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Eine einsame Landstraße, mitten im Irgendwo. Seltsame Vorkommnisse, bei denen sich die Nackenhärchen aufstellen. Nach einem Unfall erwacht Sie in einer anderen Welt. Dort ist alles so vertraut und zugleich so fremd. Sie begegnet neuen Freunden und unheilvollen, dunklen Wesen, denen es sich zu erwehren gilt. Ein großes Abenteuer muss bestanden werden, um in die eigene Welt zurückkehren zu können und am Ende wartet eine überraschende Auflösung ... Sagenhaft - Zwei Welten ist der erste Teil der neuen Urban Fantasy Romanreihe von der Autorin Ellie von der Waldlohe. Diese Geschichte entführt den Leser / die Leserin auf eine ungewöhnliche und abenteuerliche Reise durch die Welt der Märchen- und Sagengestalten des deutschsprachigen Raumes. Hier treffen sich alte und unbekannte Wesen, von denen nicht alle zu den Guten gehören und mischen sich mit einer modernen Story, die ein unerwartetes Ende birgt, um sich in weiteren Episoden weiter zu entfalten. Erlebe diese interessante Komposition aus dem Heute und dem Aberglauben der Vorfahren.
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Seitenzahl: 259
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Gewidmet:
meiner lieben Frau, die meiner vielseitigen Vorstellungskraft allzeit mit viel Geduld lauschte und mich stets's mit Ihrer liebevollen Art unterstützte.
Vorwort
Zwei Welten
Quellenverzeichnis
Liebe Leserin, lieber Leser,
der Gedanke, diese Geschichte zu schreiben, entstand, als ich anfing, mich mit den deutschen Sagengestalten und Märchenwesen zu beschäftigen. Es ist atemberaubend, welch eine Unzahl an einzelnen Wesen es in unseren Märchen und Schauergeschichten gibt und wie alles über die Dauer von Jahrhunderten zu einem Volksglauben gewachsen ist. Das meiste war mir zuvor völlig unbekannt, und so kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus. Eine so große Menge an Wissen, für die sicherlich ein Leben nicht ausreicht, möchte man alles in allen Einzelheiten in sich aufsaugen.
Märchen waren für mich immer etwas Bodenständiges, Ruhiges; zum Einschlafen als Kind, am besten von Mutti vorgelesen; für gemütliche Stunden als Erwachsene.
Wer liebt es nicht, zu den Feiertagen die alten Märchen anzuschauen? Ich habe dann das Gefühl, entschleunigt zu werden. Abstand zum hektischen, immer rasanter werdenden, Alltag zu gewinnen. Zu entspannen. Aber ebenso habe ich das Gefühl, dass uns immer mehr unserer eigenen Überlieferungen verloren gehen.
Mit dieser Erzählung soll ein kleiner Versuch gemacht werden, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen wieder für Sagen und Märchen zu begeistern. Ich nehme Kinder hieraus, da diese Mär eine Menge an Wissen enthält, und nicht alle Gestalten sind lieb und freundlich, selbst einige, von denen wir es gar nicht gedacht hätten.
Lieber Leser, liebe Leserin, Sie werden überrascht sein über all das, was Sie noch nicht gewusst haben. Ich war es auch.
Da ich mich auf den deutschsprachigen Raum beziehe, habe ich ganz bewusst auf eine klare und deutliche Sprache Wert gelegt. Ich habe mich sehr bemüht, Fremdwörter zu vermeiden, was zugegebenermaßen gar nicht so einfach war, wie man denken mag. Es gibt eine Unmenge an Wörtern, die man mal eben so benutzt, die jedoch eine ganz andere Wortherkunft haben. Oft habe ich mich erwischt, eben solche Ausdrücke zu verwenden, und ich musste lange grübeln, bis mir ein Wort oder sogar eine Umschreibung einfiel, die sich besser in mein Vorhaben einfügte.
So gibt es tatsächlich ein Wort, das in seiner Herkunft französischen Ursprungs ist: „Jacke“. Dieses Wort lässt sich zwar im Deutschen umschreiben, mit Hauskittel, Kittel, Mantel, Rock oder Wams, doch entspricht all das nicht dem, was eine Jacke in unserem heutigen Sinne meint: ein den Oberkörper bedeckender, bis an oder über die Hüfte reichender, meist langärmeliger Teil der Oberbekleidung (Zitat laut Duden). Diese Umschreibung jedes Mal geschickt einzusetzen, wäre überaus umständlich gewesen, weshalb ich mich auf das Zugeständnis für das Wort „Jacke“ eingelassen habe. Ich bitte daher um Ihre Nachsicht.
Ich möchte Sie nun entführen in eine kleine, aber feine, abenteuerliche Wissensreise, durch einen winzigen Teil der fast vergessenen deutschsprachigen Märchen- und Sagenlandschaft.
Seit Stunden fuhr sie über diese endlos scheinende, staubige Landstraße, die offenbar von allem und jedem verlassen war. Zu ihrer Rechten lag ein steiler, steiniger, wenig bewachsener Abgrund, der in etwa neunzig Zentimeter von der Straße entfernt sein durfte. Auf der anderen Seite ein kleiner Anstieg, mit Gestrüpp und Laubbäumen. Gut, bei der Menge an Bäumen sollte man wohl eher von einem Laubwald sprechen.
Erneut versagte das Radio wie üblich. Das blöde Ding machte ohnehin, was es wollte. Mal lief es tadellos, und dann ging es schlagartig und ohne Vorwarnung – aus. Sie drückte den An-Knopf, und tatsächlich, für ganze zehn Sekunden erklang die Musik, ehe die Tonlosigkeit von Neuem um sich griff.
„Scheißteil.“, murmelte sie, während sie die Kassette aus dem Radio zog und diese nun leicht frustriert auf den Beifahrersitz warf. Die Zigarette hing gewagt über ihren fein geschwungenen Lippenrand hinab, etwas Rauch strömte aus ihrem leicht geöffneten Mund und stob zu den heruntergelassenen Fenstern hinaus. Ihr linker Ellenbogen ruhte auf der Fensteröffnung, nur mit den Fingerspitzen steuerte sie ihr Gefährt – einen alten VW Käfer. Nicht das Zivilmodell, das wäre viel zu gewöhnlich für sie gewesen. Sie besaß einen Militärkäfer Typ 87, den sie liebevoll „ihren Einsatzkäfer“ nannte. Dieser unterschied sich zum normalen Käfer insofern, als er größere, geländegängigere Reifen und einen Allradantrieb besaß. Eben eine Mischung aus Kübelwagen und Käfer, kurzum, eine echte Seltenheit. Sogar noch mit Brezelfenstern im Heck und einer Gepäckhalterung über dem Faltschiebedach. Lackiert wurde der Einsatzkäfer in Mattschwarz, während die Innenausstattung in einem tiefen, mehr ins dunkelrötlich gehenden, fliederartigen Farbton gehalten war. Natürlich hatte sie einen brandneuen Motor eingebaut, der deutlich mehr Leistung brachte. Nun ja, zugegebenermaßen hatte einer ihrer besten Freunde, der von Beruf gelernter Kraftfahrzeugmechaniker ist, den Motor eingebaut. Sie hatte lediglich ein paar Handlangerdienste ausgeführt. Jedenfalls war sie so in der Lage, Autos zu überholen, die zeitgemäßer waren und eine vermeintlich bessere Ausstattung besaßen. Doch ein Radio mit Kassettendeck war einfach glaubwürdiger in diesem Wagen als ein CD- oder gar MP3-Deck.
Sie schmunzelte, als sie daran dachte, dass ihre Lieblingslackiererin Lotte ihr gesagt hatte, dass Mattlack etwas ganz furchtbar Schlimmes sei, weil es so unfertig aussähe. Doch sie bat Lotte ganz bewusst darum, auf den hochglänzenden Klarlack zu verzichten. Da half damals auch Lottes Beteuern nicht, dass diese Art von Lack viele Vorteile hätte …
Jäh schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Hatte da nicht jemand an der Straße gestanden? Der Blick in den Rückspiegel ließ etwas erkennen, was war das?
Die Bremse quietschte, als Frieda sie mit ihrem Fuß in das Bodenblech drückte. Hastig legte sie den Rückwärtsgang ein. Mit einem Arm über der Beifahrerlehne und die Augen auf den ungewissen Gegenstand gerichtet, setzte sie zügig zurück und hielt neben dem unbekannten Etwas. Mit ihrer linken Hand schnipste sie den Zigarettenstummel aus dem geöffneten Fenster und beugte sich zum Türgriff der Beifahrerseite hinüber. Ein leises Quietschen war zu hören, als die Tür sich öffnete. Auf dem Boden am Straßenrand stand ein Paar fein säuberlich nebeneinandergestellter roter Wildlederschuhe. Frieda war verwundert. Wer bitte stellte hier seine Schuhe hin? Auch noch so ordentlich und mit tadellos, ebenmäßig gebundenen Schleifen …
Es krachte links von ihr, so laut, dass sie zusammenfuhr und ihr Herz kurz aussetzen wollte. Erschrocken drehte sie den Kopf zum Fenster hinter sich – Frieda riss die Augen auf. Ein großer, dunkler Keiler mit riesigen Hauern preschte pfeilschnell aus dem Gebüsch hervor. Noch ehe sie zu einer Handlung fähig war, traf das große Wildtier den Kotflügel des Wagens, woraufhin dieser über die Schuhe hinweg in Richtung des Abgrunds geschoben wurde. Angsterfüllt riss sie die Augen auf. Unwillkürlich hielt sie die Luft an. Als hätte das Borstenvieh den Aufprall nicht bemerkt, raste es unbeirrt weiter und stürzte im vollen Lauf den Abhang hinab. Erst einen kurzen Moment später vernahm Frieda ein herzzerreißendes Quieken. Stille.
Fassungslos blickte sie aus der geöffneten Tür, die beinahe zur Hälfte über die Schlucht hinausragte. Fast atemlos streckte sie dem aufgeklappten Ausstieg ihre zittrigen Finger entgegen, wobei sie darauf achtete, den Großteil ihres Gewichtes auf der Fahrerseite verlagert zu lassen, denn sie fürchtete, dass sie samt Fahrzeug dem Wildschwein hinterher stürzen könnte. Mit einem blechernen Geräusch krachte die Autotür ächzend zu. Frieda atmete hart auf.
„Scheiße.“, hauchte sie und strich sich mit den Händen über das schweißnasse Gesicht.
„Gott, was war das?“, am ganzen Körper schlotternd, nestelte sie einen neuen Glimmstängel aus der weichen Zigarettenpackung, die auf dem Armaturenbrett lag. Die Streichhölzer befanden sich auf dem Beifahrersitz. Frieda gefiel der Geruch, wenn ein Streichholz erlosch, sodass sie diese Art des Entzündens der eines Feuerzeugs vorzog. Hastig sog sie den blauen Dunst tief in ihre Lungen und schüttelte mit der rechten Hand die Flamme des Zündhölzchens aus.
Just, als die Anspannung langsam begann von ihr abzufallen, vernahm sie einen lauten Knall, dem ein gurgelndes, tiefes Grollen folgte. Sofort schoss ihr Puls erneut in die Höhe, und ihr Herzschlag pochte so stark durch die Adern, als wenn diese gleich zerplatzen wollten. Hektisch ergriff sie den silberfarbenen Schlüsselbund, drehte ihn rasant um und gab Vollgas.
Trotz voller Fahrt wandte sie sich aus irgendeinem Grund noch einmal um. Eine Birke fiel auf die Straße, als sei sie einfach abgeknickt. Ein schneller Blick nach vorn, es donnerte erneut. Frieda sah in den Rückspiegel. Ein weiterer Baum schlug hart auf der Straße auf, und ein großer Vogel fiel vom Himmel herab. Was war hier nur los?
Noch bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, drang ein surrendes Knistern an ihr Ohr, und für einen kurzen Augenblick spürte sie ein Prickeln über ihren Körper hinwegziehen. Sie sah auf ihren Arm, die Härchen standen ihr zu Berge. Sie fühlte sich unwohl, sie verstand nicht, was da geschah. Das Einzige, was ihr blieb, war zu hoffen, dass das Ganze nun endlich ein Ende hatte und sich ihr bebendes Herz, das sich wie ein Vulkanausbruch in ihrer Brust anfühlte, sich wieder beruhigen würde. Doch auch eine weitere Zigarette bot Frieda wenig Entspannung.
Erst als sie sich Kilometer um Kilometer von den Geschehnissen entfernte, wurde es ruhiger in ihr.
Sie schob eine Kassette in das Radio, und dieses Mal lief das Teil und machte, was es sollte. Frieda war dankbar für das bisschen Zerstreuung, die ihr die Musik bot.
* * *
Ein wunderschönes, orangefarben glühendes Abendrot erhob sich allmählich über die Landschaft, die inzwischen fast unmerklich ihren Anblick gewandelt hatte. Die Straße war nun auf beiden Seiten von einem Wald umgeben. Frieda entzündete eine Zigarette. Die Packung neigte sich dem Ende zu, ebenso wie ihr Tank. Doch darauf war sie vorbereitet. Sie hielt an und nachdem sie aufgeraucht hatte, holte sie aus dem Kofferraum, der sich bei dieser Autoart vorne befand, zwei Zehn-Liter-Benzinkanister. Sie stellte sie ab. Die Kanister waren aus Metall und in einem knalligen Feuerlöscherrot lackiert, dieses Mal mit Hochglanzklarlack. Sie wollte sich beeilen und alles erledigen, solange das verlöschende Abendrot noch nicht vollständig von der Nacht verschluckt und ein klein wenig Restlicht vorhanden war.
Frieda öffnete die Kanister und steckte die Ausgusstülle auf. Jetzt schraubte sie den Tankdeckel auf und entleerte beide Gebinde in die Öffnung. Ein ungutes Gefühl durchfuhr sie. Sie konnte es selbst nicht beschreiben, irgendetwas war äußerst seltsam und ließ sie innerlich zusammenfahren. Es war, als ob sie beobachtet würde. Doch so sehr sie sich bemühte, etwas in dem Dämmerlicht zu erkennen, sie konnte nichts erspähen, was Anlass zur Beunruhigung gegeben hätte.
Der letzte Tropfen versank, und so verschloss sie den Tank, entfernte die Tülle, sperrte die Kanisteröffnungen zu und verstaute alles wieder so im Kofferraum, dass nichts ungesichert blieb. Bevor sie die Haube schloss, zog sie ein Stofftaschentuch aus ihrer Hose und wischte um den Tankdeckel herum. Unvermittelt flog ein Vogel aus dem Gebüsch. Frieda erschrak. Die Haube sauste hinab und rastete mit einem lauten Knall ein.
Beim Einsteigen würdigte sie die große Delle am linken Kotflügel, die der verrückt gewordene Keiler hinterlassen hatte, keines Blickes. Schließlich war sie froh, nicht mitsamt dem Wagen in den Abgrund gestürzt zu sein, und noch mehr Aufregung brauchte sie wirklich nicht mehr. Am besten war es ohnehin, gar nicht weiter darüber nachzudenken und alsbald einen Platz zum Schlafen zu finden. Wenn in dieser verfluchten Einöde endlich ein Gästehaus auftauchen würde. Sie warf das beschmutzte Tuch auf den Rücksitz.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sah sie sich noch einmal um. Nichts. Alles ruhig und still.
„Stell Dich nicht so an.“, sagte sie zu sich selbst, um sich Mut zuzusprechen. So ganz allein auf dieser gottverlassenen Landstraße, mitten in der Nacht und ohne zu wissen, wann sie wieder auf eine belebte Gegend treffen würde, war ihr doch recht mulmig in der Magengegend.
Da es inzwischen recht kühl geworden war, kurbelte sie die Fenster hoch. Sie griff nach hinten und nahm den kleinen Rucksack von der Sitzbank. Sie stellte ihn auf dem Beifahrersitz ab und zog eine Flasche Wasser und zwei in Alufolie verpackte Brote vor. Zwei weitere Brote ließ sie vorerst in dem Rucksack zurück. Mal sehen, welche Leckereien ihre Lieblingslackiererin Lotte für sie eingepackt hatte.
Neugierig schob sie die glitzernde Alufolie knisternd auseinander. Schwarzbrot mit Frischkäse und frischen Kräutern auf dem einen Goudascheiben mit Gurken, Tomaten und Gewürzen auf dem anderen. Lotte war die Beste! Sie kannte Frieda ganz genau und wusste, was ihr schmeckte. Nun hörte sie ihren Magen knurren. Ja, sie war bereits sehr lange unterwegs und das Essen hatte sie sehr vernachlässigt.
Sie schnallte sich an. Die Sicherheitsgurte hatte sie aus reiner Vorsichtigkeit nachgerüstet, obwohl sie es nicht gemusst hätte, da ihr Gefährt 1942 gefertigt wurde. Die Nachrüstpflicht besteht für Fahrzeuge ab dem Baujahr 1968.
Geschickt wickelte sie das Frischkäsebrot zur Hälfte aus, wobei die Alufolie verheißungsvoll knisterte. Bevor sie den Wagen startete, biss sie beherzt ein großes Stück vom Brot ab. Der Motor schnurrte beim Anlassen, und die Tanknadel schwang sich wieder über die Mitte hinaus. Genüsslich kauend stellte sie das Radio an und setzte die Fahrt fort. Essend, trinkend und zum Teil die tollen Rocksongs mitsingend, fuhr sie immer weiter durch den Laubwald, der sich an den Seiten der Straße erstreckte. Zum Glück ließ das Blattwerk mehr silbriges Mondlicht durch als ein Nadelwald und wirkte dadurch nicht gar so finster und unheimlich.
* * *
Sie öffnete die Augen. Schmerz wallte durch ihren Körper. „Was?“, war ihr erster Gedanke. Sie brauchte ein klein wenig Zeit, bevor sie ihre Lage begriff. Sie schwebte von dem Sicherheitsgurt gehalten in der Luft. Die Schwerkraft zog an ihrer rechten Seite. Etwas Nasses lief über ihr Gesicht und tropfte vom Kinn. Alles, was sie sah, war verschwommen und unklar. Ihr Kopf hämmerte und dröhnte.
Der Versuch den Anschnallgurt zu lösen misslang. Das Ding klemmte. Friedas innere Anspannung stieg. In wilder Hast nestelte sie so lange am Gurtverschluss, bis ihr das Taschenmesser einfiel, das sie stets am Gürtel bei sich trug. Sie tastete mit der rechten Hand nach der ledernen Tasche. Frieda öffnete behutsam den leichtgängigen Druckknopf, damit das Messer nicht einfach herausfallen konnte. Sie zog das Messer heraus. Beidhändig öffnete sie die Klinge. Was hatte man sie belächelt, als sie den Gurt nachrüsten ließ, in solch einem alten Auto wäre im Urzustand auch keiner drin gewesen. Ihr war das damals egal. Und bereits jetzt hatte er seinen Zweck hervorragend erfüllt. Kurzentschlossen schnitt sie den Sicherheitsgurt durch.
Unsanft stürzte Frieda auf die Beifahrerseite. Zwar versuchte sie, den Aufprall abzufedern, doch gelang es ihr nicht. Schmerz wallte durch ihren geschundenen Leib. Unter Stöhnen und mit Mühe richtete sie sich so gut wie möglich auf, um die Fahrertür, die sich nun über ihr befand, zu öffnen.
Diese war ebenfalls verklemmt und rührte sich keinen Millimeter. Wie hätte es auch anders sein können? Frieda war verzweifelt. Heiß rannen die Tränen über ihr Gesicht und mischten sich mit dem Blut.
Das Glück hatte Frieda offenbar nicht gerade gepachtet. Was sollte sie machen? Sie sah keinen Ausweg und sank niedergeschlagen und erschöpft in sich zusammen. Hockend umschlang sie ihre Knie mit den Händen und ließ betrübt den Kopf sinken. Seufzend blickte Frieda sich um, als ihr die Fensterkurbel ins Auge fiel. Konnte das die Lösung sein? Einen Versuch war es zumindest wert. Beide Hände waren nötig, um die verzogene Scheibe so weit runterzukurbeln, dass sie hindurchpasste. Als es so weit war, zog sie sich mit aller Kraft durch die Öffnung und landete mit den Händen voran auf dem kühlen, erdigen Boden. Laub raschelte, und kleine Zweige waren spürbar. Erschöpft drehte sie sich auf den Rücken, aber als sie das Auto so über sich aufragen sah, krabbelte sie schnell rücklings weiter. Nicht, dass der Wagen noch kippen und sie unter sich begraben würde!
Mühsam setzte sie sich auf. Nun erst hatte sie Zeit, sich zu betrachten und ihre Schmerzen zu bestimmen. Zuerst tastete sie ihr Gesicht und ihren Kopf ab. Dabei war festzustellen, dass sie eine Wunde am Haaransatz, Nasenbluten, eine aufgeschlagene Lippe und ein eingerissenes Ohrläppchen hatte. Ihre rechte Körperhälfte, auf die sie nach dem Zerschneiden des Sicherheitsgurtes gefallen war, schmerzte vollumfänglich, wobei der rechte Fuß am stärksten betroffen war, da sie versucht hatte, mit den Füßen festen Halt zu erhaschen, um gemächlicher hinabgleiten zu können. Doch das war ganz offensichtlich arg fehlgeschlagen.
Wie Frieda so auf dem klammen, waldigen Boden saß, verletzt und vom Tuch der Dunkelheit umgeben, versuchte sie sich zu erinnern, was denn genau geschehen war.
Da war dieses grelle Licht. Aber wo war es hergekommen? Sie sah zum Himmel auf. Ein kleines Stück vom Mond konnte sie sehen. Die Luft war klar und angenehm warm, wie eine lauschige Sommernacht. Es duftete süß nach Blumen.
Ein anderes Auto hatte sie nicht bemerkt. Hatte sie einen Sekundenschlaf gehabt? Nach einigem geistigen Hin und Her fiel ihr auf, dass es nur ein einzelnes Licht war, jedes Gefährt aber zwei Lichter besaß. Vielleicht war ein Licht ausgefallen, oder es hatte sich um ein Motorrad gehandelt. Ja, ein Motorrad, das wäre möglich. Das würde Sinn ergeben. Bei all ihren Überlegungen störte Frieda aber, dass es so außergewöhnlich grell gewesen war. Solch ein Licht hatte sie noch nie zuvor gesehen. All das konnte sie nicht recht fassen. Fest stand jedenfalls: Sie war von der Straße abgekommen und musste sich erwiesenermaßen überschlagen haben. Sei es drum, es war, wie es war. Zumindest war sie in der Lage, sich selbst helfen zu können. Bloß, was sollte sie jetzt machen?
Sie sah auf ihre Armbanduhr, die sie am linken Handgelenk trug. Sie legte sie stets so an, dass das Glas nach unten zeigte. Deshalb musste sie ihre Hand drehen, wenn sie das Ziffernblatt sehen wollte. Das Glas war gerissen und hatte einen Sprung über die gesamte Länge sowie mehrere kleinere, tiefere Kratzer. Offensichtlich waren die Zeiger um dreiundzwanzig Uhr siebenundfünfzig stehen geblieben. Fast zur Geisterstunde – das war zwar ein schräger Umstand, beunruhigte sie aber weiter nicht. Schade um ihre schöne Uhr, sie mochte sie sehr. Lange hatte sie gesucht, um eine Uhr zu finden, von der sie keinen Ausschlag bekam. Von dem Nickelanteil im rückseitigen Metall juckte ihre Haut immer. Doch bei dieser Uhr war das Lederarmband durchgängig und verlief eben auch unterhalb der Metallrückseite. Dadurch blieben ihr lästige Kratzanfälle erspart. Nun war sie hin. Mehr aus Erinnerung als aus Nützlichkeit behielt Frieda ihre Uhr am Handgelenk. Vielleicht konnte ein Uhrmacher sie reparieren. Frieda wusste gar nicht, warum sie sich jetzt über ihre Uhr Gedanken machte. Möglicherweise lenkte sie diese an und für sich unwichtige Kleinigkeit für eine kurze Weile von ihrer unglücklichen Lage ab.
Angestrengt wägte sie unterschiedliche Vorgehensweisen gegeneinander ab. Allerdings fiel es ihr bei den starken Kopfschmerzen nicht leicht, ihre Gedanken durchgängig zusammenzuhalten. Immer wieder schweifte sie ab.
Als das silbrige Mondlicht durch das Laub der Bäume fiel, durchfuhr sie ein Gedankenblitz: ihr Mobiltelefon! Obwohl sie aufspringen wollte, konnte sie sich nur langsam aufraffen, da einfach alles sehr schmerzte. Humpelnd ging sie auf ihren Einsatzkäfer zu. Durch die Frontscheibe versuchte sie, ins Innere zu spähen. Zu ihrem Glück spendete Freund Mond genug Licht, um im Innenraum einiges erkennen zu können. Nur das Mobiltelefon konnte sie trotzdem nicht ausmachen. Enttäuscht schlug sie kraftvoll mit der Faust gegen das Wagenblech. Ein Schwanken machte sich bemerkbar. Ob sie das Gefährt kippen könnte? Mit aller Kraft, die sie aufbrachte, stemmte sie sich gegen das Metall. Ein leises Geräusch war zu hören, bevor der Wagen mit einem lauten Ächzen auf die Räder aufsetzte.
Frieda hatte es geschafft!
„Meine Güte“, dachte sie bei sich, „wie du aussiehst, mein kleiner Einsatzkäfer. Hast ganz schön arg was abbekommen. Hoffentlich kriegen wir dich wieder hin. Und das bei deiner ersten Ausfahrt.“
Sie strich sanft mit den Fingern über das zerschundene Blech, als sie zur Fahrerseite trat, um durch das offene Fenster hineinzusehen. Im hinteren Fußraum konnte sie tatsächlich das Mobiltelefon ausmachen. Beherzt kroch sie durch die Öffnung ins Innere und quetschte sich zwischen den Vordersitzen zum Rücksitz durch. Schmerz wallte durch ihren Körper. Sie nahm jede einzelne Verletzung ganz genau wahr. Frieda schnaubte. Ein gezielter Griff nach unten fehlte noch, und sie würde das Telefon erreichen können. Frieda hangelte nach dem Gerät. Ein hartes Stechen in der rechten Seite bereitete ihr kurzzeitige Atemlosigkeit.
Geschafft! Schnell ließ sie sich auf den Fahrersitz zurückgleiten und verharrte für einige Augenblicke. Es war herrlich, als der Schmerz nachließ. Glücklich und erleichtert presste sie das Telefon an ihre Brust. Sie atmete schwer, das alles hatte sie sehr angestrengt.
„Hoffentlich habe ich keine inneren Verletzungen“, schoss es ihr durch den Kopf. So schnell wie der Gedanke gekommen war, so schnell wischte sie ihn wieder hinfort.
Sie atmete tief aus und schaute auf das Telefon. Sie drückte auf die Starttaste an der Seite, und sofort leuchtete der Bildschirm auf. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das plötzliche Licht zu gewöhnen. Dann erkannte sie: Es war heil geblieben. Hoffnung auf baldige Hilfe keimte in ihr auf. Sofort wählte sie den Notruf. Es klingelte. Oh Gott sei Dank, es klingelte … es klackte, als ob jemand abnehmen würde … Ohne zu zögern, erzählte sie aufgeregt, was geschehen war. Doch dann merkte sie, dass vom anderen Ende lediglich ein Rauschen und Pfeifen mit einigen seltsamen stimmähnlichen Geräuschen zu hören war.
Sie schrie: „Nein! Nein! Nein! Warum kann nicht einmal etwas glattgehen? Los jetzt! Du Scheißding! Mach schon!“
Furcht und Verzweiflung breiteten sich in ihr aus. Mehrfach versuchte sie, jemanden zu erreichen – doch stets war dieses Rauschen und Pfeifen zu hören. Wütend und enttäuscht warf sie das Telefon auf die Ablage vor sich. Ihre Hände umfassten das Lenkrad, und sie legte ihr Gesicht auf den Mittelteil. Tränen flossen über ihre Wangen hinab. Was sollte sie nur machen?
* * *
Als Frieda ihre Augen aufschlug, wurde sie vom Tageslicht geblendet. Vogelgezwitscher war zu hören. Vor lauter Erschöpfung musste sie eingeschlafen sein. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, gähnte herzhaft und streckte ihre Glieder, wobei sie gleich merkte, wie alles an ihr schmerzte. Vorsichtig hob sie ihr Oberteil hoch. Sie zählte bis drei, ehe sie sich das „Übel“ ansah. Die rechte Seite war grün und blau gefärbt. Sie stöhnte, klappte die Sonnenblende runter und schob den Spiegel auf. Ihr Gesicht sah ebenfalls sehr zerstört aus. „Scheiße, na du siehst ja aus, Mädchen“, brummelte Frieda leise. Frustriert ließ sie die Sonnenblende hoch schnappen.
Ein leichtes Hungergefühl und ein trockener Mund ließen sie sich umsehen. Da lag die Tasche. Unten im Beifahrerfußraum. Ganz langsam bückte sie sich und sah sogleich die Wasserflasche. Beides holte sie unter Schmerzen hoch. Die Brote waren etwas zerquetscht, aber essbar. Es musste ja auch nicht ansehnlich sein, sondern nur den leeren Bauch füllen. Mit großen Bissen aß sie die Schnitten auf und trank. Trotz ihres Durstes riss sie sich zusammen und hob sich von dem Wasser etwas auf, weil sie nicht wusste, wann sie das nächste Mal ihre Vorräte auffüllen konnte.
Nur die Frage war geblieben: Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie starrte auf das Telefon. Das brauchte sie nicht mehr zu versuchen, es brachte sie ohnehin nicht weiter. Sie konnte nur auf gut Glück losgehen und versuchen, irgendwo jemanden zu finden, der ihr helfen könnte. In die Richtung, aus der sie gekommen war, brauchte sie nicht zu gehen, da war endlose kilometerlang nichts. Ihre einzige Aussicht auf Erfolg bestand darin, ihren Weg einfach fortzusetzen. Frieda schnaubte. Es passte ihr gar nicht, aber lediglich abzuwarten, bis jemand vorbeikäme, war ja auch nicht aussichtsreicher.
Sie suchte einige Sachen zusammen, von denen sie der Meinung war, sie gebrauchen zu können. Klar, das Telefon musste mit, – womöglich bekam sie woanders besseren Empfang; Zigaretten – ein Blick genügte, um die Anzahl festzustellen: Nur noch drei – Frieda zuckte unwillkürlich mit den Schultern und zündete sich gleich eine an. Den ersten Zug sog sie, mit geschlossenen Augen, langsam und tief ein, ehe sie die übrigen einpackte. Es war wie eine Art kurzes Aufatmen. Auch, wenn es nichts verbesserte, so tat es ihr einfach gut. Die Streichholzschachtel; das restliche Wasser; ihr Messer trug sie am Gürtel; Geldbörse; oh! Da lag noch eine halbe Kaugummipackung im Spalt zwischen Beifahrersitz und Handbremse. Die Sonnenbrille hatte einen Totalschaden erlitten, sodass sie nicht mehr zu gebrauchen war. Ach, ihren silbernen Schlüsselbund zog sie vom Zündschloss ab. Das Stofftaschentuch vom Rücksitz – wozu auch immer – sie stopfte alles in den Rucksack.
Ihr blieb nichts erspart. Erneut hieß es, durch das Fenster hinauszuklettern. Zwar tat ihr dabei alles weh, aber es klappte ganz gut.
„Ha!“, rief sie erfreut aus, als sie sich wieder auf ihre Füße gestellt hatte.
„Na, wen wundert’s? So oft, wie du in den letzten paar Stunden hin- und her geklettert bist. Übung macht halt den Meister!“, sprach sie zu sich selbst.
Frieda drehte sich um und beugte sich durch das Fenster, um den Rucksack herauszuholen. Ein Rascheln! Es war hinter ihr. Verblüfft wollte sie schnell ihren Kopf aus dem Wagen ziehen, um zu sehen, woher es kam, dabei stieß sie sich jedoch gehörig die Rübe. „Verdammt! Du Depp! Das hatte jetzt echt noch gefehlt, als ob dir nicht schon genug wehtut“, schoss es ihr durch den Kopf. Als sie den Blick über ihre Schlter wandte, war nichts zu erkennen.
„Sicher eine Maus, die durch das Unterholz huscht“, dachte sie, doch es diente mehr dazu, sich selbst zu beruhigen, als dass sie sich selbst glaubte.
Behände nahm sie den Rucksack an sich. Im Kofferraum wollte sie weiter nach Nützlichem suchen. Sie kramte in all dem unnötigen Mist, den man in seinem Kofferraum aufbewahrte, und entdeckte ihre Lederjacke – bestimmt nicht verkehrt, sie ebenfalls mitzunehmen. Und tatsächlich lag da noch eine Schachtel Zigaretten, die zu drei Viertel voll war, und natürlich der Schlafsack, den sie am Rucksack befestigte. Das schien alles zu sein, was sich mitzunehmen lohnte. Als Frieda den Kofferraum schließen wollte, ertönte ein kräftiges Donnern. Sie hielt den Atem an und sah sich um. Ein weiteres Donnern. Eilig verschloss sie den Rucksack. Die Lederjacke zog sie sich über. Noch ein Donnern. Sie schlug kraftvoll den Kofferraum zu und warf sich den Rucksack über die Schultern. Wieder ein Donnern. Es wurde lauter und … Frieda zuckte zusammen. Es klang, als käme es näher … Rums! Eine Vogelschar flog blitzschnell empor, und schon krachte es erneut.
Ein Gewitter war das ganz eindeutig nicht. Dieses Geräusch war nicht so richtig einzuordnen. Frieda nahm ihre Beine in die Hand und humpelte schleunigst der Straße entgegen. Auch wenn ihr Fuß noch so schmerzte, sie biss die Zähne zusammen und wandte all ihre Kraft auf, nur um dort wegzukommen. Immer wieder blickte sie sich gehetzt um, denn das grausige Donnern kam näher und näher. Ein düsteres Knurren und ein verzweifelter Schrei drangen an Friedas Ohr. Ihr Puls stieg ins Unermessliche.
Hatte da wirklich jemand geschrien? Doch dann schoss der folgende Gedanke durch ihren Kopf: „Jemand? Oder etwas!?“ Sie schauderte.
Gleich hatte sie die Straße erreicht, es war nicht mehr weit. Urplötzlich stolperte sie über eine Brombeerranke. Sie schlug mit den Knien auf. Ohne dies zu beachten, rappelte sie sich auf und rannte hinkend auf die Fahrspur in ihrer ursprünglichen Fahrtrichtung weiter.
Erst als die Erschöpfung sie einholte, verlangsamte sie ihr Tempo. Sie stützte ihre Hände auf ihre leicht gebeugten Knie. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Geräusche seit Längerem nicht mehr vernommen hatte. Sie keuchte und war am ganzen Körper klitschnass geschwitzt. Dicke Schweißperlen tropften von ihrer Nasenspitze lautlos auf die Fahrbahn.
Noch während Frieda nach Atem rang, drang ein lautes Knacken an ihr Ohr und fast zeitgleich eilte eine, leise kichernde, von Kopf bis Fuß in einen weißen langen Kittel gehüllte Gestalt, mit langen Schritten über die Straße. Die Statur war sehr schmal und die dünnen, langen Beine sowie die spitz zulaufenden Halbschuhe, wirkten wie die einer Zeichentrickfigur.
Nur auf seinem Rücken trug die vermutlich männliche Person einen alten, beschmutzten Jutesack. Die Arme und Hände waren knöchern, mit überlangen Fingern und spitzen Nägeln.
Frieda kniff die Augen zusammen, zappelte der Sack? An der oberen Öffnung glaubte sie eine kleine Hand und ein kleines, zum Teil herausragendes, Bein zu erkennen. Sie schüttelte verwundert den Kopf. Sah sie das gerade wirklich? Angestrengt rieb sie sich die Augen. Sie schluckte, doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden – ebenso
wenig, wie dieses Trugbild. Sogar dumpfe Töne glaubte sie zu hören und diese schienen aus dem Sack zu kommen.
Frieda nahm all ihren Mut zusammen. Trugbild oder nicht, sie musste etwas unternehmen. „He!“, rief sie der seltsamen Figur hinterher, bevor diese in den Wald verschwinden konnte.
Augenblicklich blieb die Gestalt stehen und drehte ruckartig ihren Kopf.
Die Angeschaute taumelte erschrocken zwei Schritte zurück, denn was sie da ansah, war – nichts – das Geschöpf schien kein Gesicht zu haben. Jedenfalls waren unter dem Umhang, der dieses Wesen umhüllte, keinerlei Gesichtszüge auszumachen. Wie angewurzelt starrte sie dem Gesichtslosen entgegen. Sie spürte, wie die Angst in ihr hochkroch.
Nun konnte sie ein leises Wimmern hören. Dieses Wimmern klang, als wenn ein Kind um Hilfe bitten würde.
Regungslos verharrte dieses Ding und schien Frieda anzuglotzen.
Sie traute sich kaum, zu atmen.
Ein kräftiges Donnern zerschnitt die angespannte Stimmung. Frieda zuckte zusammen. Der Mann jedoch kicherte bösartig und verschwand blitzschnell mit langen Schritten im Wald.
Was sollte sie tun? Wenn in dem Sack wirklich ein Kind steckte, musste sie hinterher. Kurzentschlossen humpelte sie zu der Stelle, an der der Unheimliche im Wald verschwunden war. Einen tiefen Atemzug nehmend, betrat sie den weichen, moosbewachsenen Boden des Waldes. Sie blickte sich um und lauschte, ob sie etwas hörte. Nichts. Plötzlich glaubte sie, das gehässige Kichern zu hören. Mit schmerzendem Bein folgte sie dem Geräusch und entdeckte, nach vielleicht zehn Minuten, tatsächlich den Unhold mit seinem Sack. Frieda drängte sich an einen Baum heran und lugte vorsichtig hervor. Sie hoffte inständig, dass ihr dröhnendes Herz sie nicht verraten würde. Es schlug so unglaublich laut, dass sie das Gefühl hatte, nichts anderes mehr hören zu können.
Die Gestalt hatte den Sack vor, sich auf den Boden abgestellt und war gerade dabei einen kleinen Jungen zurück in den Sack zu schieben. Der Junge weinte und zappelte. Er mochte vielleicht gerade sechs Jahre alt sein. Erbarmungslos legte das Wesen seinen Handballen auf den Kopf des kleinen Menschen, schob ihn unsanft in den Sack zurück. Dabei umfasste es das gesamte Gesicht des Jungen mit seinen dünnen Fingern. Die Fingerkuppen mitsamt den spitzen Nägeln reichten unterm Kinn entlang und verletzten die Haut am Hals. Blut quoll aus den kleinen Einstichen hervor und lief den Hals des wimmernden Jungen hinab. Als der Wehrlose nicht mehr zu sehen war, schnürte der Unhold den Sack gründlich zu. In geduckter Haltung lauerte er, er horchte in den Wald hinein.
Verängstigt hielt sich Frieda mit beiden Händen den Mund zu. Er sollte sie nicht atmen hören.
Mit einem ordentlichen Schwung huckte sich der Unheimliche den Sack auf den Rücken, sah sich um, eilte tiefer in den Wald hinein, wobei wieder dies abscheuliche Kichern erklang.
Frieda musste einfach hinterher. Mit einigem Abstand verfolgte sie das Wesen.
Je weiter sie gingen, umso sumpfiger wurde der Untergrund. Die Luft roch feucht und modrig. Zu ihrer rechten war ein richtiger Sumpfwald zu sehen, dessen Boden vollständig mit Wasser bedeckt war. Die Wasseroberfläche war von der kleinen Wasserlinse fast vollständig überzogen.
Der Unheimliche musste federleicht sein, denn trotz, dass er den Sack trug, sank er, im Gegensatz zu Frieda, nicht ein. Es wurde immer schwieriger, mit dem Wesen Schritt zu halten. Sie spürte, wie ihre spärlichen Kräfte schrumpften. Einzig der Gedanke, den Jungen zu retten, trieb sie, entgegen ihrer Angst, weiter voran.