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In Lou Andreas-Salomés Entwicklungsroman 'Ruth' wird die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die mit den gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit kämpft und sich selbst neu entdeckt. Der literarische Stil des Buches ist geprägt von psychologischer Tiefe und einem feinen Gespür für die menschliche Seele. Andreas-Salomé schafft es meisterhaft, die innere Entwicklung der Protagonistin darzustellen und dabei existenzielle Fragen nach Identität und Selbstbestimmung aufzuwerfen. Der Roman, der zu seiner Zeit für seine moderne und mutige Herangehensweise an Frauenfragen gelobt wurde, ist ein bedeutendes Werk des 19. Jahrhunderts und spiegelt die literarische Avantgarde jener Epoche wider. Lou Andreas-Salomé, eine bekannte Psychoanalytikerin und Schriftstellerin, schrieb 'Ruth' unter dem Pseudonym Andreas-Salomé. Als enge Freundin von Friedrich Nietzsche und Rainer Maria Rilke war sie eine faszinierende Persönlichkeit, die selbstbewusst die traditionellen Geschlechterrollen hinterfragte und in ihren Werken feministische Ideale vertrat. 'Ruth' ist ein Buch, das Leserinnen und Lesern empfohlen wird, die an psychologisch-philosophischer Literatur interessiert sind und sich für die Geschichte des Feminismus begeistern.
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Seitenzahl: 356
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Books
In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, lang gezogene Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite, ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache Land erstreckt, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges; der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafpelz von den Schultern, und im roten Hemde neben seinen bei den magern Gäulen hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den Vogelgesang hineinklang.
Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein Holzbau, mit geschlossenen Fensterläden und bretterverschlagener Balkontür; oder es schimmerte ein Garten hervor, wo man eifrig beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für den Sommer in Stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig.
Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas feuchtem Wiesengrund lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber von allen den schönsten Garten. Die Frühlingsbäume, die es umstanden, breiteten einen zarten bräunlichen Schleier darüber, und rings über den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen Blattknospen.
»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte sich der Wagen über den Kies weg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur offenen Terrasse mit der Eingangstür emporführten.
Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf, wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen, das mit seinem breiten Fenster auf die Terrasse hinaussah. Im Wohnzimmer stand die Tür zu einem kleinern Nebengemach auf, das bereits vollständig eingerichtet zu sein schien. Von den Sachen, die man beim Auszug aus der Stadtwohnung im gemieteten Landhause vorgefunden hatte, war offenbar alles Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden, um Ordnung und Gemütlichkeit zu schaffen.
An der Tür lag auf einem deckenumhangenen Ruhebett eine bleiche, nicht mehr junge Frau, deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren ungewöhnlicher einstiger Schönheit zeigten. Unter den halbgesenkten Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und Gehenden.
Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme, bei der ein Lächeln durch die großen blauen Augen ging.
»Erik!« rief sie bittend, »komm doch her zu mir. Komm doch her.«
Er stand vor dem Terrassenfenster, in dunkler Morgenjoppe, die Hände in den Seitentaschen versenkt, zwischen den Zähnen eine Zigarette. Auf den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging in das Zimmer.
Ihr schien immer: ein Strom von Leben käme mit ihm, wenn er so zu ihr trat.
»Nun, Bel,« sagte er heiter, »du sollst sehen, jetzt bricht die Sonne durch den Nebel, und dann trag' ich dich in den Garten hinaus. Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen aufgestellt.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe keine Ruhe draußen, solange hier alles noch in solcher Verwirrung ist. Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen, Erik? Seitdem wir gestern herkamen, habt ihr nur für mich gesorgt. Ach, weißt du, das ist das schlimmste: im ganzen Leben wird nichts mehr recht ordentlich werden. Alles wird herumliegen.«
»Aber, Bel!« versetzte er spottend, »welchen Sinn hätt' es auch sonst, aufzuräumen? Was sind das für Sorgen und Schmerzen!«
Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein, sondern sah betrübt vor sich hin. Da fügte er ungeduldig hinzu: »Damit mußt du dich ernstlich abfinden. Nicht immer wieder davon anfangen. Sicherlich bist du dazu geschaffen, als die peinlichste aller Hausfrauen hinter der blitzendsten aller Teemaschinen zu sitzen, und mußt nun statt dessen jahraus, jahrein daliegen und es untätig mit ansehen, wie deine beiden männlichen Hausfrauen, Jonas und ich, es sorglos treiben. Das ist schwer, ich weiß. Es ist schwer, sein Talent zu unterdrücken. Aber es kann dir nicht erspart werden, du mußt es endlich überwinden.«
»Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein, Erik, wenn du nur wolltest.«
»Daß er wie eine Tochter wäre? Nein, natürlich will ich das nicht. Wie kannst du nur solchen Unsinn reden, Bel.«
»Es ist kein Unsinn, Erik. Du bist so streng gegen ihn, und daher ist er gegen dich oft schüchtern, geht nicht recht aus sich heraus. Aber mir zu dienen macht ihm Freude – auch in den häuslichen Dingen. Kannst du mir diese Freude nicht lassen?«
»Nein,« sagte er kurz, »nicht so, wie du es meinst. Ich wünsche nicht, daß er verweiblicht wird. An mir ist es, dir zu dienen –«
Er brach ab, weil die Magd hereintrat; sie wollte den Fuhrmann ablohnen.
Erik legte Geld auf den Tisch, der, noch staubig, in die Mitte der Stube gesetzt worden war.
»Dies ist das Trinkgeld, Gonne. Nein, es ist nichts darauf herauszugeben. Wenig genug für viel Arbeit.«
Als sie hin ausgegangen war, blickte er mit einem unterdrückten Lächeln in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber.
»Wir haben entsetzlich viel Geld, Bel. Natürlich. Wer sollte es uns auch in diesem Winkel abnehmen. Nicht wahr?«
»Ach, Erik, das kann doch gar nicht sein. In diesem ›Winkel‹ haben wir uns eins der teuersten Landhäuser ausgesucht. Ich habe ja nichts dagegen zu sagen gewagt. Aber wenn du wüßtest, wie es mich im stillen drückt. Denn du bist es ja, der seine ganze Kraft aufwenden muß, um das viele Geld zu verdienen.«
»Meine ganze Kraft aufwenden!« wiederholte er langsam, »wie schade ist es doch, Bel, daß es nicht wahr ist. Ich glaube fast, das wäre so schön, daß ich's sogar umsonst täte! Es dürfte dann freilich nicht bei den paar armseligen Schulstunden bleiben. – Nein du, in diesem heiligen Lande vergess' ich bald, daß ich überhaupt Kraft aufzuwenden habe. Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen, wenn – ich Geld habe. Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr hier her gepilgert?«
Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus.
»Nun ja, Erik, es ist nur gut, daß dir immer alles zu leicht und zu wenig scheint,« sagte sie, »du hast eine solche merkwürdige Frische. Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht, wo du beim besten Willen noch mehr Schulstunden hineinstopfen könntest?«
Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht. Er antwortete nicht, sondern kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers. Jonas war aus dem Garten hereingekommen, blieb neben dem Vater stehn und blickte hinaus.
Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne; man konnte in der Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden, in deren Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand. Im Hintergrunde schloß ein kleines Gehölz von Birken, Pappeln und Weiden, an denen noch die Kätzchen niederhingen, die Aussicht ab. Näher zum Hause streckten ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach.
Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des Jahres entgegen. Einen Augen blick lauschten sie stumm.
Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren, fiel die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf; sie trat noch stärker dadurch hervor, daß Erik sich bartlos trug. Derselbe blonde Kopf, breit ausgebaut in Stirn und Schädelform, die selbe ein wenig stumpf abschließende Nase und der selbe große, im Sprechen und Lachen sehr ausdrucksfähige Mund. Aber diese ein wenig groben Züge bedurften sichtlich mancher Jahrzehnte, um durchgeistigt und fesselnd zu wirken. Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und Schatten, die ihnen erst seelischen Reiz verliehen, als die Jugend von ihm ging. Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht, das in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen ließ, als er wirklich war. Schön konnte man an ihm nur die großen Blauaugen der Mutter finden und deren blendende Haut, die nur das Krankenlager an ihr entfärbt hatte.
Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen. In ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen Gestalt ihres Mannes; sie glaubte im Knaben ihn wie der zu erkennen, so wie er damals war, als sie ihn kennen lernte und er um sie warb. Es war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren, die ihn damals von Jonas' Alter unterschied, – einundzwanzig Jahre zählte Erik erst, als ihm sein Knabe geboren wurde. Sie fühlte jedesmal eine kleine Regung von Stolz, wenn sie daran dachte. Hatte er sich doch toll genug in sie verliebt, um sie mitten in seiner leichtlebigen Pariser Studentenzeit frischweg vom Fleck zu heiraten! Er, der begabte, ehrgeizige, früh weltmännisch geschulte Mann, band sich an sie, das einfache Kinderfräulein, das nur der Glücksfall einer günstigen Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte. Die fremden Kinder an der Hand, hatte sie bewundernd in den Salon gespäht, wo er verkehrte. Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach England und lebten ein paar Jahre von dem geringen Vermögen, das schnell verbraucht war. Eriks Studien waren breit angelegt gewesen, sie sollten Geistes- und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen, aber als Jonas zwei Jahre alt wurde, da galt es, sich mit eisernem Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen, um Brot zu erwerben. Eine kleine Lehrstelle bot sich ihm, ganz aus der Welt, weit draußen im Meer auf einer friesischen Insel. Klare-Bel freute sich im Grunde, daß ihre verrückte glückliche Studentenehe in so stille, geordnete Verhältnisse mündete, aber für Erik tat es ihr leid. Denn erstens war er sicherlich zu viel Größerem berufen als zu diesem abhängigen Stilleben für Weib und Kind, und dann konnte sie ihn sich auch gar nicht anders vorstellen als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und im vollen Verkehr mit einer gebildeten, raffinierten Gesellschaft, die ihn fortriß und die er fortriß. Wie sie ihn zuerst unter den einfachen Menschen des Volkes dastehn sah, kam er ihr vor wie ein verzauberter Prinz.
Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht: irgendwie werde er auch schon die Leute verzaubern, bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen besser entsprächen.
Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders. Erik lehrte niemand seine Art, wohl aber nahm er die der Leute an. Bald sah man ihn ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen wie in seiner frühern Kleidung. Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab, daß er geradezu echt in der Farbe erschien. Aber die Folge war, daß er seine Umgebung beherrschte. Er gab sich nicht, wie Bel gefürchtet hatte, Grübeleien über seine weitausschauenden, ehrgeizigen Wünsche hin, vielleicht war es eine zu aktive Natur dazu.
Was es nur gab, raffte er zusammen, um sich in der Gegenwart voll zu betätigen, und an die Zukunft – an die glaubte er so fest wie ein Kind an Gott.
Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte den Kopf in die Hand. Weiter als bis hierher dachte sie niemals.
Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht, der es verjüngte. Die kunstvoll geordneten Locken, die statt jeder festen Frisur dies Gesicht umrahmten, trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe wie damals. Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn geworden, ja dort hatte sich sogar eine ganz kleine verheimlichte Glatze gebildet.
»Jetzt müssen wir in die Schule wandern, Jonas,« bemerkte Erik und wandte sich vom Fenster.
»Gehst du heute zu den Mädchen, Papa?« fragte der interessiert.
»Ja. Aber deshalb brauchst du nicht wieder am Torweg der Mädchenschule auf mich zu warten und dort herumzulungern,« versetzte Erik mit einem Seitenblick, der Jonas verlegen machte. Ohne ein Wort zu erwidern, trollte sich dieser aus der Stube.
»Jonas fängt früh an! Er artet dir nach, Erik!« sagte Klare-Bel lächelnd, und als stünd' es mit ihren Worten in irgend einer Gedankenverbindung, griff sie unter allerlei Sachen, die auf einem niedrigen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen, einen geöffneten Brief heraus. »Hier liegt noch die Einladung. Wenn du wirklich absagen willst, vergiß es nicht heute in der Stadt, oder gehst du persönlich vor?«
Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig. Es war eine kurze Einladung, unterschrieben: Warwara Michailowna. Erik kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch.
»Ich möchte dich wohl was fragen, Erik.«
»Ja, Bel?«
»Sage mir: gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen Kreis, weil sie dir gefährlich geworden ist?«
Er fing an zu lachen.
»Nein, Bel, darüber kannst du ruhig sein.«
»Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt?«
»Das hat sie wohl. Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten Frau.«
»Junge Witwen hält man immer für kokett. Von Warwara würd' ich es nicht denken. Glaubst du das von ihr?«
Er sah seine Frau verwundert an.
»Ja natürlich. Alle schönen Frauen sind es. Auch ist ihr nicht der geringste Vorwurf daraus zu machen. Das gehört zu ihnen, wie die Schönheit. Das Gegenteil wäre fast stilwidrig. – Und es ist gut – vielleicht ein Grund, warum die Schönheit keinen tiefern Schaden anstiftet. Adieu, Bel; es ist Zeit für uns zum Bahnhof.«
Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin. Wie er sich aber zu ihr niederbeugte, umfing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn einen Augenblick, zu ihm aufschauend, fest.
Er hielt geduldig still.
»Du!« sagte sie lachenden Mundes, ließ sich küssen, und ließ ihn los.
Erik und Jonas waren schon fortgegangen, und Gonne räumte eifrig und geräuschvoll in den Stuben auf, als Klare-Bel noch über das letzte Gespräch nachsann. Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen angelegt, alles andre eher. Aber wenn man ewig so stilliegen mußte, immer auf dem Rücken, und die Augen an der geweißten Zimmerdecke, so geriet man zuletzt auf alles mögliche, und auch auf das Nachdenken. An sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie, stets nur indirekt. Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche, sozusagen hauptsächliche Gedanken, die Sammlung heischten: Erik, Jonas und die gefürchtete Unordnung im Haushalt. Aber es war merkwürdig, wie viel man aus den dreien machen konnte, wenn man sie geschickt kombinierte. Man hätte meinen können, es seien tausend.
Erik hatte also vor hin gesagt: die Schönheit stifte keinen tiefern Schaden an. Ja, das war gewiß ein rechtes Glück. Denn Erik war sehr empfänglich für die Schönheit. Schon, als sie noch gesund umherging, beunruhigte es sie. Sie selbst war glücklicherweise sehr schön, aber sie war blond, und ihr schien es, als ob ihn die Braunen ebenfalls interessierten. Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt. Aber nur ein einziges Mal erschrak sie, – schrak förmlich auf aus aller bisherigen Freude. Während des zweiten Jahres auf der Insel. Da fing er an, sie so viel allein zu lassen; manchmal war es ihr, als ob sie ihm nicht mehr wie sonst genüge. Er wurde auch wortkarger. Und endlich – ja endlich tat sie dann, was er nie im Leben erfahren durfte: sie ging ihm heim ich nach.
An einem weichen, dunkeln Aprilabend war's. Das Meer lag regungslos, und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter. Sie sah ihn aus einem kleinen Hause, hart an der Düne, heraustreten und an ihr vorbei, in Gedanken verloren, heimgehen. In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste Frau auf der ganzen Insel. Bei allen stand sie in hohem Ansehen wegen ihres Verstandes, wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen Schicksalen, wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung, aus dessen Fülle sie schöpfte, wenn sie ein feiner, liebevoller Menschenkenner zum Sprechen brachte.
Es war Frau Larsen, einen lahme sechzigjährige Frau.
Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem Manne.
Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium; gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen, die ziemlich entfernt lag.
Er war in einen vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen, und an einer der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein. Dieser sah erhitzt aus, behielt nach der Begrüßung den Hut in den Händen und fächelte sich mit dem Taschentuch.
»Wie geht es, Herr Matthieux?« fragte er Erik, hastig atmend, »hier in der Stadt ist der Mai schon unerträglich, – wirklich, – wenigstens beim Gehn. Und dabei wagt man nicht, den Sommerüberzieher abzulegen; jeden Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß. Ohne Übergänge, ohne Normaltemperatur. Ein mörderisches Klima.«
Er begleitete seine Worte mit so vielen Gestikulationen, daß man den Eindruck empfing, er werde sich nie im Leben wie der abkühlen. Erik betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden ungefähr gleichaltrigen Mann, auf dessen entblößtes, bereits stark gelichtetes Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah.
»Ob das meine Zukunft hier ist? – der Mai unerträglich!« dachte er, und sagte laut: »Ich muß gestehen, ich habe eine Schwäche für diesen russischen Frühling. Er mag unartig sein, vielleicht launischer und gefährlicher als jeder andre, aber dafür ist er ein Wunder. Er zögert so lange, und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön, daß man seinen Augen nicht traut.«
»Ja ja. Wenn man Augen dafür behalten kann. Ich reise nach Schulschluß immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen Windstößen und Verhältnissen. Ich schreibe an einem Werk – immer in den Ferien in Deutschland. Das ist meine Erholung. Da bleibt für den Sommer wenig übrig. So geht es eben uns allen – allen, die wir uns geistig überarbeiten müssen.«
Erik schwieg einen Augen blick, dann erwiderte er, wie wenn er einen stummen Gedanken beende, ruhig: »Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als ›Geistesarbeiter‹.«
»Ach, Sie meinen doch nicht, weil Sie da drüben, – weil Sie etwas lange in ländlichen Verhältnissen –? aber ich bitte Sie, bei Ihrem Wissen und Ihrer Begabung! Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk schreiben?«
Erik lachte.
»Nein, so meint ich es nicht. Nicht daß ich drüben vielleicht ein wenig verbauert sein könnte. Nicht den Mangel an Büchern. Denn wir – der Lehrer vor allen Dingen – arbeiten doch vor wiegend mit Menschenmaterial. Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der Gelehrtenstube, scheint mir. Mitten in das Leben hinein.«
»Hm!« machte der Kollege, »ich finde, an die Menschen kommt man doch nur sehr oberflächlich heran. Es bleibt wirklich nur die Schreibtischarbeit. Aber sagen Sie doch mal: man sprach davon, daß Sie vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen halten wollten? Was war es damit?«
Eriks Augen verdunkelten sich.
»Nichts war es damit!« sagte er kurz, »man hat mir den Saal verweigert!«
»Sehen Sie, sehen Sie! Das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung des Lehrerberufs außer halb der Arbeitsstube. Man fürchtet, daß Sie ein wenig lebhaft werden könnten. Wir gehen hier ja eben alle mit gebundenen Händen, – Sie wissen's doch! Aber mit einem sollten Sie sich wirklich trösten: es gibt hier ja gar keine Menschen, unter denen irgend etwas zünden und wirken könnte. Es gibt nur das Volk, zu dem wir weder sprechen dürfen noch können, – und ein Publikum, das sich amüsieren will.«
Er hatte sich in Eifer gesprochen. Erik antwortete nicht. Die Pferdebahn hielt, und beide stiegen aus.
»Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen?« nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf, und wie er jetzt langsam einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte, sah er ebenso schwerfällig und schläfrig aus, wie vor hin hastig und zerfahren, »ja, da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen! Sie hatten diese Klasse ja erst im Herbst zu übernehmen.«
»Es war aber Not am Mann. Auch wollt ich die Mädchen kennen lernen, Fühlung gewinnen, eh ich sie im Herbst ganz übernehme.«
»Nun, Sie werden es satt kriegen. Wissen Sie, dieses Geschlecht ist entsetzlich! Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen. Auch nicht das geringste. Rechnen können sie alle nicht.«
»Gott sei Dank!« sagte Erik.
»Nein, nehmen Sie es nicht humoristisch. Als Mädchenlehrer verlernt man das Lachen. Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse?«
»Hübsche Mädels!« entfuhr es Erik beinahe; als er aber die fast bekümmerte Mine seines Begleiters gewahrte, verschluckte er es noch recht zeitig und erwiderte nur: »Sie bringen doch Anregung, Abwechslung. Sehen Sie, hier in meiner Lederrolle: ein ganzer Stoß Aufsatzhefte. Das kurioseste Zeug. Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück; ich ließ sie mir nur geben, um mich zu orientieren. Auch hab' ich eine wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden.«
»Da bin ich nicht neugierig!« versicherte der Kollege von der Mathematik und kniff die Augen zu, »wahrhaftig nicht. Aber Sie sind ein beneidenswerter Mensch. Von Ihrem Vorgänger weiß ich, daß diese blauen Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Albdrücken verursachten.«
»Das war nur eine gerechte Strafe!« meinte Erik lachend, während sie einen hohen Torbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten, »warum gab er auch Aufsatzthemata wie zum Beispiel das letzte hier: ›Über das Glück‹. Arme Mädels, die da in schönem Deutsch beschreiben sollen, was sie doch noch gar nicht genossen haben.«
Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehn, das von der Flurhalle zu den Klassen hinaufführte.
»Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls dran, und das ist ja wohl der Zweck,« bemerkte der Kollege steif, denn die letzte Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen, »Ihr Vorgänger hat gewiß an kein Glück gedacht, wozu man die Schule verlassen haben muß. – Aber hier trennen sich wohl unsre Wege. Ich meine: wörtlich.«
»Also auf Wiedersehen!«
»Wünsche beste ›Anregung‹.«
Erik stieg hin auf und ging durch den hohen Hallengang, an dem die Klassenzimmer lagen. Er öffnete eines davon und blickte auf seine Uhr. Noch war die Frühstückspause nicht vorüber. Die meisten Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt; man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise umhergehn und spielen sehen. Dicht unter dem Fenster, an das er sich setzte, stand der Brunnen mit einer Holzbank; dort machte es sich eine Gruppe halberwachsener Mädchen bequem, – das Kichern und Schwatzen drang deutlich bis zu Erik herauf.
In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still; selten nur klappte eine Tür, oder wurde ein Ruf laut. Auf den zur Hälfte niedergelassenen Fensterrouleaus brütete die Sonne, und einzelne Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen auf den staubigen Pulten.
Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin, wobei er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß. Im Grunde waren dies wirklich recht langweilige Schulhefte. Solch ein Backfisch ist interessant, ohne Zweifel, er ist als Mensch, als Weib, als Backfisch interessant, und eine Welt für sich; aber von alledem kommt in den Schulaufsatz nichts hinein. Kein Wunder! Ist es nicht schließlich ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt? Ist nicht der kleinste Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher, aufschlußgebender?
Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende, schwatzende Mädchengruppe am Brunnen. Die, die er von seinem Standort sehen konnte, gehörten sicher seiner neuen Klasse an, hatten also die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen. Er verzieh sie ihnen, während er sie so anblickte, – diese frischen Geschöpfe, die noch das Vorrecht besaßen, ohne Schönheit schön zu sein. Es waren unter ihnen ganz bestimmte Typen leicht zu unterscheiden, obgleich sie verschiedenen Nationalitäten angehörten. Drei Sprachen schwirrten durcheinander. Er unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr weltlichen Typus. Beide besaßen etwas Anziehendes, – sowohl dieser schelmische Blick, der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte, als auch der sanfte, sittsam stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel. Das eigentlich kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr vertreten. Und vielleicht deshalb auch so wenig Untypisches im ganzen, so wenig Individuelles, – man konnte sie schon klassifizieren, sie waren schon fest geprägt durch die Umgebung, in der sie erzogen wurden, wo es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks Ideal gab, sondern nur gewöhnliche Amts- und Standespersonen.
Unwillkürlich suchte seine Hand unter den Heften, als wünsche er sich selbst Lügen zu strafen. Ja, hier stand die »Merkwürdigkeit« unter den Aufsätzen, – etwas höchst Individuelles jedenfalls.
Anstatt des vorgeschriebenen Titels »Über das Glück« trug er die Überschrift »Seligkeit!« – und wie ein Sehnen und Jauchzen klang etwas von dieser Überschrift dem Lesen den aus jeder Zeile entgegen. Er war nicht in vernünftiger, oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa geschrieben, sondern in Versen, in gänzlich unkorrigierbaren und wilden Versen, in denen die Sprache Reißaus genommen hatte. Trotzdem wirkten diese Verse, so fehlerhaft sie hingeschrieben waren. Oder vielmehr: hinge träumt. Denn im Grunde glich dieses einem unklaren Traum, einem bloßen Gedankenstammeln, einem Sichauflehnen gegen Wort und Logik, aber es steckte unleugbar eine Gefühlsmacht darin. Man wurde im höchsten Grade ungeduldig bei der Lektüre, aber man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wunsche überfallen, dem, der hier träumte und stammelte, mit Gewalt die Zunge zu lösen, daß er Aufschluß gäbe über seine Seele. Solche Verse mochte die heilige Therese als Kind gedichtet haben, ehe sie ihre Visionen auf Gott bezog, dachte Erik. Welche von denen im Hof mochte das sein?
Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm her auf und brachten ihn aus dem Lesen. Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie sagen: »Er muß unglücklich sein. Ich will es so. So unglücklich wie nur möglich. Sonst tu ich es nicht.«
»Nein, nein, dagegen bin ich ganz!« rief eine andre in mitleidigem Ton.
»O, ich wäre schon dafür,« suchte eine dritte zu vermitteln, »wenn es nur für eine Weile ist. Denn später, da heiratet sie ihn ja dafür.«
»Heiratet?« fragte die erste Stimme erstaunt, »nein, ich denke nicht daran! Er ist und bleibt unglücklich, sag ich euch. Ein für allemal. Aber heiraten werd' ich ihn nicht.«
Erik fiel das Heft aus der Hand. Er stützte sich auf das Fensterbrett und sah vorsichtig hinab. Er hätte gern gewußt, wie das grausame Geschöpf aussah, das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen wollte und ihn nicht einmal heiratete.
Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den andern so umstellt, daß sich Erik nicht tiefer hinabbeugen konnte, ohne von unten her gesehen zu werden. Er erblickte nur zwei schmale, weit vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunkeln Strümpfen.
Jetzt zwitscherten alle so durcheinander, daß man nichts verstand.
Dann sagte ein bildhübscher dunkelhaariger Backfisch, während er herzhaft in einen Apfel hinein biß: »Ich find' es wirklich komisch von dir. Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besondern Eigenschaften ausgestopft, wenn du ihn doch nicht nimmst? Er hat doch das Allerbeste abbekommen. Wenn er nur edel und unglücklich sein soll, so hätt' er auch gewöhnlicher bleiben können, – meint ihr nicht?«
»Laß sie doch, Wjera, du sollst sehen, sie hat im stillen schon wieder etwas Neues vor, – vielleicht was viel Schöneres,« meinte ein kleines blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze, »und wenn ihr sie nicht in Ruhe laßt, so sagt sie es uns am Ende nicht.«
»Hast du was? Hast du was? Ist es schön?« schrien sie erwartungsvoll.
»Es ist nichts für euch! Aber von allen die allerschönste Märchengeschichte!« erklärte die Angeredete an der Hausmauer, »kennt ihr die Verse von Uhland?« Und sie begann mit einer weichen Stimme zu deklamieren:
»In Liebesarmen ruht ihr trunken, Des Lebens Früchte winken euch; Ein Blick nur ist auf mich gesunken, Doch ich bin vor euch allen reich.
Das Glück der Erde miss' ich gerne, Und blick', ein Märtyrer, hinan, Denn über mir, in goldner Ferne, Hat sich der Himmel aufgetan.«
Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern, bis die letzten Worte gedämpft, in einer Art von schwärmerischer Andacht verklangen.
»Hu!« sagte die hübsche dunkle Wjera, ordentlich ergriffen, und eine zweite fügte besiegt hinzu: »Ja, dann freilich –«
Aber die, welche deklamiert hatte, lachte nur. Sie lachte so von innen heraus, so frisch und mit so überzeugen den Trillern in der Kehle, daß Erik oben an seinem Fenster beinah angefangen hätte, mitzulachen, und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte. Auch von den Mädchen begannen einige zu kichern. Aber die meisten verstimmte es.
»Du hast gar keinen Lebens ernst!« sagte die Erste der Klasse strafend, eine andre aber behauptete sogar: »Sie hat kein Herz. Sie verlacht ihre eigne Sache, und uns mit.«
Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende zu schmiegen und erinnerte sie: »Du hast doch versprochen, uns den ›Unglücklichen‹ endlich zu zeigen. Willst du es heute auf dem Heimweg tun?«
»Ja, das will ich. Denn ich will ihn euch überlassen. Macht ihn so glücklich, wie ihr wollt.«
»Also denkst du an einen andern?«
Die Glocke, die zum Klassenbeginn läutete, unterbrach das Geplauder in diesem kritischen Augenblick. Arm in Arm schlenderten sie gemächlich ins Schulgebäude hinein. Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt in der Sonne.
»Jetzt muß ich sie sehen können,« dachte Erik und beugte sich mit ernstem Gesicht vor. Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen gemacht.
Und er sah sie.
Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt, die Arme hoch über dem Kopf verschränkt, saß sie auf einem umgestülpten Regenfaß, das in diesem beliebten Brunnenwinkel gelegentlich als Sitzbank benutzt wurde. Sie trug das entschieden aschblonde glanzlose Haar offen, so daß es ihr weich und lockig in einiger Verwirrung über Brust und Schultern fiel. Das tiefrote Bändchen, wodurch es am Hinterkopf zusammengehalten werden sollte, war hinabgeglitten und bewegte sich leise im Luftzug. Es war der einzige bunte Punkt und Schmuck am Bilde. Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem losen graublauen Gewande, das keinerlei Ähnlichkeit mit den hübsch gearbeiteten Kleidern, Miedern, Schleifen und Schürzen der andern aufwies. Über den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel kittelartig geschlossen, ließ es zwischen den weichen Falten kaum den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas sonderbar Knabenhaftes. Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges Gesichtchen, das gradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Übermut wirkte. Wie sie so dasaß, den Oberkörper zurückgebogen, die ziemlich dunkeln Augen leuchtend erhoben, die Lippen wie in beginnendem Gelächter oder verlangendem Durst halb geöffnet, so daß unter der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne hervorschauten, – da machte sie den Eindruck, als bäume sie sich auf in überschäumender Lebenslust, bereit, jeden Augenblick jauchzend über alle Stränge zu schlagen, – fast unwillkürlich dachte man sich einen Thyrsusstab in die hinaufgestreckten verschlungenen Hände, – und der Bacchusknabe war fertig.
Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und ins Haus sprang, erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte hastig seine Hefte zusammen. Während er den Weg in seine Klasse antrat, kam ihm ein Lachen über seine eigne Verdutztheit. Zwei Lämmer in seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt an: die heilige Therese, und dann dieser arge Schlingel und Taugenichts.
Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten, in allen Ecken lebendig geworden, und einige Minuten lang schwirrte es dort durch einander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne. Dann schwächte sich der Lärm ab, die Klassentüren fielen ins Schloß; hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz; einzelne Lehrer, sämtlich in dunkelblauem Frack, der für diese Schulen vorgeschriebenen Uniform, schritten grüßend aneinander vorüber oder blieben, ein paar Worte wechselnd, im Gange stehn. In Eriks Klasse war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen, als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat. Einen Augenblick lang ließ er, auf dem Katheder stehend, seinen Blick über die blonden und braunen Mädchenköpfe schweifen, die fast alle mit lebhaften und aufmerksamen Augen zu ihm aufschauten. Obgleich er erst zum zweitenmal auf diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegen überstand, fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie, die ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete. Er verdankte sie seinem eignen Entgegenkommen. Denn die da merkten recht wohl das tatsächliche Interesse, das er ihnen als Lehrer zubrachte, – den Blonden wie den Braunen, den Klugen wie den Dummen, den Willigen wie den Widerspenstigen. Welche Fehler er auch besitzen mochte, einen wenigstens besaß er nicht: seinen Unterricht wie eine leblose Pflichtmaschine zu absolvieren.
Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte, sich niedersetzend: »Die Hefte können wieder verteilt werden. Sie sind zum größern Teil recht bedauerlichen Inhalts. Hoffentlich lautet die Fortsetzung viel besser. In bezug auf einen Aufsatz möcht' ich aber eine Erkundigung einziehen.«
Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte, den Namen ablesend: »Wer ist Ruth Delorme?«
Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben, sie hatte sich erhoben, eh ihr Name von seinen Lippen gefallen war.
Er richtete einen bestürzten Blick auf sie. Es war der Bacchusknabe aus dem Schulhof.
Jetzt freilich machte sie nicht mehr so ganz den kuriosen Eindruck. Das ordentlich zusammengenommene Haar und der »Klassenernst« auf ihrem Gesicht störten ihn, – vielleicht auch, daß sie die Augen niedergeschlagen hatte. Am liebsten wäre ihr Erik mit der Hand über das Gesicht gefahren, wie um eine Maske abzustreifen, damit er darunter die wirkliche Ruth zu sehen bekäme. Aber das wäre dann der mutwillige, lachende Junge von vorhin gewesen, – und das deckte sich so wenig mit der Vorstellung, die der Aufsatz von ihr weckte. Das wunderliche Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein.
»Unmöglich!« entfuhr es ihm.
Sie sah verwundert auf.
»Doch!« sagte sie.
»Das kann sie! sie kann Verse machen!« riefen einige Stimmen. Man konnte es ihnen anhören, wie stolz sie auf diese Schwarzkunst waren und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden.
»Verse, – das ist ja möglich,« gab Erik zurück, »auch sind sie keineswegs schön. Ganz das Gegenteil davon. Aber ein Schulmädchen –«
Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich. Die Bemerkung war auch gar zu einfältig. Schulmädchen waren sie ja alle, und eine von ihnen mußte es doch gewesen sein. Mußte? Da kam ihm der Gedanke: vielleicht ist es gar kein selbständiger Aufsatz?
Er blätterte im Heft zurück. »Es ist noch ein früherer Aufsatz drin. Etwas Literarhistorisches. Der fällt stark dagegen ab. Lauter mühsam nachgezogene Linien – und falsche Linien. Es geht die Sage, daß bei den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird. Sollte das nicht die Lösung des Rätsels sein?«
Während er aber noch sprach, war er schon überzeugt, daß er sich irrte und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten werde, ihr habe niemand geholfen.
Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte: »Mir hilft niemand.«
Aber wieder schaute er betroffen auf. Wie klang das! Grade so, als habe sie unter Tränen gesagt:
»Ich bin ja so mutterseelenallein!« Ein stiller Ton war darin, der ihn rührte, – etwas so ganz Neues, Unerwartetes, was er wie der mit dem übrigen nicht zusammenreimen konnte.
Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder, in der ruhigen Haltung des Lehrers. Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam seinen Ausdruck darin, daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die Bank, in die Mitte der übrigen.
Als er dicht vor ihr stand, ward er sich einer Übereilung bewußt und kehrte, wenn nicht zum Platz, so doch zur Rolle des Lehrers zurück.
»In der Änderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen; hier galt wohl eine Ausnahme, die mein Vorgänger machte?« fragte er.
»Er zog sie vor! sie durfte tun, was sie wollte!« schrien einige.
»Sie gehört nicht mehr zur Schule! Sie kommt nur zu einigen Stunden!« riefen andre.
»Ich gehe bald fort,« sagte Ruth.
»Fort? Vom Ort?« fragte er, und ein brennendes Bedauern überfiel ihn.
Sie hob die Augen.
»Nein. Nur aus den Stunden.«
Wie bei der Blicke sich trafen, sah er ihr Gesicht aufleuchten. Nicht nur die Augen taten's, das Leuchten ging über Stirn und Augen wie ein Lächeln, obschon sie ernst blieb. Der »Klassenausdruck« fiel von ihren Zügen wie ein vorgehaltener Schleier.
Er gab ihr einen Wink, sich zu setzen.
»Das ist sehr schade,« meinte er dann, ein paarmal auf und abgehend, und es war ihm selbst nicht klar, für wen es eigentlich schade sei, ob für den Lehrer, oder für die Schülerin, oder für alle beide. Doch setzte er rasch hinzu: »Es ist zu früh. Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz nicht.«
Dann richtete er, mit dem Aufnehmen des Unterrichts, keine Bemerkung mehr an sie, vermied es auch während der Stunde, ihren Namen aufzurufen, obgleich es ihn beschäftigte, daß sie fortgehn wollte. Aber er begriff, daß dies lebhafte Interesse für ein merkwürdiges Kind, wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte, von ihm selbst erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig geklärt haben mußte, ehe daran zu denken war, ihm vor einigen Dutzend neugieriger Mädchenaugen nachzugeben. Er kannte sehr wohl die üblichen Schwärmereien für den Lehrer, zweifelte auch nicht daran, daß auch er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei, hielt aber doch möglichst daran fest, sich nicht durch sein Benehmen zu verraten, wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte, – was doch unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut.
Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen mit verträumten Augen. Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin, und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf, was er vortrug, sondern merkte sich nur die Art, wie er vortrug, und die ihm eigentümliche Gebärde der Hand dabei. Daß er schmale, nervige Hände von edler Form besaß, daß sie aber leicht gebräunt waren, wie bei einem, der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat, merkte sie, – und es kam ihr wie ein Widerspruch vor, der sie beschäftigte. Die gerade, etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein wie ein Bild, und dann, daß ihm das Haar beim Sprechen in einem straffen kleinen Büschel in die Stirn fiel, und er es stets mit einem kurzen Ruck zurück warf, wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben blieb. Es war kurzgehaltenes, schlichtes, dichtes Haar, und es ärgerte sie förmlich, daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte, – nur ein bißchen; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen, die sahen aber drollig aus, und so schnitt sie sie ihm wieder ab. Darüber mußte sie lachen; sie hätte fast laut aufgelacht, und der Sicherheit halber stützte sie den Mund auf die Hände.
Aber bei alledem sah sie nicht aus, als ob sie sich in losem Mutwillen mit solchen Äußerlichkeiten beschäftige, sondern als sinne sie angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach. So hatte sie schon neulich, in seiner ersten Stunde, dagesessen, von ihm unbemerkt.
Ruth machte noch immer dasselbe verträumte, nachdenkliche Gesicht, als nach Beendigung des Unterrichts sich ein ganzer Schwarm von Mädchen zum Heimgehn um sie drängte. Sie hatten diesen Augenblick kaum erwarten können, denn nun sollte Ruth ihnen ja den »Unglücklichen« zeigen, der aller Phantasie beherrschte. Arm in Arm, hintereinander, und mit den Ranzen schlenkernd, gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab und bogen in den Newskyprospekt ein, Ruth vorauf und ohne auf sie zu achten. Einige sahen sich vorsichtig um, ob ihnen auch niemand folge auf den Wegen, die sie Ruth führen sollte, aber die Straße war ziemlich menschenleer, nur ein paar Dienstmädchen, die den Verwöhntesten den Schulsack trugen, folgten in bescheidener Entfernung, und hinter diesen sah man Erik herankommen.
»Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche!« sagte die hübsche Wjera zu ihrer Nachbarin, »daß sie solche Geschichten treiben kann. Ich glaube, ihre Verwandten kümmern sich gar nicht drum. Ja, es ist ganz anders, wenn man noch Eltern hat.«
»Pfui, schäme dich!« empörte sich das Mädchen, das neben ihr ging, und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite, »es ist doch ein schreckliches Unglück, seine Eltern so früh zu verlieren. Die arme Ruth! Denke nur, wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist, – in Belgien und Deutschland, und immer unter fast Fremden.«
»Ja, da kommt man eben auch weit herum,« beharrte der gemütlose Backfisch, »sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen. Und grade da möcht' ich so gern hin.«
»Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt,« behauptete eine von ihnen etwas unsicher.
Ein schallen des Gelächter erhob sich.
»Ja, im Traum! Das ist doch nur ein Märchen, das sie erzählt hat. Höre nur, Ruth, das hält sie für Wirklichkeit!«
»Da kommt er!« sagte Ruth mit einem Male.
Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen. Im ersten Augenblick stoben sie fast auseinander, aber dann sammelten sie sich wieder, räusperten sich, zupften an ihren Kleidern, reckten die Hälse, und die meisten von ihnen wurden rot.
»Hier der Blonde?«
»Nein! Der Herr im Zylinderhut.«
Es war keiner von beiden. Ruth blickte ernsthaft gradeaus und einem Herrn ins Gesicht, der auf sie zuschritt. Ein junger brünetter Mann, im hellen Sommerüberzieher, mit etwas verlebten Zügen, einem kleinen Schnurrbart und mandelförmigen Augen.
Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie, – darüber waren alle einig. Aber während sie ihn noch anstarrten wie ein Meerwunder, geschah vor ihren Augen das Ungeheuerliche, woran sie eigentlich doch nicht im Ernst geglaubt hatten: Ruth grüßte ihn, ganz ernsthaft grüßte sie ihn, ohne eine Miene zu verziehen, aber doch so wie einen alten Bekannten.
Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht; er hatte sie fest fixiert, jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder. Ziemlich vertraulich tat er das.
Die hübsche Wjera schrie fast auf vor Überraschung und Vergnügen, sie war feuerrot geworden, und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden, mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen. Ein paar von den andern aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt, sie genierten sich sichtlich, gingen verlegen neben dem Trottoir auf dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder. Doch fand der heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen, die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten. Während er mit ganz verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging, flogen Blicke und Lächeln zu ihm hinüber, empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt. Ein paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um, und auch er wurde nicht müde, zurückzusehen.
»Nein! Das ist aber zu arg!« brach eine von den Sittsamen auf dem Straßendamm los, »es ist gradezu sündhaft!«
»Ach, du liebe Tugend! Wir sind es ja gar nicht gewesen, die angefangen haben. Ruth hat es getan. Sie hat ihn gegrüßt. Wenn sie jetzt auch so gleichgültig drauf los geht, als ging es sie nichts an.«
»Ja, was schadet's denn auch?« verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas betreten.
»Gewiß schadet es, – abgesehen davon, daß es sündhaft ist,« behauptete die Sittsame, »hast du nie gehört, daß man nicht geheiratet wird, wenn man ein Verhältnis gehabt hat?«
»Ja, sie hat ganz recht; es bringt uns in Verruf,« half ihr eine zweite, »und der da würde euch gewiß nicht heiraten, bildet euch das ja nicht ein. Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten!« setzte sie schlagend hinzu.
Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln.
»Es ist doch alles nur Unsinn. Eine bloße Phantasiegeschichte. Also laß doch! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen weiter, dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche, und alle Gefahr ist vorbei.«
»Nein, nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr. Du hättest ihn uns nicht zeigen sollen, Ruth.«
Diese zuckte ungeduldig die Achseln.
»Das kann ich nicht so trennen. Wenn wir's spielen, leben wir's ja auch. Aber macht es doch, wie ihr wollt,« sagte sie zerstreut.