hause. Seit Montag lagen sämtliche ihrer Aufträge auf Eis. Noch zeigten ihre Kunden Verständnis für ihre Lage, doch das konnte sich rasch ändern.
Sein Vater rieb sich die Augen. »Na schön«, sagte er nach einem tiefen Seufzen. »Aber nächste Woche gibt es keine Ausreden mehr, egal, wie sich alles entwickelt. Du darfst die Schule nicht vernachlässigen.«
Wie sich alles entwickelt. Eine feine Umschreibung. Es war zum Kotzen, wie sie in seiner Gegenwart vermieden, Katjas Namen auszusprechen. Was sollte das? Er war kein Kleinkind.
Angesichts der Datenbrille entschied er, jetzt keinen Streit vom Zaun zu brechen.
»Versprochen.« Er nickte, im gleichen Moment trudelte eine Nachricht auf seinem Handy ein: OK. Bis später, schrieb Raphael. »Raph und ich wollen heute um fünf klettern gehen. Ist das okay?«
»Eva?«, gab der Vater die Frage weiter.
Sie lächelte gezwungen. »Sicher. Geh nur. Das bringt dich auf andere Gedanken.«
»Danke.« Jan steuerte die Tür an. Eines musste er aber noch loswerden: »Ach … ihr meldet euch doch, wenn ihr etwas von Katja hört?«
Die Eltern wechselten Blicke.
»Ich will alles wissen, jede Einzelheit. Ihr könnt mich nicht einfach ausschließen.«
»Niemand schließt dich aus, Jan«, beschwichtigte ihn sein Vater. »Wir wollen dich nur nicht unnötig …«
»Belasten. Läuft aufs Gleiche raus. Wisst ihr, was mich wirklich belastet? Wenn ihr mir die Wahrheit verschweigt.« Es tat verdammt gut, die Tür hinter sich zuzuknallen.
Als er in den sonnenwarmen Frühlingsmorgen hinaustrat, rann ihm ein eigenartiges Kribbeln über die Haut. Die Polizei hatte keine Hinweise auf Katja, doch er … hatte einen. In der Garage setzte er die Brille auf und betrachtete erneut das Foto von Level 1.
Triff noch heute Mittag deine Gegner! Und wo genau? Ernüchterung machte sich in Jan breit. Das Foto konnte weiß Gott wo geschossen worden sein. Gut, die Aufnahme zeigte einen Hinterhof, wie es sie in Wien zuhauf gab, aber in jeder beliebigen europäischen Stadt wohl auch. Einen anderen Kontinent schloss er hingegen aus. RUN konnte nicht erwarten, dass die Jugendlichen – und er ging in erster Linie von Teilnehmern in seinem Alter aus – quer durch die halbe Welt jetteten. Grübelnd überflog er noch einmal die Spielernamen. Sie klangen vertraut, also tippte er auf den deutschsprachigen Raum. Vielleicht war Wien doch nicht so abwegig?
Fünf Mülltonnen, Efeu, der Schuh …
Jan zoomte das Foto heran, bis es ihm die Mülltonnen in Großaufnahme präsentierte. Viermal Restmüll. Die fünfte Tonne war, dem roten Deckel nach zu urteilen, Altpapier. Blöderweise hatten alle keine Aufkleber, die hätten ihm einen guten Hinweis gegeben.
Er verschob die Ansicht zum unteren Bildausschnitt. Der Boden war mit uralten Ziegelsteinen befestigt. Sie waren teilweise mit Erde bedeckt und von Gras und Moos überwachsen, doch bei einem Stein konnte er deutlich einen Doppeladler und einen Buchstaben erkennen. Ein H? Ein K?
Sollte er das Handy bemühen oder konnte er per Datenbrille auf Google suchen? Zuvor war es ihm unmöglich gewesen, zu Instagram zu wechseln, aber nun war er als Spieler registriert. Wäre ja Schwachsinn, wenn das nicht funktionieren würde.
»Google«, befahl er.
Tatsächlich öffnete sich die Seite der Suchmaschine und er ließ sich Bilder von Ziegelsteinen mit Doppeladler anzeigen. Schon beim dritten Bild hatte er Glück. Beiderseits des Doppeladlers waren die Buchstaben H und D eingebrannt.
Na bitte.
Per Touchpad öffnete er das Bild und landete auf der Seite des Austria-Forums. Er überflog den Text. Ja, die Ziegelsteine stammten aus dem alten Ziegelwerk am Wienerberg. Um die Jahrhundertwende hatten die Arbeiter dort wie Sklaven schuften müssen, sogar Kinderarbeit war erlaubt gewesen. Grässliche Zeit.
Jedenfalls wieder ein Aspekt, der für Wien sprach.
Jan rief die Seite von RUN auf und verschob das Foto nach links. Waren das Briefkästen? Nach erneutem Zoomen entdeckte er eine Zeitschrift, die ein Stückweit aus einem Briefkastenschlitz herausragte. Name und Adresse waren mit einiger Mühe zu entziffern: Gerda Falke, Neulerchenfelder Straße. Die Hausnummer verschwand dummerweise zur Hälfte im Schlitz. Nur eine Sieben war zu erkennen, was nun irgendetwas-siebzig lauten konnte oder auch nur sieben. Egal, er wusste mehr als genug! Die Neulerchenfelder Straße befand sich im sechzehnten Bezirk in Wien.
Heimvorteil! Besser konnte das Spiel für ihn nicht anlaufen.
Jan schob das Motorrad aus der Garage und durch das Gartentor auf die Straße. Zwei Jahre hatte er damals auf die Aprilia gespart, ein Spitzengefährt, das er von einem Freund günstig übernommen hatte. Sie war bestens in Schuss und er liebte sie heiß. Im Sommer wollte er die Prüfung für die nächsthöhere Führerscheinklasse absolvieren und dann auf etwas Größeres umsteigen.
Ehe er den Sturzhelm aufsetzte, beschloss er, sich die Fahrstrecke genau einzuprägen. Mit der Datenbrille zu fahren war suboptimal, lieber vorher nachsehen.
»Navigation. Neulerchenfelder Straße 79.«
Sofort zeigte ihm das System eine Wegbeschreibung an. Keine zehn Minuten würde er mit dem Motorrad benötigen. Er würde den Hof finden und Punkte kassieren. Und hoffentlich herausfinden, was RUN mit dem Schuh seiner Schwester zu schaffen hatte.
Jan zwängte das Motorrad in eine Parklücke. Mit dem Sturzhelm in der Hand zog er los. Die Hausnummern in Wien waren zumeist absteigend zur Inneren Stadt hin angeordnet. Sollte er bei den Siebziger-Nummern nicht fündig werden, würde er die Neulerchenfelder Straße hinunterfahren und sich Nummer sieben ansehen.
Nummer neunundsiebzig erwies sich als Fehlanzeige. Das Haus war frisch renoviert, es hatte nur einen Zugang, und der führte in ein Treppenhaus, wie Jan durch die Glasscheibe der modernen Eingangstür erkennen konnte. Achtundsiebzig lag auf der anderen Straßenseite – die Häuser mit gerader Hausnummer würde er sich später vornehmen.
Nummer siebenundsiebzig bis fünfundsiebzig gehörte zu einem Gebäudekomplex mit einem weißen Tor, breit genug für ein Auto. Das sah schon besser aus. Allerdings war das Tor verschlossen. Die Haustür daneben hatte keine Türglocke. Er klopfte und überlegte, was er eigentlich sagen sollte, wenn ihm jemand öffnete. Die Geschichte mit dem Spiel würde ihm kaum weiterhelfen. Haben Sie einen Hinterhof? Ich mache bei einem Schulprojekt mit und würde ihn gern fotografieren. Das klang plausibel.
Aber auch auf sein kräftigeres Klopfen reagierte niemand. Also weiter zum nächsten Haus: dreiundsiebzig. Ein breites Garagentor inklusive Tür – und eine Sprechanlage. Ideal. Er überflog die Namensschilder: Laubner, Höchsmeier, Turgeya, Falke, Cervic, Kirner … Moment! Falke! Jans Herz schaltete auf Turbo. Das war doch der Name auf der Zeitschrift im Briefkasten gewesen. Hier war er richtig! Jetzt musste er nur noch in den Hof gelangen.
Er läutete bei Türnummer 1, Laubner. Keine Antwort. Bei den anderen verhielt es sich ebenso. Das durfte nicht wahr sein … zwanzig Mieter und keiner von ihnen war zu Hause? In einem Akt der Verzweiflung klingelte er bei allen durch. Dann noch einmal. Und wieder.
Nichts.
Missmutig lehnte er sich gegen das Tor. Wie sollte er da reinkommen? Waren die anderen Spieler bereits hier gewesen, hatten die Fotos geschossen und waren wieder abgehaut? Na toll. Damit wäre er als Einziger leer ausgegangen. Null Punkte und im schlimmsten Fall raus aus dem Spiel. Spitzenauftritt, Jan.
Vielleicht handelte es sich bei RUN ja nur um einen Fake. Einer seiner Mitschüler könnte die Seite erstellt und ihn hierhergelockt haben. Zutrauen würde er das zwar keinem von ihnen, aber wer konnte schon in die Leute hineinschauen? Nicht alle gehörten zu seinem engeren Freundeskreis.
Und die Datenbrille?, schoss es ihm durch den Kopf. Die passte überhaupt nicht ins Bild. Niemand würde ihm einfach so eine sündteure Datenbrille zuschicken. Nicht aufgrund eines simplen Streiches.
Obendrein war da noch Katjas Schuh.
Meine Güte, Jan. Diese Schuhe sind keine Einzelstücke. Man konnte sie in etlichen Schuhgeschäften in ganz Wien kaufen. Sie mit Katjas Namen versehen und fotografieren. Wenn man ein Fiesling war und ihn am wundesten Punkt treffen wollte.
Jan fluchte und hämmerte gegen das Tor. Dumpf hallte das Echo aus dem Hof wider. Mit einiger Befriedigung registrierte er den vorwurfsvollen Blick eines Passanten. Sollte er ruhig starren. Es half, sich auf diese Weise abzureagieren. Aber natürlich änderte es nichts an seiner Lage.
Nach kurzem Überlegen holte er die Datenbrille aus der Jackentasche und schob sie auf die Nase, was sich mit dem Sturzhelm in der Linken nur mit Mühe bewerkstelligen ließ. Kaum hatte er die Brille eingeschaltet, öffnete sich wie durch Zauberhand die Tür im Hoftor und Jan starrte in das belustigte Gesicht eines Jungen in seinem Alter.
»Na, willst du die Tür eintreten?«
Der Junge war dunkelhaarig, groß und kräftig gebaut. Und er trug eine Datenbrille. Vor Freude wäre Jan ihm beinahe um den Hals gefallen. Kein Fake.
»Du bist wohl Jan, oder? Ich bin Vincent. Mach den Mund wieder zu und komm rein.«
Vincent hielt ihm die Tür auf. Die Einfahrt war betoniert, die Wände grau verputzt. Jans Blick schweifte weiter. Zu den Briefkästen, dem mit Ziegelsteinen gepflasterten Innenhof, den Mülltonnen vor der Hausmauer, dem Efeu in der Ecke. Volltreffer.
»Du bist der Letzte. Wir haben dich läuten gehört, aber Tom meinte, es wäre witzig, dich ein wenig zappeln zu lassen.«
Ausgesprochen witzig. »Wie nett«, bemerkte Jan.
Vincent grinste. »Ja, wir sind alle ultranett. Ein Haufen schräger Vögel. Du wirst schon sehen.«
Sie bogen um die Hausecke. Die Einfahrt erweiterte sich zum Innenhof. Auf jeder Seite befanden sich drei Autoabstellplätze, die nicht belegt waren. Links führte eine weitere Tür ins Haus. Und davor warteten fünf Jugendliche. Seine Gegner.
»Das ist Jan«, stellte Vincent ihn vor und Jan murmelte ein »Hallo« in die Runde.
Sie nickten ihm zu, ein Typ in schwarzer, abgetragener Lederjacke seufzte genervt.
»Na endlich«, sagte ein dicker Junge, dem Jan maximal fünfzehn Jahre gab. Star-Wars-T-Shirt, gescheitelter Kurzhaarschnitt, Sommersprossen. Eine Zahnspange blitzte zwischen seinen Lippen. Nervös rückte er seine Datenbrille zurecht. »Ich komme um vor Hunger. Schieß dein Foto und dann lass uns verschwinden.«
»Äh … ja.« Das Foto. Welches von den beiden Mädchen war Nina? Die Blonde, Marke H&M, oder die im Punk-Look? Die Blonde lächelte ihm verführerisch zu, die andere sah eher gelangweilt drein. Abwesend spielte sie mit der Brille, die sie mit dem Bügel in den Kragen ihrer Karobluse gesteckt hatte. Jan zählte ein Piercing an ihrer Nase, eines durchbohrte ihren Mundwinkel, drei schmückten die linke Braue und etwa viermal so viele die Ohren. Ein Fest für jeden Metalldetektor.
»Bitte lächeln«, forderte einer der Jungs ihn auf und berührte das Touchpad an seiner Brille. »Danke sehr.«
Okay … »Und du bist?«, fragte Jan.
»Florian. Wahnsinn! RUN reagiert schnell. Dein Foto ist bereits online.«
Er schätzte Florian auf siebzehn, achtzehn. Die dicke Börse seiner Eltern sprang einem förmlich entgegen. Designer-Jeans, feines Hemd, und waren das Maßschuhe? Trotzdem trug er das Zeug mit einer Lässigkeit, als wäre er damit aus dem Mutterleib geschlüpft.
»Habt ihr die Brille auch heute zugesandt bekommen?«, erkundigte sich Jan, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen.
Vincent nickte. »Ich hab das Paket heute Morgen von der Post geholt. War eine Riesenüberraschung. Daraufhin hab ich die Mittagspause gleich genutzt und bin hergefahren.« Er sah auf die Uhr. »Schon zwölf Uhr vierzig. Ich muss um eins in der Werkstatt sein, sonst gibt’s Ärger.«
»Wo arbeitest du?«
»Bei VW Wiesinger, ganz in der Nähe. Ich mach eine Lehre zum KFZ-Mechaniker, bin im dritten Lehrjahr. Und du?«
»Ich geh zur Schule. Gymnasium Maroltingergasse.«
»Soll heißen, du schwänzt die Schule?«, mischte sich Miss H&M ein.
Jan zuckte die Achseln. »Du doch auch«, sagte er ihr auf den Kopf zu.
»Klar«, sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Manchmal muss man eben Prioritäten setzen.«
»Nun macht schon«, stöhnte der Junge mit der Zahnspange. »Dieses Gelaber geht mir auf die Nerven. Außerdem wartet das nächste Level.«
»Krieg dich wieder ein, Mark«, meinte Vincent. »RUN lebt von uns. Ohne Gamer läuft da gar nichts. Also gib Jan etwas Zeit.«
Sympathisch, notierte Jan in Gedanken. Es konnte nie schaden zu wissen, wer auf seiner Seite war.
Der Typ in der Lederjacke meldete sich zu Wort. »Der kleine Spinner kann es schon gar nicht mehr erwarten. Möchtest wohl mit dem Laserschwert herumfuchteln, was, Yoda?« Sein Kichern artete in einen Hustenanfall aus. Er räusperte sich, spuckte auf den Boden und murmelte: »Was für ein Kindergarten!«
Das war also der überaus witzige Tom. Groß, dürr und so blass, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Er war definitiv der älteste der Gruppe. Sein Gehabe machte deutlich, dass es ihn langweilte, sich mit ihnen abzugeben. Warum ist er dann hier?, wunderte sich Jan. Was verspricht er sich von RUN?
»Habt ihr eine Ahnung, was das Ganze soll?«, fragte er in die Runde. »Oder wer uns das Spiel geschickt hat?«
Allgemeines Kopfschütteln.
»Wen interessiert’s?«, meinte Florian. »Hauptsache, es macht Spaß.«
Mich interessiert es, du Pfeife.
Vincent nickte Tom zu. »Was wird eigentlich aus dem Schuh?«
Katjas Schuh! Jetzt erst entdeckte Jan ihn in Toms Hand.
»Darf ich mal sehen?«, fragte er und griff danach, doch Tom zog ihn unter seinen Fingern weg.
»Nicht so hastig. Ich war zuerst da, also gehört er mir.«
»Was willst du denn damit?«, fragte die Punkerin mit hochgezogenen Brauen. Sie hatte eine interessante Stimme, sehr tief für ein Mädchen, fast ein bisschen rauchig, aber dennoch angenehm. »Hängst du ihn dir als Trophäe an den Schlüsselbund?«
Jan musste grinsen. Das würde Toms Image zweifellos ruinieren.
Florian wackelte aufreizend mit den Hüften und ließ die Hand mit einem imaginären Schlüsselbund kreisen. »Hi there, boys and girls. Let’s party tonight.«
Die anderen brachen in Gelächter aus.
Tom blinzelte ihnen hämisch zu. »Lacht ruhig, ihr Babys. Ich cashe dafür die Punkte ab.«
Für einen Moment herrschte Stille, dann kam Bewegung in die Gruppe. Florian und Mark stürzten auf Tom zu, während die Blonde ihm die Sandale aus der Hand reißen wollte. Er sprang vor, versetzte ihr einen Schlag gegen die Schulter, sodass sie zur Seite taumelte, und knallte im nächsten Atemzug Florian den Unterarm vor die Brust. Der wehrte sich und trat Tom gegen das Schienbein. Mark nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit, krallte sich die Sandale und lief damit durch den Hof davon. Mit der Brille auf der Nase, dem wohlgerundeten Bauch und dem Strahlen im Gesicht sah er aus wie die Fliege Puck aus Biene Maja.
»Hallo, RUN?«, rief er. »Ich hab den Schuh, die Punkte gehören mir!«
Jan schüttelte den Gedanken an Katjas aktuelle Lieblingscomicserie ab und platzierte den Sturzhelm neben der Haustür. Er wollte notfalls die Hände freihaben. Florian hatte die Verfolgung aufgenommen, Tom schnitt Mark mit einem »Her damit!« den Weg ab.
Mark sah die Falle zuschnappen. »Fang, Vincent!«
Der Schuh segelte durch die Luft und landete dank Marks mieser Wurftechnik zu Jans Füßen. Geistesgegenwärtig bückte er sich danach, aber schon schloss sich eine Hand um sein Gelenk und der penetrante Geruch nach Aschenbecher stieg ihm in die Nase.
»Das ist meiner«, zischte Tom. Er quetschte Jans Handgelenk so fest, als wollte er es zu Mus pürieren. Das Blut pochte bis in seine Fingerspitzen, Jan keuchte vor Schmerz auf, und er ließ den Schuh fallen.
»Danke, mein …« Weiter kam Tom nicht, denn die Blonde war um den Hauch schneller als er und erwischte die Sandale am Riemen.
»Zu mir, Jasmin!« Vincent winkte mit beiden Händen.
Jan wich an die Hausmauer zurück und massierte sein Handgelenk, während Tom der Beute hinterherhetzte. Jasmin also, dann war die Punkerin Nina. Jasmin schleuderte Vincent den Schuh zu, der ihn wiederum an Florian abgab. Jans Sportlehrer hätte seine Freude am Teamgeist der Gruppe gehabt. Ein paarmal flog die Sandale hin und her und degradierte Tom zum hechelnden Hund, bis er dem Spiel mit einer einfachen, aber wirkungsvollen Methode ein Ende setzte. Er packte Mark von hinten und nahm ihn in den Schwitzkasten.
»Schluss damit«, schrie er Florian an, der gerade im Besitz der Sandale war, »oder er kriegt es zu spüren!«
Mark war kreidebleich geworden. »Lass mich los, du Penner!«
»Hey!« Vincent ging mit erhobenen Händen auf Tom zu. »Ganz ruhig.«
Jan tauschte einen Blick mit Nina, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Sie wirkte angespannt. Überlegte sie, ob sie sich aus dem Staub machen sollte?
»Der spinnt doch«, murmelte Jasmin.
»Florian, her mit dem Schuh!«, forderte Tom. Mark boxte mit den Ellbogen um sich, worauf Tom den Würgegriff verstärkte. Mark stöhnte.
»Du bist ja geistesgestört.« Florian klemmte den Schuh unter seinen Arm. In aller Ruhe ging er zur Altpapiertonne, holte eine Zeitschrift heraus und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. Die Flammen griffen auf das Papier über.
»Florian!«, rief Jan. »Nicht! Lass mich kurz sehen!«
Florian ignorierte ihn. Warf die Zeitschrift in die Tonne zurück und den Schuh hinterher. »Holt ihn euch doch selbst.«
»Worauf du dich verlassen kannst!« Tom stieß Mark von sich und spurtete zur Mülltonne.
Auch Jan lief los. Als er die Tonne erreichte, brannte das Altpapier bereits lichterloh, Hitze und Rauch wallten ihm entgegen. »Du musst den Deckel schließen, damit das Feuer erstickt!«
Tom verabreichte ihm einen Kinnhaken, der ihn zu Boden schickte. »Muss ich? Weißt du was, ich hab’s mir anders überlegt. Du zeigst mir zu viel Interesse an dem Schuh.«
Jan rappelte sich auf. Sein Kinn pochte. »Er gehört meiner Schwester!«, brach es aus ihm heraus. »Verdammt, es ist Katjas Schuh!«
Jan hatte das Motorrad vor der Kletterhalle abgestellt. Er war zu früh dran. Zeit genug, noch einmal die Seite von RUN auf Neuigkeiten zu checken. Das Video zeigte das Schauspiel vom Anfang bis zum bitteren Ende, als sie von einem mit Feuerlöscher und Handy bewaffneten Hausbewohner unter Androhung der Polizei aus dem Hof geworfen worden waren. Vincent hatte es aufgenommen, dieser fiese Hund. Jan konnte nicht fassen, dass er in ihm einen Verbündeten gesehen hatte.
Die Hauptseite von RUN hatte sich verändert, die Spielernamen waren nun mit ihren Fotos versehen und gemäß den Punkteständen gelistet. Vom höchsten abwärts, was Jan auf den letzten Platz reihte. In aller Eile hatte er Nina noch vor dem Tor fotografiert, sonst wäre aus seiner Null wohl eine minus Zehn geworden und er hätte dem Spiel Adieu sagen müssen. Toms zwanzig Punkte waren eine Frechheit, die anderen hatten je zehn kassiert, nur Vincent konnte auf dreißig stolz sein. Und auf das Scheißvideo.
Mittlerweile hatte es von allen ein ›Like‹ bekommen. Jan hatte bisher gezögert, sich dazu zu äußern, doch nun berührte er das Touchpad und klickte den Button. Gruppenzwang, dachte er; andererseits wollte er kein Spielverderber sein. Die anderen Spieler hatten ihn über den Schuh ausgefragt, aber Jan hatte geschwiegen. Schlimm genug, dass er sich in dem Hof so blöd angestellt hatte; noch schlimmer, dass ihm Katjas Name herausgerutscht war.
Pling.
- Florian:
Da war jemand ganz spitz auf den Schuh. ;-)
- Jasmin:
Voll krass, Vincent!
Toll. Jetzt posteten sie auch noch dämliche Kommentare.
Zornig kickte Jan einen Stein auf die Straße. Der Schmerz in seinem Kinn hatte nachgelassen, doch es war geschwollen und leuchtete in einem fabelhaften Rot, wie ihm der Badezimmerspiegel offenbart hatte. Zum Glück war er den Eltern vorhin nicht begegnet. Seine Mutter war bei dieser Ärztin und sein Vater hatte ihm eine Nachricht hinterlassen, dass er unterwegs war, sie von dort abzuholen. Ihre Fragen würden ihm später noch blühen. Wie sollte er ihnen die Prellung erklären?
- Tom:
Lol. Na, da ist ja wohl einer leer ausgegangen.
Jan verzog das Gesicht. Ultrawitzig, du Arsch! Leer ausgegangen in zweierlei Hinsicht. Zusätzlich zu seinem blamablen Punktestand hatte er nichts herausgefunden, was ihn auf Katjas Spur gebracht hätte. Kurz hatte er erwogen, die Polizei zu informieren, aber damit wäre RUN Geschichte, ehe das Spiel so richtig in Fahrt gekommen war. Zudem war der Schuh bestimmt zu einem schwarzen Klumpen verkohlt und somit als Beweismittel unbrauchbar. Nein, er musste selbst an der Sache dran bleiben. Es gab eine Verbindung zu seiner Schwester, davon war er überzeugt.
- Florian:
Gratuliere zu den dreißig Punkten, Vince!
- Vincent:
Danke, war mir eine Ehre.
- Nina:
Bin schon gespannt auf heute Abend.
Level 2, so hatte RUN angekündigt, würde heute um zweiundzwanzig Uhr online gehen. Er war bereit. Die anderen konnten sich schon mal warm anziehen. Per Sprachsteuerung rief er die Kommentarfunktion auf:
- Jan:
Ich auch. Nehmt euch in Acht!
Jan sperrte die Aprilia ab, schulterte den Rucksack mit den Klettersachen und nahm den Sturzhelm auf den Arm. Die nachmittägliche Maisonne legte sich mit aller Kraft über die Ausläufer des Wienerwaldes. Auf der Laufbahn zogen ein paar Leichtathleten ihre Runden. Er beobachtete sie ein bisschen, dann schlenderte er zur Kletterhalle. Letzte Woche hatten sie neue Routen geschraubt. Drei Sechser, die würden sie zum Aufwärmen klettern. Eine Sieben minus und eine Siebener, der Rest bewegte sich im Achter- und Neuner-Bereich. Hoffentlich war Raphael bald hier, es juckte ihn in den Fingern, eine Route nach der anderen zu punkten.
- Mark:
I’ll be back. CYA.
Ja, klar, Mr. Schwarzenegger. Was RUN betraf, entschied Jan im Umkleideraum, während er die Datenbrille abschaltete, in einem Etui verwahrte und dieses in das Seitenfach seines Rucksacks steckte, so würde er sich seinen Gegnern gegenüber in Zukunft bedeckt halten. Kein Wort mehr über Katja. Er war einfach Jan, Spieler Nummer sieben.
Der Henkel rechts oben schien unerreichbar. Jan verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß und drehte sich zur Wand. Keine Chance. Dabei hatte er die Route zuvor genau ausgecheckt. Aber von unten sah die Sache immer ein wenig anders aus. Langsam ermüdete sein linker Arm. Wenn er noch länger zögerte, konnte er die On-Sight-Begehung vergessen. Jetzt half nur noch ein Dynamo. Mit genügend Schwung würde ihn der Sprung nach oben katapultieren. Er visierte den Henkel an, sein Blut pumpte Adrenalin durch die Adern.
»Allez, allez, Jan!«, schallte es aus zehn Metern Tiefe herauf. Ein rascher Blick bestätigte, dass sich neben Raphael, der ihn sicherte, noch drei andere Kletterer eingefunden hatten. Sie alle feuerten ihn lautstark an.
Jan ging in die Knie, legte gedanklich alle Sprungkraft in die Beine, stieß sich ab und streckte sich nach dem Henkel. Er packte zu – und hielt. Geil!
Klatschen und Pfiffe belohnten ihn für den Dynamo. Automatisch stieg er nach und erreichte die Zwischensicherung. Er klippte das Seil in die Exe. Noch etwa drei Züge bis zum Stand. Hier hatte der Routensetzer keine großen Schwierigkeiten mehr eingebaut. Jan meisterte das letzte Stück problemlos, hängte das Seil in die beiden Endkarabiner ein und gab Raphael das Signal zum Ablassen.
»Eine Neun minus On Sight! Irre!«, empfing ihn sein Freund am Boden. Die anderen murmelten ebenfalls Glückwünsche und vertieften sich anschließend in eine Diskussion über die interessantesten Züge der Route.
Flachs, der Routensetzer, klopfte ihm auf die Schulter. »Tolle Leistung. Genau so hatte ich mir das vorgestellt.«
Jan grinste und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. »Geniale Route, Flachs. Sehr schöne Züge, die Stelle mit dem Fingerloch war haarig, aber sonst echt super, vor allem der Dynamo.«
Raphael entschied, sich die Neun minus beim nächsten Mal vorzunehmen, und so kletterten sie abwechselnd sämtliche Routen im Siebener-Bereich, bis ihnen beiden die Kraft ausging.
»Heute waren wir gut drauf«, meinte Jan nach dem Duschen.
Raphael, der einen halben Kopf kleiner, aber doppelt so muskulös war wie er, blickte abschätzend zu ihm hoch. »Du warst gut drauf. Ich habe dich noch nie mit solcher Power klettern sehen. Als wolltest du die Welt niederreißen.«
Jan rubbelte seine Haare trocken. »Na, na, jetzt übertreibst du aber.«
»Nein, ehrlich. Du bist die Routen dermaßen aggressiv angegangen. Was ist los mit dir? Irgendein spezielles Dope?«
»Nichts. Hat einfach Spaß gemacht.«
»So kenne ich dich nicht«, beharrte Raphael. »Ist es wegen … deiner Schwester? Gibt es was Neues?«
»Nein. Leider nicht.« Jan machte einen raschen Atemzug. Schlechtes Thema, Raph. Ganz schlecht. Er schlüpfte in seine Jeans. »Hast du schon mal von RUN gehört?«
Raphael runzelte die Stirn. »Was soll das sein?«
»Ein Online-Spiel. Dein Vater vielleicht?« Schließlich kannte der sich am besten mit den neuesten Games oder Trends aus.
»Kann ihn ja mal fragen.« Raphaels Blick wechselte von irritiert zu argwöhnisch. »Seit wann interessierst du dich für Computerspiele?«
»Tu ich nicht, war nur eine simple Frage.«
Das stellte Raphael offenbar nicht zufrieden. »Passt aber nicht zu dir.« Er wartete, doch als Jan anstelle einer Antwort seinem blonden Haar mit Gel zu Leibe rückte, fuhr er fort: »Hör mal, wenn du reden willst – ich bin für dich da, das weißt du, oder? Trinken wir noch was in der Kantine.«
Jan lächelte bemüht. Es war ein Fehler gewesen, RUN zu erwähnen. Er hätte sich denken können, dass sein Freund auf eine genauere Erklärung pochte. Die konnte und wollte er nicht liefern. Nicht jetzt.
»Danke, Raph, aber ich will nach Hause. Es ist schon halb neun und meine Eltern sind zurzeit überempfindlich.«
Das war zwar nicht gelogen, aber der Grund für seine Eile war ein anderer: Er wollte sich im Internet über RUN schlaumachen – unabhängig von der Datenbrille. Wäre doch gelacht, wenn er keine Informationen zu dem Spiel auftreiben könnte.
Das Erdgeschoss war hell erleuchtet. Vor dem Haus parkte ein dunkelblauer BMW, direkt in der Einfahrt. Polizei. Jan hatte das Zivilfahrzeug bereits mehrmals gesehen. Sein Puls beschleunigte sich. Der Weg vom Gartentor zur Garage kam ihm länger vor als sonst, das Motorrad schwerer. Quatsch. Er war einfach müde vom Klettern.
In der Küche traf er auf seine Eltern und zwei Polizisten. Den einen kannte er schon, einen Kriminalbeamten um die vierzig namens Fuchs. Nomen est omen, hatte Jan bei ihrer ersten Begegnung gedacht. Mit seinem listigen Blick, der spitzen Nase und den schmalen Lippen sah Matthias Fuchs aus wie sein tierischer Namensvetter in Person. Der andere Beamte war älter und wirkte, als hätte er gegen ein, zwei gepflegte Bierchen pro Tag nichts einzuwenden.
Stille empfing Jan. Seine Mutter saß am Tisch und starrte ihn mit tränenverhangenen Augen an. Welche Medikamente ihr die Ärztin auch verschrieben hatte, die Wirkung war alles andere als durchschlagend. Sein Vater durchquerte den Raum mit ein paar Schritten und legte ihm beide Hände auf die Schultern.
Bitte, lass es nichts Schlimmes sein, schoss es Jan durch den Kopf. »Was ist passiert?«
Sein Vater räusperte sich. »Sie haben Katjas Sachen gefunden.«
»Ihre Sachen?«, wiederholte Jan beinahe erleichtert. Für einen Sekundenbruchteil hatte sein panisches Hirn mit ›Leiche‹ gerechnet. »Welche Sachen? Wo?«
»Ihren Rucksack und die Schuhe. In der Lobau, im zweiundzwanzigsten Bezirk.«
Die Lobau war ein Naturschutzgebiet am anderen Ende von Wien. Die Hände seines Vaters fielen hilflos herab, als Jan sich darunter wegdrehte. Jede Art von Berührung war ihm momentan unerträglich.
»Die Schuhe?«, hakte er nach. Beide? Unmöglich.
Fuchs’ Augen verengten sich. »Einen Schuh, um genau zu sein. Warum?«
Jan leckte sich die Lippen. »Warum was? Ich wundere mich, dass die Entführer gerade ihren Schuh zurücklassen. Das ergibt keinen Sinn. Soll sie barfuß laufen?«
»Hm«, machte Fuchs mit unbewegter Miene. »Wer sagt, dass sie laufen muss? Und Schuhe kann man kaufen. Es sieht so aus, als hätte man die Sachen absichtlich dort deponiert, um uns auf eine falsche Fährte zu locken.«
»Egal, ob falsche Fährte oder nicht, wozu liefern die Entführer der Polizei überhaupt einen Hinweis?«
Der Kriminalbeamte mit dem Bierbauch grinste Fuchs zu. »Nicht schlecht. Der Junge denkt wie ein Ermittler.«
»Ich finde eher, der Junge denkt wie jemand, der mehr weiß als wir«, antwortete Fuchs, ohne den Blick von Jan zu wenden. »Die erste Frage wäre doch gewesen: Weshalb nur ein Schuh?«
Jan schluckte. Fuchs war durch und durch Profi. Er differenzierte nicht zwischen schuldig oder unschuldig, sondern sortierte Fakten und setzte dort an, wo sich eine Unstimmigkeit auftat. Ruhe bewahren. Er hat keine Ahnung von RUN. »Ein Schuh, zwei Schuhe, mein Gott, was weiß ich! Sie tun ja gerade so, als wäre ich in die Sache verwickelt.«
»Bist du das?«
»Was? Nein, verdammt!«
Jans Mutter barg ihr Gesicht in beiden Händen und brach in heftiges Schluchzen aus.
»Ganz ruhig, Liebes«, murmelte sein Vater. Und an Fuchs gewandt sagte er: »Was soll das? Mein Sohn hat nichts mit der Entführung zu tun. Das ist doch kein Klein-Jungen-Streich!«
Fuchs behielt sein unverbindliches Pokerface bei. »Sehen Sie, Herr Dr. Rakits, wir wollen nichts anderes als Ihre Tochter finden. Wir müssen jeder noch so kleinen Spur nachgehen. Das ist unser Job.«
»Aber Ihr Job ist es nicht, meinen Sohn zu kriminalisieren! Ich bin Staatsanwalt, ich kenne die Vorgehensweise der Polizei.«
»Nun«, sagte Fuchs langsam, »Sie sind doch eher für Wirtschaftsdelikte zuständig, wenn ich mich recht erinnere.«
Jan hatte noch niemals solche Wut in seinem Vater hochkochen sehen. Seine Gesichtsfarbe wechselte von gelblich zu rot und wieder zurück. »Im Zweifelsfall bin ich dafür zuständig, dass Sie Ihren Arsch bewegen!« Die letzten Worte brüllte er, dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Und glauben Sie mir, auch zurück auf die unterste Gehaltsstufe, wenn es sein muss.«
Der Dicke blickte betreten zu Boden, Fuchs erwiderte den Blick von Jans Vater mit ausdrucksloser Miene. Das Wimmern von Jans Mutter untermalte die Weltuntergangsstimmung.
»Darf ich fragen, woher du den Bluterguss hast?«, wandte sich Fuchs ganz unerwartet an Jan.
Er betastete sein Kinn. Trotz der plötzlich hochpeitschenden Nervosität kam ihm die Lüge leicht über die Lippen. »Vom Klettern. Ich bin gestürzt und voll gegen einen Griff gedonnert.«
»Gestürzt?«, wiederholte seine Mutter entsetzt.
»Ja. In einer Neun minus. Ich wollte sie On Sight klettern.« Er grinste schief. »Ging in die Hose.«
Sie kniff die Augen zu. »Oh mein Gott.«
Jan schob sich an Fuchs vorbei und legte seiner Mutter den Arm um die Schultern. »Ist nicht schlimm, Mama.«
»Sonst noch was, meine Herren?«, fragte sein Vater eisig. »Nein? Dann möchte ich Sie bitten, zu gehen. Es ist spät.«
Die Beamten leisteten seiner Aufforderung kommentarlos Folge und begaben sich zur Tür.
»Sie können die Sachen Ihrer Tochter am Präsidium abholen, sobald sie von der Spurensicherung zurück sind«, sagte Fuchs auf der Schwelle. »Wir geben Ihnen Bescheid. Gute Nacht.«
Die Tür schnappte sanft zu. Matthias Fuchs stand über den Dingen. In gewisser Weise imponierend, dachte Jan.
»Wie zum Teufel hast du es fertiggebracht, mit dem Kinn an der Wand zu radieren?«, wunderte sich sein Vater. »Ich dachte, du absolvierst regelmäßig Sturztraining?«
- Welcome to level 2!
24:00 Uhr/0:00 Uhr
Von der Stele den Wassern nahe,
wo Sonne und Mond vereint,
folge eiligst dem Pfad des Schiffers,
bis Serabit el-Chadim du erreichst.
Erzähl uns von deiner Reise
in absehbarer Zeit,
so rückst du dem Ziele näher –
Level 3 ist nicht mehr weit.
Großartig. Was sollte denn der Schwachsinn? Entwickelte sich RUN nun zu einem Spiel für Dichter und Denker? Jans Gegner schienen genauso ratlos zu sein wie er – keiner hatte bisher einen Kommentar gepostet. Oder wollten sie ihre Schlussfolgerungen geheim halten?
Sein Plan, im Internet Nachforschungen über RUN anzustellen, war von seinem Vater zunichte gemacht worden. Er hatte darauf bestanden, dass Jan vor dem Zubettgehen noch eine Kleinigkeit aß, und für ihn das letzte, von seinem Spontaneinkauf beim Fleischer übrig gebliebene Bio-Steak in die Pfanne geworfen. Damit du in Zukunft nicht mehr von der Wand fällst, hatte er mit einem Augenzwinkern gesagt.
Der köstlichen Versuchung hatte Jan nicht widerstehen können. Er liebte Steaks; scharf angebraten, innen zartrosa, nur Salz und Pfeffer. Sie gaben ihm das Gefühl, etwas Unverfälschtes zu essen, das ihm in keiner Weise schaden konnte. Allergenfrei. Ein Segen, und lecker dazu.
Jans Mutter war beinahe im Sitzen eingeschlafen, deshalb hatte der Vater den angesetzten Familienrat zähneknirschend auf den nächsten Abend verschoben. Was Jan mehr als gelegen kam. Es war bereits kurz nach zweiundzwanzig Uhr, als er sich endlich in sein Zimmer hatte zurückziehen können.
Verzweifelt brütete er nun schon seit zehn Minuten über den poetischen Zeilen. Er war sich einer einzigen Tatsache sicher: Um Mitternacht sollte er sich in der Nähe eines Gewässers befinden, an einer Stelle, wo sich Sonne und Mond vereinten. Großartig. In Wien gab es über den Daumen gepeilt hundert kleine und größere Gewässer, abgesehen von der Donau, dem Donaukanal und dem Wienfluss.
Jan trommelte mit den Fingerkuppen auf den Tisch. Denk nach. Die Zeit läuft. Immerhin musste er auch noch hinfahren. Was, wenn dieses Sonne-Mond-Dingsbums in Transdanubien lag? In der Nacht war der Verkehr zwar erträglich, aber gute fünfundvierzig Minuten würde er schon benötigen, um mit dem Motorrad über die Donau und in den einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Bezirk zu fahren. Vielleicht war die Lobau gemeint? Dort, wo man Katjas Sachen gefunden hatte? Der Lichtblick kurbelte seinen Herzschlag an. Er ließ den PC hochfahren – so konnte er gleichzeitig die Seite von RUN im Auge behalten – und gab die Worte Lobau, Sonne und Mond bei Google ein, doch bis auf die aktuelle Wetterlage und einen Bericht über Projekttage zweier Volksschulklassen lieferte die Suche nichts Brauchbares. Was auch besser war. Bei näherer Betrachtung schenkte ihm der vermeintliche Lichtblick ja doch nur ein flaues Gefühl im Magen.
Das wohlbekannte Pling holte seinen Blick zurück zum Display der Brille.
- Jasmin:
Hilfe! Was ist eine Stele?
- Vincent:
Stelle. Lern rechtschreiben. ;-)
Jan grinste bis über beide Ohren. Der KFZ-Mechaniker in spe gab Miss H&M Unterricht in deutscher Rechtschreibung. Why not? Vorurteile, Jan? Wieder fiel ihm auf, wie perfekt die Spracherkennung der Datenbrille funktionierte. Sogar Smileys oder Abkürzungen wurden problemlos in Schrift umgewandelt.
- Florian:
Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne. Grübel.
Wie es aussah, waren die anderen nicht viel weiter als er. Immer noch grinsend suchte Jan nach ›Serabit el-Chadim‹ und erfuhr, dass es sich dabei um eine archäologische Ausgrabungsstätte auf der Halbinsel Sinai handelte. Und was sollte er sich eigentlich unter dem ›Pfad des Schiffers‹ vorstellen? Google konnte mit Claudia Schiffer und Schiffer-Immobilien aufwarten. Dann stieß Jan noch auf einen Egidius Schiffer, den ›Würger von Aachen‹. Es wurde immer makaberer.
- Nina:
Stele, altgriechisch für Säule, Grabstein
Das Grinsen verrutschte, Jan klappte den Mund auf. Heilige Scheiße, Nina konnte recht haben! In den Wiener Parks waren jede Menge Säulen oder auch Grabsteine zu finden. Wikipedia verriet, dass Stelen auch als Obelisken bezeichnet wurden.
»Schönbrunn«, murmelte Jan vor sich hin. »Der Obeliskbrunnen.« Das wäre ja ein Ding. Und wie praktisch – gar nicht so weit weg. Er las den Eintrag über den Brunnen im Schönbrunner Schlosspark, suchte nach Zusammenhängen mit Sonne und Mond oder einem Schiffer, kam aber nicht und nicht weiter.
- Florian:
Heut geh ich ins Chadim … äh, Maxim …
- Tom:
Warum schreibst du nicht gleich die Lösung auf, du Depp?
Chadim? Okay, offensichtlich stand er auf der Leitung, während alle anderen ihre Gehirnzellen zu Höchstleistungen animierten.
Google spendierte ihm freundlicherweise auf den ersten Klick einen passenden Treffer. Das Chadim war ein Bierlokal im zehnten Bezirk. Damit ließ sich etwas anfangen. Die Entfernung vom Obeliskbrunnen in Schönbrunn zum Chadim