Der Atem des Lichts - Mara Lang - E-Book
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Der Atem des Lichts E-Book

Mara Lang

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Beschreibung

Ein Reich am Rande des Kriegs. Eine junge Gedankenformerin, dazu ausersehen, die Völker zu einen. Ein letzter Kampf um die Macht des Lichts. An der Grenze sammeln sich die gegnerischen Streitkräfte. Von ihrem Trupp getrennt, setzen Kea und Zadjan alles daran, rechtzeitig zu den Friedensverhandlungen zu kommen. Zadjan hofft auf die Hilfe eines Hexers, der Siladins magischen Bann lösen kann. Kea ist innerlich zerrissen: Bekennt sie sich zu Nakush und damit zu ihrem Volk? Oder entspricht sie Zadjans Wunsch und erwirkt den lang ersehnten Frieden? Wie sie sich auch entscheidet – einen der beiden wird sie verraten … Band 2 des Fantasy-Zweiteilers um die Sklavin Kea, deren mitreißende Geschichte in "Das Juwel der Finsternis" ihren Anfang nahm

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Seitenzahl: 406

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Mara Lang

Der Atem des Lichts

Roman

Bookspot DrachenStern

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

 

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2020 beiDrachenstern Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH, Planegg

1. Auflage

 

Lektorat: Catherine Beck

Korrektorat: Andreas März

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Karte: Michael Makarewicz

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-123-2

www.bookspot.de

Inhalt

Impressum

Inhalt

Was bisher geschah

Teil I: Liebe

1

2

3

4

5

6

Teil II: Licht

7

8

9

10

11

12

13

Teil III: Freiheit

14

15

16

17

18

19

20

Dramatis Personae

Karte

Nachwort und Dank

Über die Autorin

Weitere Titel im Verlag

Leseprobe: Mara Lang – Das Juwel der Finsternis

1

Dorothea Bruszies: Fjorgaar – Der rote Vogel

Was bisher geschah

Die Guénnelande. Seit ewigen Zeiten kämpfen Atrouner, Bengiren und Shedis um die Vorherrschaft. Während die Atrouner nur über wenige und die Bengiren über keine Magiebegabte verfügen, sind die Shedis ein Volk der Gedankenformer und zum Erhalt ihrer Gabe vom Sonnenlicht abhängig.

Einst vom Atrounerkönig Orvhin und der Hexe Siladin mit Hilfe der magischen Zorkatkristalle versklavt, setzen die Shedis unter Führung ihrer Clanmutter Jora alles daran, ihre Freiheit und ihr Land zurückzugewinnen, und schrecken weder vor Attentaten auf das atrounische Königshaus noch vor einem Pakt mit den Bengiren zurück. Krieg heißt ihre Devise, und gemeinsam mit ihrem Bündnispartner wollen sie die Atrouner endgültig vernichten.

Die Shedisklavin Kea, durch einen Blutschwur an den Rebellen Nakush gebunden, der ihr versprochen hat, sie zur Braut zu nehmen, wird als Gedankenformerin in die Dienste des atrounischen Königshauses gestellt und dort ausgebildet. Kronprinz Zadjan, der zugunsten seines Bruders Casson auf den Thron verzichten will, ist von der jungen Frau fasziniert und will Kea für sich gewinnen. Und obwohl ihr Herz Nakush gehört, empfindet auch sie bald mehr für ihn. Doch dann gerät Zadjan in den Bann einer Hexe, und sein Wunsch, König zu werden, erwacht. Auf einer Reise zu Friedensverhandlungen mit den Bengiren, bei der Kea die Gedanken der Verhandlungspartner manipulieren soll, wird der Atrounertrupp von Shedirebellen angegriffen und muss die Ausweichroute durch die Schweigenden Wälder nehmen, einem Magischen Feld voller Gefahren, wo Zadjan, Kea und der Begabte Gilreth vom Rest des Trupps getrennt werden. Auf sich gestellt versuchen sie, rechtzeitig zum vereinbarten Termin mit den Bengiren einzutreffen – und Kea wird sich zwischen Krieg und Frieden, zwischen ihrer Liebe und ihrem Volk entscheiden müssen, nicht ahnend, dass ihr Sonnenblut für die Shedis von größtem Interesse ist.

Teil I: Liebe

Was ist Liebe,

wenn nicht ein unbeantwortetes Sehnen?

Ein Kreisen um Bangigkeiten.

Ein Hoffen und Warten,

ein Scheitern und Zweifeln.

Das ist Liebe,

dieses entsetzlich zermürbende Rätselraten.

 

Was ist Liebe,

wenn nicht ein federndes Entzücken?

Ein Rasen im Herzen.

Ein Locken und Schenken,

ein Vertrauen und Beflügeln.

Das ist Liebe,

dieses unfassbar beglückende Aneinanderdenken.

1

Esnaikhir, 16. kal. augusti anno 1691

Als ich ihr von Yessins Friedensplänen für die Guénnelande erzählt habe, hat sie gelacht. Er sei ein Narr. Es werde Zeit, dass ein fähiger König an die Macht komme.

Kea erwachte von irritierender Stille. Atemzüge streiften ihre Stirn, warm und süß. Fachten ihren Herzschlag an und ließen die Ereignisse der vergangenen Tage wieder in ihr aufleben: Der Anschlag der Shedirebellen auf die Kjadrophbrücke. Ihr Ritt durch die Schweigenden Wälder, der so vielen Kriegern das Leben gekostet hatte und um ein Haar auch Prinz Casson. Die Kettenbrücke und die Sekunden, als sie selbst zwischen Leben und Tod an nur einer Hand über der Schlucht hing. Zadjans Kampf gegen die Magie, von der sie beinahe alle vernichtet worden wären.

Kea riss die Augen auf. Sonne, sie lag Seite an Seite mit Zadjan qel Rasuth auf den Decken, ihr Gesicht seinem zugewandt. Er war wach. Ein Lächeln glitt über seine Lippen, und ihr wurde klar, dass er sie im Schlaf beobachtet hatte. Sie sah sich um. Gilreth? Nein, bis auf Fé waren sie allein im Zelt. Hastig rappelte sie sich auf.

»Bleib«, flüsterte Zadjan. »Bitte, Kea.«

Seine Hand auf ihrer Schulter war von angenehmer Schwere. Mehr brauchte es nicht, sie zu überreden. Sie ließ sich zurücksinken. Studierte im flackernden Schein der Kerzen seine Züge und befand, dass er den Schlaf weit dringender nötig hatte als sie. Ständig blinzelte er dagegen an. Hielt die Lider krampfhaft offen und erwiderte ihren Blick.

»Wir sollten wirklich schlafen«, meinte sie. »Du hier und ich draußen bei den anderen. Gilreth und Mayuri werden …«

»Ich weiß, was du für mich getan hast.«

Beklemmung setzte sich in ihrer Kehle fest. »Zadjan …«

»Es war nicht so, dass ich deine – wie nennst du das? Funken? – erkannt hätte, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass du es warst. In meinem Kopf.«

Seine Stirn wirkte direkt leer ohne Zorkat. Als fehlte ein Schmuckstück, das zu ihm gehörte wie … wie der Goldschimmer in seinen Augen. Wie dieses Zucken der Unsicherheit um seine Mundwinkel. Oder die Bitterkeit, die manchmal seine Stimme färbte. Eigenschaften, die ihr allesamt so vertraut waren, dass es sie zutiefst verstörte. Sie durchstöberte ihr Gedächtnis nach Nakushs Gesicht, doch es blieb blass und unbedeutend im Vergleich zu Zadjans. Nein! Wie hatte das passieren können? Sie war doch nicht … sie hatte sich doch nicht … sie wollte ja gar nicht … Das Hämmern ihres Herzens bewies das Gegenteil.

Sie hatte sich in ihn verliebt.

Sonne, Kea! War das nötig? Du und er – daraus kann nichts werden. König oder nicht, zwischen euch liegen Welten.

»Tut mir leid, es ging nicht anders«, murmelte sie, bestürzt von ihrer Erkenntnis. »Ich musste diese Funken setzen. Die Magie hätte dich vernichtet.«

»Nicht doch, mach dir keine Vorwürfe. Ohne dich wäre ich …« Er sprach es nicht aus. »Als Kind hatte ich Angst davor, dass ein Shedi in meine Gedanken eindringt. Ich wollte immer den größten Zorkat zum Schutz haben.« Er lächelte. »Doch vorhin war ich froh, dich in meinen Gedanken zu wissen. Deine Funken waren wie ein warmes Licht. Du hast mich zurückgeholt. Danke!«

»Vermutlich braust der Fluss immer noch durch deinen Schädel.« Großartig! Dämlicheres fällt dir nicht ein? Verärgert über ihre unsensible Antwort biss sie sich auf die Lippen. Er offenbarte ihr seine Gefühle, und sie trampelte darauf herum. In ihrer Not suchte sie ihr Heil in einer unverfänglichen Bemerkung. »Gilreth sollte dir den Zorkat wieder anlegen.«

Verwirrenderweise ging er auch diesmal nicht darauf ein. »Ich konnte den Tod spüren, konnte spüren, dass ich … verging. Dass sich mein ganzes Selbst auflöste. Das war …« Er schluckte schwer. »Ich möchte das nicht noch einmal erleben. Aber in Nrachta … Wie soll ich denn bloß …?«

Es schmerzte sie, ihn so verzagt zu sehen. »Das wirst du nicht«, versicherte sie ihm. »Du hast doch gehört, dass dieser Hexer, Taliesh-Nil, die Magie in der ganzen Stadt im Zaum hält. Sie wird dich kaum beeinträchtigen … und im Zweifelsfall spülst du sie in den Abtritt.« Nun reicht es aber wirklich, Kea! Schuldbewusst rieb sie sich über die Stirn. Musste sie immer alles ins Lächerliche ziehen, wenn sie verlegen war?

Zadjan stieß ein Stöhnen aus. »Ich muss diese Glyphe loswerden. Ich kann und will Siladin nicht dienen.« Angeekelt verzog er das Gesicht. »Auf welche Art auch immer.«

»Du glaubst mir also?«

»Ja. Alles passt zusammen. Siladins Pakt mit Orvhin, sein Verrat, ihre Rückkehr und der Wunsch, durch mich an die Macht zu gelangen. Egal wie oft ich die Geschichte auseinanderpflücke und wieder zusammensetze – ich komme jedes Mal zu dem Schluss, dass sie es sein muss, die mich manipuliert. Dieser Wunsch nach dem Thron fühlt sich so falsch an. Und gleichzeitig auch richtig. Als würden zwei Seelen in meinem Inneren streiten. Manchmal sage ich Dinge, die ich gar nicht aussprechen will. Ich wehre mich mit aller Kraft, doch die Worte drängen von selbst aus mir heraus. Hinterher mache ich mir Vorwürfe, will mich entschuldigen, alles zurücknehmen, aber ich … kann nicht.« Seine Stimme splitterte. »Ich kann es einfach nicht«, wiederholte er flüsternd. »Gestirne, Casson muss mich hassen.«

Das Bedürfnis, ihn zu trösten, seine Schulter zu streicheln, ihn zu umarmen, flammte in Kea auf. Sie krallte die Finger in die Decke. »Er wird einsehen, dass du keine Schuld trägst, bestimmt. Immerhin hast du ihm mehrmals das Leben gerettet. Das … warst doch du, oder? Nicht sie?«

Zadjan zog die Brauen zusammen. »Ich denke schon. Es hat mich eine Menge gekostet, das zu tun, was ich für richtig hielt, was ich wollte.« Er seufzte. »Casson schlittert gern ins Unglück. Schon als wir noch Kinder waren, ist er ständig in Gefahr geraten. Fiel in einen Brunnen und wäre fast ertrunken. Schlitzte sich den Arm an einer Scherbe auf. Ist auf den Treppen gestürzt … Seltsam eigentlich, wie ein böser Fluch, der auf ihm lastet. Dann die Geschichte mit dem Pferd …«

»Sein Knie?«

Zadjan nickte. »Wäre ich nicht gewesen, hätte ihn das Vieh glatt zertrampelt. Anfangs war es ungewiss, ob Gilreth sein Bein würde retten können. Es stand wirklich schlimm um Casson. Meine Mutter gab mir die Schuld. Sie behauptete, ich wolle meinen Bruder töten. Dabei war er es, der mir in einem fort hinterherstapfte. Ich konnte keinen Schritt ohne ihn tun und durfte ihn auch noch regelmäßig aus dem Dreck fischen.«

»Hast du nicht versucht, der Königin all das zu erklären?«

»Doch, natürlich. Aber meine Beteuerungen nutzten nichts, sie blieb unerbittlich. Zur Strafe erhielt ich zwanzig Stockschläge und eine Woche lang kein Essen, nur Wasser. Ich war sechs Jahre alt und habe die Welt nicht mehr verstanden. Mutter hat Casson eingeredet, dass ich den Unfall verschuldet hätte. Ich durfte ihn nicht mehr sehen, konnte mich nicht vor ihm rechtfertigen. Sie hat uns regelrecht entfremdet. Ich glaube, das war die Zeit, in der ich angefangen habe, sie zu hassen.«

»Konntest du deinen Bruder denn nicht heimlich treffen?«, fragte Kea ungläubig. »Esnaikhir ist riesig …«

»Sie hat mich einsperren lassen. Nicht über Wochen oder Monate, sondern über Jahre. Ich verbrachte meine Tage in der Bibliothek beim Unterricht mit Gilreth oder auf dem Zimmer und lernte. Selbst beim Kampftraining oder Reiten bewachten mich ständig Krieger. Ich weiß noch, wie ich Casson beobachtet habe, als er im Garten wieder gehen lernte. Ich sagte mir, dass ich meine Gefangenschaft nicht anders verdient hätte. Schließlich war er nun ein Krüppel. Mein Vater war mein einziger Halt. Leider hat er sich viel zu selten Zeit für mich genommen. Und in Mutters Erziehungsmaßnahmen mischte er sich erst recht nicht ein.«

Der Horror seiner Kindheit rumpelte über Kea hinweg, mit jedem seiner brüchigen Worte meinte sie, sein Leid tiefer in sich aufzunehmen. Das Bild von dem kleinen Jungen, verwirrt, verstoßen, so voller Einsamkeit, schnitt ihr tief ins Herz.

»Tja«, sagte Zadjan, sichtlich überwältigt von seinen Erinnerungen, »mit zwölf Jahren wusste ich alles, was nötig war, um ein Land zu regieren. Ich hätte glatt den Thron besteigen können.« Er lachte verächtlich. »Irgendwann wurde mir alles zu viel. Ich flüchtete in den Stall, zu den Pferden. Es hagelte Vorwürfe, Schläge, noch strengere Regeln, aber das kümmerte mich nicht. Ich blieb dem Unterricht immer öfter fern. Gilreth ließ nicht locker und bemühte sich weiter um mich. Er nahm mich mit in die Stadt, um mir Abwechslung zu bieten, und machte mich mit Devyani bekannt. Ihr konnte ich meine Sorgen anvertrauen, sie war die Einzige, die mich wirklich verstanden hat. Sie schenkte mir den kleinen Racker dort«, mit einem schwachen Lächeln wies er auf Fé, der sich noch mit keinem Mucks bemerkbar gemacht hatte, »und meinte, er würde in Zukunft auf mich aufpassen, sollte meine Mutter mir weiter Unrecht antun. Das war zwar Blödsinn, aber irgendwie hat es mich getröstet.«

Zadjan schloss die Augen. Erschöpft, wie es Kea schien. Gerade als sie meinte, er sei endlich eingeschlafen, sprach er weiter: »Als Vater starb, driftete ich endgültig ab. Ich hatte schon vorher getrunken, aber nie regelmäßig und nicht in diesen Mengen. Es war Flucht und Plan in einem. Ich dachte, wenn meine Mutter dahinterkommt, was ich so treibe, wird sie mich ganz bestimmt enterben. Damit wäre allen gedient gewesen. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb die Rechnung nicht aufging. Ich konnte mich noch so danebenbenehmen – sie hielt daran fest, dass ich König werden sollte. Selbst nach dieser Gewitternacht in Vachuk …« Er unterbrach sich und sah sie an. Ein Blick, so verwirrend sanft, dass Kea sich unweigerlich darin verlor. Die Bilder, die seine Kindheitserinnerungen in ihr heraufbeschworen hatten, all die neuen Erkenntnisse über Tabanya, Gilreth und Devyani zerstoben, als sie an ihren Kuss im Schafstall vor den Toren Vachuks denken musste. In ihrem Kopf war nur noch Wärme, die flatternde Ahnung von Zärtlichkeit. Zuneigung. Konnte man Gefühle denken?

Mit Mühe formulierte sie eine Frage und erschrak selbst über ihre heisere Stimme. »Warum hast du mich aus dem Turm geholt, Zadjan?« Gegen den Willen der Königin, die Kea vermutlich mit Freuden im Kerker verrecken gesehen hätte.

»Sag du es mir.«

»Du musst doch gewusst haben, dass sie dich damit erpressen würde …«

In seinem Schweigen lagen alle Antworten. Sie wusste, er wartete nur darauf, dass sie eine davon aussprach. Nur eine. Sie tat es nicht. Die Kluft zwischen ihnen war zu groß. Und eines hatte sie in den letzten Tagen gelernt: Keine der Brücken würde auf Dauer halten. Sie waren eben nicht für die Ewigkeit gemacht.

*

Der nächste Tag brachte stürmisches Regenwetter. Es war nicht kalt, doch der Wind peitschte unangenehm über das Land, und die Nässe kroch rasch unter die Kleidung. Zadjan, der immer noch aussah wie der leibhaftige Tod, hatte darauf bestanden zu reiten, und so kamen sie gut voran. Zumeist jagten sie abseits der Straßen über die Wiesen, immer gen Norden Richtung Nrachta. Ab und zu jedoch mussten sie durch besiedeltes Gebiet reiten. Zadjan nahm keinerlei Rücksicht und schickte ihren kleinen Trupp in gestrecktem Galopp mitten durch Felder oder Dörfer. Einmal stellten sich ihnen Männer mit erhobenen Armen in den Weg, aber als sie der königlichen Farben ansichtig wurden, sprangen sie mit etlichen Verbeugungen zur Seite. Trotz ihres scharfen Ritts schien ihnen die Zeit davonzulaufen. Die Verhandlungen in Nrachta waren zur zwölften Stunde des folgenden Tags anberaumt. Die Gestirne allein wussten, ob sie pünktlich dort eintreffen würden.

Bei Einbruch der Dunkelheit fanden sie in einem Wald unter dem ausladenden Schirm einer Steineibe einen geschützten Lagerplatz für die Nacht. Der Regen hatte nachgelassen, nur der Wind fuhr kräftig durch die Baumkronen und entlockte ihnen ein beständiges Rauschen. Sobald das Zelt aufgestellt war, zog sich Zadjan zum Schlafen zurück. Fé hingegen trieb der Hunger hinauf ins Geäst, wo zwischen den nadelförmigen Blättern ganze Trauben roter Beeren leuchteten. Er würde die Nacht über beschäftigt sein. Auch Keas Magen rumorte. Die halb verfaulten Goldaprikosen, die Fé bei der Mittagsrast angeschleppt hatte, hatten nicht sonderlich viel hergegeben. Nach geraumer Zeit brachten die Krieger ein junges Kitz, eine bescheidene Jagdbeute, die über dem mickrigen Feuer auch nicht richtig gar werden wollte.

»Elio, bring Prinz Zadjan seinen Anteil ins Zelt«, befahl Gilreth, als alle ihre Mahlzeit beendet hatten. »Wenn er aufwacht, muss er unbedingt etwas essen.«

Elio verfiel. Er hatte von Zadjans Schlag, den der ihm im Zuge seiner Raserei unter dem Einfluss der Magie verabreicht hatte, eine Blessur am Jochbein davongetragen und sich von seinem Schock noch nicht erholt. Gerade wollte er mit zittrigen Fingern nach dem Stein greifen, auf dem die Portion Fleisch lag, da kam Kea ihm zuvor. »Bleib sitzen, Elio. Ich gehe.«

Gilreth bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Was soll das, Kea? Ich habe ihn beauftragt, nicht dich.«

Sie überlegte, ob er mitbekommen hatte, dass sie letzte Nacht in Zadjans Zelt eingeschlafen war und sich erst im Morgengrauen ins Freie gestohlen hatte. Dann entschied sie, dass ihr das herzlich egal war. »Er hat Angst vor Prinz Zadjan. Das könnt Ihr ihm doch nicht verdenken.«

»Er muss lernen, auch mit solchen Situationen umzugehen.«

»Mag sein, aber nicht heute. Er ist müde und verwirrt. Womöglich lässt er das Fleisch noch fallen. Könnt Ihr garantieren, dass Seine Hoheit nicht noch einmal ausrastet?« Sie schob ein bissiges »Herr?« nach und beobachtete mit diebischer Freude, wie sich Gilreths Augen verengten.

Für einen Moment kaute er sichtlich an ihrer Entgegnung. Dann drückte er ihr die Wasserflasche in die Hand. »Sieh zu, dass er viel trinkt.«

Verwundert, dass sich Gilreth von ihr einschüchtern ließ, nickte sie knapp und verließ den Kreis am Feuer.

Heute brannten keine Kerzen im Zelt. Als die Plane hinter ihr zufiel, stand sie im Finstern. Schritt für Schritt tastete sie sich vorwärts – und stolperte über Zadjans Waffengurt, der mitten im Weg lag. Ihr gezischter Fluch mischte sich unter das Klirren, beinahe wäre sie gestürzt. Das Fleisch segelte davon. Im nächsten Moment griff ihr eine Hand stützend unter den Arm.

»Wirfst du absichtlich mit Essen um dich?«, fragte Zadjan und schwenkte das Stück Fleisch vor ihrer Nase.

»Prüfung bestanden. Du bist ausgesprochen reaktionsschnell.«

»Ich trainiere ja auch täglich. Allerdings nicht mit Dingen, die für meinen Magen bestimmt sind.«

Die gespielte Ernsthaftigkeit in seiner Stimme brachte ihr Herz zum Flattern. »Gut zu wissen. Dann werde ich das nächste Mal einen Stiefel nach dir werfen.«

»Besser einen Stiefel als eine Uaja-Flasche.«

Kea musste schmunzeln. Zadjan war stets schlagfertig genug, in ihre spitzen Bemerkungen einzuhaken, und ehe sie sichs versah, scherzten sie miteinander. Sie kam nicht umhin, zuzugeben, wie sehr sie das genoss. Nakush war in dieser Hinsicht fantasielos, er nahm alles viel zu persönlich.

Zadjan schob den Waffengurt beiseite, schien aber nicht gewillt, sie wieder loszulassen. Seufzend ließ sie sich ein Stück führen, bis er ihr mit sanftem Druck auf die Schulter bedeutete, sich zu setzen.

»Ich wollte dir nur Fleisch und Wasser bringen«, protestierte sie. »Von Bleiben war nicht die Rede.«

»Dann ist es das jetzt. Bitte leiste mir Gesellschaft.«

»Na schön. Aber nur kurz.«

»Nur kurz«, stimmte er zu.

Sie nahm mit gekreuzten Beinen auf seinem Lager Platz. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie konnte Zadjans Silhouette direkt vor ihr ausmachen.

»Was ist das? Stinktier? Schmeckt abscheulich«, stellte er nach einigen Bissen fest.

»Anspruchsvoll, Eure Hoheit?«, gab sie belustigt zurück.

»Und wie. Hast du etwas von Wasser gesagt?«

»Habe ich.« Sie hielt ihm die Flasche vor die Brust. »Austrinken, Befehl von Gilreth.«

Als er mit dem Essen fertig war, wollte sie gehen, doch er hielt sie erneut zurück. »Wir müssen über die Verhandlungen sprechen.«

Wird auch allmählich Zeit. Sie gab sich erstaunt. »Müssen wir das?«

Zadjan holte hörbar Luft. »Ich bin auf deine Hilfe angewiesen. Allein schaffe ich es nicht.«

»Ich bin nur die Sklavin, ich tue, was man mir befiehlt.«

»Nein, das bist du nicht. Nicht für mich.«

Sie stieß ein abfälliges Lachen aus.

»Kea, lass mich erklären. Der Friedensvertrag beinhaltet Maßnahmen, die alle Völker der Guénnelande betreffen, auch die Shedis. Unter anderem sieht er die Amnestie aller Sklaven vor …«

»Amnestie?« Das kam einer Verhöhnung gleich. Auch wenn er sich noch so sehr von seiner Familie distanzierte – in seinen Formulierungen schlug der Atrounerprinz in ihm immer wieder durch. »Welches Verbrechen haben wir begangen, dass Ihr uns Amnestie gewährt, Hoheit? Etwa Völkermord?«

Zadjan räusperte sich. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Die Sklaverei wird abgeschafft, alle Shedis sollen die Freiheit erhalten. Sobald wir uns mit den Bengiren geeinigt haben, laden wir die Shedirebellen zu Gesprächen. Wir wollen auch mit ihnen eine friedliche Übereinkunft finden.«

»Das klingt zu schön, um wahr zu sein.«

»Ich schwöre dir, es ist wahr. Casson und ich sind einer Meinung. Ausnahmsweise.«

»Und Tabanya?« Kea hatte nicht vergessen, wie sehr die Königin die Shedis verabscheute, insbesondere sie.

»Sie wird sich den Wünschen des neuen Königs fügen.«

»Was ist mit Siladin? Bestimmt hat sie nicht das geringste Interesse an einer Begnadigung der Shedis. Was, wenn sie dich weiterhin beherrscht? Oder … sich deiner entledigt, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast?« Der Gedanke war unvermittelt aufgetaucht und beunruhigte sie zutiefst. Schaudernd rieb sie sich die Oberarme.

Von Zadjan kam ein Schlucken, ehe er antwortete: »Ich werde Taliesh-Nil aufsuchen und ihn bitten, die Glyphe zu entfernen. Aber vorher muss ich die Verhandlungen führen. Und dabei brauche ich deine Hilfe.« Als sie abwartend schwieg, sprach er weiter: »Du musst … Nein, ich bitte dich, in König Velvins Geist einzudringen. Bringe ihn dazu, dass er den Friedensvertrag unterzeichnet. Doch er darf keinesfalls etwas davon merken. Er muss aus eigenem Antrieb handeln.«

»Das ist Betrug«, sagte Kea.

»Gibt es eine Alternative? Ein Krieg würde alle Völker ins Verderben stürzen. Willst du das?«

Die Rebellen hätten sich für diesen Krieg ausgesprochen. Aber sie? Niemals. Ein Krieg brachte nur Tod und Leid. »Nein.«

»Siehst du. Wir haben nur diese eine Chance. Wir – du und ich, Atrouner und Shedi.« Er fasste nach ihrer Hand. »Bitte. Hilf mit, diesen Krieg zu verhindern. Wenn du es schon nicht für mich tun willst, dann tue es für dein Volk.«

Zadjans Absichten waren redlich, davon war sie überzeugt. Die Unsicherheitsfaktoren waren Tabanya und Siladin. Zu einem gewissen Teil auch sie selbst. Was, wenn es ihr nicht gelang, den Geist des Bengirenkönigs zu beeinflussen? Sie wusste nichts über Velvin, und allzu viel Zeit, um seinen Charakter zu ergründen, wie Gilreth es damals im Turm umschrieben hatte, würde ihr nicht bleiben. Ihr Scheitern würde mit ziemlicher Sicherheit eine Katastrophe nach sich ziehen. Sollte sie König Velvin allerdings zum Umdenken bewegen können, würde sie Frieden für die Guénnelande erwirken. Ihr Volk befreien. War dies nicht jedes Risiko wert?

»Also gut, Zadjan. Ich werde mein Bestes geben. Aber versprechen kann ich nichts, das Ganze kann auch ordentlich danebengehen.«

»Danke. Das bedeutet mir sehr viel.«

Kea schluckte. »War’s das?«

Als Antwort ließ er ihre Hand los. Ein Gefühl des Verlusts durchströmte sie, so überraschend, dass ihr ein Seufzen entwich. Sie spürte der fehlenden Wärme nach, dem Händedruck, der ihr Geborgenheit vermittelt hatte, Freundschaft und so viel mehr. Fand Zadjans Knie, hörte ihn scharf Luft holen, als sie sich höher tastete, hinauf zu seinem Gesicht. Bartstoppeln schabten über ihren Handrücken. Sie lächelte.

Du törichtes Sonnenblut, was treibst du da?, mahnte ihre innere Stimme. Sie ignorierte sie, konzentrierte sich ganz bewusst auf ihre Empfindungen. Es war ohnehin zu spät, sie konnte sich nicht länger beherrschen, wollte auch gar nicht. Wollte die Vernunft ausschalten. Genau jetzt. Nur jetzt, nur für diesen Moment.

Mit bebenden Fingern erforschte sie, was die Dunkelheit vor ihr verbarg. Seine zusammengezogenen Brauen. Das Zucken um seine Mundwinkel. Das Pochen an seiner Kehle, als sie ihn mit dem Daumen streifte – schnell, fiebrig, ein Puls, der mit ihrem um die Wette raste.

Ihren gehauchten Namen.

»Sch«, machte sie. »Nicht.«

»Du weißt, was du da tust?«

Sie beugte sich vor, bis sie in seinen Atem eintauchte. So verharrte sie, dicht vor seinen Lippen, kostete, schmeckte, atmete … ihn. Nur jetzt …

Als er sie küsste, jagte Hitze durch ihren Körper. Dann lag sie in seinen Armen.

Hände, die sie streichelten, zaghaft zuerst, immer noch ungläubig, nach und nach entschlossener. Verlangend. Dabei immer zärtlich.

Sie erwiderte seine Berührungen, fuhr unter sein Hemd, zeichnete Muskelstränge nach, dort, wo sie die Glyphe wusste, merkte, wie er erschauerte. Irgendwann streifte sie den hinderlichen Stoff über seinen Kopf. Er lachte leise, als sie sich an seiner Hose zu schaffen machte, als sie sich weiter vorwagte. Neu, verwirrend, drängend unter ihren Fingern. Die gesetzte Frist eines Augenblicks verlor an Bedeutung. Mehr, bettelte ihr Herz. Nicht nachdenken, nur fühlen.

Zadjan merkte an, dass er ihr versprochen habe, sie nicht noch einmal zu belästigen.

»Wer belästigt hier wen?«, gab sie zurück und verriegelte sämtliche Türen zu ihrem Verstand. Sie wollte die Einwände nicht beachten, die hartnäckig an ihren Gedanken ziepten, und schon gar nicht den Namen, der für den Bruchteil einer Sekunde in ihr aufzuckte. Nichts sollte sie mehr stören. Gar nichts.

Sie schlüpfte aus ihrer Kleidung, zog seine Hand an ihre Brust, weil sie seine Haut auf ihrer spüren wollte, hörte ihn noch einmal verwundert ausatmen, im nächsten Moment bettete er sie auf die Decke. Kam über sie.

Die Zeit zerfiel in Atemzüge. Raschelnde Haut. Flirrende Lichtpunkte hinter ihren geschlossenen Lidern. Sehnsucht.

Vor allem Sehnsucht.

Sie hatte nicht geahnt, dass Liebe, körperliche Liebe, auch ihr Herz ausfüllen konnte. Doch so war es. All die Löcher, die Verlust, Angst und Trostlosigkeit über Jahre hinweg in ihr Innerstes gefressen hatten, wurden von Wärme geflutet. Mit einem überraschten Seufzen schlang sie die Arme um ihn, zog ihn näher zu sich heran. Noch viel näher.

Er nahm sich Zeit, drängte sie nicht, sondern ließ sie nach und nach entdecken, wonach es sie verlangte. Bis die Leidenschaft die Führung übernahm.

Später schmiegte er sich an ihren Rücken. Küsste ihren Nacken und hielt sie fest umfangen, die Hände über ihrem Bauch gekreuzt.

»Ist Liebe immer so … atemlos?«, fragte sie.

Zadjans Lippen zeichneten ein Lächeln auf ihre Schulter. »So intensiv habe ich es selbst noch nie erlebt. Mein Himmel war grün.«

Ganz wie der ihre.

Als ihre Gefühle zur Ruhe kamen und sein Körper sich im Schlaf entspannte, schälte sie sich aus seiner Umarmung. Sie hatte genommen, was ihr nicht zustand. Es viel zu sehr genossen. Nun war der Rausch verebbt, Schuld ballte sich in ihrem Magen. Sie sammelte ihre Kleidung ein, zog sich an, schlug die Plane zurück, alles lautlos. Und trat, nach einem letzten Blick auf Zadjans Silhouette, hinaus in die Nacht.

Vor dem Zelt atmete sie tief durch. Die Luft war regenfeucht, der Wind schüttelte vereinzelte Tropfen aus den Baumkronen. Die anderen schliefen, selbst die Wache war eingenickt. Ganz klar zeichnete sich vor ihren Augen ab, was sie zu tun hatte. Jetzt.

Leises Bedauern stahl sich in ihr Herz. Nein, sieh nicht zurück, Kea, niemals zurück.

Sie schlich zu den Pferden. Die Sättel lagen nebeneinander aufgereiht unter einem Baum. Der richtige war rasch gefunden, schließlich hatte sie ihn selbst dort abgelegt. Erst die Decke …

Eine Hand presste sich von hinten auf ihren Mund.

2

Esnaikhir, 19. kal. februarij anno 1695

Ich habe ihn erwischt, als er aus Vachuk zurückkam. Betrunken und kaum Herr seiner Sinne. Sie muss ihm das austreiben, sonst reitet er uns ins Unglück.

Die Decke fiel. Sie wehrte sich mit ganzer Kraft, trat um sich, boxte nach allen Seiten, doch Nakush hielt sie fest. Fixierte ihr die Arme, sodass sie nur noch mit den Beinen strampeln konnte. Und wie sie strampelte! Pures Sonnenfeuer loderte in ihren Adern.

»Sonnenkind«, raunte er. »Ganz ruhig, ich bin es.« Sie erstarrte. Er hörte ihr ungläubiges Nach-Luft-Schnappen. Spürte ihre Hitze, nah an seinem Herzen. »Kea?«, hakte er nach, um sicherzugehen, dass ihr nun klar war, mit wem sie es zu tun hatte.

Sie nickte hastig. Langsam gab er sie frei, und sie stolperte einen Schritt zurück. Schwer atmend musterte sie ihn. Im Sternenlicht der Nacht ergoss sich ihr Haar wie feinstes Silber über ihre Schultern. Sie war so zart. Wunderschön. Vollkommen.

»Nakush«, flüsterte sie und maß ihn von oben bis unten. »Du … du bist groß.«

Er grinste. »Ah.«

»Lach nicht. Ich sehe dich das erste Mal vor mir stehen.«

»Enttäuscht?«

Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er bückte sich ein wenig, kam ihr entgegen, als sie ihn berührte – seine Stirn, sein Haar, das er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Sanft schob sie ihm eine Strähne hinters Ohr zurück. »Aber nein.«

Erneut zog er sie an sich, und diesmal ließ sie zu, dass er sie in die Arme schloss. »Endlich habe ich dich, kann dich halten, umarmen, streicheln. Lieben. Dich, nicht bloß das Bildnis von dem Mädchen in der Höhle. Kea, mein Sonnenkind.«

Sie seufzte verhalten. Einige Herzschläge lang standen sie eng umschlungen unter dem Baum, bis sie sich von ihm losmachte. »Sonne, wo warst du so lang?«, fragte sie.

Der Vorwurf war berechtigt, dennoch hätte er diesen scharfen Ton nie von ihr erwartet. Da war nichts Neckisches mehr, sie klang abgeklärter als früher. Härter.

Nakush räusperte sich. »Tut mir leid. Ich wollte ja schon eher kommen, aber die Umstände …«

»Welche Umstände?«

Die Ereignisse der letzten Wochen zuckten in seinem Gedächtnis auf. Die Hinrichtung seines Vaters auf dem Richtplatz in Vachuk, die Sonnenweihe in Umishtá, Joras Auftrag … Alles viel zu langwierig zu erklären, besonders hier, wo man sie jederzeit entdecken konnte. »Komm, lass uns ein Stück gehen. Wir wollen doch nicht, dass uns jemand hört.« Er nahm ihre Hand, doch Kea schüttelte ihn ab.

»Wir wollen hier eigentlich verschwinden«, zischte sie. »Ich war dabei, das Pferd zu satteln.«

Ja, das hatte er gesehen. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen. Und wieder würde er sie enttäuschen müssen. »Nicht jetzt. Erst müssen wir reden.«

Nakush wich ihrem entgeisterten Blick aus und ging tiefer in den Wald hinein. Hoffte, dass sie ihm folgte. Ganz sicher war er sich dessen nicht. Drei Herzschläge später vernahm er ihre Schritte. Auf einer Lichtung, außer Hörweite des Lagers, wollte er sich ihr zuwenden, da packte sie ihn auch schon am Handgelenk, so fest, dass er vor Schmerz beinah in die Knie ging. Stolz über ihr Sonnenblut glühte in ihm auf. Sie war imstande und brach ihm den Arm erneut. Solche Kraft hatte er ihr nicht zugetraut.

»Nakush, kannst du mir bitte erklären, was das Ganze soll?«

Auf zum schwierigen Teil. »Ich bin froh, dass es dir gut geht«, begann er. »Es war riskant, mir diese Nachricht zu schicken.«

»Riskant?«, wiederholte sie verständnislos. »Ich wollte dich informieren, was mit mir passiert war. Und mit deinem Vater. Nakush, sie haben ihn«, in ihrer Stimme schwang ein Zittern mit, »grausam hingerichtet. Gespießt.«

»Ja, ich war dabei.« Wie sehr die Schuld an ihm nagte! »Wir wollten ihn befreien, aber alles ging schief, und wir mussten fliehen. Ich habe dich auf dem Richtplatz gesehen. Leider konnte ich dich nicht …«

»Du hast mich gesehen? Du wusstest, wo ich war, und hast nichts unternommen?«

»Ich war verletzt«, warf er ein.

Die Überraschung wich aus ihrem Tonfall. Wütend stieß sie ihm die Hände vor die Brust. »Sieben Wochen musste ich in Esnaikhir dienen, Nakush. Ein Haufen Betrunkener wollte mich auf dem Sjulto umbringen, die Königin hat mich in den Turm gesperrt, ich wäre beinah gestorben und du … du schickst mir ein ›Bleib stark‹? Mehr nicht?«

Er unterdrückte ein Schmunzeln. Sie war einfach herrlich anzusehen in ihrem Groll – die zusammengezogenen Brauen, die im Mondlicht blitzenden Augen. Am liebsten hätte er sie mit einem Kuss besänftigt, aber erst musste einiges geklärt werden. »Nun, allzu schlecht ist es dir nicht ergangen, und von deinem Fieber hast du dich schließlich auch erholt.«

»Wie bitte? Woher weißt du das?«

»Avaril hat uns auf dem Laufenden gehalten. Wir stehen in ständigem Kontakt mit ihm.«

Die Offenbarung raubte ihr die Worte. Eigentlich hatte er angenommen, dass sie darüber im Bilde war.

»A-Avaril?«, stammelte Kea schließlich. »Avaril gehört zu euch? Zu den Rebellen? Er war doch Sklave in den Minen!«

Nakush zuckte die Achseln. »Er hat sich in Hjunas’ Auftrag gefangen nehmen lassen. Schließlich durfte niemand Verdacht schöpfen. Hat er dir das nicht erzählt?« Als sie stumm den Kopf schüttelte, lachte er. »Er hat es mit der Tarnung offensichtlich sehr genau genommen. Nun, beim Attentat auf König Yessin konnten wir auch Simo unauffällig beseitigen. Dadurch hatten wir die Chance, einen der Unseren bei den Atrounern einzuschleusen. Die Wahl fiel auf Avaril, er ist der fähigste Gedankenformer der Rebellen.«

»Das war alles geplant? Ihr habt diesen Simo ermordet, damit … Ich fasse es nicht! Er war unschuldig!«

»Unschuldig? Er hat den Atrounern in die Hände gespielt. Über Jahre hinweg hat er sein Volk verraten. Nur durch ihn konnte Yessin die Bengiren zu Friedensverhandlungen überreden.«

Kea stemmte die Hände in die Seiten. »Du tust, als wäre Frieden etwas Schlechtes. Wieso? Erklär mir das mal! Der Friedensvertrag, den Yessin ausgearbeitet hat, dient allen Völkern. Er sieht die Abschaffung der Sklaverei vor, er wird den Shedis die Freiheit bringen.«

Nakush stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Aber Sonnenkind, das sind doch alles Lügen. Nichts davon werden die Atrouner wahr machen. Das Volk der Shedis interessiert sie einen feuchten Dreck. Sie brauchen uns, um ihre Zorkate aus dem Berg zu holen. Wenn sie uns erst alle vernichtet haben, wird auch das nicht mehr nötig sein.«

Sie schwieg, und so sprach er weiter. Lieferte ihr eine Kurzfassung dessen, was er erst durch die Sonnenweihe wirklich begriffen hatte. Was sein Innerstes seither mit Gewissheit erfüllte und jeden seiner Schritte lenkte. »Seit mehr als zweihundert Jahren arbeiten die Atrouner gezielt an unserer Ausrottung. Einst waren wir ein mächtiges Volk, Kea. Und was ist aus uns geworden? Sklaven auf der einen Seite, ein letzter Clan in den Feuerbergen und ein paar Rebellen auf der anderen. Wir sind zu wenige, um es mit den Atrounern aufnehmen zu können. Daher der Handel mit den Bengiren. Sie wollen die Herrschaft über die Guénnelande, wir die Freiheit. Beides kann nicht durch Verhandlungen erreicht werden. Also sorgen die Bengiren für den Krieg, und wir beeinflussen im Gegenzug die Generäle der Atrouner, sodass die Bengiren das atrounische Heer ohne allzu große eigene Verluste schlagen können. Ganz einfach.«

»Ganz einfach, ja?«, wiederholte Kea spöttisch. »Und aus welchem Grund sollten die Bengiren ihren Teil der Vereinbarung einhalten, wenn der Krieg vorbei ist? Was hindert sie daran, uns einfach abzuschlachten?«

»Shedis und Bengiren haben schon in früheren Zeiten friedlich koexistiert. Zwischen ihnen gab es nie Auseinandersetzungen. Ich mache mir mehr Sorgen über das Davor als das Danach. Noch ist nicht gesagt, dass die Verhandlungen scheitern. Wir haben zwar den Schattenmann auf unserer Seite, aber …«

»Den … wen?«

»Den Schattenmann. Er ist König Velvins engster Berater – und ein Shedi. Er hat uns seine Hilfe zugesagt.«

»Aha. Das scheint mir mehr Hoffnung als Garantie zu sein.«

»Das hast du ganz richtig erkannt. Genau deshalb haben wir auf Avaril gesetzt. Doch dummerweise sind unsere Pläne ein wenig durcheinandergeraten.« Ich habe sie durchkreuzt – aus Liebe zu dir. Das sagte er nicht, es würde alles nur noch komplizierter machen. »Die Sprengung der Kjadrophbrücke sollte den Trupp aufhalten. Wir hätten nie damit gerechnet, dass ihr euch durch die Schweigenden Wälder wagen würdet. Und dann auch noch über die Kettenbrücke. Solltet ihr morgen tatsächlich pünktlich in Nrachta ankommen – und das könnte gut sein –, dann hängt alles von dir ab, Sonnenkind.«

»Weil?«, fragte sie argwöhnisch.

»Du musst dafür sorgen, dass König Velvin den Friedensvertrag nicht unterzeichnet. Auf gar keinen Fall, hörst du? Wir sind auf deine Hilfe angewiesen. Setze einen Funken,oder besser gleich mehrere.«

Sekunden endlosen Schweigens trennten sie, bis Kea antwortete. »Das kann ich nicht.«

»Was? Wieso nicht? Du bist eine hervorragende Gedankenformerin. Der arme Avaril war ziemlich ratlos – er wusste, wie gut du warst und dass du seinen Auftrag in Gefahr bringen könntest.«

»Der arme Avaril hätte mich um ein Haar umgebracht«, knurrte sie. Nach einem Seufzen fuhr sie fort. »Daran liegt es nicht – ich kann Velvin dazu bringen, zumindest denke ich das. Aber … Es ist einfach nicht richtig, Nakush. Ich habe die Prinzen kennengelernt. Sie wünschen sich Frieden für alle Völker der Guénnelande, auch für die Shedis. Sie wollen diesen Konflikt ein für alle Mal beenden. Prinz Casson ist grundanständig. Und Zadjan auch.«

»Zadjan.« Unvergleichlicher Hass brandete in ihm auf, als er an den Mann dachte, der seinem Vater die Kehle durchgeschnitten hatte. Er hätte Hjunas begnadigen können, stattdessen … Aber was sollte man von einem Versager wie ihm schon erwarten. Vermutlich war es ein Spiel für ihn gewesen. »Dieser alberne Straßenprinz! Ein Trunkenbold, wie ich gehört habe. Angeblich springt er mit jeder Frau ins Bett, die ihm über den Weg läuft.«

Kea starrte ihn unverwandt an, reglos und irgendwie verletzt, als hätte er ihr eröffnet, sie müsse sich mit diesem Kerl in den Laken wälzen, um für die Sache der Shedis zu kämpfen. Er packte sie an den Schultern. »Du bist eine Shedi, Kea, vergiss das nie! Denk an die Jahre der Gefangenschaft, an die Dunkelheit, die Arbeit in den Minen, an all das, was sie dir angetan haben. Damit ist es vorbei. Nur diese eine Kleinigkeit noch, ich flehe dich an, dann hast du es überstanden. Dann sind nur mehr wir beide wichtig. Wir werden ein wunderbares Leben führen, oben, in Umishtá. Kein Krieg der Welt kann uns dort etwas anhaben.«

»Dann warst du also dort?« Sehnsucht sickerte aus jeder Silbe, und die Erkenntnis, dass ihr Herz ihm nun folgen würde, erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung.

»Ja, und ich bringe dich hin, Sonnenkind.« Er packte sie um die Mitte, hob sie hoch und wirbelte mit ihr über die Lichtung. »Dort wirst du die schreckliche Zeit als Sklavin vergessen können. Ich habe Clanmutter Jora von dir erzählt, sie erwartet dich bereits und freut sich, uns zu vermählen. Ich sehe schon die vielen Kinder, die du bekommen wirst … Ach, Kea! Wir werden unendlich glücklich sein.«

»Wann? Wann bringst du mich nach Umishtá?«, wisperte sie.

Nakush setzte sie ab. »Gleich morgen, wenn die Sache gut über die Bühne gegangen ist. Sobald Avaril in Nrachta eintrifft, hole ich euch beide dort ab. Einverstanden?«

Sie holte tief Luft, wandte den Blick in die Nacht, für eine schier endlos lange Weile. Schließlich sah sie ihn wieder an. »Also gut.«

»Gut.« Wieder nahm Nakush sie in die Arme. Strich ihr das Haar aus der Halsbeuge, küsste ihr entstelltes Ohr – und handelte sich eine Ohrfeige ein, die sich gewaschen hatte. »Au!« Er hielt sich die Backe. »Was soll das, Kea?«

»Mach. Das. Nie. Wieder.«

»Sei nicht so empfindlich.« Er lachte. »Na gut, dann küsse ich eben deinen Mund.«

Überwältigt von Verlangen drückte er seine Lippen auf ihre. Sie waren weich und warm. Etwas vibrierte auf ihnen, das er nicht benennen konnte, Zurückhaltung vielleicht. Unsicherheit? Er gab nicht nach, wollte sie für sich gewinnen, endlich, endlich für sich, da öffnete sie ihre Lippen, und er drang in die köstliche Wärme ihres Munds vor. Das war es, wonach er sich seit Jahren sehnte. Das und noch mehr. Er würde es bekommen. Den gedanklichen Einwand, dass er es auch würde teilen müssen, verscheuchte er wie eine lästige Fliege.

*

Nakush gehen zu lassen war schlimm, Zadjans Lächeln am Morgen war schlimmer. Erst lächelte Kea zurück. Als sie sich dabei falsch, ja, geradezu verschlagen vorkam, wich sie seinen Blicken aus, wohl wissend, dass sie ihm nicht entkommen würde. Prompt passte er sie bei den Pferden ab und legte wie zufällig seine Hand auf ihre, als sie nach dem Sattel greifen wollte. Notgedrungen sah sie auf.

»Geht es dir gut?«, flüsterte er.

Alles bestens, ich werde dich heute verraten. Oder vielleicht werde ich Nakush verraten. Die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Ihr Zögern dauerte bereits zu lange. Am besten berief sie sich auf eine körperliche Befindlichkeit. »Schlecht geschlafen, hungrig und ziemlich ausgelaugt«, sagte sie schnell. Das war zumindest nicht gelogen. Ihre Gedankenspiralen hatten sie bis in ihre wirren Träume verfolgt.

Er blickte sie scharf an. »Bereust du es?«

Dich geliebt zu haben? Jäh verengte sich ihre Kehle. Bereuen? Sie bedauerte, dass sie Nakush betrogen hatte, aber bereuen? Nein. Was ihr Zadjan gezeigt und gegeben hatte, war ein Geschenk, das noch immer warm in ihrem Inneren glühte. Diesmal war ihr Lächeln ehrlich. »Nein, Zadjan. Ganz bestimmt nicht.«

Er atmete sachte durch, erleichtert und erfreut zugleich, wie ihr schien, und grinste schief. »Sehe ich auch so.«

Mit Schwung hievte er den Sattel auf ihr Pferd. Kea blickte über seine Schulter in den dunstverhangenen Wald und fragte sich, ob Nakush noch in der Nähe war. Ob er sie beobachtete. Ob er auch nur irgendetwas ahnte.

Wenig später trieben sie die Pferde über die vor Nässe glitzernden Wiesen. Das Regenwetter hatte sich endgültig verzogen, nur im Süden hingen ein paar Restwolken am Himmel. Zadjan gab mit Mjani ein noch abartigeres Tempo vor als am Vortag, doch mittlerweile war Kea das Reiten in Fleisch und Blut übergegangen. Auch Elio, den sie eng an sich gepresst hielt, glitt geschmeidig mit der Bewegung des Pferds mit. Der schwarze Wallach konnte zwar nicht Adchais Eleganz vorweisen, doch er war gutmütig und reagierte willig auf jeden ihrer Befehle.

Bald tauchten rechter Hand die Feuerberge auf. Nebelschleier hingen zwischen den grünen Kuppen und deuteten die vielen Täler an – die Clantäler der Shedis. Ehemals dicht besiedelt, waren sie heute nur eine vage Erinnerung im Gedächtnis ihres Volks. Kea konnte den Blick nicht abwenden. Irgendwo dort oben, am Flusslauf der Lyrth, verbarg sich der Zugang nach Umishtá.

Shedis oder Atrouner? Nakush oder Zadjan? Zwei Männer, zwei Welten, zwei Forderungen. Und sie hing hilflos dazwischen. Wie eine Puppe in den Händen zweier streitender Kinder.

Die Rebellen kämpfen seit Jahrzehnten für die Freiheit deines Volks. Wie kannst du auch nur in Erwägung ziehen, dich gegen sie zu stellen? Also Nakush. Also Krieg?

Die Bengiren waren den Atrounern an Waffen und Soldaten überlegen, das hatte sogar Casson zugegeben. Mithilfe der Shedis würde dieser Krieg vermutlich in genau einer Schlacht abgehandelt werden. Währenddessen konnten die Rebellen die Gunst der Stunde nutzen und sämtliche Sklaven befreien. Schnell und einfach. Die beste Lösung.

Dennoch meldete sich allein beim Gedanken an einen Krieg ihr Gewissen. Wie könnte sie je den Tod Tausender oder mehr verantworten? Was würde aus Atrouns Bevölkerung werden, wenn die Bengiren, die nicht gerade als zimperlich bekannt waren, erst ins Land einfielen?

Und bei der Sonne, warum wollte ihr Herz Zadjan partout nicht verraten?

Was, wenn Nakush recht hat? Wenn die Atrouner gar nicht daran denken, die Sklaverei abzuschaffen? Schließlich hatten sie alle Zeit der Welt dafür – und nichts dergleichen in die Wege geleitet. Was, wenn Zadjan dich nur benutzt? Der Gedanke tat weh. Zornig blinzelte sie gegen ihre Tränen an. Das ist nur der Wind, sagte sie sich. Nur der Wind.

Zumindest wusste sie nun, was das Richtige war.

*

Genau zur Mittagsstunde erreichten sie gleichsam das Ende der Welt. Vor ihnen fielen steile Klippen nach unten ab, eine gewaltige Stufe in der Landschaft, ganz so, als wäre sie mit einer überdimensionalen Klinge in den Fels geschlagen worden. Sie hielten an. Die Aussicht vom Plateau war atemberaubend. Nordwestlich der Feuerberge, auf bengirischem Territorium, schimmerten die schneebedeckten Gipfel des Foylangebirges. Blasse Schemen am Horizont, die nichts von den gewaltigen Höhen dieses Gebirgszugs verrieten. Am Fuße der Klippen, an denen sie haltgemacht hatten, wiederum breitete sich die Senke zu Drun als endlose Steppe aus. Im Südwesten entdeckte Kea einen rotbraunen Streifen, der das Grün brach. Das Heer der Atrouner?

Zadjan bestätigte ihre Vermutung. »Mutter ist pünktlich«, sagte er grimmig. »Was man von uns nicht behaupten kann. Da – Nrachta, die Stadt der Treppen.« Er deutete auf die Siedlung, die am östlichsten Zipfel der Senke gelegen war. Selbst auf diese Entfernung machte sie einen bunten, fremdartigen und auf eine eigentümliche Art unlogischen Eindruck. Wie aus einer anderen Welt hierherkatapultiert.

Magie schwängerte die Luft; nach allem, was Kea über die Fähigkeiten dieses Hexers aus Nrachta gehört hatte, unerwartet stark. Sie hatte Mühe, ihre Gedanken zusammenzuhalten. In Zadjans Gesicht zeigte sich ein Anflug von Schmerz, sogar Gilreths schmale Augen verrieten Anspannung.

»Keine Sorge«, sagte er dennoch, »Taliesh-Nils Schilde bieten ausreichend Schutz. In der Stadt ist die Magie kaum spürbar.«

»Das will ich hoffen«, murmelte Zadjan. Er beschattete die Augen und wandte den Blick gen Osten, wo sich die Straße aus Rhaszik von einer Hügelkuppe herabschlängelte. »Weit und breit nichts von Casson zu sehen.«

Gilreth nickte. »Das war zu erwarten. Es wird später Nachmittag werden, bis sie hier sind. Wenn überhaupt.«

»Schön«, Zadjan straffte die Schultern, »dann hängt alles von uns ab. Eine gute Stunde Ritt, schätze ich. Beten wir, dass die Bengiren uns ein wenig Verspätung zugestehen.«

Gilreth saß ab. »Eines noch, ehe wir weiterreiten: Vor den Bengiren wirst du dich als unsere Schreiberin ausgeben, Kea. Als Atrounerin brauchst du allerdings einen Zorkat. Ich werde dir einen anlegen.«

Widerstrebend glitt Kea vom Pferd. »Muss das sein? Ein Schleier täte es doch auch.«

»Haben wir nicht«, sagte Zadjan. »Es sei denn, du möchtest eine Wolldecke tragen? Oder ein Fell?«

»Sehr witzig, Eure Hoheit.« Sie verdrehte die Augen und wandte sich wieder Gilreth zu: »Habt Ihr auch bedacht, dass mich der Zorkat beeinflusst? Wie soll ich auf diese Weise Gedanken formen? Womöglich klappe ich wieder zusammen.« Mit Schaudern erinnerte sie sich an Devyanis Magiestube, an den glühenden Schmerz beim Anlegen des Zorkats und das zähe Netz, das sich nur Augenblicke später um ihren Verstand gesponnen hatte.

Gilreth kramte in seiner Satteltasche. »Noch einmal, ich halte das für ausgemachten Unsinn: Niemand wird durch Zorkatmagie ohnmächtig. Aber ich kann dich beruhigen, es ist nur eine Attrappe.«

Er zog einen winzigen schwarz schimmernden Splitter aus einem Leinensäckchen hervor, winkte sie zu sich und reichte ihn ihr. Sie schloss die Augen und wog den Stein in der Hand, wie sie es all die Jahre in den Minen gemacht hatte, um die Zorkate im Finstern vom umliegenden Geröll zu unterscheiden. Nein, das hier war kein Dunkelstein, er war viel zu leicht.

Eine Minute später prangte der Splitter über ihrer rechten Braue. Ein seltsames Gefühl.

»Hübsch. Jedenfalls besser als ein Fell über dem Kopf«, meinte Zadjan mit einem belustigten Grinsen, für das sie ihm am liebsten eine gescheuert hätte.

Auf Gilreths Befehl hin flocht sie ihr Haar zu einem Zopf, doch mehr ließ sich an ihrem Äußeren nicht verbessern. Ihre Kleidung war zerrissen und schmutzig, jede Bäuerin hätte einen besseren Eindruck gemacht als sie. Zu ihrem Trost sah Zadjan genauso schäbig aus. Sie boten allesamt ein Bild des Jammers, eine Delegation wie diese hatte Nrachta bestimmt noch nicht gesehen.

Sie folgten einem steinigen Pfad ins Tal und fielen wieder in rasanten Galopp, sobald er sich zu einer Straße verbreiterte. Am Stadttor von Nrachta, einem kirschroten Farbklecks inmitten honiggelber Mauern, wurden sie bereits erwartet. Als die königliche Delegation schließlich auch am Vortag nicht aufgetaucht sei, erklärte Loucan, der Stellvertreter des Stadtpräfekten, sei man in Sorge gewesen, ob die Verhandlungen überhaupt zustande kämen.

»Sind die Bengiren noch hier?«, wollte Zadjan wissen.

Loucan machte eine beschwichtigende Geste. »Ja, Eure Hoheit. Doch nur durch den unermüdlichen Einsatz unseres Präfekten Pirin Kevgor. Ursprünglich wollten sie heute Morgen wieder abreisen, als die Kundschafter vom Aufmarschieren des Heers berichteten. Da hat ihnen Herr Kevgor versichert, dass dies nur Truppenübungen seien und dass auf Prinz Casson qel Rasuth Verlass sei …« Sein Blick wurde unstet, er räusperte sich. »Aber er ist nicht hier, Hoheit, oder?«

»Ich bin hier, das genügt«, erwiderte Zadjan mit wohlbemessener Schärfe. »Und nun bringt uns zur Ratshalle.«

Loucan nickte und eilte beflissen davon, um einen Augenblick später in Begleitung einiger Männer der Stadtwache wiederzukehren.

»Wir haben eine Ausgangssperre für alle Bürger verhängt, um für die Sicherheit beider Delegationen garantieren zu können«, informierte er Zadjan. »Der Weg zur Ratshalle ist demnach frei. Ich werde Euch persönlich geleiten. Die Pferde aber müsst Ihr hierlassen, Nrachtas Straßen sind dafür nicht geeignet.«

Das hatte Kea schon vermutet. Die Stadt glich einem farbenfrohen Labyrinth aus Häusern, verwinkelten Gassen, Treppen und Brücken.

»Trotz der Schilde gibt es Stellen, an denen sich die Magie zusammenballt und dort sämtliche Naturgesetze auf den Kopf stellt – deshalb all die Treppen«, verriet ihnen Loucan. Über vierhundert seien es, berichtete er nicht ohne Stolz. Außerdem gut halb so viele Brücken.

Sie hasteten treppauf, treppab, immer hinter Loucan und seinen Männern her. Über hölzerne Treppen, die in allen erdenklichen Farben gestrichen waren – kobaltblau, orange, korallenrot oder grasgrün. Über Treppen aus Naturstein oder geschliffenem Marmor und sogar über solche aus Glas, die in der Sonne schillerten. Manche waren steil und nur mühsam zu erklimmen, andere wiederum glichen Rampen. Und alle gingen sie in Brücken über, unter denen schwarze Löcher gähnten, sich Flammenwände erhoben oder regelrechte Orkane tobten. Auswirkungen dieser einen elementaren Kraft: Magie.

Längst hatte Kea die Orientierung verloren. Wenn man uns hier aussetzt, dachte sie, finden wir nie wieder aus der Stadt heraus. Glücklicherweise hielt sich die Magie wie vorausgesagt in Grenzen. Die Entladungen waren zwar spürbar, vor allem auf den Brücken, doch sie beeinträchtigten Kea nicht allzu sehr. Dieser Taliesh-Nil war offensichtlich ein fähiger Hexer. Dennoch war die Idee, seinen Wohnsitz just in Nrachta zu wählen, geradezu absurd.

»Wie kommt es, dass die Stadt trotz der Magie auf diese Größe angewachsen ist?«, wunderte sich Kea. »Das Leben hier scheint mir ausgesprochen kompliziert zu sein.«

Loucan wandte sich lächelnd nach ihr um. »Oh, unsere Stadt hat eine über tausend Jahre alte Geschichte. Früher war sie eine wichtige Handelsmetropole, schon allein durch die Nähe zu Bengir. Durch den Magischen Sturm wurde sie allerdings dem Erdboden gleichgemacht, während Nrachtas Bürger fliehen mussten. Bei ihrer Rückkehr standen sie vor dem Nichts. Doch obwohl ihre Heimat nunmehr inmitten eines Magischen Felds lag, wollten sie sie nicht verlassen. Also bat man die von jeher in der Stadt ansässige Hexerfamilie um Rat, und sie entwickelte ein hochkompliziertes Schutzsystem aus Schilden und Glyphen. Unser Hexer Taliesh-Nil führt diese alte Tradition seiner Vorfahren fort. Was wir allerdings tun werden, wenn er nicht mehr ist …« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Die Gestirne mögen uns beistehen. Er hat noch keinen Nachkommen und, unter uns gesagt, ich glaube auch nicht, dass es jemals dazu kommen wird. Er ist … nun, nicht gerade der umgänglichste Mensch.«

»Wo wohnt er?«, wollte Zadjan wissen.

»Taliesh-Nil? An der ozeanblauen Brücke, Nummer vier. Ich führe Euch nach den Verhandlungen hin, wenn Ihr ihn aufsuchen wollt.«

Zadjan bekundete mit einem Nicken sein Einverständnis. Kea konnte nur verwundert den Kopf schütteln.