Sacrow – Paradies mit dunklen Schatten - Ines Thorn - E-Book

Sacrow – Paradies mit dunklen Schatten E-Book

Ines Thorn

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Beschreibung

Ein Mikrokosmos der Geschichte Sacrow, 1938: Die Tischler-Familie um Vater Eugen ist in dem kleinen Dorf unweit des Wannsees bestens bekannt. Sohn Hanno ist sechzehn und schwer verliebt in Stefanie. Doch diese ist Jüdin. Das junge Glück sieht sich den Vorurteilen und dem Hass der Zeit ausgesetzt. In dem paradiesischen Dorf, eingebettet zwischen Buchen- und Kiefernwäldern, dem Sacrower See und der Havel, werden Hanno und seine Familie in den folgenden Jahren die dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte erleben und darum kämpfen müssen, nicht zu deren Spielball zu werden. Manche werden Opfer, manche werden Täter. Und manche versuchen einfach nur zu überleben ...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Isabelle Toppe

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: ullstein bild / mauritius und Shutterstock.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Erster Teil

Kapitel 1

Sacrow, 1937

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Sacrow, 1938

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Sacrow, 1939

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Zweiter Teil

Kapitel 14

Sacrow, 1939

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Sacrow, 1940

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Sacrow, 1941

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Sacrow, 1942

Kapitel 28

Sacrow, 1943

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Sacrow, 1944

Epilog

Wahrheit und Fiktion

Quellenangaben

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Erster Teil

Kapitel 1

Sacrow, 1937

Wann waren sie das letzte Mal zusammen angeln gewesen? Vor zwei Jahren? Vor drei? Hanno konnte sich nicht mehr erinnern. Aber er freute sich. Er fand es schön, neben seinem Vater auf einem Anglerhocker zu sitzen, die Rute in den Sacrower See zu halten und die Sonntagvormittagssonne auf den Armen zu spüren. Er fühlte sich dann dem Vater noch stärker verbunden, auch wenn sie kaum ein Wort wechselten. Er sah zu den Bäumen des Königswalds und betrachtete die Blätter, die sich im leichten Wind bewegten. Ein Stück entfernt am Seeufer stand ein Reiher und hoffte auf Beute.

Der Vater räusperte sich.

»Es ist einiges passiert in letzter Zeit.«

Hanno kniff die Augen ein wenig zusammen. Viel passiert? Wusste er etwa, dass sein bester Freund Siegfried und er manchmal heimlich hinter der Bushaltestelle rauchten? Oder hatte ihm der Lehrer von der Vier im letzten Aufsatz erzählt?

»Was meinst du?«

»In Deutschland.«

»In Deutschland?« Hanno atmete leise auf.

Der Vater nickte und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen Zug, stieß den Rauch aus und sah ihm nach.

»Hitler sitzt fester denn je im Sattel. Er brüskiert die Nachbarländer, verletzt den Vertrag von Versailles, ruft zur Wehrpflicht auf. Der Bau des Olympiastadions in Berlin, ja die gesamten Olympischen Spiele im letzten Jahr dienten der Propaganda. Ich befürchte nichts Gutes.«

So viel hatte der Vater lange nicht gesagt.

»Siegfried meint, Hitler sei gut für unser Land. Und Lehrer Knöfel sagt, Hitler setze sich unermüdlich für den Frieden ein.«

Der Vater knurrte unwirsch. »Mach die Augen auf, Junge. Es wurden schon vor einer ganzen Weile neue Gesetze beschlossen. Die Nürnberger Rassengesetze, das Reichsbürgergesetz vom September 35. Sie gelten zwar schon beinahe zwei Jahre, aber ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt. Du hast ja davon gehört, Junge. Stand alles in der Zeitung. Gesetze gegen die Juden. Und nun sind diese Verordnungen auch in Sacrow angekommen.«

»Ich lese nie die Zeitung.«

»Vielleicht solltest du das ab jetzt tun. Alt genug bist du mit deinen fast sechzehn Jahren.«

»Was genau stand drin?«

»Die Juden haben nun nicht mehr die gleichen Rechte wie alle anderen. Ehen zwischen Juden und den sogenannten Ariern sind verboten. Seit Jahren werden die Juden aus ihren Berufen gedrängt. Jüdische Lehrer, Professoren, Beamte gibt es schon lange nicht mehr.«

Hanno verzog den Mund. »Warum? Ich meine, ich weiß, dass den Juden eine immer schlechtere Behandlung widerfährt, aber ich weiß nicht, warum.«

Er überlegte, wie viele Juden er kannte. Seit seiner Geburt 1921 hatten sich etliche Berliner hier in Sacrow Sommerhäuser gebaut, um dem Lärm und dem Dreck der Großstadt zu entfliehen. Potsdam war nicht weit entfernt, aber es waren vor allem die Leute aus der Hauptstadt, die Sacrow besuchten. Hanno verstand das; er liebte sein Dorf, das so wunderschön am Wasser gelegen war und umgeben von Kiefernwäldern, die im Sommer herrlich dufteten. Und er kannte jeden der neuen Dorfbewohner, denn sie alle hatten bei seinem Vater Tischlerarbeiten in Auftrag gegeben, bei deren Einbau er oft geholfen hatte.

Sein Vater war ein Möbeltischler, der weit über die Grenzen des Dorfes hinaus bekannt und durch die Sommergäste aus der Hauptstadt noch bekannter geworden war, sodass seine Auftragsbücher stets voll waren. Hanno mochte die neuen Sacrower, und er hatte endlich von Angesicht zu Angesicht Juden kennengelernt, von denen er zuvor nur Schlechtes gehört hatte. Da waren die Redelsheimers, der Unternehmer Stahl und Frau Dr. Grete Ring, die Kunsthändlerin, die Salomons, die Kempinskis und die Familie Blau, die in diesem Jahr ihre Tochter sogar in Sacrow und nicht in Berlin zur Schule schickte.

Stefanie Blau ging in seine Klasse und war eine der Besten. Überhaupt waren die Juden, die Hanno kannte, fleißige und gebildete Leute, von denen aus seiner Sicht nicht die geringste Gefahr ausging, obschon man den Juden genau das nachsagte. Dass sie eine Gefahr für Deutschland waren.

Mit der Familie Blau waren seine Eltern sogar befreundet. Eugen Richter hatte ihnen einen Wandschrank in den Flur ihres Hauses gebaut, und Hanno hatte ihm dabei geholfen. Nathan Blau war ein berühmter Chirurg an der Berliner Charité, und seine Frau Rachel unterhielt ein edles Geschäft für Damenbekleidung am Kurfürstendamm. Mit ihr traf sich seine Mutter oft zum Kaffeetrinken, und sie sprachen über Mode, über Sacrower Neuigkeiten, über aktuelle Filme und neu erschienene Bücher. Und oft war auch eine weitere Freundin der Mutter dabei, Frau Dr. Grete Ring.

Der Vater zertrat die Zigarettenkippe mit dem Fuß.

»In den Gesetzen heißt es, die Juden kontrollierten die Finanzen der Welt und wollten den Bolschewismus verbreiten. Es heißt, sie seien minderwertig.«

Hanno schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was man über die Juden sagt. Lehrer Knöfel spricht ständig davon. Aber ich verstehe noch immer nicht, warum die Juden so angegriffen werden, seit Adolf Hitler an der Macht ist.«

Der Vater wandte sich ihm zu. »Das ist auch nicht zu verstehen, aber sag niemandem, dass du so denkst. Sprich nicht darüber, hörst du? Besonders nicht mit Siegfried.«

»Er ist mein bester Freund.«

»Und sein Vater ist bei der SS.«

»Die SS ist die Elite«, ergänzte Hanno und dachte an Siegfried, der ungeheuer stolz darauf war, dass sein Vater die schwarze Uniform und den Totenkopfring trug.

Der Vater seufzte. »Sprich einfach nicht mit Siegfried oder seinem Vater über Politik. Hast du mich verstanden?«

Hanno nickte, auch wenn er es insgeheim immer noch nicht so richtig begriff. Für Politik hatte er sich noch nie begeistern können, und was Lehrer Knöfel sagte, interessierte ihn schon gar nicht. Ohnehin predigte der stets dasselbe. Im Deutschunterricht ging es um Blut-und-Boden-Literatur und um Ehre und Vaterlandsliebe. Hanno mochte Sport lieber, und auch in Mathematik war er nicht schlecht.

Die warnenden Worte seines Vaters gingen Hanno nicht aus dem Kopf. Er hatte selbst erlebt, wie Siegfried über die Juden sprach. Zum Beispiel über Frau Dr. Grete Ring, die hier im Ort wohnte und für die sein Vater die Möbel geschreinert hatte und die Begrenzung der Balustrade, die sich um den ganzen Bungalow zog. Ein Bungalow nach Art des Bauhauses. Aber das Bauhaus gab es seit einiger Zeit auch nicht mehr. Es hatte sich nach zahlreichen Repressalien selbst aufgelöst, die Bauhauskünstler waren ins Ausland gegangen. Das hatte ihm sein Vater erzählt.

Hanno hatte gehofft, nach der Schule dort studieren zu können. So wie sein Vater damals, als das Bauhaus noch in Weimar residiert hatte. Er hatte mit Frau Dr. Ring über das Bauhaus gesprochen, und die Kunsthändlerin hatte ihm von Johannes Itten erzählt, von László Moholy-Nagy, von Herwarth Walden und Oskar Kokoschka. Von Gunta Stölzl hatte sie sogar einen Wandteppich, der im Wohnzimmer hing. Hanno hatte ihn bestaunt und sich gar nicht an den Farben und Formen sattsehen können. Der Teppich war bunt, mit Betonung auf Rottönen, und das Muster ging durcheinander. Es gab Streifen und Wellen sowie gepunktete Flächen und Quadrate. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen.

Frau Dr. Ring hatte ihm auch Bücher ausgeliehen, die er verschlungen hatte. Er hatte Siegfried davon erzählt, aber Siegfried hatte noch nie etwas vom Bauhaus gehört. »Die Ring ist eine Schlampe«, hatte sein bester Freund nur gesagt. »Das sieht man auf den ersten Blick. Die schminkt sich wie eine Straßendirne, dabei hat der Führer gesagt, eine deutsche Frau braucht keine Schminke. Aber kein Wunder, die Ring ist sowieso eine Jüdin. Wer kann sich schon so ein Haus leisten, wie sie es hat? Ein anständiger deutscher Volksgenosse nicht. Das internationale Judentum hat die Geldwirtschaft in seinen Händen. Doch das wird bald anders. Ganz anders. Und wenn die Juden erst einmal weg sind, dann wohnen wir in ihren Häusern.«

Die Angelrute zuckte, und Hanno schreckte aus seinen Gedanken auf. Er holte den Haken ein, doch es war kein Fisch daran. Sein Vater hängte einen neuen Köder an, und Hanno warf die Angel wieder aus. Da fiel ihm etwas ein. »Der Siegfried geht jetzt an die SS-Junkerschule, um sich für den militärischen Führernachwuchs ausbilden zu lassen.« Hanno dachte an das altehrwürdige Schulgebäude im nahen Potsdam, einer Zweigstelle der Junkerschule Braunschweig. Dort wurde die neue Elite der SS herangezogen, wie Siegfried stolz erzählt hatte.

»Soll er«, brummte der Vater lediglich.

Hanno schluckte. »Lehrer Knöfel hat mich gefragt, ob ich auch an den Aufnahmeprüfungen teilnehmen will. Ich wäre geeignet, meint er.«

Der Vater fuhr herum. »Und was hast du gesagt?«

»Dass ich darüber nachdenken muss.«

»Gut gemacht, Junge.«

Hanno glaubte für einen kurzen Moment, Erleichterung im Gesicht seines Vaters zu sehen, doch dann trat wieder dieser besorgte Ausdruck zutage, den er bei seinem Vater in letzter Zeit häufig beobachtete.

»Er will mit dir reden.«

»Soll er kommen.«

Hanno räusperte sich. Er wollte nicht unbedingt auf diese Schule mit angeschlossenem Internat, aber er wollte gern mit Siegfried zusammenbleiben, den er kannte, seit er denken konnte. Es gab einige Mitschüler, die Siegfried um die SS-Junkerschule glühend beneideten und sich wünschten, an seiner Stelle zu sein. Er wollte gerade seinem Vater davon erzählen, als etwas an dessen Angelschnur riss. Beide blickten auf die straff gespannte Schnur.

»Scheint ein Großer zu sein«, sagte Hanno und verspürte plötzlich eine leise Aufregung. Wie immer, wenn ein Fisch angebissen hatte. »Vielleicht ein Barsch oder ein Karpfen.«

Behutsam holte der Vater die Angel ein. »Nimm den Kescher«, befahl er Hanno. »Da hängt wirklich ein großer Fisch dran.«

* * *

»Guten Morgen, Elvira. Wie schön, dich zu treffen.« Grete Ring strahlte sie an. Sie stand vor dem Lebensmittelladen und hatte zwei volle Taschen in der Hand, die sie jetzt abstellte. Sie wischte sich über die Stirn. Dr. Grete Ring war eine Naturgewalt, deren Charme sich niemand entziehen konnte, auch Elvira Richter nicht. Ihr Lachen war ansteckend, die Gespräche mit ihr immer klug, und meist war die Malerei das Thema oder die neuesten Bücher oder die aktuellsten Theaterstücke, die in Berlin aufgeführt wurden. Sie feierte gern und richtete fantastische Feste aus.

Die bekannte Kunsthändlerin, eine Frau in den besten Jahren, trug ein elegantes Kostüm. Und diese Tatsache hob sie von den einheimischen Sacrower Frauen ab, die in Kittelschürze und mit Holzpantinen ihre Einkäufe im Dorf erledigten. Doch sie hatte recht, es war wirklich ein strahlend schöner Tag. Die Fassaden, meist weiß gestrichen, blendeten beinahe die Augen. Und die Bäume, die sich an der Straße entlangzogen, malten mit ihren Blättern wunderschöne Muster auf das Kopfsteinpflaster. Frau Meltke zupfte Unkraut zwischen ihren Salatköpfen, irgendwo krähte ein Hahn, und eine schwarze Katze rannte über die Straße.

»Magst du heute Nachmittag nicht auf einen Kaffee zu mir kommen? Das Wetter ist so schön und gerade warm genug. Wir könnten auf dem Sonnendach sitzen. Es wäre wunderbar, wenn du auch Zeit hättest. Ich habe vorhin ganz spontan Jenny Jugo eingeladen.« Sie brach ab, und ihr Gesicht verdüsterte sich ein wenig. »Und Margot Blaschke.«

»Die Frau vom NSDAP-Ortsgruppenführer?«, fragte Elvira erstaunt.

Die Kunsthistorikerin, Mitinhaberin des berühmten Kunstsalons Cassirer in Berlin und Nichte des Malers Max Liebermann, zuckte mit den Achseln. »Eben im Lebensmittelladen. Sie hat sich quasi selbst eingeladen. Was hätte ich tun sollen?«

Die beiden Frauen lächelten sich an. Es war kein Geheimnis, dass Margot Blaschke unbedingt dazugehören wollte. Dazugehören zum Kreis der reichen und berühmten Berliner, der nicht nur aus Wirtschafts-, sondern auch aus Kulturgrößen bestand, die hier in Sacrow ihre Sommerhäuser hatten. Viele von ihnen waren jüdischer Abstammung, aber solange die Berliner in Sacrow die Mode bestimmten, war es Margot Blaschke egal, welcher Religion sie angehörten.

»Ich komme gern, Grete. Soll ich etwas mitbringen?«

»Gute Laune, aber die hast du ja meist. Und gern ein paar Blumen aus deinem wunderschönen Garten.«

Dr. Grete Ring winkte ihr zu und machte sich auf den Weg, während Elvira Richter im Lebensmittelgeschäft verschwand. Drinnen lagen auf einem Zeitungsständer nicht nur die örtliche Tageszeitung, sondern auch das Berliner Tageblatt, die Berliner Allgemeine Zeitung, die Berliner Börsen-Zeitung, der Angriff – das Blatt der NSDAP – und natürlich der Völkische Beobachter.

Margot Blaschke griff sich den Völkischen Beobachter.

»Guten Tag, Elvira«, sagte sie leutselig und winkte mit einer Hand, von der jeder einzelne Finger mit einem Ring geschmückt war. »Wie geht es dir?«

»Danke, gut, Margot.«

»Und was gibt es Neues bei euch?«

»Nicht viel. Eugen arbeitet in der Werkstatt, ich mache die Buchhaltung, Hanno und Sabine sind in der Schule.«

Elvira lächelte Margot zu und wollte zum Verkaufstresen treten, da machte Margot einen halben Schritt seitwärts und stand direkt vor Elvira.

»Na, das ist ja schön. Aber bei uns hat es in letzter Zeit einige Neuigkeiten gegeben.« Sie blickte Elvira abwartend an. Die seufzte und fragte: »Was denn für Neuigkeiten?«

»Nun, wenn du es noch nicht gehört hast, mein Wilhelm ist ja nicht nur der Ortsvorsteher und Bürgermeister, sondern auch der Führer der SA in Sacrow. Der wichtigste Mann im Dorf. Man hat ihn befördert. Er ist jetzt SA-Sturmführer. Aber ich sage gleich dazu, dass er diese Beförderung nicht aufgrund seiner guten Beziehungen zum Ministerium bekommen hat. Du weißt ja, dass mein Großonkel direkt für Goebbels arbeitet? Hatte ich dir das schon erzählt?«

Ja, dachte Elvira. Ungefähr einhundert Mal. Und gleich wirst du mir berichten, dass Magda Goebbels mal mit deiner Großtante bei einem Pferderennen in Hoppegarten Sekt getrunken hat.

»Und meine Großtante hat mal mit Magda Goebbels angestoßen. Beim Pferderennen in Hoppegarten. Mein Wilhelm sagt, ich solle nicht darüber sprechen, und normalerweise halte ich mich auch daran. Die Leute sollen ja nicht denken, dass ich eingebildet bin deswegen, aber wir kennen uns schon so lange, zu dir habe ich Vertrauen.«

Elvira nickte. Margot hatte offensichtlich zu ganz Sacrow großes Vertrauen, denn es gab nicht einen einzigen Bewohner, der noch nicht von Margots Großtante gehört hatte.

»Dann gratuliere ich herzlich zur Beförderung.«

»Danke. Wir wollten eigentlich am Nachmittag einen kleinen Umtrunk machen, aber die Frau Doktor Ring war schneller und hat zum Kaffee geladen.«

»Doch nicht wegen der Beförderung deines Mannes?«

»Nein, nein. Aber wenn die Hausfrau fehlt, kann es keinen Umtrunk geben. Ich musste mich zwischen Grete und dem Umtrunk entscheiden. Nun, ich habe mich für die Frau Doktor entschieden. Man muss sich ja gut stellen mit den Berlinern. Der Umtrunk wird also erst am Abend stattfinden.«

»Fein. Dann sehen wir uns also heute Nachmittag.« Elvira versuchte, das Gespräch zu beenden.

»Heute Nachmittag? Aber da bin ich doch bei Frau Doktor Ring zum Kaffee. Und die berühmte Schauspielerin Jenny Jugo wird auch da sein.«

»Und ich ebenfalls.«

»Du?« Margot hob ungläubig die Augenbrauen.

»Nun, Grete und ich sind Freundinnen, das weißt du doch«, fügte Elvira an.

Margot lächelte dünnlippig und winkte ab. »Hach, das ist auch so eine Inflation. Kaum trifft man sich mal beim Metzger, schon nennt man sich Freundin. Also dann, bis heute Nachmittag.« Sie schritt zur Tür, hatte schon die Klinke in der Hand, aber dann fiel ihr noch etwas ein: »Was ziehst du denn an?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, sprach sie weiter. »Ich war ja neulich in Berlin. Im Geschäft der Frau Blau auf dem Ku’damm. Sie hatte mich persönlich eingeladen. Ach, die Modelle, die sie verkauft, sind unbeschreiblich! Die neueste Mode aus Paris. Ich habe mir ein kleines Ensemble für den Nachmittag gekauft. Ein Kostüm. Traumhaft schön und so, wie es die Französinnen tragen. Ich sähe damit aus, als würde ich gleich die Champs-Élysées hinunterspazieren, hat Frau Blau gesagt. Du wirst es ja nachher sehen.« Sie blickte auf ihre goldene Armbanduhr. »Oh, schon so spät? Da muss ich eilen. Wilhelm möchte sein Mittagessen um Punkt zwölf.«

Sie verließ den Laden, und irgendwie fühlte sich Elvira plötzlich erschöpft. Das ging ihr meist so, wenn sie mit Margot Blaschke sprach. Nein, nicht »sprach«, denn ein Gespräch brauchte ja mindestens zwei Menschen, die miteinander redeten. Bei Margot musste sie nur nicken, das Reden übernahm die Frau des NSDAP-Ortsgruppenleiters ganz allein.

Elvira kaufte einen Liter Milch für fünfundzwanzig Pfennige, zwei Flaschen Bier für je einunddreißig Pfennige, ein Kilo Schweinefleisch für eine Mark und sechzig Pfennige und ein Pfund Kaffee für zwei Mark und achtzig Pfennige. Sie wollte eigentlich am Nachmittag Brot backen, aber da sie bei Grete eingeladen war, kaufte sie noch ein Drei-Pfund-Brot für neunundfünfzig Pfennige. Die Lebensmittelpreise waren in den letzten zwei Jahren gesunken, und viele Dörfler lobten den Führer deswegen.

Wieder zu Hause, schnitt Elvira Richter im Garten ein paar Blumen und stellte einen dicken Strauß aus Löwenmäulchen und Stockmalven zusammen. Dann richtete sie das Mittagessen für ihren Mann Eugen, Sohn Hanno und Tochter Sabine.

Nach dem Abwasch war es schon bald Zeit, zu Grete zu gehen. Elvira zog einen einfachen dunkelblauen Rock an, dazu eine helle Bluse mit Schluppe und ihre schwarzen Pumps. Sie bürstete noch einmal ihr dichtes braunes Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte und sich wunderbar wellte. Dann gab sie ihrem Mann, der am Küchentisch saß und seinen Nachmittagskaffee trank, einen Kuss, nahm den Blumenstrauß und machte sich auf den Weg in den Weinmeisterweg.

Sie sah den flachen Bungalow mit den imposanten, großen Glastüren und dem begehbaren Dach, das von einer hölzernen Reling umgeben war, schon von Weitem. Die Kunsthistorikerin besaß das Haus nun bereits zehn Jahre und hatte mit seinem Bau die Moderne in Sacrow eingeläutet. Mittlerweile gab es viele neue Bauten, ja, der ganze Ort war moderner und belebter geworden – und das dank der Berliner, die sich hier am Sacrower See und an der Havel ihre Sommerhäuser gebaut hatten.

Jenny Jugo saß schon auf dem Sonnendach und begrüßte Elvira herzlich. »Wie schön, Sie zu sehen, Frau Richter. Wie geht es Ihnen?«

Die berühmte Schauspielerin erhob sich und gab Elvira je ein Luftküsschen auf beide Wangen.

»Ich habe in der nächsten Woche einen Drehtermin in Bayern und wollte Sie fragen, ob Sie in der Zeit wieder meine Katze füttern würden?«

»Aber ja, das mache ich doch gern«, antwortete Elvira.

»Und würden Sie sich auch um die Post kümmern?«, fragte Jenny Jugo weiter.

»Das kann ich doch machen!«

Die beiden Frauen hatten nicht bemerkt, dass Margot Blaschke auf dem Sonnendeck des Hauses erschienen war.

»Ihre Post ist doch kein Problem für mich, das mache ich sehr gern. Und ich wohne ja auch viel näher als Elvira.«

Jenny Jugo und Elvira Richter tauschten einen Blick des geheimen Einverständnisses. Nie im Leben würde die Schauspielerin Margot Blaschke ihre Post anvertrauen. Sie wusste zwar nicht sicher, ob diese die Briefe tatsächlich über Wasserdampf öffnen würde, aber zuzutrauen war es ihr allemal.

»Das musst du nicht, Margot. Wenn ich die Katze füttere, kann ich gleich den Briefkasten leeren.«

»So machen wir es, Frau Richter. So, wie wir es schon oft gemacht haben, nicht wahr?«

Elvira nickte, und Margot nahm mit zusammengekniffenen Lippen an der Kaffeetafel Platz. Anschließend drehte sich die Unterhaltung um die aktuelle Mode – also in erster Linie um Margots neues Kostüm und wie und wo sie es gekauft hatte –, um Jennys neuesten Film und um die Geschehnisse im Dorf. Margot Blaschke spreizte den kleinen Finger geziert ab, als sie ihren Kaffee trank, und vermied es, den Potsdamer Dialekt, der dem Berlinerischen sehr ähnelte, zu sprechen. Sie benahm sich überhaupt, als wäre sie in der Oper.

Über Politik sprachen sie nicht, aber Elvira fiel auf, dass Grete Ring nervös wirkte. Erst als Margot Blaschke mit dem Hinweis auf den Umtrunk zu Ehren ihres Mannes die kleine Gesellschaft verließ, entspannte die Kunsthändlerin sich. Kurz darauf ging auch Jenny Jugo, die noch ein Drehbuch auswendig lernen musste.

»Meine Liebe«, sagte Grete, als sie mit Elvira allein war. »Ich werde bald auf Reisen gehen.«

»Soll ich mich auch um deine Post kümmern?«, bot Elvira an.

»Nein, nein, das ist es nicht.« Sie stand auf, schaute vom Hausdach auf die Straße hinunter, die verlassen in der Nachmittagssonne lag. »Ich … Ich werde nicht wiederkommen. Ich habe schon eine Wohnung in Amsterdam gemietet.«

»Ist das dein Ernst, Grete?«, fragte Elvira fassungslos. »Amsterdam soll eine traumhaft schöne Stadt sein, aber …«

»Ich muss es tun, Elvira. Die politische Situation lässt mir keine andere Wahl.«

Traurig blickte Elvira die Freundin an. »Aber du bist die einzige Frau, die in Deutschland als Kunsthändlerin arbeitet. Du hast Ausstellungen in ganz Europa kuratiert. Du hast einen gefälschten van Gogh entdeckt. Du bist nicht zu ersetzen.«

Grete Ring griff nach ihrer Hand. »Ich kann hier nicht mehr frei arbeiten«, erklärte sie. »Du weißt, was in Deutschland mit den Juden passiert.«

Elvira nickte. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie.

»Ja, das kannst du. Ich möchte, dass Hanno meine Kunstbände bekommt. Ich habe sie schon alle in eine Tasche gepackt. Und dein Mann soll mir bitte einen geheimen Schrank in mein Haus einbauen. Ich kann nicht alle meine Zeichnungen mitnehmen. Irgendwann werde ich zurückkommen, und dann hole ich die Kunstwerke wieder aus ihrem Versteck heraus.«

Elvira wusste, dass die Zeichnungen, die Grete Ring über die Jahre hinweg gesammelt hatte, wertvoll waren und dass Grete sie sehr liebte.

»Und bis dahin werde ich an dich denken und dich schrecklich vermissen.«

»Ich dich auch, meine Liebe. Du wirst mir ebenfalls fehlen.«

»Ich werde gleich mit Eugen reden. Er wird es tun, da bin ich sicher. Soll er sich in den nächsten Tagen bei dir melden?«

»Sobald als möglich.«

Elvira nickte. An der Haustür umarmte sie die Freundin, dann nahm sie die große und schwere Tasche mit den Büchern an sich, um sie ihrem Sohn mitzubringen.

»Ich wünsche dir alles Glück und alle Liebe dieser Welt. Ich wünsche dir, dass du in der Fremde heimisch wirst. Und mir wünsche ich, dass wir uns eines Tages wiedersehen.«

Kapitel 2

Ein paar Abende später klopfte Lehrer Knöfel an die Tür. Eugen Richter öffnete selbst. Er trug noch seine Arbeitshose und ein Hemd, das bis zu den Ärmeln aufgekrempelt war, während Lehrer Knöfel in SA-Uniform und mit blank gewichsten Stiefeln vor ihm stand und stramme Haltung zeigte.

»Kann ich mit Ihnen reden, Herr Richter?«, fragte der Lehrer höflich.

Eugen nickte, bat ihn mit einer Kopfbewegung herein. Er führte ihn in die Küche, wo die Familie versammelt war. Elvira stand am Becken und spülte das Geschirr vom Abendbrot, während Sabine, Hannos drei Jahre jüngere Schwester, abtrocknete und Hanno gerade einen Korb voller Holzscheite für den Küchenofen hereinbrachte.

»Guten Abend, Frau Richter. Hanno. Sabine«, sagte Knöfel und sah sich dann so gründlich um, als wollte er die Küche kaufen. Sein Blick glitt über die schlichten Einbauschränke aus Holz, über die Kräuter auf dem Fensterbrett, die Haken mit Topflappen und Geschirrtüchern bis zum hölzernen Esstisch. »Schön, schön«, sagte er. »Handwerk hat goldenen Boden, nicht wahr, Herr Richter?«

Eugen Richter wusste nicht, was er darauf antworten sollte, also nickte er nur und bot Knöfel eine Zigarette an, die der gern annahm.

»Ein Bier, Herr Knöfel, oder ein Glas selbst gemachte Limonade?«, fragte Elvira Richter.

»Danke schön, aber nein.« Er lächelte ihr freundlich zu, sah auch zu Sabine und Hanno, ehe er sich an Eugen wandte: »Ich dachte, ich könnte mit Ihnen unter vier Augen …«

»In unserer Familie darf jeder alles hören.« Der Vater zog den Aschenbecher näher zu sich heran und setzte sich.

Auch Knöfel nahm Platz und räusperte sich.

»Es geht um Hanno.«

Hanno, der so tat, als verlange das Aufschichten des Holzes seine gesamte Aufmerksamkeit, versuchte, kein Wort zu verpassen. Er konnte sich denken, warum sein Lehrer hier war, aber er hatte seit dem Angelausflug nicht mehr mit seinem Vater über die SS-Junkerschule gesprochen.

»Was ist mit ihm?«

»Er ist ein kluger Junge. Höflich, kameradschaftlich. Er hat gute Zensuren, auch wenn in meinem Fach Deutsch noch eine Steigerung möglich wäre, und er ist sehr sportlich.«

Die Mutter trocknete sich die Hände am Geschirrtuch ab und setzte sich nun ebenfalls an den Tisch, während Sabine die Küche verließ und Hanno sich an die Anrichte lehnte. »Das wissen wir, und wir sind sehr stolz auf Hanno«, ließ Elvira Richter verlauten.

»Er hat eine große Zukunft vor sich«, verkündete Knöfel, und seine Augen funkelten hinter den Brillengläsern.

»Das stimmt. Seine Zukunft liegt in meiner Werkstatt«, erwiderte Eugen Richter. »Wir sind seit fast einhundert Jahren, genau seit 1842, Möbeltischler, und Hanno wird die Familientradition und den Betrieb eines Tages fortführen.«

»Ich kenne Ihren Ruf, Herr Richter. Sie werden in die Hauptstadt geholt, haben Grafikschränke für einen Kunstsalon gefertigt und, nicht zu vergessen, die Einrichtungen in den Sommerhäusern der Berliner. Ihre Holzskulpturen stehen im Garten des Hotels Imperial in Berlin. Für andere Hotels haben Sie Intarsien hergestellt. Die Firma Richter ist weit über Sacrows Grenzen hinaus bekannt. Aber ich möchte Hanno trotzdem zu den Aufnahmeprüfungen an der SS-Junkerschule in Potsdam anmelden. Er wird schon bald sechzehn Jahre alt und schließt die Schule ab, aber ich denke, er könnte gehörig davon profitieren.« Knöfel blickte die Mutter Beifall heischend an. »Wenn er danach neben der Arbeit die Reichsführerschule besucht, stünden ihm alle Türen offen: SA, SS, Sicherheitsdienst, alles in gehobener Position, oder auch eine Anstellung in einem Ministerium. Ich brauche dafür nur Ihr Einverständnis.«

Knöfel kramte in einer Ledermappe, zog mehrere Formulare heraus und legte sie auf den Tisch. Eine späte Fliege summte um die Lampe, setzte sich auf den Schirm. Die Abendsonne schien durch das Fenster und gab den Möbeln, die Eugen allesamt selbst geschreinert hatte, einen goldenen Schein.

Die Eltern schwiegen, wechselten einen Blick miteinander, dann sagte Eugen: »Ihr Angebot ehrt uns, aber Hanno wird nicht auf eine SS-Junkerschule gehen.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Die SS-Junkerschulen sind Eliteschulen. Hier werden die Kader von morgen geschmiedet. Ein Platz in einer solchen Einrichtung ist heiß begehrt. Ich sage nicht, dass so mancher dafür töten würde, aber …« Er brach ab und runzelte die Stirn. »Oder wollen Sie nicht, dass Hanno mehr aus sich macht und die wichtigsten deutschen Tugenden hoch schätzt? Ehre, Treue, Vaterlandsliebe. Sind Sie etwa gegen eine Mitgliedschaft in der SS?«

Eugen Richter wechselte erneut einen Blick mit seiner Frau, und es schien, als lächelte er ein ganz klein wenig. »Lieber Herr Knöfel, Hanno kann nicht auf eine solche Schule gehen, denn er hatte als Kind Tuberkulose. Seine Lunge ist nicht die kräftigste. Er wurde deswegen sogar schon einmal in ein Sanatorium an die Ostsee verschickt.«

»Ach so?«

»Ja«, bestätigte die Mutter.

»Aber … Aber seine Leistungen im Sport sind ausgezeichnet.«

»Er hat eine gute Kondition, das stimmt«, bekräftigte der Vater. »Das kommt davon, dass er mir öfter in der Werkstatt hilft. Aber für die SS-Junkerschule wird es nicht reichen.«

Lehrer Knöfel kniff die Augen zusammen. Es war ihm anzusehen, dass er den Richters nicht glaubte.

»Wir könnten ihn trotzdem an der Aufnahmeprüfung teilnehmen lassen. Ich denke, er könnte sie bestehen.«

»Das Risiko wollen wir nicht eingehen. Wenn er es doch nicht schafft, könnte er vor den anderen als Versager dastehen, und dann ist da ja noch immer seine schwache Lunge.«

Knöfels Lippen waren ganz schmal geworden, seine Augen zu Schlitzen verengt. »Wollen Sie Ihrem Sohn wirklich diese große Chance verwehren, dem Vaterland zu dienen?«

»Wie gesagt, die Gesundheit unseres Sohnes … Elvira, hol mal den Befund.«

Elvira Richter erhob sich, verschwand im Wohnzimmer, kramte in einer Schublade und reichte ihrem Mann das Papier mit dem Befund der Charité in Berlin.

»Sehen Sie, Herr Knöfel, sein rechter Lungenflügel arbeitet nur zu dreißig Prozent, und der linke ist auch angegriffen. Jede außergewöhnliche Anstrengung fordert noch heute ihren Tribut. Sie müssten mal sehen, wie er von den Treffen der Hitlerjungen zurückkehrt. Blass, erschöpft und so kurzatmig, dass er sich erst einmal setzen muss. Wenn er sich eine Erkältung einfängt, könnte das sein Tod sein.«

Elvira lehnte neben Hanno am Küchenschrank und strich die hellblaue Schürze über ihrem Kleid glatt.

Der Lehrer fixierte nacheinander beide Eltern, dann erhob er sich. »Nun, dann kann man wohl nichts machen«, sagte er, aber sein Blick sagte: Ich werde euch im Auge behalten.

Eugen Richter brachte den Lehrer nach draußen, dankte für den Besuch, schloss die Tür und eilte in die Küche.

»Gut gemacht«, lobte Eugen seine Frau und setzte sich. »Zu dieser SS-Junkerschule geht Hanno schon einmal nicht.«

»Warum darf ich nicht auf die Schule?«, fragte Hanno nach, der den Besuch Knöfels schweigend beobachtet hatte. »Ich glaube nicht, dass ihr mich wegen der Tuberkulose nicht lasst.«

Elvira und Eugen Richter wechselten einen Blick, dann räusperte sich der Vater. »Ich brauche dich in der Werkstatt, und eines Tages wirst du sie übernehmen. Du brauchst keine Junkerschule.«

Hanno verzog enttäuscht das Gesicht, dann verließ er die Küche.

Elvira kam zu ihrem Mann an den Tisch, goss sich lächelnd ein Glas Bier ein und zündete sich eine Zigarette an.

Der Führer hatte verfügt, dass Frauen nicht rauchen und keinen Alkohol trinken sollten, deshalb rauchte sie nur zu Hause. Ja, es gab sogar Gaststätten, aus denen Elvira Richter verwiesen worden wäre, wenn man sie dort mit einer Zigarette gesehen hätte. Überhaupt lebten sie seit einiger Zeit ein doppeltes Leben. Eines in der Öffentlichkeit und ein privates. Außer Haus sprachen sie anders oder am liebsten gar nicht.

Die Richters waren als wortkarg bekannt. Eugens Großvater war gehörlos gewesen, und der Enkel sprach nur, wenn er etwas gefragt wurde. Auch Elvira sagte nie viel, was dazu führte, dass die anderen Bewohnerinnen des kleinen Dorfes vor den Toren Potsdams ihr alle möglichen Geheimnisse anvertrauten. Elvira wusste, welcher Mann seine Frau schlug, welcher ein Verhältnis hatte, welcher im Ehebett versagte, welcher ein Säufer und welcher ein Spieler war. Sie wusste, welche Frau ihre Nachbarn ausspähte, welche zu viel Geld ausgab und welche eine schlechte Hausfrau war. Und Eugen erfuhr, wie viel das neue Auto der Selings gekostet hatte, wer welchen Rang in welcher Organisation einnahm und wie man politisch dachte. Nie erzählten sie weiter, was sie erfuhren, doch sie waren sicher, dass sie mehr wussten als der Pfarrer oder der Doktor.

»Mir gefällt nicht, was Hanno in letzter Zeit so erzählt. Das hat er von Siegfried, und der klingt, als wäre er der Leitartikler des Schwarzen Korps«, brummte Eugen.

Elvira lachte. »Du kannst doch einen Schuljungen nicht mit der SS-Zeitung vergleichen.«

»Doch. Er spricht wie sein Vater Rudolph.« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich bin mit Rudolph in eine Klasse gegangen. Er war eine üble Petze und hat so manches Mal Dresche bezogen.«

»Vielleicht will er sich jetzt dafür rächen. Petzen waren nie beliebter als im Moment.«

»Wir müssen vorsichtig sein«, fügte Eugen an. »Die neue Elite mag es nicht, wenn sie abgelehnt wird. Knöfel wird bestimmt besonders auf Hanno achten.«

»Denkst du wirklich, dass Hitler auf einen Krieg aus ist, obwohl er stets das Gegenteil beteuert und mit aller Welt Friedensabkommen schließt?«, wollte Elvira von ihrem Mann wissen.

Eugen wiegte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich Deutschland gerade von Grund auf verändert. Etwas liegt in der Luft, und mein Gefühl sagt mir, dass sich die Dinge nicht zum Guten wandeln werden.«

* * *

Am Freitagnachmittag fragte Eugen Richter seinen Sohn, was er vorhabe. »Hilfst du mir dabei, ein Geheimfach im Haus von Frau Doktor Ring einzubauen?«, fragte er. »Du darfst allerdings mit niemandem darüber reden. Ich habe Vertrauen in dich. Enttäusch mich nicht.«

»Ich habe noch nie etwas verraten, was geheim bleiben sollte«, beschwerte sich Hanno leicht gekränkt.

Kurz darauf waren sie im Bungalow der Kunsthändlerin.

Grete Ring bot ihnen selbst gemachte Limonade an, dann führte sie die beiden in ihre kleine Küche.

»Hinter den Küchenschränken, dachte ich. Der Hohlraum muss nicht groß sein, ich möchte darin meine Sammlung von Handzeichnungen in Sicherheit bringen. Die Sammlung bedeutet mir sehr viel, und einige Stücke sind tatsächlich kostbar, zum Beispiel die Zeichnungen von Caspar David Friedrich, Adolph Menzel und meines Onkels Max Liebermann. Die Werke sind in einer Mappe. Ich habe sie wasserdicht verpackt, damit ihnen nichts geschieht.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Eugen und Hanno die Küchenschränke abgehängt, einen flachen Holzkasten gebaut und die Hinterwände vorgerückt hatten, sodass die Sammlung direkt hinter die Schränke passte und von außen nicht zu sehen war. Hanno kehrte die Holzspäne auf, glitt noch einmal mit dem Schleifpapier über das Geheimversteck und brachte gemeinsam mit seinem Vater die Schränke wieder so an, dass das Mobiliar aussah wie zuvor.

»Was soll mit den Gemälden geschehen?«, fragte Eugen Richter die Kunsthändlerin.

Grete Ring zuckte mit den Achseln. »Ich kann sie nicht mitnehmen. Und wenn ich sie jetzt verschenke, fällt das auf, und ich befürchte, dass es Nachfragen geben wird. Aber es tut mir schon leid um die beiden Liebermann-Gemälde und den Wandteppich von Gunta Stölzl. Diese Kunstwerke zurückzulassen fällt mir besonders schwer. An den anderen hängt ebenfalls mein Herz, denn jedes hat seine eigene Geschichte, aber ich kann nun mal nicht alle retten.«

Hanno machte große Augen. Jetzt erst verstand er, dass Grete Ring Sacrow nicht nur für eine kurze Reise verlassen würde. »Sie gehen ganz weg?«, fragte er mit belegter Stimme. »Haben Sie mir deshalb Ihre Kunstbände geschenkt?«

Die Kunsthändlerin wandte sich an Hanno.

»Ja, Hanno, ich gehe fort und weiß nicht, wann ich zurückkomme. Ich habe die Gunta kennengelernt, damals, als das Bauhaus noch in Weimar residierte. Und ich war von Anfang an von ihren Werken begeistert. Ich weiß, dass dir der Wandbehang gefällt, und ich würde ihn dir liebend gern überlassen. Doch zu viele Menschen wissen davon, auch der NSDAP-Ortsgruppenführer und Bürgermeister Blaschke hat ihn schon gesehen. Deshalb muss er hierbleiben.« Sie legte Hanno eine Hand auf die Schulter und sah ihm direkt ins Gesicht. »Halt die Augen offen, Hanno. Und hinterfrage alles. Jeden Zeitungsartikel, jede neue Regelung. Du bist ein kluger Junge. Lass dich nicht einwickeln. Deutschland wird immer mein Vaterland sein, auch wenn ich hier nicht mehr leben kann.«

Sie blätterte in einer Grafikmappe aus festem Rindsleder, suchte ein Blatt heraus und überreichte es Hanno. »Dies ist ein Kupferstich von Daniel Chodowiecki. Er ist der berühmteste Kupferstecher der Kunstgeschichte. Du würdest mir eine große Freude machen, wenn ich es dir schenken dürfte. Als Erinnerung an mich. Als Erinnerung an all die Künstler, die es jetzt mit ihren Werken so schwer haben.«

Kapitel 3

Etwas war anders. Hanno dachte an Stefanie. Gestern hatte er sie vor der Gärtnerei Schulze gesehen, als sie mit ihrer Mutter Blumensträuße und Pflanzen ausgesucht hatte. Sie hatte eigentlich wie immer ausgesehen. Groß, aber nicht größer als er. Schlank, aber nicht dürr. Dunkelhaarig und helläugig. Er hatte sie schon tausendmal gesehen, aber gestern war es anders gewesen. Als wäre ein Glanz auf sie gefallen. Ein Sonnenstrahl hatte sich auf ihr Haar gelegt, sodass es wie dunkles Gold schimmerte. Sie hatte ihn angelächelt und sich dann eine Haarsträhne aus dem Gesicht gepustet.

»Hanno, würdest du bitte das Gedicht ›Osterspaziergang‹ aufsagen? Ich habe nämlich den Eindruck, dass deine Gedanken herumspazieren.«

Lehrer Knöfel stand vorn am Pult, hielt den Schlüsselbund in der Hand, mit dem er gern schmiss, wenn es jemand wagte, im Unterricht mit seinem Banknachbarn zu schwatzen.

»›Der Osterspaziergang‹. Von Johann Wolfgang Goethe.«

Hanno hatte sich erhoben, räusperte sich und kniff die Augen ein wenig zusammen, als wollte er sich das Gedicht herbeiholen.

»Vom Eise befreit sind Strom und Fläche …«

»Bäche.«

»Wie bitte?«

»Herrgott, Strom und Bäche sind vom Eise befreit.«

Der Schlüsselbund klapperte bedrohlich in Knöfels Hand.

»Durch des Frühlings Blick …«

»Durch des Frühlings holden, belebenden Blick!«

»Im Tale wächst ein Blumenstück …«

»Stopp, aufhören. Sofort! Es ist ja nicht auszuhalten, wie du den alten Goethe verstümmelst. Bis morgen zehn Mal abschreiben.«

»Das ganze Gedicht?«, fragte Hanno fassungslos.

»Das ganze Gedicht.«

Hanno seufzte und setzte sich wieder hin. Er hatte keinen Kopf für Gedichte. Sein Kopf war mit Wissen über Werkzeuge und Holzarten gefüllt, und im Übrigen wollte er niemals Lehrer werden oder Dichter, sondern Möbeltischler. Wie sein Vater. Und sein Großvater und der Urgroßvater und der davor. Gott sei Dank schellte jetzt die Glocke, und der Unterricht war zu Ende.

»Kommst du nachher mit baden?«, wollte Siegfried, sein Freund und Banknachbar, wissen.

»Geht nicht. Ich muss ja den ›Osterspaziergang‹ abschreiben.«

»Dann komm doch nach. Wir sind den halben Nachmittag dort.«

Wo auch sonst bei dem Wetter, dachte Hanno. Die Sonne knallte vom Himmel, das Wasser war kühl, und zum Arbeiten war es sowieso zu heiß. Selbst sein Vater hatte gestern Nachmittag nicht in der Werkstatt gestanden, sondern war im Wald gewesen, um sich ein paar Buchen auszusuchen, die demnächst gefällt werden sollten.

Hanno lief die baumbestandene Straße entlang, vorbei an den neu gebauten Villen, für die die Werkstatt Richter die Einbauschränke, Tische und Treppen geliefert hatte. Immer mehr Häuser waren in den letzten Jahren in Sacrow entstanden. Einige davon waren im Bauhausstil errichtet worden. Das Bauhaus selbst gab es nicht mehr, aber der Stil war geblieben, und darüber wusste Hanno alles, danach hätte der Knöpfel ihn mal fragen sollen. Aber nein, es musste der »Osterspaziergang« sein. Hanno seufzte.

Er ging durch den Weinmeisterweg und sah schon sein Zuhause am Ende des Ortes an der Straße, die nach Groß Glienicke führte.

Als er an der Villa der Redelsheimers vorbeikam, grüßte er freundlich. »Guten Tag, Frau Redelsheimer. Soll ich Ihnen die Kiste abnehmen?«

»Danke, Hanno, aber das schaffe ich schon.« Sie lächelte ihm zu und stellte die Kiste auf den Rücksitz ihres Wagens, auf dem schon andere standen. Die Redelsheimers gehörten zu den Neu-Sacrowern. Und Hanno mochte sie.

So nett wie die Redelsheimers waren nicht alle Berliner, die die Grundstücke am See gekauft hatten. Die meisten waren in Ordnung und ohnehin nur in den Sommermonaten hier. Dann richteten sie oft Feste aus, zu denen auch die Dorfbewohner eingeladen wurden. Einmal hatte es ein Kostümfest gegeben, und Hanno hatte sich als Goldgräber verkleidet, mit einem alten Flanellhemd und einer speckigen Lederhose, dazu ein Tuch um den Hals und einen Hut auf dem Kopf. Das war ein Spaß gewesen! Und als Frau Dr. Ring ein Grammophon herbeigeschleppt und Platten aufgelegt hatte, war es richtig losgegangen! Die Berliner hatten getanzt wie die Wilden und dabei Arme und Beine umhergeschlenkert, als hätten sie davon jeweils vier. Hanno hatte zugesehen, dass er davonkam. Tanzen! Das fehlte noch. Am Ende hätte ihn noch irgendein Mädchen aus seiner Schule aufgefordert. Und am Montag hätten ihn dann alle Klassenkameraden gehänselt.

Endlich war Hanno zu Hause angelangt. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Aus der Werkstatt hörte er eine Feile schrubben. Seine Mutter war in der Küche.

»Tach«, sagte er, und die Mutter nickte ihm zu.

Von der Heilandskirche am Havelufer erklang das Mittagsläuten. Die Mutter stellte die Teller auf den Tisch. Es gab Kohlrouladen, und Hanno freute sich darauf.

Als sie alle am Tisch saßen, sah der Vater ihn an.

»War heute was?«

Hanno schüttelte den Kopf.

»Bei dir?«

Der Vater wandte sich an Hannos jüngere Schwester Sabine. Auch sie schüttelte den Kopf, dass die blonden Locken flogen. Sie war ein hübsches Mädchen mit ihrem langen Haar und den graublauen Augen. So mancher im Dorf hatte schon darüber spekuliert, mit wem Sabine später einmal ausgehen würde.

»Gab es Post?«, fragte der Vater, jetzt an die Mutter gerichtet.

Sie griff in die Tasche ihrer Kittelschürze und legte drei Briefe neben den Teller des Vaters.

Das restliche Essen verlief schweigend. Als alle fertig waren, erhob sich der Vater. »Danke fürs Kochen. Es hat geschmeckt. Wie immer.« Er lächelte der Mutter zu, und Hanno dachte bei sich, dass die beiden mehr waren als Frau und Mann. Er dachte, dass sie obendrein Freunde waren. Allerbeste Freunde. Und er dachte auch, dass sie sich ohne Worte verstanden. Vielleicht waren sie deshalb Freunde. Weil es nur weniger Worte zwischen ihnen bedurfte. Worte konnten alles schlimm machen. Das wusste Hanno.

 

Er nahm seine Tasche, stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock und begab sich in sein Zimmer. Das Bett, den Schrank und den Schreibtisch hatte der Vater selbst gebaut. Schlicht, aber aus gutem Kirschholz, das warm und behaglich aussah. Hanno liebte es, mit der flachen Hand über die glatte Oberfläche zu streichen. Den grünen Sessel hatte er bekommen, als die Großmutter gestorben war. Sabine hatte den gelben erhalten.

Er setzte sich an den Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Von hier aus konnte er beinahe die ganze Havelbucht überblicken, an die das Dorf grenzte. Und gegenüber lag die Pfaueninsel, aber die gehörte schon zu Berlin, während Sacrow, umgeben von Wasser und eingebettet in Kiefern- und Buchenwälder, zu Potsdam gehörte.

Sacrow, das Paradies. So nannten die neuen Bewohner das Dorf. Ja, er hatte sogar gehört, dass Frau Dr. Ring Sacrow mit den amerikanischen Hamptons verglichen hatte. Die Hamptons, hatte die Kunsthändlerin ihm erzählt, lagen rund hundertfünfzig Kilometer von New York entfernt. Die Reichen und Schönen hatten dort ihre Villen. Hanno konnte sich die Hamptons nicht vorstellen und auch nicht New York. Diese Orte lagen am anderen Ende der Welt. Er konnte kaum glauben, dass Frau Dr. Ring jemals dort gewesen war, aber so war es. Und es schmeichelte ihm sehr, dass sie sein Dorf mit den Hamptons verglich.

Er selbst hatte Sacrow nie als vornehm erlebt, sondern eher als fröhlich und unbeschwert mit all den Festen und der Weihnachtsaufführung, die es seit ein paar Jahren im Gasthaus Dr. Faust gab und an der sich alle beteiligten. Da wurde gesungen, und es traten ein Komiker, ein Bauchredner und ein Artist auf, der mit Apfelsinen jonglierte. Eine Schauspielerin, die Hanno schön wie die Morgensonne über der Havel erschien, rezitierte lustige Gedichte, und ein paar andere Berliner führten Sketche auf. Es gab Barsche aus der Havel und den berühmten Havelaal, außerdem Spanferkel und Kartoffelsalat und Spreewälder Gurken. Und an Silvester zogen die Berliner mit Champagnerflaschen von einem Haus zum anderen und wünschten viel Glück im neuen Jahr, und um Mitternacht zündeten sie ein Feuerwerk, wie es Hanno noch nie gesehen hatte.

Hanno hing seinen Gedanken nach. Die Hitze machte ihm zu schaffen, und er konnte den Lärm von der Badestelle bis in sein Zimmer hören. Was täte er jetzt für ein kühles Bad! Er blickte wieder aus dem Fenster. Ein paar Segelboote kreuzten in der Bucht, jemand angelte aus einem Kahn heraus.

So schnell er konnte, schrieb er das Gedicht ab. Fünf lange Strophen. Nach dem fünften Durchgang tat ihm die Hand weh, und er musste sein Handgelenk ausschütteln. Dann aber beschloss er, jetzt gleich zu den anderen an den Badestrand zu gehen und die restlichen Strophen heute Abend zu schreiben. Das war sicher auch für sein Handgelenk das Beste.

Er zog seine Badehose an, darüber die kurze Hose und griff sich ein Handtuch. Die Mutter nickte ihm zu und drückte ihm lächelnd einen Groschen für eine Limonade im Café Inselblick in die Hand. Dann ging Hanno in die Werkstatt. Sein Vater leimte gerade einen Stuhl. Neben ihm stand ein fertiger Sarg. Ja, sie waren auch die Sargtischler hier im Ort. Es war keine schwierige Sache, einen Sarg zu bauen, doch der Vater tat dies mit äußerster Sorgfalt. »Es ist eine Frage der Würde«, hatte er Hanno erklärt, als er einmal nachgefragt hatte. »Das letzte Möbel für einen Menschen sollte perfekt sein.«

»Brauchst du mich?«, fragte er den Vater. Der schüttelte den Kopf.

»Wer ist gestorben?«, wollte Hanno wissen. Er hatte die Totenglocke von der Heilandskirche gar nicht läuten hören.

»Schmittke, Groß Glienicke.«

Hanno nickte. Groß Glienicke war der Nachbarort. Er kannte den Schmittke vom Sehen, aber er hatte nie mit ihm gesprochen. Er sprach überhaupt selten mit alten Menschen. Die wussten immer alles besser und hörten der Jugend nicht zu. Außerdem wusste er nicht, worüber er mit denen reden sollte.

Er hob die Hand zum Gruß und machte sich davon. Es war über Mittag noch heißer geworden. Der Sandboden staubte bei jedem Schritt, und der Geruch des Kiefernwaldes kitzelte in Hannos Nase. Als er den Badestrand vor sich sah, hielt er inne. All seine Freunde waren dort versammelt, auch seine Schwester und andere jüngere Kinder. Aber ihm fiel nur eine ins Auge. Stefanie Blau. Für Juden war das Baden an diesem Uferstück verboten. Es gab sogar ein Verbotsschild, aber niemand in Sacrow kümmerte sich darum. Das lag womöglich an der Nähe zu Berlin, wo es diese Schilder noch nicht so häufig gab. Hannos Vater hatte erzählt, dass man in Berlin sehr darauf achtete, den Ausländern zu gefallen.

Er betrachtete Stefanies schlanke Arme und die leuchtenden Schultern. Das nasse dunkle Haar fiel ihr bis auf die Hüften. Hanno hatte sie bisher immer nur mit einem geflochtenen Zopf gesehen. Jetzt fasste sie ihr Haar zusammen und drehte es zu einem Knoten. Er entdeckte ihren zarten Nacken und die einzelnen Wirbel ihres Rückens.