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Zwischen den Bergen herrscht Zwietracht. Während die Nachkommen von Renis den Großen Salzberg in Hallstatt nach einem Bergsturz mühsam wieder aufgebaut haben, ist Tolans Sohn am Kleinen Salzberg reich geworden und verhandelt das Salz in weitem Umkreis. Renis’ Enkelin Kallena lebt im Hügelland am Inn. Obwohl sie den Zorn auf die Leute vom Kleinen Salzberg geerbt hat, muss sie den Bruch in ihrer Familie heilen, denn im Westen erwächst eine kriegerische Macht, die den Frieden im Land bedroht.
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Seitenzahl: 349
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Jutta Leskovar
Salzbergerbin
Historischer Roman aus der Hallstattzeit
Hallstatt 540 v. Chr. Vor 60 Jahren zerstörte ein Bergsturz das Salzbergwerk von Hallstatt. Seither bemühen sich die Erbinnen von Renis um den Wiederaufbau. Tolans Nachkommen bauen auf dem Kleinen Salzberg am Dürrnberg Salz ab und betreiben Handel in weitem Umkreis. Viele Menschen weigern sich jedoch, dieses Salz zu nutzen, sondern holen es stattdessen vom wahren Salzberg, obwohl er seine alte Bedeutung noch nicht wiedererlangt hat. Auch Kallena, die mit ihrer Familie im Hügelland am Inn lebt, pflegt als Renis’ Enkelin die Missachtung des Kleinen Salzberges. Mehrmals im Jahr reist sie zu ihren Tanten: Conila ist Bergherrin am Großen Salzberg, und Sela lebt auf der Fraueninsel. Sie haben einen Auftrag – Kallena soll den Bruch in der Familie heilen. Denn im Westen ist eine Bedrohung gewachsen. Ein Kriegsherr droht, die Unabhängigkeit der Salzberge zu beenden. Nur gemeinsam können sie darauf hoffen, ihn aufzuhalten. Doch Kallena hat das Gefühl, ihre Großmutter zu verraten, wenn sie mit Tolans Erben Kontakt aufnimmt …
Jutta Leskovar, geboren 1972 in Linz, studierte in Wien Ur- und Frühgeschichte und Geschichte. Seit 2001 hat sie die Funktion einer Sammlungsleiterin am Oberösterreichischen Landesmuseum inne. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt neben der älteren Eisenzeit (Hallstattzeit) auf Frauen- und Geschlechterarchäologie sowie der Schnittstelle zwischen Neuheidentum und Archäologie. Matriarchale Mythen zu bedienen ist nicht ihre Sache, was den feministischen Blick in die Vergangenheit keineswegs ausschließt. Sie lebt mit ihrer Familie in Leonding bei Linz und arbeitet an weiteren Romanen zur Urgeschichte Oberösterreichs.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © Landesmuseum Württemberg, P. Frankenstein / H. Zwietasch
Illustratorin: Andrea Hörndler/Gestaltungskollektiv Jungbrunnen, Linz
ISBN 978-3-7349-3032-4
Für Heike
Verstorbene erscheinen kursiv
Arntha: Tochter von Kallena und Semene
Arnu: Kallenas Großvater, Plutes Vater, Mann von Renis
Baube: Kallenas Nachbar
Bina: Kallenas Cousine, Tochter von Conila, Enkelin von Renis
Chuptrak: Herrscher im Westen
Cona: legendäre Oberpriesterin des Heiligtums im Süden, war beim letzten Bergfest vor 60 Jahren auf dem Salzberg dabei
Conila: Bergherrin am Großen Salzberg, Tochter von Renis und Arnu, Mutter von Bina
Dania: Tochter von Tolan, Schwester von Tole, dem Herrn am Kleinen Salzberg
Dela: Danias Zwillingsschwester, Mutter von Fansil
Die Alte: in Kallenas Dorf für die Kommunikation mit den Göttern und die Bestimmung des richtigen Zeitpunkts für Versammlungen und Begräbnisse zuständig
Dinat: Sinas zweiter Mann, Vater von Shia
Eiri: Conilas Vertrauter auf dem Großen Salzberg
Faleni: Kallenas Nachbarin, Mutter von Meto
Fansil: Sohn von Dela, Neffe von Tole
Fenk: Schmied im Dorf nahe Kallenas Hof
Hiram: Sinas erster Mann, Vater von Renis und Tolan, starb kurz nach dem Bergsturz
Kallena: Tochter von Plute, Enkelin von Renis und Arnu, Urenkelin von Sina, als Schwurfrau verantwortlich für die Verbindung zum Großen Salzberg und die Verteilung des Salzes in ihrem Land
Loptrak: Chuptraks Bote
Meto: Sohn von Faleni und Tronne
Mimi: Haushälterin von Kallena und Semene
Noin: Schmied aus dem Land jenseits des Flusses
Plute: Kallenas Vater, Bruder von Conila und Sela, Sohn von Renis und Arnu, war bis zu seinem Tod Schwurmann
Plutenu: Kallenas und Semenes Sohn
Ran: Sinas Mutter, Kallenas Ururgroßmutter
Renis: Kallenas Großmutter, Tochter von Sina und Hiram, Mutter von Conila, Plute und Sela
Sela: Conilas und Plutes jüngere Schwester, Herrin der Fraueninsel
Semene: Kallenas Mann
Shia: Tochter von Sina und ihrem zweiten Mann Dinat, Halbschwester von Renis und Tolan
Sina: Kallenas Urgroßmutter, legendäre letzte Bergherrin vor dem Bergsturz, Mutter von Renis, Tolan und Shia
Tolan: Sohn von Sina und Hiram, Eroberer des Kleinen Salzberges, Vater von Tole, Dania und Dela
Tole: Sohn von Tolan, Vater von Toleni, Herr des Kleinen Salzberges
Toleni: Sohn von Tole, Enkel von Tolan, Erbe des Kleinen Salzberges
Tronne: Mann von Faleni
Vinia: Binas erwachsene Tochter, lebt mit ihrer Familie nicht am Großen Salzberg
Wenne: Freund von Sina und Hiram, stammte aus dem Westen, Onkel des ersten Eiri
Ein Windstoß ließ die Blätter des Vorjahres über den Waldboden tanzen. Das Rascheln klang aufdringlich in der Stille, die seit dem Abschiedslied herrschte. Trotzdem war Kallena dankbar für die Ablenkung. Verstohlen wischte sie über ihr nasses Gesicht. Sie hatte gar nicht erst versucht, die Tränen zurückzuhalten, und dennoch war es ihr unangenehm, von all den Menschen dabei beobachtet zu werden, wie sie um ihren Vater weinte. Zwischen den Bäumen, auf der anderen Seite des offenen Grabes, standen ihre Familie, sämtliche Nachbarn aus dem Dorf und, wie es schien, alle Bewohner des Landes zwischen der Flussmündung im Westen und dem Hügelland im Osten. Sogar vom Großen Fluss im Norden waren sie gekommen, um Plute die letzte Ehre zu erweisen.
Beim Gedanken an all die Freundschaften, die ihr Vater im Laufe seines Lebens geschlossen hatte, die vielen Bündnisse und Beziehungen, die er gepflegt hatte, stiegen erneut Tränen hoch. Alle hatten ihn geliebt, den großen, fröhlichen Mann mit den feuerroten Haaren, der selten seine gute Laune verloren hatte. Außer in der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, in deren Nähe er jetzt für immer lag. Doch selbst diesen Verlust hatte er überwunden und die Lebensfreude zurückgewonnen.
Um mich dann viel zu früh zu verlassen, dachte Kallena und runzelte die Stirn. Sie blinzelte ein paarmal heftig und wischte wieder über ihre Augen. Nein, hat er nicht, schalt sie sich. Er wurde ein alter Mann, das habe ich mir nur nicht eingestanden. Kallena holte tief Luft und zog das Tuch über den Kopf. Es war zu dick für diesen erstaunlich warmen Frühlingstag, aber sie hatte genug.
Die Alte, die am Grab wartete, verstand das Zeichen und hob die Hand. »Hab eine gute Reise, Plute!«, rief sie laut. Sie verneigte sich vor der Grube, in der Plutes Asche mit allerlei teuren Dingen und Töpfen voller Essen auf einem Wagen lag, dem die Räder fehlten. Dann scheuchte sie die Menschen zurück auf den Weg, der zwischen den Grabhügeln hindurch aus dem Wald, über die schmale Brücke und ins Sonnenlicht führte. Nur Kallena und ein paar Männer blieben stehen und beobachteten den langsamen Rückzug der Trauergäste.
Als alle fort waren, kam die alte Frau zurück. »Es ist vollbracht. Es geht ihm gut. Nun kannst du weitermachen.«
Kallena verzog die Lippen zu einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, und wandte sich ab, um ihrer Familie zu folgen. Während sie zwischen den Bäumen hindurchging, hörte sie hinter sich das Rumpeln der Holzbohlen, mit denen die Männer das Grab verschlossen. Sie hatten ein paar Tage zu schaufeln, um über Plutes Grab einen imposanten Hügel aufzuschütten, doch dabei würde ihnen niemand zusehen.
Irgendwann komme ich zurück, dachte Kallena. Bald.
*
Es war bereits dunkel, als Semene ihre Hand losließ, um die Haustür zu öffnen. Den ganzen Weg hierher hatten sie darüber gesprochen, was als Nächstes anzupacken war. Seit dem letzten Winter, in dem Plutes Krankheit alles überschattet hatte, war vieles vernachlässigt worden.
Die Kinder hatten ihr Gespräch nicht gestört. Wortlos und ohne zu jammern waren sie hinter ihnen hergegangen. Selbst als Arntha einmal hingefallen war, hatte sie sich nicht beschwert, und Plutenu hatte ihr sogar seine Hand hingestreckt, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Kallena hatte es nicht ausgesprochen, aber sie wollte sich nun vor allem um ihre Kinder wieder mehr kümmern. Es stimmte, sie waren schon groß, liefen den ganzen Tag zwischen den Höfen herum und halfen bei der Arbeit auf den Feldern und in den Ställen. Trotzdem brauchten die Kinder beide Eltern. Während sie selbst all ihre Kraft für die Pflege von Plute aufgebracht hatte, war Semene ein liebevoller Vater gewesen.
Im Haus brannten mehrere Lampen. Ihre Haushälterin Mimi hatte das Herdfeuer entfacht und eine Suppe gewärmt, die sie gestern gekocht hatte.
»Du bist schon hier? Bist du durch den Wald gelaufen?«, fragte Kallena und ließ sich dankbar in ihren Sessel fallen.
Mimi lächelte und rührte im Suppentopf. »Ich war eine der Ersten, die aus dem Wald kamen.«
»Was hast du gekocht, Mimi?«, fragte Plutenu.
»Immer hungrig, mein Kleiner, nicht wahr?«, sagte Kallena.
»Ich bin nicht mehr klein!«
Semene schmunzelte und setzte sich. »Ich war in seinem Alter genauso.«
»Nicht klein oder immer hungrig?«, fragte Kallena.
Semene lachte laut auf, während Plutenu nur die Stirn runzelte und eine Schale von einem Regal holte.
Arntha, der sichtlich ebenfalls nicht nach Lachen zumute war, trat dicht zu Kallena, die sie auf ihren Schoß nahm.
Es war lange her, seit ihre Tochter das letzte Mal auf ihren Knien gesessen war. Sie vermisst ihren Großvater, dachte Kallena. Das Begräbnis heute hat sie tief erschüttert.
Die Kinder waren nicht dabei gewesen, als Plutes eingewickelter Körper auf den Scheiterhaufen gelegt worden war. Es war kein furchterregender Anblick gewesen, aber trotzdem hatten Kallena und Semene entschieden, die Kinder in Mimis Obhut zurückzulassen, als sie vor einigen Tagen zum Fluss marschiert waren. Dort, wo die beiden Flüsse sich trafen, brannten seit jeher die Scheiterhaufen.
Kallena wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Mimi die dampfenden Schalen verteilte.
»Ich mag nichts essen«, murmelte Arntha und vergrub ihr Gesicht in Kallenas Tuch, das sie immer noch nicht abgenommen hatte.
Kallena ließ ihre Tochter in Ruhe, während sie ein paar Bissen aß, doch dann hielt sie ihr den Löffel vor die Nase und schmatzte übertrieben, als wäre Arntha ein kleines Kind. Kallena war erleichtert, als Arntha kicherte und gehorsam den Mund öffnete.
»Willst du auch gefüttert werden, Sohn?«, fragte Semene und beugte sich zu Plutenu, der vor ihm auf einem Stapel Decken saß und angewidert das Gesicht verzog.
Mimi kicherte, und einen kurzen Moment lang erwiderten alle ihr Lachen, sogar Plutenu. Dann senkte sich wieder eine bedrückte Stille über den Raum.
Kallena warf Semene einen Blick zu. Auf dem Gesicht ihres Mannes sah sie die gleiche Sorge, die sie selbst fühlte. »So soll es nicht sein«, sagte sie leise. »Wir dürfen lachen und fröhlich sein. Das hat er für uns gewollt. Das wisst ihr, ja?« Eindringlich sah sie ihre Kinder an.
»Ja, Mutter«, flüsterte Arntha mit Tränen in den Augen.
Auf Plutenus Gesicht glänzte es. »Ich vermisse ihn«, presste er hervor.
Kallena schluckte. »Wir werden ihn immer vermissen. Aber weil wir ihn nicht vergessen, wird er nie ganz weg sein, verstehst du? Er ist hier, solange wir an ihn denken. Hier mit uns am Feuer und drüben in seinem Haus und auf der Versammlungswiese.«
»Und im Pferdestall!«, rief Plutenu.
Kallena lächelte ihn liebevoll an. »Vor allem im Pferdestall.«
»Er hat auch die Kühe gemocht«, bemerkte Mimi.
»Weil er den Käse mochte«, brummte Semene, und alle lachten.
»Er war auch viel im Bierhaus bei Faleni«, sagte Arntha.
»Und würfeln bei Metos Großvater, als der noch gelebt hat«, fügte Plutenu hinzu.
»Und am Fluss!«
»Im Wald bei den Holzfällern!«
»Vom Großen Fluss hat er mir oft erzählt.«
»Und vom See im Süden!«
Kallena lachte. »Ihr habt recht. An all diesen Orten war euer Großvater, und überall hatte er Freunde. Und dort ist er auch jetzt, weil alle an ihn denken. Vergesst das nicht.« Sie schob Arntha von ihrem Schoß. »Mimi, bringst du sie ins Bett? Seid brav und legt euch hin. Es war ein anstrengender Tag.« Kallena war froh, auf den Gesichtern ihrer Kinder wieder ein Lächeln zu sehen.
Als Mimi sie ins Bett brachte, beobachtete Kallena Semene, wie er sein Abendessen löffelte. Seit wenigen Tagen war er der älteste Mann in ihrer Familie. Es war ein seltsamer Gedanke, obwohl sie selbst schon vor vielen Jahren die Rolle der ältesten Frau übernommen hatte. Sie erinnerte sich nur vage an ihre Mutter, und auch Semenes Mutter war lange tot. Großmutter Renis hatte die beiden Frauen bei Weitem überlebt. Erst vor zehn Jahren war sie gestorben, in dem Jahr, in dem Arntha geboren worden war. Damals hatte Renis schon nicht mehr hier gewohnt …
»Geht es dir gut, Schatz?«, fragte Semene. »Denkst du an ihn?«
Kallena seufzte. »Ich habe an Renis gedacht. Als sie gestorben ist, war ich plötzlich die älteste Frau im Haus.«
»Ich weiß, was du meinst. Nun ist der Letzte von den Alten fort.« Semene stand auf und warf ein Scheit ins Feuer. Augenblicklich wurde es heller. »Aber du bist seit Langem bereit, das Erbe deines Vaters anzutreten.«
»Mit deiner Hilfe.«
»Mit meiner Hilfe. Ich habe viel von ihm gelernt.« Semene beugte sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Dein Vater war ein guter Mann. Und er ist stolz auf dich.«
»Er war auch stolz auf dich«, sagte Kallena und stand ebenfalls auf. »Wenn ich ihm erlaubt hätte, mir den Mann auszusuchen, hätte er vielleicht sogar dich gewählt.«
Semene lächelte. »Da irrst du dich. Damals hat er mich für einen leichtfertigen Jüngling gehalten, der nichts weiter schafft, als seine geliebte Tochter zum Lachen zu bringen.«
»Das alleine hätte genügt! Aber du warst sehr viel mehr, mein Lieber. Und das hat auch mein Vater erkannt.«
Semene wurde wieder ernst. »Ganz gleich, wann er es erkannt hat, wir hatten sehr viele gute gemeinsame Jahre. Und dafür bin ich dankbar. So wie für alles, was ich hier habe.«
Kallena legte die Stirn an seine Schulter. »Du hast recht. Wir können beide für vieles dankbar sein. Und ab morgen müssen wir weitermachen.«
»Ab übermorgen. Morgen sind wir bei Faleni eingeladen.«
*
Kallena lehnte neben der Tür an der Wand ihres Hauses und schaute hinüber zu Falenis Hof. Das große Haus, die Ställe und Speicher und ein paar von den Werkstätten standen schon, seit Kallena sich erinnerte. Falenis Familie bewirtschaftete dieses Land seit Menschengedenken, ebenso wie die Ahnen von Kallenas Mutter. Die Wiesen hier waren saftig, und die Felder fruchtbar. Ihrem Vater, der als erwachsener Mann vom Großen Salzberg hierhergekommen war, hatte es Freude bereitet, dem Getreide und den Rindern beim Wachsen zuzusehen.
Wir alle sind durch das Land reich geworden, dachte Kallena.
Sie teilten es nur mit Baube, dessen Hof auf der anderen Seite des schmalen Baches lag, wo das Land nicht mehr flach war, sondern sanft zu den Hügeln hin anstieg. Hinter der ersten Kuppe versteckte sich das Dorf, in dem die Händler und Arbeiter wohnten.
Kallena legte die Handflächen auf das raue Holz ihres Hauses. Die Gebäude der drei Höfe waren grau vom Alter. Nur das Bienenhaus auf Falenis Hof war neu. Das hatte ihr Mann Tronne unbedingt gewollt, um mit Honig und Wachs handeln zu können. Er versuchte, seinem Sohn die Bienenhaltung beizubringen, doch der war ebenso stur wie die meisten Mitglieder der Familie und entwischte bei jeder Gelegenheit. Meto war ein lieber Junge, aber glücklicherweise nicht Kallenas Sohn. Plutenu war an manchen Tagen genauso wild und ungehorsam wie sein Spielkamerad, aber er besaß weitaus mehr Vernunft. Wenn Meto sie beide in Schwierigkeiten brachte, half Plutenu ihnen wieder heraus. Und ihr Sohn folgte seinem Freund nicht, wenn es gefährlich wurde.
Sie klopfte fest an die Tür. Wenn sie nicht bald aufbrächen, würde Faleni schimpfen. Es war unhöflich, zu spät zu kommen. Außerdem war Kallena hungrig.
Mimis schrille Stimme drang heraus. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und die Kinder stürmten ins Freie.
»Ich bin Erster!«, schrie Plutenu und raste voran.
»Nicht über die Wiese!«, brüllte Semene ihm hinterher und lachte, als sein Sohn einen wilden Haken schlug und gehorsam auf dem geschlungenen Weg lief, auf dem seine Schwester ihn nun zu überholen drohte.
Mimi zog die Tür kräftig zu. »Zuerst bringt man sie nicht aus dem Haus, und dann kann es ihnen nicht schnell genug gehen!« Sie steckte eine Haarsträhne unter ihr Kopftuch und eilte hinter den Kindern her.
Semene schmunzelte und griff nach Kallenas Hand. »Sie macht das gut mit den beiden, obwohl sie so jung ist.«
»Ich bin froh, sie hier zu haben. Ich weiß nicht, wie Faleni das macht. Immer nur alle drei Tage ein paar helfende Hände aus dem Dorf … Das würden wir nicht schaffen.«
»Du hast ein bisschen mehr Verantwortung als Faleni, findest du nicht?«
»Aber ich koche viel weniger, und Bier mache ich auch nicht.«
Während sie langsam zum Nachbarhof spazierten, dachte Kallena über Semenes Bemerkung nach. Er hatte recht. Sie hatte mehr Verantwortung. Nicht nur auf den Höfen. Sie war die Schwurfrau für all die Menschen hier und musste das Salz verteilen, das ihre Verwandten mit der Erlaubnis der Göttin aus dem Berg holten. Das band die Menschen aneinander und sicherte den Frieden.
»Das Salz«, murmelte sie. »Es ist höchste Zeit für die Versammlung.«
»Die Alte im Dorf muss einen Tag bestimmen. Aber es ist nicht nur das Salz, Kallena. Jetzt, ohne deinen Vater … jetzt werden sie zu dir kommen. Mit allem, was auf ihren Herzen liegt. Auf ihren kleinmütigen Herzen.«
»Semene! Sprich nicht so über unsere Nachbarn!«
Er hob die Augenbrauen. »Ich habe nicht über unsere Nachbarn gesprochen. Faleni und Tronne haben große Herzen. Selbst Baube scheint eines zu haben.«
»Du bist ein schlechter Mensch!«, rief Kallena lachend. »Im Ernst: Du machst mir Angst. Vater hat so oft von schrecklichen Besuchern erzählt.«
Semene nickte. »Niemand würde es dir übel nehmen, wenn du solche Begegnungen nicht in deinem Zuhause haben willst. Du könntest Plutes Haus dafür nutzen.«
»Und jedes Mal hinüberlaufen, sobald jemand kommt, der etwas braucht? Das ist anstrengend, und die Menschen würden es seltsam finden.« Kallena seufzte. »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die Leute in unser Haus zu bitten, wenn sie vor der Tür stehen.«
»Umso mehr brauchen wir Mimi«, sagte Semene entschlossen und ließ seiner Frau den Vortritt in Falenis Haus. »Oh, das duftet köstlich!«, rief er laut.
»Das will ich hoffen!« Faleni schob sich auf ihre Gäste zu.
Obwohl der Raum größer war als Kallenas Haus, wirkte er enger. Überall standen Tische und Hocker, und die Wände waren überladen mit Schränken und Regalen. Faleni hatte so gut wie immer Gäste, für die sie kochte und denen sie ihr Bier servierte. Sie war stolz darauf, das ganze Jahr über so großzügig sein zu können.
»Kallena, meine Liebe.«
Kallena, die keineswegs klein war, versank in der festen Umarmung ihrer Nachbarin und Freundin. Faleni überragte sie, und außerdem hatte sie breite Schultern und kräftige Arme, um Schinken und Bierfässer zu tragen, die sogar ihren Mann Tronne ins Schwitzen brachten.
»Setzt euch, setzt euch«, forderte sie ihre Gäste auf.
Rund um den größten Tisch, auf dem Töpfe, Becher und Schalen in solchen Mengen standen, dass vom dunklen Holz nicht mehr viel zu sehen war, saßen Mimi und die Kinder und sahen erwartungsvoll zu Kallena.
»Ihr seid wohl hungrig«, bemerkte sie, während sie einen Hocker unter dem Tisch hervorzog.
»Endlich«, seufzte Meto und griff nach einem Stück Fleisch.
»Halt!«, rief Faleni. »Es wird erst gegessen, wenn ich es sage.«
»Das solltest du längst wissen, Meto«, knurrte Tronne und schob Semene zum Tisch.
Faleni wartete, bis es still war, dann griff sie mit ernster Miene nach einem Krug. »Heute ist ein besonderer Tag. Wir essen, um an Plute zu denken. Er wird uns nicht verloren gehen, denn er ist immer in unseren Herzen.« Sie schmunzelte. »Und heute auch ein wenig in unserem Bauch. Diesen Wein hat er uns letztes Jahr geschenkt. Es ist nur angemessen, wenn wir ihn heute trinken.« Sie schenkte aus und reichte die Becher herum, sogar an die Kinder.
»Das ist mein erster Wein«, bemerkte Plutenu andächtig, bevor er kostete.
Meto kicherte, als er den Gesichtsausdruck seines Freundes sah.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte Tronne trocken. »Aber mir ist Bier trotzdem lieber.«
Faleni warf Kallena einen Blick zu und verzog den Mund. »Lasst uns essen! Mimi, da drüben ist eine Schale mit Rübensalat, und dort steht der Hirsetopf. Ich habe keinen Speck hineingetan.«
»Keinen Speck?«, maulte Meto.
Semene spähte in einen anderen Topf. »Hier ist auch Hirse drin. Und ich sehe Speck.«
»Zum Glück!«, seufzte Meto. »Hirse alleine ist unerträglich!«
Kallena verschluckte sich vor Lachen an ihrem Wein. Es war wohltuend, im Kreis von Familie und Freunden unbeschwert fröhlich zu sein.
*
Es war schon dunkel, als Kallena mit den Kindern nach Hause kam. Arntha wollte schlafen und verschloss den Vorhang an der Nische, in der ihr Bett stand. Plutenu war noch hellwach.
»Setz dich ans Feuer«, forderte Kallena ihren Sohn auf und griff nach der Bürste. »Ich will deinen Kopf ein wenig in Ordnung bringen, bevor du dich hinlegst.« Mit langsamen Strichen bürstete sie Plutenus dichtes Haar. Es war rot wie ihr eigenes. Auch Plute hatte solche Haare besessen. »Weißt du, warum du rote Haare hast?«
»Von Großvater«, murmelte Plutenu.
»Und woher hatte er sie?«
»Aus dem Süden. Von Uropa Arnu. Obwohl er selbst nicht rothaarig war.« Plutenu klang gelangweilt.
»Ich finde es wichtig, dass du das weißt«, bemerkte Kallena. »Wir haben Verwandte jenseits der Berge. Ist das nicht spannend?«
Plutenu zuckte mit den Schultern, und Kallena fiel die Bürste aus der Hand.
»Entschuldige«, sagte ihr Sohn und bückte sich.
»Ich bin ohnehin fertig.« Sie drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel.
Plutenu drehte sich zu ihr um. »Aber wir kennen sie nicht, diese Verwandten.«
»Das stimmt. Dennoch sind sie da. Wahrscheinlich laufen dort im heißen Süden viele Buben und Mädchen mit roten Haaren herum, so wie du.«
Plutenu grinste. Dieser Gedanke schien ihm zu gefallen. »Vielleicht lerne ich sie einmal kennen.«
»Ja, vielleicht. Wenn du erwachsen bist. Dann unternimmst du eine große Reise. Nun aber los, Schlafenszeit.«
Während Kallena am Feuer saß und auf Semene wartete, der nach dem Vieh sah, fragte sie sich, ob es Großmutter Renis gewesen war, die von der Herkunft des roten Haares erzählt hatte. Oder Arnu? Vielleicht hatte er darüber gesprochen, in einem der schweren Winter, in denen die Kälte ihm zu schaffen gemacht hatte, ihm, dem Südländer, der mehr gefroren hatte als alle anderen. Vor allem in seinen letzten Jahren hatte er gar nicht genug Wollumhänge und Beinwickel tragen können, und im Winter hatte er es vermieden, vor die Tür zu gehen. Hier an diesem Feuer war er gesessen, mit Renis an seiner Seite.
Kallena seufzte. Sie vermisste ihre Großmutter, die schon so lange tot war.
Ich sollte dankbar sein. Ich habe sie erst verloren, als ich erwachsen war.
Der Verlust schien sich durch den Tod ihres Vaters zu verstärken. Es war, als rückten ihre Ahnen näher, um ihr durch einen Schleier zuzusehen.
Wie finde ich euch, wenn ich eine Frage habe?
Die Müdigkeit drückte ihr die Augen zu.
*
Am frühen Morgen schickte Kallena Mimi ins Dorf, um von der Alten den besten Tag für die Versammlung zu erfahren. Deshalb musste sie selbst für das Mittagessen sorgen. Wie immer hatte Faleni gestern ihren Gästen Töpfe und Schalen in die Hand gedrückt, als sie sich am Abend verabschiedet hatten. Kallena brauchte alles nur aufzuwärmen. Sie war nicht die schlechte Köchin, für die sie sich hielt, aber die Zubereitung der Speisen bereitete ihr bei Weitem nicht so viel Freude wie ihrer Nachbarin. Hie und da in Falenis köstlichen Eintöpfen und Suppen zu rühren, während sie den Tisch deckte und das Haus aufräumte, war die richtige Beschäftigung für diesen zweiten Tag nach dem Begräbnis ihres Vaters. Es lenkte sie ab von ihrer Trauer und der Furcht vor der Zukunft.
Plute hatte vieles zusammengehalten, was nicht auseinanderfallen durfte. Darüber musste bei der Versammlung gesprochen werden. Kallena fand es tröstlich, nicht alleine verantwortlich zu sein. Viele andere hatten ein Recht, gehört zu werden und Entscheidungen zu fällen. Sie waren eine Gemeinschaft in diesem Teil des Landes.
Diesen Gedanken hielt sie fest, während sie die Mäntel der Kinder neben ihren Betten an die Haken hängte. Es war warm und trocken, deshalb hatten Arntha und Plutenu nur dünne Westen über ihre Hemden gezogen, als sie mit ihrem Vater zu den Ställen gegangen waren. Kallena wusste nicht, ob Semene sie mit zu den Feldern nahm, wo die Arbeiter seit einiger Zeit täglich zu tun hatten. Ihrem Mann war wichtig, dass seine Kinder begriffen, was auf ihrem Land zu erledigen und wann der richtige Zeitpunkt dafür war. »Wir sind Bauern«, sagte er oft.
Natürlich hatte er recht, fand Kallena, aber es klang, als besäßen sie drei Kühe und ein Gemüsefeld. Doch ihnen gehörte das halbe Land zwischen hier und dem Fluss im Westen.
Als ihr Magen knurrte, wurde sie ungeduldig. Sollte sie ohne ihre Familie mit dem Essen beginnen? In diesem Moment hörte sie Plutenus helle Stimme. Die Kinder stürmten herein.
»Pal hat sich verletzt, Mutter!«, rief Arntha aufgeregt.
»Mach ihr keine Angst«, sagte Semene und schloss die Tür. Er warf seiner Frau einen beruhigenden Blick zu. »Es ist nichts. Nur ein Kratzer. Er muss sich auf der Wiese oder im Stall an einem Balken aufgeschürft haben.«
»Kann ich ihn noch reiten?«, fragte Kallena.
»Jederzeit.«
»Aber vielleicht tut es ihm weh!«, wandte Plutenu ein.
»Keine Sorge«, sagte Semene und teilte das Essen aus. »Willst du Suppe oder Eintopf, Plutenu?«
»Beides!«, rief der Junge und vergaß die Sorge um das Pferd seiner Mutter.
Nach dem Essen schickte Kallena die Kinder hinaus, um nach Mimi Ausschau zu halten.
»Möglicherweise müssen wir heute noch Boten schicken«, sagte Kallena. »Falls die Alte den Tag der Versammlung sehr früh ansetzt.«
Semene zuckte die Schultern. »Es ist niemand fort, soweit ich weiß. Wir werden alle rechtzeitig benachrichtigen können. Solange es nicht gleich morgen sein muss.«
»Wer weiß. Es ist schon vorgekommen.«
»Die Alte wird dir das nicht antun. Nicht so bald nach …« Semene hielt inne.
Kallena griff nach seiner Hand. »Ich weiß, was du sagen willst. Nicht so bald nach Plutes Tod. Wir werden lernen müssen, es laut zu sagen.«
»Du hast recht. Vielleicht gelingt es dir früher als mir.« Semene sah traurig aus.
Auch in Kallenas Augen stiegen Tränen. Sie drückte seine Hand. »Es wird jeden Tag ein wenig leichter werden«, flüsterte sie.
Sie hatten gerade noch Zeit, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, bevor die Tür aufflog.
»In zwei Tagen!«, stieß Mimi hervor. Die Alte habe sie ungeduldig erwartet, erzählte Mimi. Warum sie nicht bereits bei Plutes Begräbnis gesagt hatte, dass die Versammlung schon so bald stattfinden sollte, wusste Mimi nicht. »Ich habe nicht gewagt, danach zu fragen.«
»Natürlich nicht. Es ist nicht deine Schuld.« Kallena war wütend. So viel Zeit war vergangen, seit das Salz geliefert und in den alten Speicher geräumt worden war. Kam es da auf ein paar Tage mehr oder weniger an, bevor es verteilt wurde?
Aber es war nicht richtig, sich über die Alte zu ärgern. Sie war nur die Botin, nicht nur für die Salzberggöttin, sondern auch für die anderen Götter in den Wäldern und am Fluss. Wann die Toten begraben werden sollten und wann das Salz verteilt werden musste, das erzählten sie ihr. Abgesehen davon wusste die Alte wenig, und sie hatte keine Macht. Trotzdem genoss sie den Respekt aller Menschen im weiten Umkreis.
Die Alte war schon alt gewesen, als Kallena geboren wurde. Niemand schien sich an ihre Vorgängerin zu erinnern. Sie erfüllte ihre Aufgabe seit langer Zeit und so gewissenhaft, dass nie jemand wagte, ihr zu widersprechen. Somit hatte die Versammlung in zwei Tagen stattzufinden.
Kallena schickte Arntha zu Faleni und ihren Sohn zu Baube. Damit wurde eine Kette in Gang gesetzt. Meto würde ins Dorf laufen, um die Botschaft zu verkünden, denn die Alte machte sich nicht die Mühe, sie ihren Nachbarn zu erzählen. Ein paar Dorfbewohner, auf die Kallena sich verlassen konnte, holten jene aus den Hügeln, die das Salz entgegennehmen durften. Baube wiederum marschierte zum Fluss. Auf diese Weise wurden alle rechtzeitig eingeladen.
»Und du gehst bitte zu Faleni, damit du ihr helfen kannst«, sagte Semene zu Mimi.
»Natürlich. Am besten jetzt gleich. Sie wird heute noch beginnen wollen.« Mimi wartete auf ein zustimmendes Zeichen von Kallena, dann verließ sie das Haus.
Kallena entfuhr ein Schnauben. »Faleni wird schon außer sich sein. Ich bin sicher, Tronne versteckt sich bei seinen Bienen, um ihr nicht in die Quere zu kommen.«
»Meto wird sich auch Zeit lassen und seiner Mutter aus dem Weg gehen. Sollen wir Arntha vor Faleni retten?«, fragte Semene.
Kallena schüttelte den Kopf. »Die beiden kommen gut miteinander aus. Mimi und Arntha werden viel von ihr lernen, ohne gerügt zu werden. Da bin ich sicher. Ich schicke auch Plutenu zu ihr, wenn er von Baube zurückkommt.«
»Gut. Dann lass uns nach dem Salz sehen.«
*
Es gab nichts mehr zu tun, als den Schmuck anzulegen. Kallena hatte ihr bestes Kleid aus feiner blauer Wolle angezogen und sich einen kurzen roten Umhang um die Schultern gelegt. Seit einer Weile stand sie mit einer alten Gewandschließe in der Hand da und betrachtete die beiden ebenmäßigen Bronzespiralen, an denen eine lange Nadel befestigt war. Sie war ein kleines Kind gewesen, als Großmutter Renis ihr das erste Mal von der Herkunft dieses Schmuckes erzählt hatte. Wie sie durch das Dorf gehetzt war, nachdem der Bergsturz begonnen hatte, der das Salzbergwerk und ihre Heimat zerstören sollte, und wie sie das Nötigste, darunter Sinas ganzen Schmuck, eingepackt hatte.
»War der Schmuck denn so wichtig?«, hatte die kleine Kallena gefragt.
Renis’ Augen hatten geblitzt vor Vergnügen. »Was für eine kluge Frage! Weißt du, wir hätten den Schmuck gegen etwas zu essen eintauschen können, wenn es notwendig geworden wäre. Oder gegen Holz und Werkzeug. Glücklicherweise war Sina, meine Mutter, nie dazu gezwungen. Die Göttin hat für uns gesorgt. Wir hatten genug zu essen, und alles, was wir brauchten, um wiederaufzubauen, was zerstört worden war. Deshalb konnte Sina ihren Schmuck behalten. Und mir einige Stücke davon schenken. Diese Schließe schenke ich nun dir. Es gibt noch eine davon.«
Kallena war tief beeindruckt gewesen von Renis’ Worten und erinnerte sich bis heute daran. Sie hätte gerne gewusst, wo die zweite Gewandschließe geblieben war. Doch das hatte sie ihre Großmutter nie zu fragen gewagt. Hatte Sina sie ihrer anderen Tochter geschenkt? Shia war das gemeinsame Kind von Sina und Dinat gewesen und damit Renis’ Halbschwester. Shia war im gleichen Jahr geboren worden wie Renis’ älteste Tochter Conila. Renis hatte Shia wie ihr eigenes Kind aufgezogen, denn Sina hatte sich von der Geburt ihres letzten Kindes nie mehr erholt.
Kein Wunder, dachte Kallena. Sie war damals keine junge Frau mehr.
Irgendwann hatte Sina ihren zweiten Mann Dinat in seine Heimat am Großen Fluss begleitet und Shia mitgenommen. Kallena wusste, wie traurig Renis gewesen war, als sie Abschied nehmen musste, nicht nur von ihrer Mutter, sondern auch von ihrer jungen Halbschwester, die sie liebte wie ihre Kinder. Deshalb hatte Kallena immer vermieden, mit ihrer Großmutter über Shia und deren Familie zu sprechen. Und deshalb wusste sie nicht, was aus Sinas restlichem Schmuck geworden war.
Wie dumm von mir, über solche Dinge nachzudenken, schalt Kallena sich und stach die Nadel der Gewandschließe entschlossen durch ihren Umhang. Es tat ihr nicht gut, zu viel über die Vergangenheit zu grübeln.
Semene wartete an der Tür auf sie. »Bereit?«
*
Falenis Haus war überfüllt. Obwohl draußen Tische mit Krügen und Schalen standen, hatten alle Besucher versucht, drinnen einen Platz zu ergattern. Niemand wollte verpassen, was gesprochen wurde.
Kaum hatte sie den Raum betreten, bereute Kallena den Umhang. Es war viel zu heiß, obwohl kein einziges Feuer brannte.
»Lass die Tür offen, bitte«, sagte sie zu Semene. Sie nahm den Umhang ab, steckte die Gewandschließe ihrer Großmutter sorgfältig an ihr Kleid und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Den meisten war sie erst vor wenigen Tagen beim Begräbnis ihres Vaters begegnet, doch einige hatte sie seit dem Sommerfest nicht mehr gesehen. Jede Frau und jeder Mann im Raum begrüßte sie freundlich und fand ein paar Worte über ihren verstorbenen Vater.
Als Kallena bei Faleni und ihrem Platz am Tisch ankam, an dem schon ihre Familie saß, war ihr Gesicht tränennass.
»Trink einen Schluck, meine Liebe«, sagte Faleni leise.
Es wurde still, und alle Blicke wandten sich Kallena zu.
Sie richtete sich auf ihrem Sessel ein wenig auf. »Wie es Brauch ist seit Anbeginn der Zeit, überreiche ich euch das Salz. Es ist heilig, vom Großen Salzberg. Die Bergherrin Conila selbst hat es in die Hände des Boten gelegt, der es mir gebracht hat.«
»Ist es viel?«, fragte eine Frau hoffnungsvoll.
Kallena schüttelte traurig den Kopf. »Wir alle wissen, dass es noch lange Zeit nicht sehr viel sein wird. Aber es reicht. Für uns alle. Wenn wir sparsam sind.«
»Und das andere Salz vom Kleinen Salzberg teuer kaufen«, knurrte Tronne.
Faleni warf ihm einen finsteren Blick zu.
Semene schmunzelte. »Wer nicht sparsam sein kann, muss teuer dazukaufen, das stimmt.«
Ein paar Leute grinsten verstohlen.
»Das kann jeder selbst entscheiden«, stellte Kallena fest. »Hier jedenfalls ist gutes Salz.« Sie deutete auf den Tisch vor sich, auf dem sich zahlreiche Säckchen in unterschiedlichen Größen stapelten. In den festen Stoff waren mit rotem Faden Zeichen gestickt. Kallena hatte sich im letzten Winter selbst damit abgemüht, während sie an Plutes Bett gesessen war und über seinen unruhigen Schlaf gewacht hatte.
Der Reihe nach traten die Leute vor. Jedem reichte Kallena das ihm zugedachte Säckchen. »Von der Göttin. Und von Conila«, sagte sie jedes Mal.
Als das Salz verteilt war, blieb es eine Weile still. Nur einmal im Jahr fand diese besondere Versammlung statt. Nun mussten die Menschen mit dem auskommen, was sie erhalten hatten. Vor allem gehörte es ihnen nicht alleine. Sie teilten es mit ihren Nachbarn, nach klar festgelegten Regeln. Am Ende besaßen alle genau die gleiche Menge Salz. In manchen Familien wurde ausschließlich dieses Salz verwendet, nicht nur für die Kranken oder zu seltenen Anlässen, sondern für jede Speise. In einer winzigen Menge. Doch die meisten schafften es nicht, so sparsam zu sein, und kauften von Händlern das andere Salz, das vom Kleinen Salzberg kam. Verschämt, fast heimlich. Man war dem wahren, dem Großen Salzberg nach der Zerstörung durch einen Erdrutsch treu geblieben, nicht erst, seit Renis und Arnu ihrem Sohn Plute hierher gefolgt waren. Doch noch immer konnte dort nicht so viel Salz abgebaut werden wie zu der Zeit vor dem Unglück, als Kallenas Urgroßmutter und Renis’ Mutter Sina Bergherrin gewesen war.
»Wir bitten um den Segen der Göttin«, beendete Kallena das Schweigen. »Möge sie durch das Salz in unsere Häuser eintreten.«
Faleni seufzte laut, klatschte in die Hände und stand auf. Jetzt durfte gefeiert werden. »Bedient euch, liebe Gäste. Es sollte genug für alle da sein.«
»Darauf verlassen wir uns, Faleni!«, rief ein Mann.
Unter Gelächter und Gerumpel versorgten sich die Menschen mit Speisen und Getränken.
Kallena aß nur ein paar Bissen. Ihr war immer noch heiß, und sie fühlte sich nicht wohl. »Ich gehe nach draußen«, raunte sie Semene zu.
Doch bevor sie die Tür erreichte, durchschnitt Baubes Stimme den Raum. »Wir müssen über Chuptrak sprechen, Kallena.«
Augenblicklich war es wieder still. Kallena unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte wenig Lust, sich zu setzen, und ging weiter Richtung Tür. Wenn Baube erst einmal begonnen hatte, würde er ihr keine Gelegenheit mehr geben, zu verschwinden. Erst bei der Tür hielt sie inne. Mit einem erzwungenen Lächeln drehte sie sich zu ihrem Nachbarn um. »Du hast recht. Es lässt sich nicht vermeiden.«
»Was ist mit Chuptrak?«, fragte eine Frau.
»Das Gleiche wie immer«, antwortete Faleni. »Hockt dick auf seiner Burg im Westen und schielt gierig auf Länder, die ihn nichts angehen.«
»Wie einst Bohut«, knurrte Tronne. »Die Mächtigen verschwinden einfach nicht.«
»Ist das sein Vorfahr?«, fragte ein junger Mann aus dem Dorf am Fluss. »Bohut, meine ich.«
Baube schnalzte mit der Zunge. »Das ist doch einerlei! Frag Loptrak, wenn er das nächste Mal von seinem Herrn hierhergeschickt wird, um dessen Loblied zu singen!«
»Ich finde diese Frage gar nicht uninteressant«, bemerkte Kallena gelassen.
Der junge Mann warf ihr einen dankbaren Blick zu.
»Ich habe sie mir selbst nie gestellt, und ich weiß auch keine Antwort. Vielleicht ist Chuptrak wirklich Bohuts Erbe. Dann liegt die Gier nach Macht und fremdem Land in der Familie.«
»Renis hat oft von ihrer Angst vor Bohut und seinen Söhnen erzählt«, sagte Faleni nachdenklich.
»Was ist damals passiert?«, fragte der junge Mann.
Baube wollte etwas sagen, aber Kallena schnitt ihm das Wort ab. »Bohut kam aus dem Norden und überfiel die Länder im Westen. Weil er immer weiter vorrückte, befürchteten alle, er könnte es auch auf unser Land oder den Großen Salzberg abgesehen haben. Das war noch vor dem großen Unglück.«
»Als der Berg herunterkam und Renis’ Vater Hiram alle gerettet hat«, murmelte der junge Mann ehrfürchtig. »Und dabei so schwer verletzt wurde, dass die Göttin ihn zu sich geholt hat.«
»Du weißt viel über diese Dinge, die so lange zurückliegen«, stellte Kallena anerkennend fest.
»Manche scheinen sich mehr für die Vergangenheit zu interessieren als für die Zukunft«, zischte Baube aufgebracht. »Wir müssen darüber sprechen, wie wir uns Chuptrak gegenüber verhalten. Wir müssen ihn bekämpfen!«
Kallena beachtete ihn nicht. »Bohut und auch seine Söhne eroberten unsere Länder nicht. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Doch Baube hat recht. Frag Loptrak. Ich bin sicher, er taucht bald wieder hier auf.«
»Damit müssen wir rechnen«, stimmte Semene zu. »Er kommt meistens um diese Jahreszeit. Aber Faleni, ich muss dir widersprechen. Du sagtest vorhin, mit Chuptrak sei alles wie immer. Das ist nicht ganz richtig.«
Faleni runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Kallena hat eine Botschaft erhalten.«
»Das stimmt«, sagte Kallena. »Vom Großen Salzberg. Eiri war hier.«
»Wer ist Eiri?«, wollte Baube wissen.
»Ach, Baube! Du weißt doch, wer Eiri ist!«, rief Kallena aufgebracht. Sie spürte, wie der Ärger aus ihrem Bauch nach oben stieg. »Conilas Vertrauter. Der das Bergwerk leitet.«
»Wir kennen Eiri«, sagte Faleni mit fester Stimme. »Wann war er hier?«
»Kurz vor Vaters Begräbnis.« Einen Moment lang hielt Kallena inne und griff an ihre Kehle. Als sie sicher war, ihre Stimme unter Kontrolle zu haben, fuhr sie fort: »Er hat erfahren, dass Chuptrak ernsthaft über Salz nachdenkt. Er hat keines, aber er braucht es, wie wir alle. Bisher kauft er es. Ihr wisst, wo.«
»Am Kleinen Salzberg. Bei Tole. Es ist nicht verboten, das auszusprechen, Kallena.« Baubes Mund war zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
Kallena unternahm gar nicht erst den Versuch, ihn freundlich anzusehen. »Es ist meine Angelegenheit, wessen Namen ich sage und was ich vermeide, Baube.«
»Was meinst du, Kallena?«, unterbrach Faleni. »In welcher Weise denkt Chuptrak über das Salz nach?«
»Er will es wohl nicht mehr kaufen müssen«, brummte Tronne.
Faleni sah erstaunt zwischen ihrem Mann und Kallena hin und her. »Stimmt das?«
Kallena nickte. »Es sieht so aus. Eiri hat Verwandte im Westen. Von denen hat er erfahren, was Chuptrak so redet, wenn er im Kreis seiner Vertrauten ist. Er bezahlt viel für sein Salz, weil er es großzügig an seine Untertanen verteilt. Wenn der Kleine Salzberg ihm gehören würde …«
»Nach allem, was wir von Eiri gehört haben, verfügt Chuptrak über genügend Krieger«, sagte Semene.
»Aber er ist doch so weit weg!«, rief Faleni.
Semene schüttelte den Kopf. »Acht Tage auf einem guten Pferd, und man muss noch nicht einmal den ganzen Tag durchreiten.«
»Oh«, machte Faleni bestürzt.
»Oh«, äffte Baube sie nach. »Natürlich ist Chuptrak viel zu nah! Selbst wenn er acht Tagesreisen entfernt lebt. Seine Anhänger sind schon viel näher. Habt ihr nicht zugehört, wenn Loptrak stolz von den Eroberungen erzählt hat?«
»Ich weiß nicht, ob er die Länder wirklich erobert hat«, versuchte Semene zu beschwichtigen. »Die Leute scheinen ihm freiwillig zu folgen.«
»Weil sie glauben, dass die Götter ihn gesandt haben!«, stieß Kallena hervor. »Was für ein dummer Gedanke!«
»Ich stimme dir zu, Kallena«, sagte Baube. »Es ist abstoßend, das zu glauben. So etwas wollen wir hier nicht. Denn wenn Chuptrak den Kleinen Salzberg in seine Gewalt bringt, wird er weiter erobern. Den Großen Salzberg … unser Land … Es betrifft uns in jedem Fall. Deshalb müssen wir kämpfen. Wir brauchen Krieger, und wir müssen unsere jungen Leute ausbilden.« Er warf einen Blick auf Meto, der ihm begeistert zunickte. »Plute würde mir zustimmen, Kallena.«
Die Erwähnung ihres Vaters gab der Wut neuen Schwung. »Du kannst nicht wissen, was Plute sagen würde, Baube«, zischte Kallena. »Er ist nicht mehr hier. Aber ich bin es. Und ich sage, wir fangen keinen Krieg an, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
»Doch du bestimmst nicht, was geschieht, Kallena«, sagte Baube.
»Das hat auch Plute nicht getan!«, rief Faleni. »Trotzdem hat er meistens für uns alle gesprochen, nicht wahr?« Auffordernd schaute sie in die Runde.
Zustimmendes Gemurmel und Nicken antworteten ihr.
»Und genauso spricht Kallena für uns. Sie ist unsere Schwurfrau. Oder willst du das anzweifeln, Baube?«
Baube verzog den Mund. »Natürlich nicht.«
Tronne klopfte auf den Tisch. »Ich will auch keinen Krieg. Schon gar nicht will ich meinen Sohn mit einer Waffe in der Hand sehen.«
»Ich auch nicht!«, rief eine Frau. »Wir wissen doch noch viel zu wenig.«
»Sollen wir mit den Leuten vom Kleinen Salzberg reden?«, fragte der junge Mann schüchtern.
»Auf keinen Fall!«, entgegnete Kallena scharf.
*
»Ich weiß, du willst es nicht hören, Kallena!«, rief Semene. »Aber die Menschen am Kleinen Salzberg haben ein Recht, von dieser Bedrohung durch Chuptrak zu erfahren!«
Sie stritten schon den ganzen Abend.
»Und warum muss ausgerechnet ich es sein, die diese Botschaft überbringt? Vielleicht war Eiri beim Kleinen Salzberg, nachdem er von uns abgereist ist!«
Semene schnaubte. »Das ist lächerlich! Eiri kann unmöglich dorthin gehen, er ist Conilas Vertrauter. Das wäre Verrat!«
»Und wo ist der Unterschied? Eiri ist ihr Vertrauter, und ich bin ihre Nichte. Warum soll ich mit denen reden, wäre das kein Verrat?«
»Mit denen! Das sind deine Verwandten, ob du es willst oder nicht. Ganz abgesehen davon hätte es für uns furchtbare Auswirkungen, wenn Chuptrak sich zum Herrn über den Kleinen Salzberg macht.«
»Geschieht ihnen recht«, zischte Kallena. »Das wäre nur gerecht nach Tolans Frevel!«
Tolan war Renis’ Bruder gewesen. Er hatte nicht an die Göttin geglaubt, und das Salz war ihm nicht heilig gewesen. Reich hatte er werden wollen und deshalb den Kleinen Salzberg erobert. Kurz danach war das Unglück am Großen Salzberg geschehen und hatte alles zerstört. Das ganze Land war fortan auf das Salz von Tolan angewiesen gewesen. Er war längst gestorben, doch sein Sohn Tole führte das Bergwerk in seinem Sinne weiter und ließ sich das Salz teuer bezahlen.
Semene seufzte. »Ich weiß, das meinst du nicht ernst.«