Wicca · Kelten · Schamanen - Jutta Leskovar - E-Book

Wicca · Kelten · Schamanen E-Book

Jutta Leskovar

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Beschreibung

Was hat die Venus von Willendorf mit dem neuen Hexenkult zu tun? Warum üben längst vergangene Zeiten und Kulturen eine so große Faszination auf uns moderne Menschen aus? Sei es eine neue Netflix-Serie oder ein anstehendes Wikinger-Reenactment: Es wimmelt darin nur so von vorchristlicher Symbolik. Doch welche archäologischen »Beweise« liegen diesen Fiktionen zugrunde, die im Zeichen der (vermeintlichen) Rekonstruktion bis hin zur Wiederbelebung »uralter« Religionen stehen? Dieses Buch gibt einen Überblick über das Neuheidentum, betrachtet das Phänomen durch die archäologische Brille und liefert Antworten auf viele Fragen: Was sind die historischen Anknüpfungspunkte des Neuheidentums? Welche unterschiedlichen Gruppen gibt es in Europa? Welche Rolle spielen dabei Erde und Natur? Was ist tatsächlich bekannt über die spirituellen Vorstellungen jener Menschen, die Stonehenge bauten, und waren das wirklich die, die wir heute »Kelten« nennen? Kompakte Informationen zum Neuheidentum Für Fans der Fantasy-Szene, Anhänger*innen spiritueller Praktiken sowie Interessierte an alten Religionen und Archäologie Mit Fotos von Fundorten, alten Objekten und (nachgestellten) Ritualen

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Jutta Leskovar

Wicca · Kelten · Schamanen

Archäologische Fakten und Fiktionen im Neuheidentum

Jutta Leskovar

WiccaKeltenSchamanen

Archäologische Fakten und Fiktionen im Neuheidentum

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Cover © Jozef Klopacka/shutterstock.com

Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel

Lektorat: Markus Weiglein

Auch als Hardcover erhältlich: ISBN 978-3-7025-1095-4

eISBN 978-3-7025-8109-1

www.pustet.at

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Die Suche nach einer konkreten Ursprünglichkeit

Wozu dieses Buch?

Forschungen und Quellen

Der unschätzbare Wert der Archäologie

Aufbau und Schwerpunkte

Neuheidentum — ein Überblick

Was sind die dominierenden (Selbst-)Bezeichnungen?

Wie groß ist die Zahl der Anhänger*innen?

Was sind die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Gruppen?

Woraus beziehen die Strömungen ihre Legitimation – und worin wurzelt die Popularität?

Welche Rolle spielen Erde und Natur?

Welcher Einfluss wird Gottheiten zugeschrieben?

Wie lässt sich der Wertekosmos charakterisieren?

Welche Bedeutung kommen Organisation und Rekonstruktion zu?

Neuheidnische und verwandte Erscheinungsformen

Wicca und Neue Hexen

Keltisches Neuheidentum

Germanisches Neuheidentum

Osteuropäisches Neuheidentum

Antikes Neuheidentum

Neo-Schamanismus

Themen, Orte und Objekte

Archäologische Inhalte

„Völker“

Gottheiten

Jahreskreisfeste

Keltischer Baumkreis

Fundorte – Kraftorte

Objekte und Symbole

Abschließende Betrachtungen

Naturnähe – Naturferne

Reaktionen aus Wissenschaft und Kirche

Ausblick

Anhänge

Endnoten

Literatur

Bildnachweis

Vorwort

Sich als Archäologin mit dem Neuheidentum auseinanderzusetzen, basiert in meinem Fall auf großem persönlichem Interesse an dieser Szene. Live beobachten zu können, wie Religionen entstehen, die noch dazu eine deutliche Nähe zu meinem Fachbereich aufweisen, empfinde ich als spannend. Diese Faszination ist in meinem Fall außerdem älter als die ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit. De facto hat mich das Interesse an rückwärtsschauenden neureligiösen Strömungen in meiner Teenagerzeit erst zum Studium der Ur- und Frühgeschichte geführt. Die Jahre des Studiums waren jedoch (mutmaßlich?) prägender als die vorangegangene Zeit des allgemeinen Interesses an Vergangenheit und Neuheidentum. Dies mag auch der Grund sein, weswegen bei allem Interesse am Forschungsgegenstand Neuheidentum und einer grundlegenden großen Toleranz diesen Glaubensrichtungen gegenüber eine gewisse Distanz unüberwindbar geblieben ist. Oder, um es so zu sagen: Der Versuch, manch spirituelle Stimmung nachvollziehen zu können, scheitert für die Wissenschaftlerin in mir spätestens an Aussagen wie „[…] und auch die Kelten haben in der Nacht der Wintersonnenwende schon geräuchert“.

Ich versuche mich dem Thema also mit dem methodischen und inhaltlichen Rüstzeug der Prähistorikerin zu nähern. Als aus der protestantischen Kirche Ausgetretene (in einem überwiegend katholischen Land) hindert mich auch keine besondere Nähe oder Beziehung zum Christentum, das Neuheidentum auf neutrale (und somit zumindest nicht feindliche) Weise zu betrachten. Es fällt mir persönlich leicht, neuheidnische Aufrufe zur Nutzung der persönlichen Gestaltungsfreiheit beispielsweise von Ritualen als aufrichtig zu empfinden, ebenso die häufig formulierte Toleranz gegenüber Andersgläubigen, die Ablehnung von hierarchischen Strukturen, die Bedeutung von Umweltschutz, Achtsamkeit gegenüber der Natur und dergleichen.

Gewisse Denkweisen, wie sie manchmal beispielsweise im germanischen oder osteuropäischen Neuheidentum zu finden sind, lehne ich allerdings vehement ab – es kann nicht toleriert werden, wenn Themen und Wortwahl nahe an Nationalsozialismus und Rassismus rücken. Die Dinge, Themen und Menschen hier säuberlich voneinander zu trennen und nicht das gesamte Neuheidentum zu verteufeln, erscheint mir nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht methodisch korrekt zu sein, sondern soll auch den Praktizierenden gerecht werden, die eben nicht samt und sonders in einer Ecke mit Neonazis stehen.

Letztendlich führt meine enge persönliche Nähe zum Core-Schamanismus zu einem zumindest teilweisen „Insider-Status“, der sich auf meine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zwar nicht auswirken sollte, es jedoch zweifellos tut1 – vielleicht aber weniger verfälschend oder verzerrend, sondern möglicherweise sogar nutzbringend.

So geht es mir um eine säuberliche Trennung der zu analysierenden Elemente: Wenn zum Beispiel eine Wicca-Praktizierende in einem Ritual, in dem sie um Unterstützung für ein Bewerbungsgespräch bittet, eine keltische Göttin anruft (an deren Existenz sie glaubt oder auch nicht), weil sie in einem Buch gelesen hat, dass „die Kelten“ diese Göttin bereits um 700 v. Chr. verehrt haben sollen, dann möchte ich als Prähistorikerin höflich einwerfen, dass „die Kelten“ ein kompliziertes Konstrukt sind, das nicht eindeutig mit der Zeit um 700 v. Chr. zu verknüpfen ist. Und dass die Quellenlage für diese konkrete Göttin eher eingeschränkt ist, wir also nicht wissen können, ob sie in der Urgeschichte für das prähistorische Äquivalent eines Bewerbungsgespräches zuständig war. Ich stelle jedoch nicht infrage, dass die Praktizierende vollkommen frei ist, sowohl an die Zuständigkeit der Göttin als auch ihre historische Einbettung, ihre Anbindung an wie auch immer geartete Kelten (und damit an eine sehr gute Quellenlage) zu glauben sowie von der Wirksamkeit ihres Rituals überzeugt zu sein, welches sie nach eigenem Gutdünken durchführen darf, solange sie niemandem – und keiner Fundstelle – schadet. Darüber hinaus besteht aus meiner Sicht die Möglichkeit, dass diese Göttin tatsächlich existiert und hilfsbereit ist – oder zumindest ihre Anrufung den gewünschten Effekt tatsächlich hervorruft. Ich muss nicht selbst an diese konkrete Göttin glauben, um ihre Existenz für möglich zu halten oder die Wirksamkeit des Rituals, in dem sie eine Rolle spielt.

Dies ist der Maßstab, den ich an meine Beschäftigung mit dem Neuheidentum lege und dem ich – nach bestem Wissen und Gewissen schreibend – zu entsprechen hoffe. Somit werde ich zum besseren Verständnis Glaubensinhalte und Rituale des Neuheidentums im Laufe dieses Buches zwar beschreiben, sie aber nur hinsichtlich der Einbindung von archäologischen Inhalten kommentieren, in der Hoffnung, dass dies nicht als (Ab-)Wertung interpretiert wird.

Mein Dank gilt Christian Hemmers, Christina Schmid und meinen Kindern für die vielfältige Unterstützung während der Entstehung dieses Buches sowie – stellvertretend für den Anton Pustet Verlag – Tanja Kühnel für die grafische Umsetzung und Markus Weiglein für die aufmerksame Verfeinerung des Textes und die Begleitung dieses Projektes.

Jutta Leskovar,

im Sommer 2023

Einleitung

Die Suche nach einer konkreten Ursprünglichkeit

Die Beschäftigung mit vergangenen Kulturen zieht zahlreiche Menschen mehr oder weniger stark in ihren Bann. Dabei ist die Motivation jeweils ganz unterschiedlich. Viele haben einfach vages Interesse am Leben von Menschen in früheren Zeiten, manche konnten die Erforschung der Vergangenheit im Bereich der Geschichtswissenschaft oder der Archäologie zu ihrem Beruf machen, und einige haben ihre historische oder archäologische Begeisterung mit einer ganz speziellen Form von Religiosität beziehungsweise Spiritualität verknüpft.

Unter dem allgemeinen Begriff des Neuheidentums haben sich in den letzten Jahrzehnten zahlreiche spirituelle Strömungen entwickelt, welche sich explizit auf teilweise weit zurückliegende Perioden der Menschheitsgeschichte beziehen. Diese neuen Religionen wurden häufig von einzelnen Menschen auf Basis der Kenntnisse über die Vergangenheit regelrecht entwickelt und kreiert. Historisch betrachtet geschah dies erst kürzlich, und nicht nur darin unterscheidet sich das Neuheidentum von den meisten anderen gut bekannten spirituellen Systemen. Die fünf großen Weltreligionen – Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus und Hinduismus – haben eine ganz konkrete und teilweise genau bekannte historische Entwicklung hinter sich, die sich über Jahrhunderte und sogar Jahrtausende zurückverfolgen lässt. Der überwiegende Großteil der Gläubigen dürfte wohl in die jeweilige Religion hineingeboren worden sein und übernahm die Vorstellungen und Praktiken der eigenen Herkunftsfamilie. Religion ist somit überwiegend weniger bewusste Entscheidung als vielmehr die Pflege einer historisch gewachsenen Tradition, was noch nichts über die individuelle Tiefe des Glaubens aussagt. Wie weit wiederum die teilweise lange historische Entwicklung der eigenen Religion – deren ungefähre Kenntnis innerhalb der Gruppe der Gläubigen wohl vorausgesetzt werden kann – als Legitimationsfaktor betrachtet wird, ist schwer zu beurteilen.

Von großer Bedeutung für die Legitimation dessen, was geglaubt und praktiziert wird, ist die Vergangenheit jedoch für die Praktizierenden innerhalb des Neuheidentums. Denn das Neuheidentum ist ohne bestimmte Vorstellungen von Vergangenheit nicht denkbar. Bereits im Namen klingt dies an: Hätte es nicht „Altheiden“ im Sinne „ursprünglicher“ Heiden gegeben, wäre der Begriff „Neuheiden“ unsinnig. Die Vergangenheit, auf die sich Neuheid*innen beziehen, ist jedoch nicht irgendein völlig undefiniertes, mythologisches Dunkel, ein paradiesischer Zustand, vergleichbar dem biblischen Ort der ersten Menschen. Vielmehr handelt es sich dabei um unsere prähistorische, vorchristliche Vergangenheit in Europa.1 Es geht um mehr oder weniger konkret definierbare Perioden, um Zeitabschnitte, die Gegenstand wissenschaftlicher (archäologischer) Beschäftigung, nicht theologischer Diskussionen sind. Im Zentrum des Interesses steht etwas, das vorher war. Und zwar vor jener Religion und jener Kultur, die unsere heutige Kultur entscheidend geprägt hat: das christliche Abendland des Mittelalters und der Neuzeit. Mittelalter und Neuzeit sind zweifellos vergangene Perioden, sie sind unsere konkrete, jüngere Vergangenheit – wobei „jünger“ ein relativer Begriff ist und nur mit Blick auf die ältere, prähistorische Vergangenheit passend erscheint. Für Neuheid*innen ist jedoch die Zeit davor ausschlaggebend.

Man sucht sich mit jenen Perioden der Menschheitsentwicklung zu identifizieren, die in sicherem Abstand zum Heute stehen. Je nach genauer Färbung der jeweiligen neuheidnischen Gruppe begibt man sich gedanklich und legitimierend ins Vorrömische und/oder Vorchristliche. Anbindungsversuche an angebliche Hexenreligionen (vor allem im Fall von Wicca), die die Zeiten der Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit überlebten, können dabei nicht über den Wunsch hinwegtäuschen, sich an etwas noch Älteres anbinden zu wollen. Die angeblichen Held*innen der Hexenverfolgungen, die Opfer, stellen zwar willkommene Identifikationsfiguren dar, doch das Zeitalter der offen von allen praktizierten Hexenreligion stellt man sich in der vorchristlichen Urgeschichte vor. Hier wird allerdings völlig übersehen, dass es zwischen Urgeschichte und Römerzeit (oder Frühgeschichte und Mittelalter) zwar nicht immer einschneidende Brüche in der kulturellen Entwicklung gab, dennoch aber signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Perioden und Räumen, die aufgrund von großem zeitlichem und geographischem Abstand nicht nur anzunehmen, sondern auch belegbar sind.

Beschreibungen der konkreten Vergangenheit, auf die sich Neuheid*innen beziehen, sind stark geprägt von einem Bild eines „Goldenen Zeitalters“. Dabei liegt es sichtlich im Interesse des Neuheidentums, sich nicht nur über eine ferne Vergangenheit zu legitimieren, sondern außerdem über eine, die besonders lange ungebrochen andauerte. Die Urgeschichte reicht per definitionem von der Entstehung des anatomisch modernen Menschen vor ca. vier Millionen Jahren bis zur Ankunft der Römer in den jeweiligen europäischen Gebieten. Eine Traditionslinie in die Urgeschichte zu ziehen, scheint häufig mit dem Gedankengang verbunden, hier eine Art religiösen Urzustand identifizieren zu können, der, zwar im Detail leicht unterschiedlich, im Grunde jedoch von allen Menschen der Jahrtausende vor den Römern geglaubt und praktiziert wurde. Es geht somit nicht nur um die Ablehnung konkreter Religionen (Christentum) und Missstände der modernen Welt (Umweltzerstörung, Technisierung, Globalisierung). Es geht um den Versuch, eine konkrete Ursprünglichkeit wiederzufinden, somit ein Etwas, das irgendwann einmal da gewesen sein und alle Menschen verbunden haben muss – und das am Weg ins Heute verloren ging. Es geht um nichts weniger als die Wiedererweckung eines Paradieses, das man sich für die Urgeschichte konkret vorstellt, und im Jetzt noch viel konkreter wieder haben möchte.

Allen Bekenntnissen von Neuheid*innen zum Trotz, es wäre ihnen bewusst, dass es sich beim Neuheidentum um eine ausschließlich moderne Entwicklung handelt, beziehen sich sämtliche neuheidnischen Strömungen auf eine zumeist prähistorische, vorchristliche Vergangenheit. Es gibt keltisches, römisches, germanisches, slawisches, griechisches, ägyptisches usw. Neuheidentum, auf Göttinnen fokussierte Religionen (die sogenannte Göttinnenspiritualität) sowie Wicca (Neue Hexen). Sie alle würden nicht funktionieren und hätten sich niemals etabliert, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die mit einer gewissen Sehnsucht in die Vergangenheit blickten. Es ging und geht nicht nur um die Sehnsucht, etwas über die Vergangenheit zu wissen. Es geht vor allem auch darum, aufgrund des Wissens etwas angeblich Wiedererstandenes in unserer modernen Welt manifestieren zu können – und zwar jetzt. Das Neuheidentum möchte nicht nur einen Funken eines verlorenen Zeitalters in die Gegenwart bringen. Das Vorher wird als ursprünglicher betrachtet, und darum als besser und echter: besser für Mensch und Umwelt, und echter bezogen auf seine spirituelle Wahrheit.

Wozu dieses Buch?

In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, wie sich der konkrete Bezug der neuheidnischen Religionen zur (prä-)historischen Welt heute darstellt und welche Meinungen dazu in der wissenschaftlichen (archäologischen) Welt existieren. „Sehnsucht nach Vergangenheit“ ist in diesem Zusammenhang – in Verknüpfung mit „Spiritualität“ – ein definierender Faktor bei der Auswahl der konkreten Themen in diesem Buch, also ein eingrenzendes Kriterium des Gegenstands.

Dementsprechend geht es nicht um esoterische Weltbilder aller Art, die sich beispielsweise in Fernöstlichem verorten, ebenso wenig um Reinszenierungen (Reenactment, Living History). Mittelalterfeste durch die Errichtung und tagelange Nutzung eines Zeltes zu beleben, weist durchaus auf eine gewisse spielerische Lust an der Vergangenheit hin: auf die Freude, etwas wiederzubeleben, was lange zurückliegt. Einzelne Mitglieder solcher Gruppen sind eventuell selbst Neuheid*innen, doch ist dies keine Voraussetzung. Der religiöse Aspekt, der meiner Ansicht nach dem Moment der Sehnsucht eine ganz bestimmte Färbung verleiht, ist in dieser Szene nicht ungebrochen anzutreffen. Auf ähnliche Weise fehlt zahlreichen modernen esoterischen Strömungen jener Aspekt der Hinwendung zur (europäischen, prähistorischen) Vergangenheit, der für das Neuheidentum so typisch ist – entsprechend haben sie nicht Eingang in die Themensammlung dieses Buches gefunden.

Jenny Blain und Robert Wallis haben sich im Rahmen der Beschäftigung mit für das Neuheidentum bedeutenden britischen Fundorten wie Stonehenge oder Avebury mit dem Begriff der Verzauberung (enchantment) in Bezug auf das Neuheidentum auseinandergesetzt.2 Dies scheint mir der konkrete Aspekt zu sein, dem die Sehnsucht gilt, weil er in der modernen Gegenwart zu fehlen scheint und deshalb hergeholt werden soll – im Falle des Neuheidentums aus der Urgeschichte.

Ziel dieses Buches ist es nicht, die typischen Argumentationsweisen, Deutungen und Selbstzuschreibungen von Neuheid*innen möglichst umfassend als unwissenschaftlich zu entlarven oder lächerlich zu machen. Das Neuheidentum steht ja gerade außerhalb der Wissenschaft, selbst wenn es ihre Ergebnisse nutzt, und muss sich nicht auf die gleiche Weise ihren Methoden unterwerfen. Es kann mit den wissenschaftlich erarbeiteten und veröffentlichten Ergebnissen argumentativ machen, was es will. Aber Interessierten aller Art soll in diesem Buch wiederum jenes wissenschaftliche Wissen, das auf ganz eigene Weise vom Neuheidentum genutzt wird, zur Verfügung gestellt werden, so wie es dem derzeitigen Forschungsstand entspricht – das betrifft auch die methodischen Probleme der Interpretation, die ebenso klar formuliert werden sollen. Leser*innen sollen mit diesem Buch etwa einen einfachen Zugang zu der Information bekommen, dass beispielsweise Wicca argumentativ Inhalte zusammenführt, die Jahrzehntausende auseinanderliegen. Für die wissenschaftliche Rekonstruktion eines kulturellen Phänomens ist das methodisch undenkbar – für die Rekonstruktion einer Religion mag dieses eklektizistische Vorgehen aber durchaus ausreichend und sogar völlig gerechtfertigt sein.

Ein Punkt erscheint mir in diesem Kontext besonders wichtig: Die Freiheit, die eigene Religion oder Spiritualität wählen zu dürfen, halte ich für ein wesentliches Gut unserer modernen westlichen Zivilisation. Es ist schlichtweg zu respektieren, was geglaubt und praktiziert wird, solange dabei niemandem geschadet wird – was im Übrigen eine häufig zitierte Grundlage neuheidnischen Denkens ist.

Forschungen und Quellen

Der Großteil der für dieses Buch genutzten Quellen sind gedruckte Veröffentlichungen. Mein Bild des Neuheidentums ist darüber hinaus zweifelsohne auch vom Internet geprägt sowie von persönlichen Erfahrungen durch Kontakte mit Neuheid*innen. Diese ergänzen jedoch nur das Bild, wie es sich mir aus der einschlägigen Literatur darstellt. Darüber hinaus bauen meine Aussagen auf einigen Online-Umfragen auf, die im Rahmen eines Forschungsprojektes von mir ursprünglich im deutschsprachigen Raum – später auch englischsprachig – durchgeführt wurden und mittlerweile von Kolleg*innen in anderen europäischen Ländern weiterbetreut werden.3

Ein prägender Faktor des Neuheidentums ist seine Heterogenität und die bestehende Meinungsvielfalt. Es ist sehr schwierig, die Gesamtheit der Meinungen zum Verhältnis von Vergangenheit und Neuheidentum, die beispielsweise innerhalb des slawisch konnotierten osteuropäischen Neuheidentums kursieren, zusammenfassend zu präsentieren. Das Internet als Quelle für diese Meinungen ist zwar höchst wertvoll, allerdings noch weniger zu überschauen als die neuheidnische gedruckte Literatur. Auch weil das gedruckte Buch als Quelle für mein hier dargestelltes Bild des Neuheidentums langlebiger und damit nachvollziehbarer bleibt als Einträge in einschlägigen Internetforen, habe ich ihnen weitgehend den Vorzug gegeben. Natürlich ist es außerdem verlockend, in den Autor*innen neuheidnischer, oft grundlegender Werke gewissermaßen die Autoritäten ihres Bereiches zu sehen, die viel gelesen und rezipiert werden.

Wie schon eingangs erwähnt, möchte ich durch die Präsentation des neuheidnischen Weltbildes in wesentlichen Büchern auch zeigen, wie stark der Vergangenheitsbezug immer noch ist, selbst wenn zahlreiche Protagonist*innen der Szene vielleicht darin nur noch den ursprünglichen Ausgangspunkt der Entwicklung ihrer Religion sehen. Ich bin überzeugt, dass auch das derzeitige Neuheidentum nicht weniger von Gedanken an und Sehnsucht nach der Vergangenheit geprägt ist als zum Zeitpunkt seiner Entstehung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Möglicherweise haben sich die Sichtweisen stark verändert, was die Phasen zwischen der fernen Vergangenheit und diesem Entstehungszeitraum anbelangt. Es geht um die auch innerhalb des Neuheidentums diskutierte Frage, ob und wie „altheidnische“, also prähistorische religiöse Strukturen die Zeit des Christentums überdauerten. Hier scheint die Szene immer stärker der Meinung zuzuneigen, es wäre mit der Entstehung des Neuheidentums eher zu einer Wiederbelebung und Neuerfindung als zu einem Aufwecken aus dem Untergrund gekommen.4

Viele der anzusprechenden Themen sind bereits Gegenstand intensiver Beschäftigung durch Angehörige unterschiedlichster Disziplinen gewesen. Dem Neuheidentum wurden mittlerweile bereits zahlreiche Publikationen und Forscher*innenleben gewidmet.5Einige Wissenschaftler*innen scheinen der Szene selbst sehr stark nahezustehen oder bezeichnen sich als Praktizierende.6 Zur Esoterik als weltanschauliches Konstrukt, in das nach einigen Definitionen, denen auch ich mich anschließe, das Neuheidentum eingebettet ist, wurden bereits unüberschaubare Mengen an Publikationen verfasst.7 Eine Beschäftigung aus archäologischer Sicht findet immer noch vergleichsweise selten statt. Hierbei bildet in gewisser Weise das germanische Neuheidentum eine Ausnahme, dem vor allem im deutschsprachigen Raum viel akademische Aufmerksamkeit gewidmet wurde, was aufgrund der häufig problematischen Nähe zu rechten Weltanschauungen nur folgerichtig ist.8 Allerdings war in diesem Zusammenhang seltener die Archäologie beteiligt, die sich eher mit der Verknüpfung ihres eigenen Faches mit dem Nationalsozialismus befasst hat.9 Dennoch wurden seit den ersten kleineren Beiträgen zum Phänomen Neuheidentum aus den frühen 1990er Jahren immer mehr Untersuchungen auch aus archäologischer Sicht verfasst.10 Im englischsprachigen Raum haben sich vor allem Robert Wallis und Jenny Blain – beide habe ich bereits erwähnt – dem Phänomen aus archäologischer Sicht gewidmet, hauptsächlich mit Fokus auf für neuheidnisch Praktizierende bedeutende Fundorte (sacred sites).11 Zu nennen ist außerdem Literatur zum Thema (Neo-)Schamanismus.12 Eine Gesamtschau auf religiös konnotierte Denkrichtungen mit archäologischen bzw. vergangenheitsbezogenen Vorzeichen existiert jedoch aus Sicht der Archäologie bisher nicht.

Der unschätzbare Wert der Archäologie

Wann ist das Neuheidentum entstanden? Wer waren die ersten modernen Druiden, Hexen, Neogermanen, Kemetisten, Anhänger von Native Faith? Wo liegen – chronologisch gesprochen – die Wurzeln eines Phänomens, welches für viele Menschen der modernen Welt von großer persönlicher Bedeutung ist? Diese Fragen mögen für einzelne Praktizierende von geringer Bedeutung sein, für das Neuheidentum in seiner Gesamtheit sind sie aber überaus wesentlich. Denn eine Religion muss sich legitimieren, um glaubhaft zu sein. Vergangenheit eignet sich dafür ganz hervorragend. Möglicherweise gilt: je älter, desto erprobter. Wenn etwas jedoch älter als die etablierten Religionen sein soll, befinden sich jene Perioden, auf die man sich zu beziehen versucht, zumindest in weiten Teilen Europas in der Schriftlosigkeit. Archäologische Quellen bleiben dann als einzige wesentliche Quelle übrig, wenn es darum geht, vorchristliche prähistorische Religionen zu (re-)konstruieren. Genau hier befindet sich die Schnittstelle zwischen Neuheidentum und Archäologie.

Barbara J. Davys Standardwerk „Introduction to Pagan Studies“13 bezieht sich nur ganz selten auf Archäologie, obwohl sie sich sehr detailreich und genau mit den literarischen Quellen und Inspirationen des Neuheidentums seit dem 19. Jahrhundert befasst. Nun zeigen meine eigenen Studien14, dass Archäologie quantitativ gesehen durchaus keine so große Rolle bei der Beschreibung der vermeintlichen Entstehungsgeschichte neuheidnischer Religionen spielt wie beispielsweise Sagentexte oder Werke der verschiedensten „Gründereltern“ des Neuheidentums, über die noch zu berichten sein wird. Aber Archäologie spielt eine ausreichend große Rolle, um mit Fokus darauf und aus dem Blickwinkel der prähistorischen Archäologie neuheidnisches Denken zu beschreiben. Der legitimierende Wert von Archäologie wird also nicht sehr häufig genutzt, aber er ist dennoch sehr hoch.15 Literarische Quellen können komplexe Zusammenhänge beschreiben, sie können lebendige Bilder angeblichen rituellen Verhaltens in der Vergangenheit schaffen. Archäologie jedoch verfügt über die zumeist anerkannte Deutungsmacht über die Dinge – und Dinge haben Bedeutung im Neuheidentum: Kessel, Dolche, Stäbe usw. finden allesamt Verwendung in neuheidnischen Ritualen. Manchmal ist es für Neuheid*innen wichtig, in diesem Zusammenhang Kontinuität nachzuweisen. Beispielsweise werden Kessel aus archäologischen Kontexten diesbezüglich argumentativ herangezogen. In besonderen Fällen nutzen Neuheid*innen prähistorische Objekte aber sehr wohl auch, um komplexere Weltbilder zu schaffen und für ihre Leser*innen darzustellen – hier ist etwa der berühmte Kessel von Gundestrup mit seinen szenischen Darstellungen ein sehr gutes Beispiel, über das noch zu sprechen sein wird. Der wesentliche Vorteil archäologischer Quellen gegenüber schriftlichen Quellen ist aber ein anderer: Sie sind viel älter.

„Science is an attractive legitimator because of its high social status and because of the popular view of science as an objective arbiter of reality.“16 Dieses Zitat beantwortet sehr gut die Frage, warum für die Legitimation der eigenen Ansichten so gerne Argumente aus der Wissenschaft herangezogen werden, ganz allgemein und im besonderen Fall aus den Altertumswissenschaften und somit auch der Archäologie. Neuheid*innen nutzen Teile des archäologischen Forschungsgegenstandes – die Vergangenheit – und die Ergebnisse dieses Faches für die Bildung ihrer eigenen Traditionslinie.17 Dagegen ist aus archäologischer Sicht überhaupt nichts einzuwenden. Dennoch ist es umgekehrt legitim, wenn sich Forscher*innen dazu äußern, wenn sie selbst anderer Meinung sind als jene, die das von ihnen erarbeitete Wissen interpretieren und nutzen. Es ist nicht nur legitim, sondern ganz im Gegenteil sogar auch Aufgabe der Forschung, denn in der Beschäftigung mit der Rezeption und Aneignung von archäologischen Inhalten liefert die Archäologie Rückmeldungen an die Allgemeinheit zurück, welche diese sich selbst nur schwer erarbeiten kann. Anders gesagt ist von interessierten Laien nicht zu erwarten, sich intensiv mit Fachliteratur und aktuellen Diskursen innerhalb der Archäologie auseinanderzusetzen, um hinterher ein fundiertes18 Bild von jenen Teilen der prähistorischen Vergangenheit zu haben, auf welchen das Neuheidentum seine Weltbilder aufbaut.

Aufbau und Schwerpunkte

Nach einer allgemeinen Einführung zum Thema Neuheidentum, die mit kompaktem Basiswissen im Frage-Antwort-Format aufwartet, werden die verschiedenen Gruppen und Strömungen der Reihe nach vorgestellt, und zwar entlang einer ungefähren historischen Entwicklung von Wicca über die Göttinnenspiritualität (mit einem Exkurs zur „Matriarchatsforschung“), Druidry (keltisches Neuheidentum), das germanische und osteuropäische Neuheidentum bis zum antiken Neuheidentum; den Abschluss macht der Neo-Schamanismus. Archäologische und historische Themenbereiche, die nur für eines dieser Neuheidentümer von größerer Bedeutung sind, werden direkt im jeweiligen Kapitel besprochen.

Dem Großteil der thematischen Rückbezüge auf die prähistorische und historische Vergangenheit durch das Neuheidentum ist der gesamte zweite Abschnitt des Buches gewidmet. Dort wird dann unter anderem der Frage nachgegangen, inwieweit der aktuelle archäologische Forschungsstand die jeweiligen Interpretationen durch neuheidnisch Praktizierende wahrscheinlich macht oder auch nicht. Im Mittelpunkt stehen die Gottheiten, Feste, besondere Fundorte, Objekte und Symbole, ehe im abschließenden Teil besonders (nochmals) der Faktor Natur und auch Reaktionen aus Wissenschaft und Kirche in den Blick genommen werden.

Neuheidentum — ein Überblick

Im Neuheidentum gibt es zahlreiche Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Gruppen, doch ebenso viele Unterschiede. Im Folgenden soll das Phänomen grundlegend beschrieben werden.

Was sind die dominierenden (Selbst-)Bezeichnungen?

In Ablehnung des Sektenbegriffs ist innerhalb der Religionswissenschaften der Terminus „Neue Religiöse Bewegungen“ entstanden.1 Zahlreiche weltanschauliche Gruppierungen werden unter diesem Sammelbegriff wissenschaftlich analysiert. Das Neuheidentum, oder englisch Paganism, ist ein (kleiner) Teil dieser Bewegungen. Davon wird innerhalb der Pagan Studies der Bereich des New Age, der Göttinnenspiritualität und der Naturreligionen unterschieden, wenngleich es natürlich auch zahlreiche Überschneidungsbereiche gibt.2

Der Begriff selbst – Neuheidentum – ist nicht ausschließlich innerhalb der Wissenschaften entstanden bzw. wird nicht rein zu Forschungszwecken benutzt. Vielmehr bezeichnen sich die handelnden Personen selbst häufig als Heid*innen bzw. Neuheid*innen. Im Englischen lautet das bereits notierte Wort an sich paganism (mit kleinem „p“), es hat sich jedoch die Schreibung mit großem „P“ eingebürgert. Mit der sehr selbstbewussten Selbstbezeichnung als Pagans soll durchaus die Bewertung des eigenen Glaubens als gleichberechtigte Religion neben anderen unterstrichen werden.3 Die im Englischen mögliche Unterscheidung zwischen pagan und Pagan zur Differenzierung eines allgemeinen Begriffs und eines modernen Phänomens auch im Sinne einer selbstgewissen Eigenbezeichnung ist im Deutschen bei Nutzung des Begriffs „Heidentum“ schwer möglich. Die Verwechslungsgefahr mit einem Begriff für historische Phänomene ist zu groß, wenn keine zwei eindeutig unterscheidbaren Schreibweisen möglich sind. Entsprechend haben sich die vorangestellten Kürzel „Neo-“ und „Neu-“ und der Begriff „Neuheidentum“ eingebürgert; der Begriff neo-paganism wird im Englischen teilweise als abwertend abgelehnt.4

Der Begriff „Heide“ bzw. „Neuheide“5 ist in unserer gegenwärtigen Kultur tendenziell immer noch negativ besetzt. Heiden sind jene, die außerhalb des etablierten kulturellen und religiösen Systems stehen. Das Wort pagan leitet sich von paganus (auf der Heide, also außerhalb der Zivilisation lebende Menschen) ab.6 Wenn Neuheid*innen sich selbst also bewusst so bezeichnen, verweisen sie auf ihre gegen das Christentum, vor allem auf die Zeit vor der Etablierung des Christentums in Europa gerichtete Haltung. Entsprechend wurde das Wort auch als Gegen- oder Kampfbegriff bezeichnet.7

Die Etablierung der Pagan Studies vor allem im englischsprachigen Raum hat auch zu Diskussionen geführt, „welches“ Heidentum nun Forschungsgegenstand sei. Denn unbestrittenermaßen existierte neben dem eindeutig „neuen“ Heidentum (mit seiner Entstehungsgeschichte frühestens ab dem 19. Jahrhundert) ein „altes“ Heidentum, das diese Bezeichnung aufgrund seiner Vorchristlichkeit erhalten hat. Grundsätzlich gilt, dass der Begriff (Neo-)Paganism bzw. Neuheidentum (contemporary paganism) auch innerhalb der Pagan Studies nicht einheitlich definiert ist8, was aber nicht von allzu großer Bedeutung ist – es ist keineswegs selten der Fall, dass eine Wissenschaft ihren eigenen Forschungsgegenstand nicht in Übereinstimmung aller Forschenden festlegen kann.

„Neuheidentum“, „Neopaganismus“, Paganism und „modernes Heidentum/contemporary paganism“ sind die Begriffe, mit denen die moderne Forschung derzeit hauptsächlich operiert. Darunter subsumiert werden Gruppen und Strömungen, die sich in ihren Religionsentwürfen auf die Vergangenheit beziehen, und deren Anhänger*innen sich als Personen wahrnehmen, die eine (prä-)historische Religion wiederaufleben lassen bzw. fortführen.9 Entsprechend gibt es Definitionen von Paganism, die traditionelle östliche Religionen oder Voodoo etc. miteinbeziehen; es wurde auch Kritik daran geübt, den Terminus Paganism auf Religionen zu übertragen, deren Anhänger*innen ihn selbst gar nicht verwenden.10

Wie groß ist die Zahl der Anhänger*innen?

Eine innerhalb der Pagan Studies häufig diskutierte Frage betrifft die Anzahl der Anhänger*innen neuheidnischer Religionen. Die Erhebung ist naturgemäß schwierig, denn einerseits können oder wollen nicht alle Neuheid*innen, aus unterschiedlichsten Gründen, öffentlich zu ihrer Religion stehen. Andererseits unterscheiden sich die Erhebungssysteme der einzelnen Länder stark voneinander. Wird man nach seinem religiösen Bekenntnis gefragt, gibt es in den seltensten Fällen die Möglichkeit, „Druidentum“ oder „Wicca“ anzukreuzen, und nicht jede*r möchte derartige Begriffe der Liste der zur Wahl angebotenen Religionen schriftlich hinzufügen. Die Schwierigkeit, seriöse Zahlen anzugeben, hängt auch mit dem niedrigen Grad der Organisation neuheidnischer Gruppen zusammen. Man muss nicht zwangsläufig seine Mitgliedschaft in irgendeiner nachweisbaren Form (Beitrittserklärung, Taufe) festhalten. Man „ist“ einfach Neuheidin bzw. Neuheide – aufgrund einer höchstpersönlichen Entscheidung. Insofern sind Anhänger*innenzahlen nicht durch Auswertung von Mitgliederlisten fassbar, denn diese werden nicht (zentral) geführt.

Dennoch wurden bereits viele Versuche unternommen, zu der oben gestellten Frage Sinnvolles beizutragen,11 weniger allerdings bislang im deutschen Sprachraum. Beispielsweise erhob man für Neuseeland im Jahr 2001, dass bei einer Gesamteinwohner*innenzahl von damals 3,7 Millionen 5 862 Personen pagan waren. Im selben Jahr wurden für Kanada 21 080 (auf 29 639 030 Einwohner*innen, 0,071 % der Bevölkerung) und für Australien 24 156 (0,13 % der Bevölkerung) Pagans bzw. Anhänger*innen einer Naturreligion dokumentiert, zu der beispielsweise die australische Statistik „Pagans, Wiccans, Druids, pantheists“ und „animists“ zählt.12 Für die USA liegen unterschiedliche Schätzungen und Erhebungen vor, die Ergebnisse zwischen 0,069 % und 0,259 % der Gesamtbevölkerung ergeben.13 Schätzungen für das United Kingdom gehen von 30 000 bis 120 000 Neuheid*innen aus.14 Innerhalb der Pagan Studies wird ausgehend von diesen Zahlen diskutiert, ob das Neuheidentum als „World Religion“ zu bezeichnen ist15, und ob ausgehend davon eine wissenschaftliche Beschäftigung überhaupt gerechtfertigt ist. Naturgemäß haben die Pagan Studies zumindest letztere Frage eindeutig positiv beantwortet und in Form intensiver Forschung in die Tat umgesetzt.

Was sind die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Gruppen?

Allen neuheidnischen Gruppierungen ist eine Verbindung mit der Vergangenheit gemein. Manche Gruppen und Personen versuchen, sich einer bestimmten Tradition zu verschreiben bzw. einem Motivbündel, das sie als einzelne Tradition identifizieren – also beispielsweise „keltisch“. Andere wiederum sehen in allen neuheidnischen Ausprägungen nur unterschiedliche Zugänge zum gleichen System, weswegen sie in eklektizistischer Manier aus zahlreichen Traditionen der ganzen Welt und unterschiedlicher Perioden wählen. Ein konkretes Beispiel eklektizistischen Vorgehens ist etwa die Praxis innerhalb von Wicca, Gottheiten unterschiedlichster Kulturkreise in Rituale einzubeziehen.16 Die Wahl wird von persönlichen Vorlieben ebenso geprägt wie von Traditionen, die sich innerhalb von Wicca etabliert haben. Beispielweise wird die Göttin Brigid mit dem Jahreskreisfest Imbolc verbunden. Göttinnen werden auch für zweckbezogene Rituale herangezogen – beispielsweise Epona, um Autos zu weihen17.

Brigids Kreuz

Woraus beziehen die Strömungen ihre Legitimation — und worin wurzelt die Popularität?

Entgegen der Annahme vieler Neuheid*innen, ihre Religion sei die Fortsetzung beziehungsweise Wiedererweckung einer tatsächlich ursprünglich heidnischen, das heißt also vorchristlichen Religion, sind sämtliche neuheidnischen Religionen unserer Zeit Entwicklungen des 20. Jahrhunderts.18 Das Neuheidentum ist somit vor allem