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In diesem Band setzt sich Peter Handke mit den Prozessen des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag auseinander. Er tut dies nicht in der Rolle eines »Prozeßberichterstatters«, sondern er sucht die Wirklichkeiten und Schicksale hinter den Bildern.
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Seitenzahl: 69
Peter Handke
Rund um das Große Tribunal
Suhrkamp Verlag
Dem Andenken an Boris Iljenko, mit dem ich im Oktober 1995 zum ersten Mal zum Manastir Studenica kam
»… denn einer mußte schuldig sein.«
Meša Selimović, Der Derwisch und der Tod
»Ganz Belgrad«, so ungefähr die Zeitung Le Monde, oder sonst ein zeitgenössisches führendes Weltblatt, habe gelacht, als die Ehefrau des Slobodan Milošević, seinerzeit noch Untersuchungshäftling im Gefängnis seiner Hauptstadt, nach einem ihrer ersten Besuche dort erklärte, »Slobodan« sei ihr »so schön« vorgekommen. Oder machte Frau Mira Marković diese Erklärung erst später, nach der Überstellung des ehemaligen serbischen, dann jugoslawischen Präsidenten aus seiner Belgrader Zelle in das Königliche Pönitentiar der Niederlande zu Den Haag-Scheveningen?: Nie sei ihr Mann ihr »schöner« erschienen als »in der Zelle«, fern seinem Serbien und/oder Jugoslawien. Und nicht nur ganz Belgrad sollte jedenfalls, so die Denkhilfe der Zeitung, solche Bemerkung zum Lachen finden. Vielleicht jedoch ist zu dieser Schönheitsfrage ein von vornherein weniger verdächtiger Zeuge als eine scheint's blind liebende Gattin aufzurufen — ein ganz und gar unverdächtiger Zeuge, der Schriftsteller Franz Kafka. Stammt denn nicht von ihm, von Franz Kafka, jener Satz, aus dem Roman Der Prozeß: »Alle Angeklagten sind schön«? — Unverdächtiger Zeuge? Wo steht eigentlich, daß Kafka, der Schriftsteller, ein unverdächtiger Zeuge ist? Gibt es einen verdächtigeren Zeugen als diesen, als einen Schriftsteller? Kommt ein Schriftsteller als Zeuge heutigentags überhaupt noch in Frage? Haben die Schriftsteller nicht in jeder Hinsicht ausgespielt — und zwar, in Anbetracht ihrer Aktionen und Reaktionen quer durch das vergangene Jahrhundert bis herauf zu jetzt, völlig zu Recht? In meiner Jugend, schon vor meinem Studium der Rechtswissenschaften, bin ich ein begeisterter Gerichts- und Gefängnisbesucher gewesen. Ich ließ auch keinen der Filme aus, die in Gerichtssälen oder Zuchthäusern spielten. (Ähnlich verhielt es sich mit den Western.) Aber war das nicht weniger Begeisterung als vielmehr Lust am Nervenkitzel, in der eigenen beziehungsweise mitteleuropäischen Langeweile? Wie auch immer: Ich wollte die jeweiligen Angeklagten sehen, im Leben gleich wie in den Filmen. Ich wollte das Gesicht des oder der Angeklagten sehen und betrachten, möglichst nah und möglichst in Großaufnahme. Und bezeichnend vielleicht, daß in den damaligen Filmen, vor drei, vier, fünf Jahrzehnten, die Angeklagten ebenso wie die verurteilten Häftlinge und Sträflinge noch in der Regel die Helden der Geschichte darstellen konnten. Angeklagte und Verurteilte traten seinerzeit als die Helden auf insbesondere deswegen, weil sie schuldlos angeklagt und unschuldig verurteilt waren. Es ging um ihre Unschuldsgeschichte, und jene früheren Filme erzählten vordringlich den Kampf um ihre Unschuld, und zu guter Letzt deren Offenbarwerden (oder auch nicht -umso stärker so, mag sein, der Gerechtigkeitsimpuls in uns Zuschauern?). Solche gleich von Anfang an im Kopf mitspielende Unschuldsvermutung war wirksam nicht nur bei Prozessen in Filmen, sondern auch im sogenannten Leben. Diese Art Unschulds-Vermutung (keineswegs Gewißheit!) konnte dann durch den Prozeßverlauf kaum entkräftet werden. Sogar das umfassende und detailscharfe Geständnis meines Angeklagten — das »mein« da einmal zutreffend — hat mich an seiner tatsächlichen Schuld weiter zweifeln lassen. Und nicht etwa die Struktur der einst in der Jugend geläufigen Gerichts- und Zellenfilme war es, die meine Zweifel an so einem endgültig Schuldigsein bestimmte, sondern — das bildete, und bilde, ich mir jedenfalls ein -meine eigene Struktur; meine eigene Gegebenheit; meine eigene Be- oder Geschaffenheit. Und weiter bildete ich mir damals ein, meine Beschaffenheit sei nicht allein meine eigene; gehe über mich hinaus; sei eine allgemeine; sei die allgemeine: was ich mir inzwischen nicht mehr einbilde — schon lange nicht mehr. Solche Einbildung wird wohl eine Art Krankheit der Jugend gewesen sein. Und jene bis heute bestehende Struktur, in einem klar und lückenlos Schuldiggesprochenen, auch dem schon auf »sein« Giftspritzenbett geschnallten zum Tode Verurteilten den jedenfalls nicht so Schuldigen zu sehen? Eine Krankheit nicht etwa der Jugend, vielmehr eine von immer und altersher? Eine Krankheit von Grund auf? Ich frage mich das jetzt hier — ohne eine Antwort geben zu wollen, geschweige denn von jemand anderem zu erwarten — so spielerisch wie ernsthaft. Wie sonst den (anhaltenden) Aufruhr in mir erklären über das Landgericht in Kl., das vor fast vierzig Jahren, gleichsam also in der Nacht der Zeiten, meinen gerade strafmündigen Bruder für mehrere Wochen ins Jugendgefängnis steckte, weil der während des Palmsonntaggottesdienstes, nach einem überkommenen Brauch der Gegend, im Verein mit anderen Burschen von den Umschnürungen der zu weihenden Palmrutenbündel (in Wirklichkeit Weidenruten) jeweils die eine aufschnitt, die eine gerade Zahl ergab, was nach dem vielleicht heidnischen Ortsbrauch verpönt war — während die Anzeige dann in dem Durchschneiden der zwei, vier Schnürringe durch die Jugendlichenrotte den Tatbestand der Religionsstörung sah, ein mit Gefängnis zu bestrafendes Vergehen, und damit ja auch voll erfolgreich war?
Tatbestand erfüllt; Gesetz greift ein, mit vollem Recht; über die Gesetzesbrecher wird der Stab gebrochen (auch wenn die paar Wochen Haft für die Jugendlichen vielleicht bloß ein »Stäbchen« waren? nein, sie waren nichts Niedliches). Ich dagegen sah und sehe meinen Bruder und seine Tatgenossen nicht im Unrecht. Vielmehr dachte und denke ich, daß ihm und den anderen »kraft« des Gesetzes Unrecht zugefügt wurde; oder daß das Gesetz in dem Fall mißbraucht worden ist. Mag sein, er war nicht unschuldig. Aber in meinen Augen war er gewiß nicht schuldig im Sinn der Anklage und dann des Urteils. »Besser, es geschieht dir Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz« (Talmud, Koran, Konfuzius, oder sonst eine kollektive Weisheitssammlung). Welches Gesetz? Und was oder wer ist die Welt? Und welche Welt wird gemeint, wenn heute in unseren Zonen öffentlich »die Welt« ausgesprochen und verlautbart wird? (»Die Welt kann nicht dulden …«, »Die Welt darf nicht mit offenen Augen zuschauen …«) — »Die Welt ist alles, was der Fall ist«: So umschrieb es einmal frei und schön Ludwig Wittgenstein im »Tractatus logico-philosophicus«. Und was ist inzwischen der Fall?
Und ähnlich, oder vergleichbar mit jenem Prozeß gegen meinen Bruder, dann auch die Gemeinsamkeiten an all den Gefängnis- und Zuchthaus- und Verwahranstalts-Besuchen während der Studienzeit und dann so weiter, bis jetzt. Der braungebrannte, stoppelhaarige Mörder mit den leuchtenden Augen, in dessen Zelle des Gefangenenhauses namens »Karlau« wir Hörer der Strafrechtsvorlesung eine Exkursion machten (»Ex-«? »In-«?); der ehemalige KZ-Lagerkommandant von Wilna/Vilnius, welcher mich später, als ich schon eine Art Namen als »Schriftsteller« hatte, zu sich in das Zuchthaus bei Limburg an der Lahn bat und mir, »von Landsmann zu Landsmann« (zwei Österreicher), erzählte, wie er damals in W. die Juden rettete, oder jedenfalls verschonte, wenn sie nur »Fachjuden«, d. h. Fachleute, Techniker etc., waren, und ob ich denn nichts für ihn tun könne?: auch er ein Lebenslänglicher, und auch er gebräunt, kurzgeschoren, und mit leuchtenden, eher glühenden, wie fiebrig glimmenden Augen; und als letzter hier in der Reihe -die in Anbetracht der verschiedenen Tatbestände natürlich gar keine ist — der bosnische Serbe aus Foca an der Drina, den ich vor einigen Jahren von mir aus besucht habe in der »Justizverwahranstalt« von München-Stadelheim, wo er eine Freiheitsstrafe (seltsames Wort) von viereinhalb Jahren abzubüßen hatte, wegen Beihilfe zu — vierzehnfachem — Mord (darüber oder eher drumherum und andeutungsweise später noch mehr): auch er, Novislav Dj., mein nachmaliger Freund, wie sonngebräunt, mit dichtem kurzem Haar, die Augen leuchtend wie die der dicht auf dicht links und rechts neben ihm in dem Düster des skandalösen Besuchsverschlags hingepferchten Mitgefangenen, von denen ein jeder seine Nebenmänner und deren Besucher(innen) zu übertönen und zu überschreien hatte, und auf diese Weise sich erst recht nicht verständlich machen konnte und erst recht nichts verstand von seinem Gegenüber hinter den Trennscheiben, auch nicht im Aufstehen und Losbrüllen — so wie auch ich und meine Mitbesucher im nachhinein, nach der kurzen »Sprechzeit« benommen miteinander im Flur, nicht einmal wußten, ob die paar uns vernehmlich gewesenen Wörter überhaupt aus dem Mund je »unseres« Gefangenen stammten, und auch selber nichts von dem, was wir auf den Lippen oder auf dem Herzen gehabt hatten, losgeworden waren. Was mir jedenfalls blieb von dem Sträfling, und von den anderen Sträflingen, das waren wieder vordringlich die leuchtenden Augen, und daneben auch, wie bei dem Mörder in der Karlau und wie bei dem KZ-Mann, eine gewisse Eleganz des Aufzugs, welche auch, aber nicht allein — Novislav Dj., noch nicht rechtskräftig verurteilt, trug noch sein eigenes blühweißes Hemd — von der, wie sagt man, kargen Anstaltskleidung herrührte. Unvorstellbar, daß mir je die Robe eines Richters oder Staatsanwalts auch nur annähernd so elegant erschienen wäre.