Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Im "Hier und Jetzt" zu leben - diesen Ratschlag kennt jeder. Gar nicht so einfach, wenn man sich unversehens in den Achtzigern wiederfindet. Freiwillig? Nicht direkt. Doch Sadie ist eine Zeitspringerin, und als ihr jemand das Angebot macht, gegen Bezahlung in der schmutzigen Geschichte einer stinkreichen Familie herumzuschnüffeln, lässt sich die von Geldnöten geplagte junge Frau nicht lange bitten. Klingt machbar? Vielleicht, wenn man sich an gewisse Regeln hält. Sich in der Vergangenheit zu verlieben gehört ganz sicher nicht dazu. Sadie ahnt nicht, dass sie damit Lawinen ins Rollen bringt ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 334
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Narcia Kensing
Sadie
Ein Hauch von Ewigkeit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Impressum neobooks
Hätte mich meine gute Erziehung nicht daran gehindert, wäre ich nur in Unterwäsche bekleidet in die Stadt gefahren. Nicht, dass es mich reizen würde, immer und überall Aufsehen zu erregen (obwohl ich es dennoch meistens tue), aber die Temperaturen sind derart unerträglich, dass ich mein Shirt als schiere Folter empfinde. Es klebt an Bauch und Rücken, meine Jeans fühlt sich drei Kleidergrößen zu eng an. Schweiß rinnt meine Schläfe hinab und meine Nikes quietschen bei jedem Tritt in die Pedale. Man sollte meinen, dass ich mich innerhalb meines achtzehnjährigen Lebens an die mörderischen Sommer im Landesinneren von Mississippi hätte gewöhnen müssen, aber ich habe es bis heute nicht geschafft, mit dem subtropischen Klima Frieden zu schließen. In der High School haben sie mich deshalb oft ausgelacht. Als Dunkelhäutige - und ich zitiere hier absichtlich nicht das Wort, das sie für mich verwendeten - sollte ich mit heißen Temperaturen doch umgehen können. Ich frage mich bis heute, was die Hautfarbe mit der Affinität zu mörderischer Hitze zu tun haben soll.
Die Wärme ist jedoch nicht das Schlimmste. Als wesentlich unangenehmer empfinde ich die Luftfeuchtigkeit. Ich hatte gehofft, dass sich das Wetter nach dem Sturm beruhigen würde, aber da habe ich mich anscheinend getäuscht. Es ist immer noch drückend heiß und ebenso unerträglich wie vor zwei Tagen.
Nur noch ein paar hundert Yards, dann habe ich den Heimweg endlich hinter mich gebracht. Meine Einkäufe klappern im Fahrradkorb: Batterien, Kerzen und eine nagelneue LED-Taschenlampe aus dem örtlichen Minimarkt. Meine Großmutter hat darauf bestanden, dass ich die Sachen noch heute Vormittag besorge, dabei ist der Strom seit gestern Abend schon wieder da. Aber wie könnte ich meiner Grandma einen Wunsch abschlagen! Sie ist noch sehr rüstig und hinter ihren dunklen Augen blitzt ein gescheiter Verstand, aber manchmal legt sie ein wenig schrullige Eigenschaften an den Tag.
»Vorsichtshalber«, hat sie gesagt. »Man kann doch nie wissen, wann der Strom das nächste Mal ausfällt.«
Anscheinend haben das noch eine ganze Menge anderer Leute so gesehen, denn der Minimarkt war wie leer gefegt. Ich kann von Glück reden, noch zwei Kerzen ergattert zu haben. Es ist ja nun nicht so, dass in den Spätsommermonaten nicht des Öfteren Stürme über diesen Staat hinwegfegen würden! Das erinnert mich an Weihnachten, das für einige Leute jedes Jahr ziemlich überraschend hereinbricht, sodass sie einen Tag vorher einkaufen, als würden die Geschäfte fortan nie wieder öffnen. Natürlich haben meine Grandma und ich vorgesorgt, in unserem Keller stapeln sich Kerzen und Batterien bis unter die Decke, aber mit einer alten sturen Dame zu diskutieren hat ebenso wenig Sinn wie einem Zweijährigen die Relativitätstheorie nahebringen zu wollen.
Ich fahre weiter die Hauptstraße hinab, die zum Fluss hin stetig abfällt. Jetzt muss ich zumindest nicht mehr in die Pedale treten und der Fahrtwind kühlt meine klitschnass geschwitzten Klamotten ein wenig. Unser kleines Städtchen liegt auf einer Anhöhe direkt am Ufer des Mississippi, meine Grandma und ich wohnen am Stadtrand, nicht weit von den Schiffsanlegern entfernt, von wo aus jedes Jahr Touristen in Scharen mit Schaufelraddampfern in das ultimative Südstaatenabenteuer aufbrechen.
Ich biege in die Bowman Street ein, von wo aus der schmale Weg hinauf zu unserem Haus abzweigt. Es ist nicht die teuerste Gegend der Stadt, aber bei weitem auch nicht die schlimmste. Hier leben überwiegend Afroamerikaner in bescheidenen kleinen Reihenhäusern, die meisten davon in Eigenregie selbst errichtet. Einige unserer Nachbarn haben sich im Laufe der Jahre wirklich schöne Domizile geschaffen, schnuckelige Häuschen mit Holzveranda und sorgsam gepflegten Vorgärten, Südstaatenflair pur. Leider sind viele dieser Häuser keine statischen Meisterwerke, was deren Bewohner jeden Spätsommer, wenn die Stürme mal mehr, mal weniger heftig wüten, zittern lässt. Der Sturm vor zwei Tagen zählte noch längst nicht zu einem der stärksten, dennoch liegen überall auf der Straße abgefallene Äste, Bretter und jede Menge anderer Plunder, der durch die Gegend gewirbelt wurde. In einigen Gärten stehen ganze Heerscharen von Menschen (die Leute in diesem Viertel pflegen in großen Familien zu leben), die Hände vor die Gesichter geschlagen und die Köpfe fassungslos schüttelnd. Manche Häuser hat es arg mitgenommen, einige verzeichnen lediglich Schäden an den Schuppen und Vorbauten.
Schon von weitem sehe ich ein junges Paar auf der Veranda eines noch recht neu aussehenden Hauses stehen. Sie diskutieren wild gestikulierend. Im oberen Stockwerk haben sich die Fensterläden gelöst, vielleicht ist dies das Streitthema. Nur wenige Yards entfernt dreht ein kleiner Junge von vielleicht drei Jahren seine Runden mit dem Dreirad um einen der Bäume, um die der Gehsteig drum herum gepflastert wurde. Seine Eltern schenken ihm keine Aufmerksamkeit. Der Kleine macht einen glückseligen und unbeschwerten Eindruck. Er scheint völlig darin aufzugehen, mit seinen dürren kurzen Beinchen in die Pedale zu treten.
Als ich mich mit dem Fahrrad nähere, hebt er den Kopf, hält inne und grinst mich an. Seine kleinen weißen Zähne blitzen hell in seinem dunklen Gesicht hervor.
Genau das ist der Augenblick, als es wieder einmal passiert.
Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, quietschend zu bremsen und vom Rad zu springen. Meine Gedanken ziehen sich zusammen, als hätte man mir einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf gegossen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen armdicken Ast, der sich aus der Krone der Eiche löst und gen Boden rast. Er erwischt den kleinen Jungen genau am Kopf und reißt ihn von seinem Dreirad. Das Kind schlägt hart auf den Pflastersteinen auf und bleibt reglos liegen. Mir bleibt die Luft weg und ich muss mich zusammenreißen, um die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich schüttele mich wie ein nasser Hund, ehe es mir endlich gelingt, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.
Neben mir auf dem Gehsteig liegt mein Fahrrad, der kleine Junge grinst mich immer noch an, es ist kaum eine Sekunde vergangen. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe in die Baumkrone hinauf. Keine drei Atemzüge lang habe ich jetzt noch Zeit, das weiß ich aus Erfahrung. Schon höre ich es verdächtig über mir krachen. Ich mache einen Satz nach vorne und schiebe den Jungen samt Dreirad einen Yard an die Seite, sodass der Ast auf den Boden schlägt, ohne jemanden zu verletzen. Gerade noch geschafft! Nie war ich so froh über mein seltsames Talent, das sich nur in unzuverlässigen Intervallen meldet. Ich werfe einen Blick zu dem Pärchen auf der Veranda, doch die beiden haben das Drama überhaupt nicht bemerkt, das sich hinter ihrem Rücken abgespielt hat. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb man sein Kind nicht im Auge behält. Ich streiche dem Kleinen noch einmal über den Kopf, nehme mein Fahrrad vom Boden auf, sammle die aus dem Korb gefallenen Kerzen auf und schwinge mich wieder auf den Sattel.
Keine zwei Minuten später erreiche ich die Auffahrt zu unserem Haus. Der Weg weist tiefe Schlaglöcher auf, sodass ich absteigen und schieben muss. Wir hätten ihn längst reparieren lassen müssen, aber dazu fehlte immer das Geld. Es gibt Wichtigeres als eine schöne Auffahrt.
Ich lehne das Fahrrad an das hölzerne Geländer unserer Veranda und steige die drei Treppenstufen hinauf, die zu unserer Tür führen. Auch unser Haus wurde vor einigen Jahrzehnten selbst gezimmert, vom Vater meiner Großmutter. Es war stets der ganze Stolz der Familie gewesen und alles, was es zu vererben gab. Meine Ahnen blicken natürlich nicht auf eine ruhmreiche Geschichte zurück, seit gerade einmal einhundertfünfzig Jahren sind wir ja überhaupt erst freie Menschen. Es gab nie die Gelegenheit, Reichtümer anzuhäufen. Wenn man bedenkt, dass unser Staat die höchste Arbeitslosenquote der USA aufweist, können meine Großmutter und ich sogar noch froh sein, ein Dach über dem Kopf unser Eigen zu nennen. Manchmal frage ich mich, weshalb das Schicksal ausgerechnet mich dazu auserkoren hat, im erzkonservativen Mississippi aufzuwachsen, wo man als dunkelhäutiger Mensch ohnehin einen schweren Stand hat. Aber meine Großmutter liebt die Gegend, sie wäre niemals woanders hingegangen. Sie liebt den Geruch des Flusses, das warme Klima und den Blues, der abends in jeder Kneipe gespielt wird. Schön ist es hier in jedem Fall, aber eine Zukunft kann man sich kaum aufbauen. Ich wäre gerne an eines der großen Colleges des Landes gegangen, aber das bleibt ein Wunschtraum. Nach den Sommerferien werde ich das kleine College dieser Stadt besuchen, und das auch nur, weil der Staat mir wegen hervorragender sportlicher Leistungen während meiner Zeit auf der High School finanziell unter die Arme greift. Ich möchte mich nicht beklagen, immerhin ist das schon mehr, als die meisten anderen Jugendlichen der Nachbarschaft vorweisen können.
Ich stoße die Tür auf und schalte das Licht ein, weil die Fensterläden geschlossen sind und es dunkel in der Stube ist. Mein Blick fällt auf meine Grandma, die am Esstisch sitzt und auf eine brennende Kerze starrt, die munter vor sich hin flackert.
»Weshalb sitzt du denn hier im Dunkeln?«, frage ich. »Der Strom ist doch längst wieder da.«
Grandma zuckt die Achseln und schiebt die Unterlippe hervor. »Ach, ich dachte nur, dass ich den anderen Leuten in der Straße den Strom nicht stehlen will. Manche hat es schlimmer erwischt als uns.«
Ein amüsiertes Glucksen entweicht meiner Kehle, ich muss ein Lachen unterdrücken. »Du stiehlst doch niemandem den Strom, Granny! Das ist gar nicht möglich.«
»Hast du denn die Kerzen und die Batterien besorgt?«
»Ja, habe ich. Sind draußen im Fahrradkorb. War aber völlig unnötig, welche zu kaufen. Die Stadt hat es gar nicht so schlimm erwischt. Und Strom hat auch wieder jeder!«
»Man kann aber nie genug Kerzen im Haus haben.« Grandma schiebt den Stuhl zurück und kommt auf mich zu. Sie umarmt mich so herzlich, dass mir die Luft wegbleibt. Manchmal verhält sie sich seltsam, aber liebenswürdig. Sie ist körperlich noch sehr fit, wenn auch etwas beleibt, aber ihre Eigenarten geben mir bisweilen zu denken. Andererseits kann ich mich nicht daran erinnern, sie schon einmal anders erlebt zu haben. Vielleicht liegt es nicht am Alter, dass sie sich skurril verhält.
Ich lebe seit mehr als zehn Jahren bei meiner Großmutter. Meine Mutter hatte mich die ersten sieben Jahre meines Lebens allein großgezogen, doch dann ist sie an einem Schlaganfall gestorben, und das gerade mit Mitte dreißig. Seitdem lebe ich mit Granny allein in diesem Haus. Das meiste Geld habe ich mit Gelegenheitsjobs neben der Schule verdient, aber auch meine Großmutter hat jede Arbeit angenommen, die sie kriegen konnte, bis heute. Geld war seit jeher knapp im Hause Middlesworth.
»Sadie, du bist ja klitschnass«, sagt Granny und löst sich von mir. »Nicht, dass du dich erkältest.«
»Es sind über dreißig Grad draußen, ich werde mich ganz sicher nicht erkälten. Dennoch werde ich jetzt erst einmal duschen gehen.«
»Spielen wir heute Abend Karten?« Grandma sieht mich fragend mit großen brauen Augen an - dieser typische Blick, der es mir immer so schwer macht, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Aber diesmal geht es leider nicht anders.
»Heute nicht, Granny. Ich habe dir doch erzählt, dass ich mich mit Sean und Christie im Blue Moon verabredet habe.«
»Trotz des Sturms? Kind, das sehe ich aber nicht so gerne.« Sie reckt mahnend den Zeigefinger in die Luft, ich lächle nur mild und lege eine Hand auf ihre Schulter.
»Der Sturm ist doch vorbei, die Aufräumarbeiten sind so gut wie abgeschlossen.« Weil mich ein schlechtes Gewissen plagt, füge ich dennoch hinzu: »Ich werde nicht lange wegbleiben. Gegen elf bin ich wieder da. Versprochen.«
Grandma hebt die Augenbrauen und nickt dann resigniert. »Du wirst aber deine Kontaktlinse tragen, oder?«
Ich seufze. Ich verstehe nicht, weshalb sie mich ständig dazu nötigt. »Ja, das werde ich.« Ich sage es, meine es aber nicht so. Ich werde lediglich so tun, als würde ich ihrer Bitte nachkommen. Den Sinn hinter diesem Versteckspiel verstehe ich jedoch nicht. Natürlich werde ich dauernd angestarrt, wenn ich ohne Linse auf die Straße gehe. Mein silberfarbenes rechtes Auge sticht zwischen meiner dunklen Haut extrem hervor, aber ich habe mich daran gewöhnt, anders auszusehen als andere. Im konservativen Süden wird man nur allzu schnell als Hexe abgestempelt (hier glaubt man noch an Voodoo und diesen ganzen Mist), aber ich werde doch ohnehin dauernd diskriminiert. Es stört mich inzwischen nicht mehr.
Ich gehe die Treppe hinauf ins obere Stockwerk, wo sich die beiden Schlafzimmer und das Bad befinden. Ich lege mir frische Kleidung zurecht, eine enge blaue Jeans und ein gelbes ärmelloses Top, ehe ich mich unter die Dusche stelle und mir kühles Wasser über den verschwitzten Körper laufen lasse.
***
Das Blue Moon ist werktags weniger gut besucht als an den Wochenenden, weshalb wir uns zwei Mal pro Monat an einem Donnerstag hier verabreden. Gelegentlich bin ich auch samstags hierher gekommen, dann jedoch meist allein, um mir die Auftritte der Jazz- und Bluesbands der Region anzusehen, die regelmäßig in den Bars um Jackson herum auftreten. Das Blue Moon liegt etwas außerhalb unserer Hauptstadt, an der Interstate 20, sodass ich mit dem Bus knapp eine Stunde fahren muss. Meine Grandma versteht nicht, weshalb ich mein Geld dafür ausgebe, aber sie hat das Blue Moon auch noch nie von innen gesehen. Sie liebt Jazz ebenso wie ich, und würde sie einmal die köstlichen Baconburger probieren, würde sie verstehen, weshalb mir die Fahrt sechs Dollar wert ist. Natürlich gibt es auch in meiner Heimatstadt Vicksburg solche Bars, aber viele davon sind von Touristen überrannt und an deren Vorstellungen angepasst: kitschiges Interieur, das an die Zeit des Sezessionskriegs erinnert und hoffnungslos klischeebehaftete Dekorationsgegenstände wie alte Musikinstrumente und vergilbte Fotos von Baumwollplantagen an den Wänden. Im Blue Moon geht es weitaus gediegener zu, und die Livebands spiegeln das moderne Südstaatengefühl wesentlich besser wider als die »Klassiker«, wie man sie nennt, nur weil sie jedermann kennt und ein Saxophon die Hookline spielt.
Heute ist das Blue Moon mäßig gut besucht, die Musik kommt vom Band und die meisten Besucher verbringen die Abende nach einem harten Arbeitstag lieber zuhause als auswärts. Zudem ist die Bar vom Stadtzentrum aus recht schlecht zu erreichen. Das Lokal lebt einzig von den Wochenenden. Sean, Christie und ich schätzen es jedoch, wenn wir uns in ruhiger Atmosphäre unterhalten können. Werktags muss man zumindest nicht darum bangen, überhaupt noch einen Sitzplatz zu ergattern. Wenn ich herkomme, um mir die Bands anzusehen, interessiert es mich hingegen nicht, ob ich sitze oder stehe. Dann zählt einzig die Musik.
Als ich den Gastraum betrete, schlägt mir warme feuchte Luft entgegen, obwohl die Fenster geöffnet sind. Jeden Sommer wünsche ich, das Blue Moon würde sich eine Klimaanlage leisten, aber vermutlich gehört es einfach zum Flair der Südstaaten dazu, dass man schwitzt. Jedenfalls klebt mir mein frisches gelbes Top schon wieder am Rücken.
Die Bar ist einfach eingerichtet, aber gemütlich. Dunkle ungepolsterte Holzstühle und verkratzte einfache Tische, dazu schwere rote Vorhänge an den Fenstern, Deckenventilatoren und ein Spielautomat in der Ecke. Der Tresen ist ebenfalls dunkel und verkratzt, aber der »used Look« ist modern und trendy, wobei ich glaube, dass die Einrichtungsgegenstände deshalb so aussehen, weil sie tatsächlich lange in Gebrauch waren und keinem Modetrend nacheifern. Gerade das macht das Blue Moon so authentisch. Das einzige, das eine Verbindung zum Namen des Lokals schafft, ist ein riesiges Gemälde hinter der kleinen Bühne am Ende des langgezogenen Gastraumes. Es zeigt eine Jazzband, die vor einem riesigen grinsenden Mond spielt. Kein Meisterwerk, aber das solide Ölgemälde eines mittelmäßigen Künstlers.
Sean und Christie sitzen bereits an unserem Stammplatz, ein Tisch unter dem Fenster. Als sie mich sehen, winken sie mich heran.
»Hi Sadie, ich dachte schon, du hättest uns vergessen«, sagt Sean und streckt mir seine Handfläche entgegen, damit ich abklatschen kann. Er steht dabei nicht auf. Keine Umarmungen, keine Küsschen. Christie grinst bloß und offenbart dabei ihre Zahnspange. Die beiden sind Außenseiter wie ich. Ich würde nicht einmal behaupten, dass wir sehr gut befreundet wären. Abseits unserer abendlichen Verabredungen alle zwei Wochen in dieser Bar treffen wir uns nie, auch telefonieren wir nicht. Ab und an schreiben wir uns eine Sms, aber das war's dann auch schon. Weshalb wir uns diese Begegnungen überhaupt antun? Manchmal frage ich mich das auch. Ich sehe es inzwischen als eine Art »Außenseiterversammlung«, wir haben sonst kaum Freunde und fühlen uns wohl im Kreis von Menschen, die uns nicht wie Freaks behandeln. Wir haben alle drei ein irgendwie geartetes Handicap, was vermutlich auch der Grund ist, weshalb wir keine wirklich engen Freunde werden. Wir haben es im Laufe unseres Lebens gelernt, andere auf Abstand zu halten, um nicht verletzt zu werden.
Sean ist homosexuell, zwanzig Jahre alt und ein Durchschnittstyp, der gern mit dem Hintergrund verschmilzt, um bloß nicht aufzufallen. Es fällt ihm schwer, einen Partner zu finden, denn in dieser Gegend sind die Leute konservativ und steif. Seine eigene Mutter hat ihn nach seinem Outing vor zwei Jahren vor die Tür gesetzt. Unnötig zu erwähnen, dass ihn das nicht unbedingt darin bestärkt hat, der Welt offen entgegen zu treten. Sean träumt davon, eines Tages nach New York City umzuziehen, ein Schmelztiegel für Freaks aller Rassen und Klassen, doch sein schmales Gehalt als Tankwart lässt ihm kaum Spielraum zum Sparen.
Christie ist... nun ja... Sie hat nicht direkt einen Makel, zumindest keinen, der mit der Angehörigkeit zu einer Minderheit in Zusammenhang steht. Sie ist einfach nicht die Hübscheste mit ihren dünnen Haaren und den Pferdezähnen. Sie hat wie ich dieses Jahr die High School abgeschlossen, wir kannten uns aus dem Sportkurs. Sean ist einer ihrer Bekannten aus Jackson, ich glaube, Christie hatte mal erwähnt, dass er vor ein paar Jahren ein Praktikum im Betrieb ihrer Mutter, die einen Ersatzteilversand für Haushaltsgeräte betreibt, absolviert hat.
Und ich? Abgesehen davon, dass ich dunkelhäutig bin und mein rechtes Auge silberfarben wie der Vollmond ist? Ich gelte als vorlaut und unnahbar, wobei erstgenanntere Aspekte sicherlich mehr zu meinem Außenseiterdasein beitragen.
Auch, wenn wir die Loser der Gesellschaft darstellen mögen, ich genieße unsere gemeinsamen Abende dennoch, sie sind mir eine willkommene Ablenkung.
Eine Weile lang plaudern wir über die Dinge, die wir im Leben der anderen innerhalb der letzten zwei Wochen verpasst haben, nichts davon geht jedoch in die Tiefe. Wir erkundigen uns, wie wir den schweren Sturm überstanden haben, welche Schäden an Straßen und Gebäuden entstanden sind und inwiefern uns das persönlich betrifft. Dann erst wenden wir uns unseren Lieblingsthemen zu. Meistens sprechen wir über Musik oder Filme, ab und an auch über unsere Familien. Wir bestellen Cola und Burger, ein ganz normaler Abend, der mir nicht in Erinnerung geblieben wäre, hätte mich nicht ein gutaussehender Fremder am Nachbartisch die ganze Zeit über angestarrt. Ich habe ihn nie zuvor im Blue Moon gesehen, dabei dachte ich, jeden Gast, der innerhalb der letzten zwei Jahre über diese Schwelle getreten ist, zu kennen (wenn auch nur vom Sehen). Die Bar ist unbekannt bei Touristen, weil sie etwas außerhalb von Jackson liegt und schwer zu finden ist. Wer hierher kommt, kommt auf Empfehlung eines Einheimischen.
Der Kerl sitzt relativ ungerührt ganz allein am Tisch, ein ziemlich düster drein blickender Typ mit Tätowierungen auf den Armen, die unter einem hautengen grauen Shirt hervor blitzen. Er hält den Kopf leicht gesenkt, aber seine Augen scheinen hellwach zu sein. Immer wieder zucken sie zu mir herüber, und ich kann mich einfach nicht dagegen wehren, ebenfalls ständig zu ihm hinzusehen. Ich nehme an, dass ihm mein silberfarbenes Auge aufgefallen ist. Ganz schön unverschämt, jemanden so anzuglotzen. Oder flirtet er etwa mit mir? Ach, so ein Blödsinn! Ein weißer, gut aussehender Mann mit Dreitagebart und Tätowierungen würde niemals freiwillig mit einem dunkelhäutigen Mädel flirten, die offensichtlich einige Jahre jünger ist als er, denn ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Seine Augen sind graugrün, die Haut im Gesicht und an den Armen sonnengebräunt. Entweder arbeitet er im Freien oder er ist einer jener Angeber, die sich stundenlang in der Sonne wälzen. Oder noch schlimmer - im Solarium.
»Hey, Sadie, was sagst du denn nun dazu?«, reißt mich Sean aus meinen Gedanken.
»Ich... Ähm... Wozu?«
Er verdreht die Augen. »Hast du mir nicht zugehört? Ich habe dir gerade erzählt, dass mich eine Kassiererin aus dem Supermarkt gefragt hat, ob ich eine Freundin habe. Dabei ist sie rot angelaufen.« Er kichert.
Meine Augen wandern abermals zur Seite. Wieder fange ich den Blick des Fremden auf. Ich muss mich zwingen, mich loszureißen und mit meinen Gedanken zum Gespräch zurückzukehren.
»Und? Was hast du ihr geantwortet?«
»Gar nichts.« Er zuckt die Achseln. »Das war mir derart peinlich, dass ich auf dem Absatz kehrt gemacht und den Markt verlassen habe. Ernsthaft, da gehe ich nicht mehr einkaufen. Lieber gehe ich zehn Häuserblocks weiter in den Walmart und schleppe meine Einkäufe nach Hause.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Stell dich doch nicht so an. Sie kann schließlich nicht wissen, dass du nicht auf X-Chromosomen stehst.«
Wieder kichert Sean, eine Angewohnheit, die ihn ziemlich deutlich outet, auch, wenn das ein dämliches Klischee ist. Aber bei ihm trifft es zu.
»Sie denkt bestimmt, dass du nur schüchtern bist«, sagt Christie. »Dafür musst du dich doch nicht schämen. Bist du ein Mann oder ein Kleinkind?«
»Ja ja, hackt nur auf mir herum. Diese Frau stellt mir schon seit längerem nach. Immer, wenn ich dort einkaufe, wirft sie mir laszive Blicke zu. Es wird Zeit, dass ich woanders einkaufen gehe.«
»Nein, es wird eher Zeit, dass du endlich einen Partner findest. Einen Typen, der dein Gekicher erträgt.« Ich stoße ihm mit dem Ellbogen freundschaftlich in die Seite.
Sean sagt nichts mehr, sondern läuft nur rot an. Natürlich würden mir noch eine ganze Menge Dinge einfallen, mit denen ich ihn ärgern könnte, aber ich belasse es dabei. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bald Zeit ist zu gehen, wenn ich das Versprechen, das ich meiner Grandma gegeben habe, noch einhalten will. Immerhin muss ich noch eine ganze Stunde Bus fahren.
Als ich mich noch einmal umdrehe, um nach dem glotzenden Typen vom Nebentisch zu sehen, ist er verschwunden. Mir läuft ein Schauder über den Rücken, obwohl ich gar nicht weiß weshalb.
Christie gähnt herzhaft, was wir als Signal auffassen, den Kellner heranzurufen, um die Rechnung zu bezahlen. Getrennt natürlich, wie immer. Das wissen die Angestellten längst und bringen deshalb immer drei Bons an den Tisch.
Wir verabschieden uns vor der Tür, wünschen uns eine gute Nacht und gehen wieder getrennte Wege. Bis in zwei Wochen, wenn wir uns erneut hier treffen werden.
Ich seufze und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle.
***
Die folgenden Tage verlaufen ereignislos. Noch immer ist es brütend heiß in Vicksburg, aber die Luftfeuchtigkeit ist ein wenig zurückgegangen, sodass man es wieder wagen kann, die warmen Sommerabende auf der Veranda zu verbringen, den Duft des Flusses in sich einzusaugen und die Sterne zu zählen. Granny hat inzwischen eingesehen, dass der Strom nicht ausfallen wird und die Gefahr des Sturms vorüber ist. Ich denke, dass die Hitze ihr nicht gut tut und ihre seltsamen Eigenarten nur noch verstärkt. Zwei Tage lang hat sie das Haus nicht verlassen, weil sie Angst vor herab fallenden Ästen hatte. Mir war es recht, denn die Temperaturen wären ihr nur unnötig auf den Kreislauf geschlagen. Mittlerweile ist der Alltag wieder eingekehrt. Heute Morgen hat Mary-Anne (so heißt meine Grandma, ein so schöner Name, dass ich sie gerne so rufe) sogar Zeitungen ausgetragen, um die Haushaltskasse aufzubessern. Ich muss mir also keine Sorgen mehr machen, dass sie allein zuhause nicht zurecht kommt. Deshalb habe ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg in die Innenstadt gemacht, weil mir der Lesestoff ausgegangen ist und ich die Bibliothek nach neuen Schätzen durchforsten möchte. Jede Woche statte ich ihr einen Besuch ab, obwohl ich jedes Buch mindestens schon drei Mal gelesen habe. Manchmal habe ich jedoch Glück und es sind Bücherspenden eingegangen, die ich noch nicht kenne. Neben der Liebe zum Jazz und Blues ist das Lesen eine meiner großen Leidenschaften. Seit ich die letzte Klasse der High School hinter mich gebracht habe und die letzten Sommerferien vor dem College genieße, habe ich viel Zeit - zu viel. Natürlich gehe ich arbeiten, aber der Nebenjob im Supermarkt kostet mich nicht den ganzen Tag. Ich räume dort morgens die Regale ein. Das bedeutet, dass ich zwar sehr früh aufstehen muss, aber auch sehr früh wieder zuhause bin. Nun, und was fängt man mit einem angebrochenen Vormittag an, wenn man sich nicht vieler Freunde rühmt und jeden Pflasterstein der Umgebung kennt? Man setzt sich in eine Bibliothek, in der man jedes Buch zwar auch schon kennt, aber immerhin duftet es dort herrlich nach Papier und es ist so schön ruhig.
Die Bibliothek von Vicksburg verdient diesen Namen eigentlich gar nicht. Unter einer Bibliothek stellen sich die meisten Leute einen riesigen Saal mit Regalen vor, die bis unter die Decke reichen und mit so vielen Gängen, dass man sich verlaufen könnte. Dies trifft auf unsere Bibliothek leider nicht zu. Angesiedelt im ehemaligen Gebäude einer Druckerei sind es von einem Ende bis zum anderen gerade einmal zwanzig oder dreißig Schritte. Aber es ist immer still und kühl dort, was mich gerade im Sommer dazu bewegt, mich an den großen runden Eichentisch zu setzen und gedankenverloren in einem Buch zu blättern.
So auch heute.
Kein besonderes Ereignis, nichts, das diesen Vormittag herausgehoben hätte aus all den anderen zuvor. Die Dame hinter dem Schalter ist in eine Ausgabe eines Promimagazins vertieft und beachtet mich nicht, ich bin die einzige Besucherin. Die Angestellten kennen mich bereits und heben nur noch kurz den Blick, wenn ich die Bibliothek betrete. Mehr als eine hochgezogene Augenbraue habe ich von dem blonden Püppchen, das heute Dienst hat, jedoch nie geerntet. Sie hat nie ein Wort mit mir gesprochen. Vielleicht wirft die Tatsache, dass ein schwarzes Mädel gerne liest und gebildet ist, ihr Weltbild durcheinander. Sie sieht jedenfalls so aus, als hätte sie mit ihren lackierten Nägeln und der auftoupierten Frisur eine sehr eingeschränkte Ansicht der Dinge. Ich strafe sie meinerseits gerne mit Verachtung. Wenn ich ein Buch ausleihe, knalle ich es ihr gerne auf den Tresen und grinse breit, wenn sie sich erschreckt und ihr Boulevardblättchen beinahe fallen lässt.
Heute blättere ich gedankenverloren in einem Geschichtsbuch über den Sezessionskrieg, obwohl mich das Thema inzwischen extrem langweilt. Wenn man aus einer so geschichtsträchtigen Stadt wie Vicksburg kommt, in der es am 4. Juli 1863 zu einer entscheidenden Schlacht mit anschließender Kapitulation der Konföderierten Armee kam, bleibt es leider nicht aus, dass man zu jeder Gelegenheit darauf hingewiesen wird.
Ich klappe das Buch zu, schließe meine Augen für einen Moment und seufze. Genau in diesem Augenblick zucket ein Blitz meine Wirbelsäule hinab. Das altbekannte, vertraute und zugleich verhasste Gefühl, das mich grundsätzlich zu unpassenden Gelegenheiten heimsucht. Die Vision eines Mannes, der die Tür zur Bibliothek öffnet, schiebt sich vor mein geistiges Auge. Die Dame hinter dem Schalter sieht kurz von ihrem Klatschblättchen auf und nickt, der Mann tut es ihr gleich. Dann trifft sein Blick auf meinen.
Als ich die Augen wieder öffne, weiß ich, dass noch wenige Sekunden vergehen werden, ehe sich das Gesehene in Realität verwandeln wird. Meine Hände krallen sich um die Tischkante, mit zusammengebissenen Zähnen starre ich zum Eingang. Tatsächlich bimmelt nur einen Atemzug später das Glöckchen über der Tür, als diese sich schwungvoll öffnet. Der Mann tritt herein, die Angestellte am Schalter blickt auf. Alles ist genau so, wie ich es gesehen habe. Natürlich ist es das. Wie kann ich nur jedes Mal hoffen, dass ich lediglich träume? Ich müsste inzwischen wissen, welche seltsame Gabe mich umnebelt, wenn ich es auch nicht wahrhaben will. Ich glaube weder an Geister noch an Voodoo (wenngleich in dieser Gegend stark verbreitet), aber an Zufälle kann ich diesem Fall auch nicht mehr glauben. Es ist einfach schon zu oft passiert.
Mich trifft fast der Schlag, als ich in die stechend grüngrauen Augen blicke, die mir so bekannt vorkommen. Auch das noch! Ich weiß sofort, wo ich den Kerl schon einmal gesehen habe. Das ist der Typ aus dem Blue Moon, der mich vor ein paar Tagen so angestarrt hat. Mein Herz macht einen Hüpfer, aber nicht vor Freude, sondern eher vor Verwunderung, vielleicht auch vor Ärger. Wer ist er? Ein Stalker? Oder ist es diesmal wirklich nur Zufall, dass wir uns hier erneut begegnen? Natürlich wäre das möglich, aber eine Vorahnung sagt mir, dass dies nicht der Fall ist. Ein tätowierter junger Typ Marke Frauenschwarm kommt doch nicht vormittags um zehn in eine Bibliothek! Zumal wir uns beim letzten Mal in Jackson begegnet sind, sechzig Meilen von Vicksburg entfernt.
Mein Gefühl täuscht mich nicht, denn ich sehe etwas in seinen Augen aufblitzen als wollte er sagen: »Ach, hier bist du also.« Er kommt schnurstracks auf mich zu. Ich umklammere die Tischplatte noch immer, lege aber Entschlossenheit und Angriffslust in meinen Blick. Er soll bloß nicht denken, dass ich mich freue, ihn zu sehen oder dass er mir Angst machen könnte. Wenn ich eines in den letzten Jahren perfektioniert habe, dann ist es mein grimmiger Blick, der andere auf Abstand hält.
Mr. Tattoo lässt sich davon jedoch nicht beeindrucken. Er zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich ungefragt mir gegenüber an den Tisch. Mir weht eine Wolke eines Aftershaves oder Parfüms entgegen, das herb und männlich riecht. Passt zu ihm. Heute trägt er ein enges schwarzes T-Shirt, über seiner Schulter hängt der Riemen eines dunklen Sportrucksacks. Der Dreitagebart steht noch immer in seinem Gesicht. Er trägt ihn vermutlich nicht aus Faulheit, sich zu rasieren, sondern weil er damit kerniger wirkt.
Was will der Typ von mir? Er hält meinem Blick stand.
Ein paar Sekunden verstreichen, ehe er sich räuspert. »Sadie Middlesworth?«
Ach herrje. Er kennt meinen Namen. Also doch ein Stalker. Oder kenne ich ihn vielleicht woanders her und es will mir bloß nicht einfallen? Hastig krame ich in meinem Gedächtnis, kann aber nichts finden. Ich gebe ihm weder eine Antwort noch nicke ich, aber meine mangelnde Reaktion scheint ihm eine Bestätigung zu sein.
»Es tut mir leid, dass ich Sie so überfalle. Es muss etwas beängstigend auf Sie wirken.« Seine Stimme klingt freundlich. Das muss man ihm lassen. Aber ich bin nicht naiv genug, um mich davon beruhigen zu lassen. Stattdessen ziehe ich die Augenbrauen nur noch weiter zusammen.
»Darf ich »Du« sagen, Sadie? Ich heiße Joey Beaver.« Er streckt mir seine Hand entgegen. Glaubt er, dass ich sie schüttele? Ich starre nur darauf, als hätte er mir etwas Ekliges unter die Nase gehalten, rühre mich jedoch nicht. Joey - sofern das sein richtiger Name ist - zieht die Hand wieder zurück.
»Ich habe nicht vor, dich zu belästigen.« Er lächelt entschuldigend.
»Tust du aber«, presse ich hervor. »Macht es dir Spaß, junge Frauen zu stalken? Woher kennst du meinen Namen?«
Mein Blick irrt kurz zu der Dame am Schalter, aber sie ist gänzlich in ihre Zeitschrift vertieft. Wir sitzen zu weit entfernt und sprechen zu leise, als dass sie etwas von unserem Gespräch mitbekommen könnte.
»Es muss ein wenig befremdlich auf dich wirken, dass ich deinen Namen kenne. Ich dachte, das schlägt vielleicht eine Brücke zwischen uns.«
Brücke? Hat er sie noch alle? Was will er von mir?
»In der Tat, es ist befremdlich. Hast du mir damals im Blue Moon auch schon aufgelauert?«
Er nimmt die Handflächen entwaffnend hoch. »Nein, das war reiner Zufall. Du bist mir nur gleich aufgefallen wegen deinem besonderen Auge.«
Aha. Daher weht der Wind. »Und du dachtest, dass du der Sache auf den Grund gehen müsstest? Hältst du mich für eine Außerirdische?«
»Keinesfalls. Nur für etwas ganz Besonderes.«
Ich ziehe skeptisch die Augenbrauen hoch, verschränke die Arme vor der Brust und lehne mich im Stuhl zurück. »Ist dir klar, dass weiße Männer nicht gerade auf Anerkennung stoßen, wenn sie sich mit farbigen Frauen umgeben? Wo auch immer du herkommst: In Mississippi weht ein anderer Wind.«
»Zu deiner Information: Ich stamme gebürtig aus Vicksburg, habe meine Jugend jedoch in Chicago verbracht. Und nein, ich habe kein erotisches Interesse an dir. Obwohl ...« Er hebt neckisch eine Augenbraue. »Hässlich bist du ja nicht. Und es wäre mir ehrlich gesagt auch egal, ob ich eine farbige Frau gegen mein Umfeld verteidigen müsste.«
Hat er das etwa ernst gemeint? Falls ja, ist er gerade ein ganz kleines bisschen in meinem Ansehen gestiegen. Aber dennoch bin ich nicht dämlich genug, mir von einem Wildfremden Honig ums Maul schmieren zu lassen.
»Und was willst du sonst von mir? Und verdammt - woher weißt du, wie ich heiße? Du hast mir meine Frage noch immer nicht beantwortet.« Ich bin ein bisschen laut geworden, sodass die Dame am Schalter mir einen kurzen verärgerten Blick zuwirft. Joey und ich sind außer ihr die einzigen Besucher der Bibliothek, wen sollten wir also stören? Ich verbrenne sie meinerseits mit einem zornigen Blick. Sie soll ihre blöde Zeitschrift lesen und mich laut werden lassen, wann ich will!
Joey sieht nach rechts und links, als befürchtete er, jemand könne und beobachten. Aber hier ist niemand weit und breit. Er greift in die Gesäßtasche seiner Jeans und zieht ein abgegriffenes altes Farbfoto heraus. Er legt es auf den Tisch und schiebt es mir zu, als befänden wir uns in einem polizeilichen Verhör. Sein Blick passt dazu. Ich erwarte, dass er mich jeden Moment fragt, wo ich gestern gegen achtzehn Uhr gewesen bin, oder so ähnlich.
Ich werfe einen Blick auf das Foto, ohne es zu berühren. Es zeigt das Portrait einer jungen Frau, vielleicht in meinem Alter. Sie kommt mir nicht bekannt vor. Die hellblonden, fast weißen Haare wären mir sofort aufgefallen, käme sie aus Vicksburg. Ihre Augen sind wasserblau, die Haut blass. Sie wirkt ein wenig geisterhaft.
»Wer ist das?«, frage ich.
»Du wirst sie nicht kennen.« Joey tippt auf ihr rechtes Auge. »Aber sieh doch mal genau hin!«
Tatsächlich. Das rechte Auge des Mädchens ist nicht hellblau, sondern silberfarben wie meines. Ein kurzer Schreck durchfährt mich. Ist sie etwa mit mir verwandt? Wohl kaum. Sie ist so hell wie eine Kalkleiste und ich bin dunkelhäutig.
»Was hat das zu bedeuten?« Ich muss zugeben, dass er mein Interesse geweckt hat. Ich habe mein Auge immer für eine Laune der Natur gehalten. Ist es vielleicht auch. Aber dass noch andere mit diesem Merkmal herumrennen, verwundert mich. Möglich, dass es ein Gendefekt ist. Aber immer noch kein Grund, mir nachzustellen und mich damit zu belästigen.
»Das Foto ist über zwanzig Jahre alt«, sagt Joey. »Es stammte aus dem Nachlass meiner Mutter.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Lange Geschichte und momentan auch noch nicht von Bedeutung. Es gab einst eine Familie, in der das Merkmal regelmäßig auftrat, das ist die Familie dieser jungen Dame. Man nahm an, dass es einzig an diese Familie gebunden ist. Es lebt aber kein Nachfahre mehr, und diese Dame hier ist seit zwei Jahrzehnten verschwunden.«
»Man? Wer nimmt hier was an?« Ich kann ihm nicht folgen und fahre ihm über den Mund.
Joey stößt die Luft pfeifend durch seine Zähne aus. »Diejenigen, die in die Gabe eingeweiht waren. Wenn es dich wirklich interessiert, kann ich dir die ganze Geschichte erzählen. Aber nur, wenn du mir im Gegenzug hilfst.«
»Helfen? Sprich doch nicht in Rätseln! Ich verspreche dir überhaupt nichts! Ich hab keine Ahnung, was genau du von mir willst.«
»Eines nach dem anderen! Als ich dich im Blue Moon gesehen habe, hat mich fast der Schlag getroffen. Ich wusste nicht, dass die Gabe auch außerhalb der Familie Boothman auftreten kann. Du könntest meine letzte Hoffnung sein. Jedenfalls war es nicht schwierig, deinen Namen herauszufinden, um deine Frage endlich zu beantworten. Die Kellner im Blue Moon kennen dich, du scheinst ja öfters dort zu sein. Sie haben mir zwar nicht gesagt, wie du heißt, aber woher du kommst und wie alt du bist. Keine Adresse, versteht sich, die Leute dort sind diskret. Aber hier in Vicksburg gibt es nur eine High School, und da du dem Alter nach dieses Jahr deinen Abschluss gemacht haben müsstest, war es auch nicht schwer, Einsicht ins Jahrbuch der Schule zu erlangen. Und das ist auch schon die ganze Geschichte.«
»Und du bist sicher, dass du kein irrer Stalker bist?« Langsam verliere ich die Geduld. »Und ich wüsste zu gerne, von welcher Gabe zu sprichst.«
»Ich bin garantiert kein Stalker. Nur sehr verzweifelt, weil du die einzige sein könntest, die mir weiterhelfen kann. Im Übrigen nennt sich die Gabe Zeitspringen.«
»Zeitspringen? Ach, du bist doch bescheuert! Lass mich bloß in Ruhe.« Ich schiebe meinen Stuhl geräuschvoll zurück und stehe auf. Ich habe wirklich die Nase voll von dem Quatsch. »Ich muss jetzt gehen, meine Grandma wartet mit dem Hausputz auf mich. Und stelle mir bloß nicht mehr nach!«
Ich will mich abwenden, aber Joey gibt noch nicht auf. »Hast du nie bemerkt, dass du ein besonderes Verhältnis zur Zeit hast? Voraussicht? Hellseherei? Irgendetwas?«
Ich mache eine abwertende Handbewegung, ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen, obwohl ich zugeben muss, dass mich seine Worte irritieren. Natürlich habe ich schon seltsame Erfahrungen mit solcherlei Dingen gemacht. Gerade vor ein paar Minuten erst wieder, als Joey hereinkam. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Als ich nach der Türklinge greife, spüre ich Joeys Hand auf meiner Schulter. Nicht fest, aber doch bestimmt. Mit einem verärgerten Knurren drehe ich mich widerwillig noch einmal zu ihm um. Er streckt mir eine Karte entgegen.
»Nimm meine Visitenkarte. Überleg dir bitte, ob ich dir nicht doch noch mehr über das Zeitspringen erzählen soll. Ich habe nämlich das Gefühl, dass dir das Thema nicht gänzlich unbekannt ist. Ruf mich an, wenn du magst. Und ich verspreche dir, ich werde dich nicht mehr belästigen.«
Ich greife seufzend nach der Karte und versenke sie in meiner Hosentasche. Ohne ein Wort des Abschieds drehe ich mich wieder um und verlasse festen Schrittes die Bibliothek.
»Hast du den Teppich im Salon schon ausgeklopft, Liebes?«, fragt meine Großmutter mit einem beschwingten Unterton in der Stimme. Heute ist wieder einer ihrer guten Tage. Keine Ahnung, weshalb sie manchmal von Anfällen guter Laune heimgesucht wird - nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Ich freue mich für sie. Vielleicht liegt es daran, dass ihr die Karten oder die Knochen (oder was auch immer sie sich täglich wirft oder auslegt) einen schönen Abend prophezeit haben. Meine Grandma hält Voodoo und Magie im Gegensatz zu mir nämlich nicht für Humbug. Oder ihr Enthusiasmus liegt darin begründet, dass sie gedenkt, sich heute Abend mit den Angehörigen des Heimatvereins zu treffen, was sie sich einmal im Monat nicht entgehen lässt. Ein Haufen alter Leute, die bei Tee und Kuchen in Erinnerungen schwelgen - nichts für mich.
»Ja, ich hab das Ding ausgeklopft. Er liegt auch schon wieder an seinem Platz.« Ich fahre mit dem Staublappen über die zahlreichen Porzellanpüppchen auf der Anrichte.
»Wunderbar! Dann kannst du mir gleich helfen, die Vorhänge wieder aufzuhängen«, trällert Mary-Anne in vergnügtem Singsang. Ich komme nicht umhin, ebenfalls zu lächeln. Der Haushalt gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber sie ist ein sehr ordentlicher Mensch und hat mich dazu erzogen, das lästige Übel über mich ergehen zu lassen. Ihr zuliebe nehme ich es gerne auf mich. Zum Glück ist sie noch so fit und rüstig. Sie bräuchte meine Hilfe nicht unbedingt, aber es erscheint mir selbstverständlich, wenn ich unter ihrem Dach lebe. Grandma hat Zeit ihres Lebens in fremden Haushalten geputzt und Ordnung gehalten, um etwas zum Lebensunterhalt dazu zu verdienen. An mir ist das Putz-Gen leider vorbeigegangen. Ich würde eine grottenschlechte Haushälterin abgeben. Ich bin mir sicher, wenn ich allein leben würde, sähe es nicht halb so ordentlich aus in meinen vier Wänden.
Ich stelle das letzte Porzellanfigürchen zurück an seinen Platz und helfe Mary-Anne anschließend, die schweren Vorhänge aufzuhängen. Sie duften nach Waschmittel. Noch ein anderer Geruch weht mit entgegen, als ich oben auf der Leiter stehe: Nudelauflauf. Er brutzelt im Ofen munter vor sich hin, ein wahres Geschmacksfeuerwerk aus Tomaten, Sahne, Kräutern und Käse. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
»Wann ist das Essen fertig?«, frage ich, während ich von der Leiter wieder herunter steige.
»In zehn Minuten, Liebes.« Sie sieht auf ihre klobige Armbanduhr, ein kitschiges Erbstück ihrer Mutter. »In einer Stunde mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Kommst du wirklich allein klar?«
Ich klopfe ihr sanft auf die Schulter. »Ich bin kein Kleinkind mehr.«