Sag nie ihren Namen - Juno Dawson - E-Book
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Juno Dawson

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Beschreibung

Nach diesem Buch ist jeder Blick in den Spiegel ein Wagnis auf eigene Gefahr!!! Als Bobbie und ihre beste Freundin Naya an Halloween den legendären Geist Bloody Mary beschwören sollen, glaubt niemand, dass wirklich etwas passieren wird. Also vollziehen sie das Ritual: Fünf Mal sagen sie Marys Namen vor einem mit Kerzen erleuchteten Spiegel … Doch etwas wird in dieser Nacht aus dem Jenseits gerufen. Etwas Dunkles, Grauenvolles. Sie ist ein böser Hauch. Sie lauert in Albträumen. Sie versteckt sich in den Schatten des Zimmers. Sie wartet in jedem Spiegel. Sie ist überall. Und sie plant ihre Rache.

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Juno Dawson: Sag nie ihren Namen

Aus dem Englischen von Frank BöhmertNach diesem Buch ist jeder Blick in den Spiegel ein Wagnis auf eigene Gefahr!

Als Bobbie und ihre beste Freundin Naya an Halloween den legendären Geist Bloody Mary beschwören sollen, glaubt niemand, dass wirklich etwas passieren wird. Also vollziehen sie das Ritual: Vor einem Spiegel sagen sie nachts Marys Namen – und nichts regt sich. Oder doch? Schon am nächsten Tag geschehen merkwürdige, furchterregende Dinge und bald wird klar: Etwas wurde aus dem Jenseits gerufen. Etwas Dunkles, Grauenvolles. Sie ist ein böser Hauch. Sie lauert in Albträumen. Sie versteckt sich in den Schatten des Zimmers. Sie wartet in jedem Spiegel. Sie ist überall. Und sie plant ihre Rache.

Aufwühlend, aufregend und ganz schön gruselig – Juno Dawson erzählt eine schrecklich gute Geschichte.

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  Leseprobe

Für Erin und Faye

DREIZEHN JAHRE VORHER

Tropf, tropf, tropf.

Tropf, tropf, tropf.

Tropf, tropf, tropf.

Langsam nervte das wirklich. Taylor Keane drehte den Wasserhahn in der Küche mit aller Kraft zu, für einen besseren Griff nahm sie sogar ein Geschirrhandtuch. Doch das unablässige Tropfen ging weiter. Woher kam es? Sie lehnte sich über die Spüle, kippte den Hebel des Fensters, stieß es einen Spalt auf und hielt ihren Arm nach draußen in die milde Abendluft. Sie drehte die Handfläche nach oben. Es nieselte nicht einmal.

Am merkwürdigsten war, dass sie gehen konnte, wohin sie wollte, das Tropfen blieb im ganzen Haus immer gleich laut, als würde es ihr folgen. Gut, sie schlief in Physik gelegentlich; trotzdem war das eigentlich unmöglich.

Sie öffnete den Schrank unter der Spüle und schob die hundert Flaschen mit Bleiche, Desinfektionsmittel und Möbelpolitur zur Seite, bis sie den Siphon gefunden hatte. Ein rascher Fingerstrich bestätigte, dass er staubtrocken war. Alles dicht.

Tropf, tropf, tropf.

Das war wieder mal typisch. Ihre Eltern gingen nur einmal in der Woche abends weg, zu diesem albernen Salsa-Kurs, und prompt musste sie sich zu Hause mit einem Rohrschaden herumschlagen. Sie hatte die beiden mehrmals auf dem Handy angerufen, aber sie gingen nicht ran.

Der absolute Katastrophen-Abend. Schlimm genug, dass Jonny nicht wie versprochen rübergekommen war. Sie hatten eine DVD gucken/knutschen wollen, aber er hatte abgesagt, weil er sich »vergrippt« fühlte. Dabei war der miese Lügner wahrscheinlich mit seinen Kumpels im Einkaufszentrum. Taylor verfluchte ihre fatale Schwäche für starke Arme und blaue Augen.

Tropf, tropf, tropf.

»Mann, das nervt.« Sie krallte die Finger in ihre honigblonden Locken und stapfte aus der Küche ins Wohnzimmer. Als sie die Fernbedienung gefunden hatte, stellte sie den Fernseher stumm.

Tropf, tropf, tropf.

Es schien von oben zu kommen, vielleicht aus dem Hohlraum zwischen den Stockwerken. Sie suchte an der Decke nach Auswölbungen. Vielleicht sollte sie einfach einen Klempner rufen, das machte man doch, wenn eine Leitung undicht war. Ihre Eltern würden doch bestimmt dankbar sein, wenn sie verhinderte, dass die Decke runterkam. Es war allerdings schon fast neun, und wenn sie sich vorstellte, was ein Noteinsatz außerhalb der Geschäftszeiten kosten könnte, wurde ihr ganz anders. Sie hatte noch nicht mal einen Zehner im Portemonnaie.

Barfuß tapste sie über den flauschigen beigen Teppich in den Flur und sah die geschwungene Treppe zum ersten Stock hinauf. Vielleicht kam es ja von oben. Höchstwahrscheinlich sogar, aus dem Badezimmer. Es war einen Blick wert.

Tropf, tropf, tropf.

Lauter und deutlicher als bisher: fette, zähflüssige Tropfen, die auf einer festen Oberfläche landeten. Aber wo? Sie hatte ihr ganzes Leben hier verbracht (also wenn sie nicht gerade im Internat war), doch auf einmal kam ihr das Haus fremd und unheimlich vor. Es war zwar total uncool, aber plötzlich wünschte sie sich, dass noch jemand anders da wäre.

Taylor machte einen tapferen Schritt auf die erste Stufe. Sie verdrehte den Hals, um den oberen Treppenabsatz in den Blick zu bekommen. Die Luft war rein. Weit über ihr warf die Lampenfassung einen klauenartigen Schatten an die Decke. Taylor zögerte. In ihrem Kopf flüsterte eine Stimme: Geh da nicht rauf. »Krieg dich ein, Tay«, schalt sie sich. Dann nahm sie immer zwei Stufen auf einmal, um dem Haus zu zeigen, dass sie keine Angst hatte. Das hier war doch nicht irgendein blöder Horrorfilm, den Jonny mitgebracht hatte, um sie zum Durchdrehen zu bringen; das war die Wirklichkeit und es gab nur irgendwo ein undichtes Rohr.

Als sie mit dem Kopf auf Höhe des Treppenabsatzes war, lugte sie um das Geländer herum. Nichts zu sehen. Der Wassertank befand sich auf dem Dachboden, aber Horrorfilm oder nicht, sie ging auf keinen Fall alleine dort rauf, in die Höhle von Spinnen so groß wie Katzenbabys. Aber das Tropfen hörte einfach nicht auf. Wenn überhaupt, klatschte die Flüssigkeit jetzt noch schneller herunter – in einem zunehmend hektischen Takt.

Hier im oberen Stockwerk gab es zwei mögliche Quellen: das große Bad und das kleine, das zum Elternschlafzimmer gehörte. Sie ballte die Fäuste und nahm sich als Erstes das Schlafzimmer vor. Im schwachen Licht der Laternen, das durch die Jalousien fiel, fand sie den Raum so makellos vor wie immer und nichts deutete auf eine Überschwemmung hin. Sie ging zu dem kleinen Bad durch, knipste das Licht an und sah durch die Glastür der Dusche sofort, dass das Tropfen nicht von dort herrührte. Alles glänzte trocken. Die Toilette schien ebenfalls in Ordnung zu sein; nirgendwo war Wasser auf den Fliesen.

Blieb nur noch eine Möglichkeit. Sie ging zurück zum Flur und fluchte. Das Leck war schlimmer geworden. Jetzt hörte man kein Tropfen mehr, sondern fast ein Plätschern, als würde jemand Flüssigkeit auf den Boden gießen.

Sie eilte ins große Bad und zog an der Lichtschnur. Die Glühbirne schien den Geist aufgeben zu wollen, sie fauchte und knisterte und nur ein schwaches, flackerndes, grünliches Glühen erfüllte den Raum. Taylor fragte sich, ob das austretende Wasser etwas mit der Elektrik anstellte. Alles sah normal aus, aber das Geräusch war jetzt richtig laut. Der Duschvorhang an der Badewanne war zugezogen. Auf einmal kam sie sich so was von blond vor. So viel Aufregung und dann kleckerte es nur vom Duschkopf in die Badewanne.

Das Licht flackerte erneut. Und war jetzt noch trüber. Das Piken in Taylors Bauch wollte nicht weggehen. Es ist nur die Dusche, sagte sie sich. Langsam tastete sie sich über die Fliesen, stützte sich am Waschbecken ab und erblickte im Spiegel darüber ihr aschfahles Gesicht. Sie griff nach dem Duschvorhang, nahm den Rand des Kunststoffgewebes zwischen die Finger. Am besten ganz schnell, wie ein Pflaster …

Sie riss den Vorhang beiseite, so heftig, dass Shampooflaschen in die leere, weiße Badewanne polterten. Der Brausekopf hing erwartungsvoll über ihr und es kam kein Wasser heraus.

»Was zum …?«, ächzte Taylor und trat von der Wanne weg. »Das ist doch voll krank!« Tropf, tropf, tropf. Superlaut jetzt. Wo kam das bloß her?

Und dann sah sie es. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich im Spiegel etwas bewegte. Etwas, nicht sie. Mit trockenem Mund drehte sie sich zum Waschbecken um. Es war absolut unmöglich, aber ihr Spiegelbild war nicht allein; dort im Rahmen wartete noch etwas anderes. Taylor schrie.

Das Glas war nicht länger fest, es glich eher einer sich kräuselnden, silbrigen Wasserfläche. Eine schlanke Hand, weiß wie Marmor, aber schlüpfrig von Blut, griff aus dem Glas heraus, tastete nach dem Waschbecken und zog sich weiter ins Badezimmer. Glänzende rote Rinnsale liefen zwischen den gespreizten Fingern hindurch und von den toten Fingerspitzen. Die Flüssigkeit sammelte sich um die Wasserhähne herum und im Waschbecken. Als die Hand nach Taylor griff, klatschten fette rote Tropfen auf die Mosaikfliesen.

Tropf, tropf, tropf.

GEGENWART

HALLOWEEN

1

Piper’s Hall, ein Mädcheninternat für die Altersstufen elf bis achtzehn, stand ganz oben auf einer zerklüfteten, ungeschützten Klippe, an der sich starke Winde und noch stärkere Wellen brachen. Wie ein Wasserspeier kauerte das Gebäude dort oben über der Küste. Nichts an der Architektur ließ an eine Schule denken; aus den Mauern und Türmen stachen Furcht einflößende Metallspitzen hervor und die großen Rasenflächen des Sportplatzes waren nicht grün, sondern grau, wie Schieferplatten in einem Gewitter. Am Tag glich die Schule einer albtraumhaften Vision, in der Nacht war es noch schlimmer.

Die Leute aus der Gegend hatten verschiedene, mitunter recht ordinäre Spitznamen für die Schule und die Einwohner der benachbarten Kleinstadt Oxsley hielten sich fern. Aus gutem Grund – das Internat war der Ursprung eines jeden Spukschlosses in den schlechten Träumen ihrer Kindheit. Selbst von weit draußen auf See konnte man erkennen, wie die gespaltenen Zungen von Blitzen herunterfuhren und an den Flügelfenstern leckten.

Schlimmer als das unheimliche Erscheinungsbild war jedoch, dass es dort von hochnäsigen Internatszicken nur so wimmelte. So lautete jedenfalls Bobbie Rowes Erklärung dafür, warum alle, die ihren Grips einigermaßen beisammenhatten, nichts mit dieser Schule zu tun haben wollten.

Die Kälte drang Bobbie bis in die Knochen, denn das armselige Feuer im Mülleimer, um das sie zu siebt saßen, wärmte kein bisschen. Sie hatten sich in einem kleinen Geräteschuppen am Außenrand des Hockeyfelds versammelt. Der Wind heulte und rüttelte an den geschlossenen Fensterläden. Bobbie konnte nur die Kiefer aufeinanderpressen, um ihre Zähne davon abzuhalten, draufloszuklappern wie ein Zeichentrickspecht.

Dieser ganze Abend war total uncool. So uncool, dass sie hätte flennen können. Die meisten Leute hier mochte sie nicht einmal und Halloween interessierte sie schon gar nicht.

»Und es wurde immer lauter … tropf, tropf, tropf …« Das lächerlich kleine Lagerfeuer warf ein dämonisch rotes Glühen über Sadie Walshs Gesicht. »Die Babysitterin griff langsam, ganz langsam nach dem Duschvorhang, dann holte sie tief Luft und riss ihn auf!«

»O Gott. Und was hat sie gesehen?«, quiekte Lottie Wiseman und kaute nervös an den Haaren.

Sadie verengte genüsslich die Augen und hielt die Spannung, bis ihr Publikum nach der großen Auflösung geiferte. »An der Duschstange hing der Pudel, die Kehle durchgeschnitten, und sein Blut tropf-tropf-tropfte in die Badewanne!«

Die beiden Jungen auf der gegenüberliegenden Bank, die auf einer Mädchenschule nichts zu suchen hatten – und schon gar nicht mitten in der Nacht –, sahen einander glucksend an.

»Und auf dem Spiegel«, fuhr Sadie mit irrem Blick fort, »waren mit Blut diese Worte geschrieben: ›Auch Menschen können Hände ablecken!‹«

Lottie und Grace brachten ein neckisches Kreischen zu Stande, das für die hereingeschmuggelten Jungen bestimmt war. Bobbie ersparte sich das und setzte sich nur ein bisschen anders hin, um wieder Leben in ihren turnbanktauben Hintern zu bekommen. Das Internat verwandelte manche Mädchen in tickende Hormonbomben, aber bei ihr hatte es nur dafür gesorgt, in der Gegenwart von Jungen schrecklich schüchtern zu sein.

»Ist ja toll, Sadie«, meldete sich Bobbies beste Freundin Naya, die neben ihr saß. »Diese Geschichte habe ich schon tausendmal gehört und falls es dich interessiert, sie handelt von einer alten Frau und einem Hund. Wieso sollte eine Babysitterin denn im Haus von jemand anders schlafen gehen?«

Bobbie kicherte und schob ihre angesagte (und notwendige) Nerd-Brille die Stupsnase hinauf. Zum Glück hatte sie Naya, mit ihr ließ es sich in Piper’s Hall gerade so aushalten. Einer der Jungen aus dem Ort – der süßere, mit dem südländischen Einschlag und den kurz geschorenen Haaren – grinste ebenfalls, aber Sadie fand die Kritik offensichtlich nicht so toll.

»Ach, entschuldige, Naya. Ich hatte vergessen, dass du hier die Expertin bist für alles, was mit Halloween zu tun hat – mein Fehler.«

Naya spitzte ihre vollen Lippen. »Ich hab nie behauptet, dass ich eine Expertin bin, bloß hattest du uns eine Geistergeschichte versprochen, die wirklich passiert ist. Hallo? Fällt so was nicht unter irreführende Werbung?«

Wieder musste Bobbie lachen. Sadie litt wirklich an geistiger Verstopfung und in einer Institution, in der Abführmittel gehandelt wurden wie Zigaretten im Gefängnis, hieß das schon was. »Na schön. Ihr wollt also eine wahre Geschichte?«

Die Runde murmelte zustimmend – alle außer Bobbie. Nur auf Nayas Drängen hin hatte sie Stolz und Vorurteil und Zombies für diesen Quatsch beiseitegelegt. »Es ist nur einmal im Jahr Halloween«, hatte Naya gebettelt. »Du musst doch auch mal was erleben!« Dafür würde sie bezahlen. Bobbie wusste noch nicht, wie, aber bezahlen würde Naya.

»Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt …«

»Also bitte, Sadie!«, meldete sich nun auch Grace Brewer-Fay zu Wort, das siebte Mitglied ihrer unerlaubten Runde und zugleich die regierende Königin. Noch gelangweilter hätte sie auch mit viel Mühe nicht aussehen können. »Kannst du vielleicht einfach mal fertig werden? Ich will hier nicht die ganze Nacht verbringen.« Den letzten Satz hauchte die Schulsprecherin bewusst verführerisch im Seifenopernton und streichelte dabei den Jungen, an den sie sich lehnte – diesen süßen Kerl, der glatt auf ein Hollister-Werbeplakat gepasst hätte. Während Grace ihre Finger über die straffe braune Haut seines Unterarms gleiten ließ, fragte Bobbie sich, wie sich das wohl anfühlte. Er war wirklich zum Anbeißen, und obwohl sie dieses Eingeständnis für sich behielt, wurde sie knallrot. Dabei war das total albern, er nahm sie ja nicht einmal wahr; wie immer gab Bobbie das perfekte Chamäleon und fügte sich klaglos ins Tapetenmuster ein.

Sadie plusterte sich auf wie ein eitler Pfau. »Also die ist jetzt wirklich passiert, und zwar hier in Piper’s Hall.« Grace und Naya protestierten sofort. »Es stimmt! Das ist passiert, als meine älteste Schwester hier im Internat war! Wenn ihr mir nicht glaubt, kann ich sie gern anrufen!«

Bobbie legte den Kopf auf Nayas Schulter. »Können wir gehen?« Sie flüsterte, damit nur ihre Freundin es hörte. »Ich hab noch zwei Kapitel zu lesen und das große Finale ging gerade los.«

»Machst du Witze? Jetzt kommt endlich was Gutes!« Nayas New Yorker Akzent, der nach drei Jahren in England kaum noch durchklang, meldete sich immer dann zurück, wenn sie aufgeregt war.

»Wer kennt die Geschichte von Bloody Mary?« Sadie beugte sich erneut dem Feuer entgegen. Noch ein Stück näher und ihr Gesicht würde schmelzen. Bobbie hob widerstrebend einen schlaffen Arm; einige der anderen ebenfalls. »Ihr denkt vielleicht, ihr kennt die Geschichte, aber wahrscheinlich ist es nur eine veränderte oder verwässerte Fassung. Die wahre Geschichte, das Original sozusagen, hat sich hier in Piper’s Hall abgespielt …«

»Von wegen!«, bellte der zweite Junge, den der tolle Typ vorhin Mark genannt hatte. Bobbie empfand immer Mitleid mit Jungen, die Mark hießen; es war so ein langweiliger Name. Mark kam ebenfalls aus Oxsley, war stämmig-muskulös und trug einen goldenen Stecker im linken Ohrläppchen. Bobbie stellte sich vor, dass er Landarbeiter oder Schornsteinfeger war, aber sie wusste, dass das wohl mehr mit ihrem Bild von Oxsley zusammenhing und nichts mit der Realität zu tun hatte. »Diese Geschichte hab ich schon x-mal gehört!«, fuhr er fort. »Die ist sogar verfilmt worden!«

»Genau, Mark, und zwar weil so viele Ehemalige von Piper’s Hall sie weitererzählt und über die ganze Welt verbreitet haben. Die wahre Geschichte ging vor zweihundert Jahren los, als sich hier eine Schülerin namens Mary Worthington umgebracht hat. Und zwar in genauso einer Nacht wie heute … mit Blitzen am Himmel und krachendem Donner!«

Wie aufs Stichwort erbebte der dunkle Geräteschuppen unter einem mächtigen Donnerschlag. Bobbie klammerte sich unwillkürlich an Nayas Arm.

Sadie genoss die Dramatik des Zufalls. »Es war an Halloween. Sie ist zu ihrem Freund gegangen – einem Jungen aus dem Ort –, weil sie wollte, dass er mit ihr durchbrennt. In jener Zeit wäre das ein Riesenskandal gewesen: eine junge Internatsschülerin, die eine voreheliche Affäre hat. Als er ablehnte, flehte sie ihn an, aber er lachte ihr ins Gesicht. Er hatte ja bekommen, was er wollte. Also ist Mary im strömenden Regen zurück zur Schule gelaufen, hat ein Stück Seil genommen und sich im Waschraum erhängt. Das Letzte, was sie sah, während sie da baumelte, war ihr Spiegelbild …«

»Die Geschichte kennen wir doch alle schon!« Grace funkelte sie an und schnippte ihre perfekten blonden Haare nach hinten.

»Ist mit Bloody Mary nicht Queen Mary gemeint, weil die Hunderte von Protestanten ermorden ließ?«, flüsterte Bobbie, der eine vage Erinnerung an eine Geschichtslektion in der sechsten Klasse durch den Kopf geisterte, in Nayas Ohr.

Naya grinste breit. »Das Arbeitsblatt hat Sadie wohl verpasst!«

Grace stand auf und zog ihren sexy Kerl auf die Füße. »Caine und ich hauen ab. Wir haben Besseres zu tun.« Aha, er hieß also Caine. Caine. Cooler Name. »Bobbie und Caine«, das klang gut zusammen. Klar, weil das ja auch ganz bestimmt passieren wird.

»Wartet!« Sadie lächelte und leckte sich die Lippen. »Das waren nur die Hintergrundinfos.«

»Ich will hören, wie die Geschichte ausgeht.« Caine ließ sich wieder auf die Bank plumpsen und das gefiel Grace eindeutig gar nicht. Der arme Kerl stand wohl nicht im Verteiler für den Piper’s-Hall-Newsletter: Niemand, der sich Grace Brewer-Fay widersetzte, lebte lange genug, um damit angeben zu können.

Der Wind rüttelte mit einem geisterhaften Heulen am Dach des Schuppens und Bobbie schlang sich die Arme um den Oberkörper. Sadie fuhr mit ihrer Geschichte fort. »Es gibt viele verschiedene Versionen davon, was als Nächstes geschah, aber in einem stimmen alle überein: Man kann Bloody Mary herbeirufen. Das ist hier in dieser Schule passiert. Ein Mädchen hat das gemacht, vor ein paar Jahren, als meine Schwester hier war. Es gibt Regeln. Man muss es während der Geisterstunde tun – um Mitternacht. Man muss eine Kerze anzünden, damit Mary den Weg von der anderen Seite hierher auch findet. Und man braucht einen Spiegel, weil Marys sterbende Seele sich nämlich in den Spiegeln verfangen hat und nie ins Jenseits hinüberwechseln konnte. Und dann braucht man nur noch fünfmal ihren Namen zu sagen …«

»Und was passiert danach?«, fragte Caine mit großen Augen.

»Das weiß man nicht, weil noch nie jemand davon erzählen konnte. Man findet nicht mal die Leichen. Die Leute lösen sich einfach in Luft auf … so sagt man jedenfalls.«

Schweigen machte sich breit, während alle sich ausmalten, was das bedeutete; dann begann Naya langsam zu klatschen. Caine, dessen weiße Zähne im Feuerschein aufblitzten, schloss sich an. Sein Lächeln ließ sein Gesicht noch strahlender aussehen, Bobbie konnte kaum den Blick abwenden. Er hatte sogar Grübchen. Ein absoluter Traum.

Es war verrückt. Bobbie interessierte sich eigentlich überhaupt nicht für gleichaltrige Typen: Für sie sahen sie aus wie kleine Jungs. Die »Teenager«, die sie im Fernsehen toll fand, waren ja Schauspieler und in Wirklichkeit schon über zwanzig. Aber Caine stellte eine Ausnahme dar: keine Akne, keine Zahnspange, keine übergroßen Sportsachen – er sah aus wie die Jungen im Fernsehen. Der kann sich doch auf der Radley High bestimmt gar nicht retten vor Mädchen, dachte sie, weshalb es umso merkwürdiger war, dass er sich auf Grace eingelassen hatte. Klar, sie war hübsch, aber das waren viele giftige Blumen ja auch.

»Man findet nicht mal die Leichen? Na wenn das nicht praktisch ist«, höhnte Naya. »Und es gab nie auch nur den Fetzen eines Beweises!«

Grace, die ebenfalls wenig beeindruckt war, machte ein finsteres Gesicht. »Also da bin ich ja echt froh, dass ich mir das Ende noch angehört habe. Wann kommt die Verfilmung raus?«

Sadie verschränkte die Arme vor der Brust und verzog die Lippen zu einem Schmollmund. Irgendwie wusste Bobbie genau, was sie als Nächstes sagen würde. »Schön. Dann habt ihr ja nichts dagegen, es selber mal zu machen, oder?« Das war der eigentliche Höhepunkt ihrer Geschichte, auf den das angebliche Ende unausweichlich zugesteuert hatte. Für einen Moment herrschte Stille – selbst der Sturm schien den Atem anzuhalten.

»Wie jetzt?«, erwiderte Naya. »Ist das dein Ernst?« Lottie saß einfach nur mit buschbabygroßen Augen da und glotzte.

»Ich mach’s!«, sagte Caine prompt und rieb sich die Hände.

»Nein! Bloß nicht!« Die arme Lottie war ihrem Gesichtsausdruck nach am Rande eines Nervenzusammenbruchs.

Sadie erhob sich und warf ihnen einen unsichtbaren Fehdehandschuh hin. »Also wenn die Geschichte totaler Quatsch ist, könnt ihr ja nicht ernsthaft ein Problem damit haben Mary herbeizubeschwören.«

»Beschwöre du mal lieber ein bisschen Hirn herbei!«, fauchte Naya. O Mann. Jetzt fing das wieder an. Naya Sanchez wusste einfach nicht, wann man besser klein beigab. Bobbie wappnete sich für den großen Knall. »Wieso machst du’s nicht, wenn du so hart drauf bist?«

»Seufz. Rückspultaste – hab ich schon!« Sadie stemmte eine Hand in die Hüfte, sie war mindestens genauso dickköpfig wie ihre Lieblingsfeindin.

»Und wieso lebst du dann noch?«, fragte Bobbie schließlich in der Hoffnung Naya den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie zog sich die Ärmel ihres dicken Strickpullis über die Hände, um sie warm zu halten.

Sadie stand in der Mitte des Kreises. Diese Frage hatte ihr den ganzen Spaß verdorben. »Weiß ich doch nicht! Es hat nicht funktioniert. Aber Lottie kann’s bestätigen, sie war dabei!«

Jeder Kopf im verrauchten Schuppen drehte sich zu der armen kleinen Lottie um, die natürlich alles sagen würde, was ihre beste Freundin verlangte. »Es stimmt. Vor drei Tagen … und sie hat alles richtig gemacht, aber es ist nichts passiert. Trotzdem, es war total gruselig!«

»Ach was? Der angebliche Geist hat sich nicht blicken lassen? Große Überraschung.« Graces Lippen verzogen sich zu einem wohlbekannten Hohnlächeln.

Sadie hielt dagegen. »Gut. Dann mach du’s doch. Oder hast du Angst?«

Grace lachte schrill. »Sadie, glaubst du ernsthaft, das funktioniert bei mir? Ich hab Gruppenzwang erfunden.«

Unter der geballten Macht der wahren Bloody Mary von Piper’s Hall ging Sadie in die Knie. Das hatte Grace einfach drauf. Sie war wie eine Kobra; sie tanzte die ganze Nacht, aber ein Biss und alles war vorbei. Bobbie hatte keine Ahnung, wieso Grace immer so gemein war – sie musste ziemlich unsicher sein, wenn sie ständig auf anderen rumhackte. Was auch der Grund sein mochte, Bobbie hatte nicht vor, diesem menschlichen Kaktus in irgendeiner Form zu helfen; da pikte sie sich nur.

»Also ich mach’s!« Caine krempelte die Ärmel seines Kapuzenpullis hoch und vollführte ein paar muntere Aufwärmbewegungen wie ein Boxer, der sich für einen Kampf in Stimmung brachte.

»Was?«, fauchte Grace giftig.

»Ich mach’s. Es ist Halloween. Ich hab keine Angst vor Geistern.«

»Ich bin dabei.« Naya stand auf und trat zu ihm. »Wie heißt es so schön – einmal richtig gruseln muss schon sein an Halloween?«

»Schlag ein!« Caine hielt ihr die erhobene Hand hin.

Das durfte doch nicht wahr sein! Diese Nacht geriet langsam zu einer Wiederholung des Frühlingsball-Fiaskos (Rückblende: Identische-Kleider-Fauxpas) und Bobbie wusste genau, was jetzt kam. Grace gegen Naya.

»Ist nicht dein Ernst!« Grace blähte die Nüstern. »Wenn du glaubst, dass du dich mit meinem Freund in die Nacht davonstehlen kannst, dann müssen deine letzten paar Gehirnzellen jetzt auch noch ihren Lebenswillen verloren haben.«

Caines Kumpel Mark wiederholte leise die Worte »mit meinem Freund« und lachte in sich hinein. Caine wirkte auch nicht gerade begeistert, verzog aber nur seinen schönen Mund zu einem Lächeln. Wieder gab es Grübchen zu sehen.

»Na, Grace, dann kommst du wohl am besten mit!« Naya lächelte wie eine Flugbegleiterin auf Speed.

Bobbie stand mühsam auf und schleppte ihre müden Glieder zu Naya hinüber. »Nay, lass uns einfach ins Bett gehen. Es ist spät.«

»Ja, hör schön auf Bobs-Mops, Naya …«

Bobbie öffnete den Mund zu einer geistreichen Erwiderung, aber Naya grätschte wie immer sofort dazwischen. »Nenn sie nicht so! Ich mache, was ich will. Also los, Sadie, welcher Waschraum? Gehen wir. Bloody Mary on the rocks.«

DIE BESCHWÖRUNG

2

Die schrillen, allseits ignorierten Aufforderungen von Mrs Craddock, der Hausaufsicht, hallten durch die langen, hohen Gänge des Wohntrakts. Da Halloween war, hatte die nervöse Lehrerin den Schülerinnen etwas Leine zum Austoben gegeben, doch als Mitternacht näher rückte, war sie mit ihrer Geduld schließlich am Ende.

»Meine Damen! Auf Ihre Zimmer, bitte!« Sie war eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, aber wer wäre das nicht nach fünfundzwanzig Jahren Aufsicht über pubertierende Mädchen?

Bobbie, Naya, Grace, Sadie, Lottie, Mark und Caine standen im Erdgeschoss neben dem Notausgang, durch den sie gerade hereingeschlichen waren, und lauschten. Nur von dem kurzen Sprint über das regengepeitschte Hockeyfeld waren ihre Hände und Gesichter rot und empfindlich. Naya kämpfte mit der Tür, die sich in den Windböen kaum zuziehen ließ.

Sadie vergewisserte sich, dass die Luft rein war, und drückte gegen ein Eichenholzpaneel zwischen Küche und Speisesaal. »Ich kann’s nicht fassen, dass ihr echte Geheimgänge habt!«, sagte Caine mit jungenhafter Begeisterung.

»Nicht so laut«, zischte Grace. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, was für einen Ärger wir kriegen, wenn wir erwischt werden?«

»Sorry.«

Die sogenannten »Geheimgänge« waren der einzige Grund gewesen, warum Bobbie zugestimmt hatte, auf dieses Internat zu gehen – die Aussicht auf drehbare Bücherregale wie in Scooby-Doo und Höhlen voller Käfer wie im Tempel des Todes hatte sie als Elfjährige verlockend gefunden.

Wie sich rasch herausgestellt hatte, waren die »Geheimgänge« nichts weiter als Gesindegänge aus der Zeit, als die Anlage noch ein Schloss gewesen war. Angeblich gab es hier auch Priesterlöcher, die noch weiter zurückdatierten; gesehen hatte Bobbie bis jetzt jedoch noch keines. Und wirklich geheim waren die Gänge und Treppen auch nicht; die jüngeren Mädchen benutzten sie nur meist nicht, weil die älteren den Ärger übertrieben, den man sich einhandelte, wenn man dabei erwischt wurde. Ach, und außerdem spukte es da drin natürlich auch.

»Folgt mir«, sagte Sadie. Sie schlüpften durch die Lücke in einen schmalen Gang ohne Teppich, der kaum Platz genug für Marks breite Schultern ließ.

Am anderen Ende wand sich eine ramponierte, knarrende Holztreppe die Rückseite des alten Trakts hinauf, mit Zugängen zu jedem Stockwerk. Einer hinter dem anderen folgten sie Sadie bis zum zweiten Stock. Bobbie bildete das Schlusslicht. Bestimmt bekam außer Naya niemand mit, dass sie überhaupt dabei war.

Durch die verborgene Tür, die zum Erkerfenster des Treppenabsatzes zwischen Haus Austen und Haus Brontë führte, war zu hören, wie Mädchen kicherten und Mrs Craddock sich noch mehr aufregte. Mit etwas Glück würde das Gewimmel in den Gängen die Tatsache verschleiern, dass fünf Schülerinnen noch nicht in ihren Häusern waren. Wobei Mrs Craddock das jetzt ohnehin nicht überprüfte, schließlich fing in fünf Minuten CSI: Miami an.

»Wir warten, bis es ruhig wird … Sonst liegt die Craddock um diese Zeit längst im Bett, da schläft sie bestimmt gleich ein«, hauchte Sadie mit einem Ohr am Paneel.

»Wenn du meinst«, ächzte Grace. Lustigerweise war sie als Schulsprecherin eigentlich dafür verantwortlich, dass alle Mädchen nach 21 Uhr in ihren Häusern waren, und musste unerlaubte Besucher der Leitung melden. Bobbie freute sich diebisch, dass Grace sich Caine jetzt doch nicht zu ihrem Privatvergnügen krallen konnte, jedenfalls nicht heute Nacht. Vorausgesetzt natürlich, sie überlebten Bloody Mary. Bobbie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Aber ehrlich gesagt war sie schon irgendwie gespannt, ob sie das wirklich durchzogen. Und zumindest konnte sie so noch ein bisschen Caines Anblick genießen.

Die Wohntrakte gehörten mit zum eigentlichen Schulgebäude und waren in vier Häuser aufgeteilt, die nach berühmten Schriftstellerinnen benannt waren – Austen, Brontë, Christie und Dickinson. Dass sie nicht einfach A, B, C und D hießen, belegte einmal mehr, wie unglaublich wichtig sich Bobbies Schule nahm. Austen und Brontë befanden sich in gegenüberliegenden Flügeln der zweiten Etage, während Christie und Dickinson ein Stockwerk höher lagen.

Tatsächlich wichen Schritte und Stimmen binnen einer Viertelstunde der Stille. Nur das elektrische Summen der Neonröhren und das klagende Heulen des Sturms erfüllten die Schule.

»Schön, dann wollen wir mal!« Sadie führte die kleine Truppe aus ihrem Versteck.

Lottie machte sich sofort aus dem Staub und schlich nach oben ins Haus Christie. Bobbie zupfte an Nayas Arm. »Wieso tun wir das?«

»Ach komm schon, Bobbie!« Naya nahm ihre Hand. »Ich hab das schon auf hundert Pyjamapartys gemacht. Ich will Grace und Sadie nur verarschen. Das wird ein Brüller!«

»Ernsthaft? Das musst du mir schon erklären.« Sie zuckte ungläubig mit den Schultern.

»Ist doch ganz einfach! Ich zieh das durch und dann schleiche ich nächste Woche überall herum, schreibe Sachen an die Spiegel und hänge Galgenstricke auf! Die sollen richtig ausflippen vor Angst – ich will erleben, dass Grace Brewer-Fay sich in die Hosen macht!«

Bobbie sah zu Grace, die sich an Caines Arm klammerte wie die Heldin in einem schlechten Film. Das war total geschauspielert; Grace hatte mehr Testosteron als beide Jungs zusammen. Würde es Spaß machen, ihr mal einen Dämpfer zu verpassen? Aber hallo.

Sadie und Mark standen als Erste im Flur von Haus Brontë. Nur die Lichtleisten der Notbeleuchtung erhellten den langen, friedlich daliegenden Flur – schwache silbrige Lichter, die durch ihr Fließen den Weg zum nächsten Notausgang wiesen. Die Luft war rein, die Tür zum Waschraum stand offen und erwartete sie. Bobbie konnte nichts dagegen machen, sie fand den Anblick schon ein bisschen gruselig, so im Dunklen an Halloween und mitten in einem tosenden Sturm …

Sie kippte sich in ihrer Vorstellung einen Eimer voll Realität über den Kopf. Sie sollte es doch besser wissen. Überall auf der Welt leierten beknackte Teenager vor dem Spiegel »Bloody Mary«; wenn dann wirklich etwas passieren würde, hätten die Medien doch längst darüber berichtet.

»Kommt!« Sadie schlich auf Zehenspitzen in den Waschraum. Bobbie holte tief Luft und wehrte sich nicht, als Naya sie über die Schwelle zog.

Wie immer hing in dem feuchten, gefliesten Raum der an Eier erinnernde Geruch von Abflüssen voller Haare in der Luft, kombiniert mit einem Hauch Seife und Shampoo. Hinter den zerschlissenen Plastikvorhängen tropfte Wasser auf den Keramikboden; die rostigen Duschköpfe leckten ständig. Bobbie fand, dass ein Geist schon total verzweifelt sein musste, um sich in so ein Loch rufen zu lassen.

»Mach die Tür zu«, wies Sadie sie an und Bobbie gehorchte. Sadie öffnete ihre Kulturtasche, die überraschenderweise mit Kerzen gefüllt war, holte sie heraus und fing an sie auf den Gemeinschaftswaschbecken unter dem breiten Spiegel aufzustellen. Das Ganze war bis ins kleinste Detail durchgeplant – Bobbie fragte sich, wie lange Sadie schon darauf hingearbeitet hatte. Zwischen Sadie und Grace bestand eine gewisse ungelöste Spannung: Beide gehörten den »Eliten« von Piper’s Hall an, einer schon lange bestehenden Institution in der Institution. Jedes Jahr wurden ein, zwei Mädchen aus reichen, mächtigen oder berühmten Familien in diesen »besonderen Club« aufgenommen, der sich geheimen Treffen und grundsätzlicher Gemeinheit widmete – so etwas wie Freimaurertum, nur mit Lipgloss. Nach dem, was Bobbie als Außenseiterin so mitbekam, kämpften Grace und Sadie beständig um den Posten der Bienenkönigin/Leithündin.

Es war der totale Quatsch. Weil ihre Mutter einigermaßen bekannt war, hatten sie Bobbie im ersten Jahr angeboten Mitglied zu werden. Doch die »Eliten« waren ihr vorgekommen wie eine Sekte von zuckerabhängigen Magersüchtigen im Minirock; also hatte sie abgelehnt und das ließen sie Bobbie bis heute spüren. Sozial gesehen war sie unten durch – wobei ihr das am Arsch vorbeiging. Naya dagegen hatte Mitglied werden wollen, unbedingt. Grace, die vom ersten Moment an etwas gegen die temperamentvolle Neue aus Amerika gehabt hatte, sorgte dafür, dass daraus nichts wurde.

Bobbie bedachte ihr Spiegelbild nur mit einem kurzen Blick und wuschelte ihre platten mausbraunen Haare zurecht, dann sah sie zu dem um Längen interessanteren Caine und bewunderte den Bronzeton seiner Haut und die samtige Beschaffenheit seiner Haare. Als der Caine im Spiegel zu ihrem eigenen Spiegelbild hinübersah, senkte sie rasch den Kopf. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn anstarrte. Oder viel schlimmer, wenn Grace sie nun dabei ertappt hatte? Sie musste sich dringend zusammenreißen.

»Gut. Fast Mitternacht … wer macht den Anfang?«

Grace richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf, bewunderte sich im Spiegel und strich ihre makellosen blonden Haarsträhnen glatt. »Ich mach das nicht. Punkt. Das ist Kinderkram.«

»Und wieso bist du dann hier?«, fragte Naya.

»Weil ich weiß, wie du drauf bist.« Die Unterstellung ließ ihre Stimme giftig klingen.

Caine, der anscheinend spürte, dass sich ein Streit anbahnte, trat vor den Spiegel und zog den stämmigen Mark mit. »Wir machen den Anfang!«

Der kleinere Junge riss seinen Arm zurück. »Ich mach das nicht. Vielleicht funktioniert es ja wirklich? Ich filme nur, damit ich dich für alle Zeiten damit ärgern kann!«

»Was ist denn los mit euch?« Caine zeigte wieder sein unwiderstehliches Lächeln. »Ihr seid ja totale Weicheier!«

Naya stellte sich neben ihn und stemmte die Hände in die Hüften. »Leute aus New York können überhaupt keine Weicheier sein, Süßer.«

Bobbie zog eine Augenbraue hoch und wusste nicht recht, ob Naya gerade einen auf verführerisch machen wollte. Falls ja, dann funktionierte es nicht. Und dann merkte Bobbie, wie ihre Füße etwas sehr Fremdartiges machten: Sie begannen sich auf die anderen zuzubewegen. Es war, als wäre Caine ein Computervirus, von dem ihre komplette innere Festplatte befallen war. Alle ihre gängigen Entscheidungsregeln waren blockiert, alle vernünftigen Selbstverteidigungsmechanismen der Unsichtbarkeit wurden von ihrem Wunsch überwältigt einen Jungen zu beeindrucken, den sie erst vor ein paar Stunden kennengelernt und mit dem sie kein Wort geredet hatte.

Naya sah sie an und schien geschockt und stolz zugleich. »Bobbie?«

»Was denn?«, entgegnete sie. »Ich hab keine Angst. Das ist beknackt.« Sie war sauer, dass Naya sie für feige hielt, obwohl sie doch wusste, wie sie wirklich war. Grace warf ihr einen mitleidigen Blick zu, wie ihn normalerweise Hunde mit drei Beinen abbekamen.

»Klasse, Bobbie! Ich liebe Mädels mit Eiern in der Hose!« Caine brach ab. »Äh, also nicht solche … Du weißt, was ich meine.«

Bobbie verlor sich für eine Sekunde in seinen Augen; zum ersten Mal hatte er ihr für mehr als einen flüchtigen Moment Aufmerksamkeit geschenkt. Er weiß, wie ich heiße. Sie straffte sich. Jungen sind wie gefährliche Hunde – wenn du Angst zeigst, zerfleischen sie dir vielleicht das Gesicht. »Jetzt lasst uns endlich damit fertig werden, bevor wir noch alle von der Schule fliegen.«

»Ja, bitte«, stimmte Grace ihr zu. »Bloody Mary ist das eine, eine öffentliche Schule das andere.«

Sadie zog sich zur schmollenden Grace zurück, Mark klappte sein Handy auf und begann ihren persönlichen Low-Budget-Horrorfilm zu drehen.

»Ihr könnt loslegen. Mitternacht ist vorbei. Falls ihr euch traut.« Das letzte Wort flüsterte Sadie wie ein reichlich klischeehafter Gruftwächter.

Zu dritt sahen sie in den Spiegel. Wie zu erwarten war, starrten drei Personen zurück. Bobbie: klein und zierlich, hinter ihrer dicken Brille versteckt. Caine: groß, mit der Statur eines Schwimmers. Und die amazonenhafte Naya: dicke schwarze Locken, die ihr über die Schultern fielen. Ein so merkwürdiges Trio, wie man es um Mitternacht auf keinem Mädchenklo vermuten würde.

Caine atmete geräuschvoll durch die Nase ein und sah von der einen zur anderen. »Bereit?«

»Ja.« Naya wirkte in dieser Phase des Spiels nicht mehr ganz so selbstsicher. Bobbie antwortete mit einem leichten Nicken.

»Okay. Bei drei«, fuhr er fort. »Eins, zwei … drei …«

Sie zögerten; niemand wollte den Anfang machen.

»Na kommt!« Er lachte. »Aber jetzt …«

»B… Bloody Mary«, begann Naya und die anderen fielen brav mit ein. Ihre Stimmen waren leise und monoton. Bobbie spürte, wie die Luft aus dem Raum entwich. Die Nacht selbst hatte gehört, wie sie anfingen, und hielt jetzt den Atem an.

»Bloody Mary …« Die Anspannung wurde zu groß. Caine und Naya brachen in ein Kichern aus und Bobbie fiel mit ein, weil sie nicht außen vor bleiben wollte.

»Macht weiter«, ermunterte Sadie sie vom Rand her. »Das waren erst zwei.«

Sie unterdrückten ihr Gelächter. »Bloody Mary …« Und noch einmal: »Bloody Mary.«

Die Kerzen flackerten und fauchten, als ein dünner, eisiger Wind in den Waschraum drang; Voodooschatten tanzten über die Wände und überall um die drei Gesichter im Spiegel herum. Das Flackern ließ sie hager und hohlwangig aussehen, wie Totenköpfe.

»Einmal noch.« Bobbie sah Naya in die Augen und erkannte, dass von ihrem Mut nicht mehr viel übrig war.

»Alle zusammen«, trieb Caine, der zwischen ihnen stand, sie an. Er nahm Nayas rechte Hand und Bobbies linke. Bobbies Herz schlug gegen die Rippen; sie konnte kaum atmen, geschweige denn noch einmal den Namen sagen. Sie fixierte die entfernteste Stelle hinten im Spiegel. Es war verrückt, aber er schien sich zu dehnen, als würde sie einen langen schwarzen Tunnel hinuntersehen. Es spiegelte sich nicht einmal mehr etwas, da war nur ein dunkler Gang. Ewig weit entfernt, ganz am anderen Ende, regte sich etwas.

Caines Lippen teilten sich. Naya nickte ihr diskret zu. Bobbie holte tief Luft und kniff die Augen zu.

»Bloody Mary.« Sie sagten es alle zusammen.

Der Raum wurde dunkler, als würden alle Kerzen zugleich verlöschen. Und dann war es vorbei. Der Waschraum lag still bis auf das monotone Tropfen von den Duschkabinen her. Bobbie sah zu ihren beiden Mitstreitern. Naya war dermaßen angespannt, dass die Sehnen an ihrem Hals hervortraten. Caine kaute nervös auf der Unterlippe.

Nichts.

Bobbie erwischte es als Erste. Sie brach in wildes Lachen aus und die anderen fielen sofort mit ein. Sie brüllten fast, es war eine verrückte Mischung aus Erleichterung, Hysterie und totaler Peinlichkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde waren sie wirklich alle drei voll darauf hereingefallen. »Als ob es dafür noch einen Beweis gebraucht hätte … ich bin der totale Loser!« Bobbie kicherte.

»Dein Gesicht war echt zum Wegschmeißen!« Caine zeigte auf Naya und krümmte sich vor Lachen.

»Meins? Kumpel, du hast auch nicht gerade toll ausgesehen!«

Sadie musste ebenfalls lachen und hielt sich an der Wand fest, während Grace weiterhin so ungerührt und grimmig guckte wie ein kalter, nasser Fisch. Sadie gackerte: »Das war zum Totlachen! Ihr habt ausgesehen, als würdet ihr euch jeden Moment in die Hose machen!«

»Vielen Dank dafür, Sadie!« Bobbie hielt ihr eine Hand hin und Sadie schüttelte sie. »Okay, ich geb’s zu, das war eine gelungene Aktion. Krönender Abschluss eines Eins-A-Horrorfestes. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht; aber ich muss jetzt ins Bett.«

»Na Gott sei Dank«, höhnte Grace. »Caine?«

»Nee, wir müssen los. Ich übernachte heute bei Mark.«

Grace zog enttäuscht einen Flunsch, bevor ihr wieder einfiel, wer sie war: das Mädchen, das alles im Griff hatte. »Gut. Dann hören wir voneinander.« Sie fegte aus dem Waschraum, dicht gefolgt von Sadie.

Caine schaute zu Mark und verzog das Gesicht. »Kumpel, da hab ich mir jetzt was eingebrockt. Bloody Mary ist nichts dagegen!«

»Die kriegt sich schon wieder ein.« Naya lächelte lieb. »Nichts für ungut, Süßer, aber sie schleppt hier jedes Wochenende einen anderen Jungen aus dem Ort an. Findet ihr alleine raus?«

»So, wie wir reingekommen sind?«, fragte Mark.

»Ja, du lernst schnell.«

»Dann viel Spaß noch, Mädels.« Caines leichter Dialekt klang irgendwie toll. Bobbie fragte sich, woher er wohl kam – jedenfalls nicht hier aus der Gegend, da sprachen sie anders. Caine umarmte Naya freundschaftlich. »Wir sehen uns, hm?« Er näherte sich Bobbie mit derselben Geste, die sie linkisch erwiderte. Ihr Herz blieb stehen und sie vergaß das Ausatmen, als sie seinen Jungsduft aufschnappte – Waschpulver und Macho-Deodorant. Für ihn war das bloß eine beiläufige, unbedeutende Geste – er würde nie wieder daran denken und sie würde sich für immer daran erinnern. Typisch. »Nett dich kennenzulernen, Bobbie – cooler Name übrigens.«

»Ja. Danke.« Ihre Zunge war ein dicker Knoten.

Die Jungen überzeugten sich, dass die Luft rein war, dann huschten sie hinaus. Bobbie drehte sich zu dem dunklen Rechteck des Spiegels und pustete die Kerzen aus. Einen Geist hatten sie vielleicht nicht heraufbeschworen, aber irgendwo tief in ihr drin war definitiv etwas geweckt worden. Sie schüttelte den Kopf. Wie albern von ihr, sie sollte wirklich über solchem Kitschkram stehen.

Bobbie folgte Naya aus dem Waschraum und beachtete das monotone Geräusch kaum, das von den Fliesen widerhallte.

Tropf, tropf, tropf.