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Die Salzberggöttin bestimmt das Leben der Bergleute im Hochtal über dem See. Bergherrin Sina, ihr Mann Hiram und ihre Tochter Renis verwalten das Salz und kümmern sich um das Gleichgewicht mit der Göttin. Die Gemeinschaft bereitet sich auf das jährliche Bergfest vor und Renis freut sich über die Ankunft ihres Bruders Tolan, der in Begleitung eines Fremden von einer Reise aus dem Süden zurückkehrt. Doch während Renis dem Fremden näherkommt, schmiedet Tolan gefährliche Pläne. Da geschieht auf dem Fest ein folgenschweres Unglück.
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Seitenzahl: 329
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Jutta Leskovar
Salzberggöttin
Historischer Roman aus der Hallstattzeit
Hallstatt 600 v. Chr. Seit Jahrtausenden wird im Hochtal über dem See Salz abgebaut. Die Salzberggöttin ist die wichtigste Verbündete der Menschen, sie erlaubt den Bergbau – doch nur unter Befolgung der jahrhundertealten Traditionen. Sina ist als Bergherrin für die Einhaltung der Regeln verantwortlich. Ihr Mann Hiram und ihre Tochter Renis haben die Aufgabe, die vorgeschriebenen Rituale für die Göttin durchzuführen. Die Gemeinschaft bereitet sich auf das alljährliche Bergfest vor, zu dem Gäste aus weit entfernten Ländern kommen, um ihren Anteil am Salz zu holen und damit den Frieden zu sichern. Die Freude ist groß, als Renis’ Bruder Tolan rechtzeitig zum Fest von einer langen Reise zurückkehrt. Er ist in Begleitung von Arnu, der aus dem fernen Süden stammt und neugierig auf das Leben in den Bergen ist. Während Renis und Arnu sich näherkommen, schmiedet Tolan, der schon immer mehr und schneller Salz abbauen wollte, gefährliche Pläne. Seine besorgte Familie versucht verzweifelt, ihn aufzuhalten. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der die Zukunft der Gemeinschaft bedroht.
Jutta Leskovar, geboren 1972 in Linz, studierte in Wien Ur- und Frühgeschichte und Geschichte. Seit 2001 hat sie die Funktion einer Sammlungsleiterin am Oberösterreichischen Landesmuseum inne. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt neben der älteren Eisenzeit (Hallstattzeit) auf Frauen- und Geschlechterarchäologie sowie der Schnittstelle zwischen Neuheidentum und Archäologie. Matriarchale Mythen zu bedienen ist nicht ihre Sache, was den feministischen Blick in die Vergangenheit keineswegs ausschließt. Sie lebt mit ihrer Familie in Leonding bei Linz und arbeitet an weiteren Romanen zur Urgeschichte Oberösterreichs.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Destral_decorada_de_bronze,_800_-_750_aC,_Hallstatt.JPG und Jutta Leskovar
ISBN 978-3-8392-7620-4
Das Feuer wollte nicht gleich brennen. Der Holzfäller rieb sich die eiskalten Hände. Erst kurz vor seiner Ankunft hatte der Regen aufgehört und einen trüben Himmel hinterlassen. Die Mulde, in der er kniete, war mit nassem Laub gefüllt, und der Wind blies. Geduldig mühte er sich ab, bis die trockenen Zweige, die er mitgebracht hatte, endlich Feuer fingen. Langsam wärmten sich seine Hände an den Flammen.
Aus seiner Tasche holte er einen kleinen Beutel, den seine Frau zu Hause sorgfältig gefüllt hatte. Die Geburt hatte lange gedauert, doch trotz ihrer Erschöpfung hatte sie darauf bestanden, selbst ein paar feine Haare vom Kopf des Kindes abzuschneiden, ein rotes Band darumzuwinden und mit den nötigen Gebeten versehen in den Beutel einzunähen. Dann hatte sie ihn losgeschickt, ohne ihm sein Kind zu zeigen. Zuerst musste es seinen Platz bekommen, sonst würde es diesen Ort gleich wieder verlassen. Er wusste nur, es war ein Junge, und er lebte.
Der Holzfäller betrachtete den braunen Stoff des Beutels. Die Nähte waren fein und makellos. Nach einer Weile hielt er den Beutel nahe an die Flamme und murmelte ein Gebet. Er berichtete seinem Gott von der Ankunft des Kindes, sagte ihm seinen Namen und bat für ihn um einen Platz in dieser Welt. Als er fertig war, schwang er den Beutel durch die Flammen und sang ein kurzes Lied. Dann ließ er ihn fallen. Der Stoff fing sofort Feuer.
Der Holzfäller schloss die Augen und sang noch einmal das Lied. Er fühlte Dankbarkeit tief in seinem Bauch, und sein Herz klopfte. Sein Gott hatte ihn gehört, war ganz nahe bei ihm. Das Kind würde leben. Ohne die Augen zu öffnen, griff er in seiner Tasche nach dem Stück Speck, das in ein neues Hemd gewickelt war. Den Speck hatte er beim letzten Vollmond vom Hochtal geholt. An dem bunt bestickten Hemd hatte seine Frau die ganze Schwangerschaft hindurch gearbeitet. Mit geschlossenen Augen warf er beides ins Feuer. Danach wandte er sich ab, tastete kriechend über die Steineinfassung und den matschigen Boden, bis er die ersten Bäume erreichte. Erst dann öffnete er die Augen.
Ohne sich umzusehen, schlug er den Pfad ein, der vom Heiligtum nach Norden führte. Hinter sich hörte er das Knistern der Flammen. Er zwang sich, schnell zu gehen, um nicht in Versuchung zu kommen, sich doch noch umzudrehen. Es gehörte sich nicht, dem Gott dabei zuzusehen, wie er die Opfergaben annahm. Der Holzfäller durfte keinen Fehler machen, nicht beim ersten Opfer für seinen Sohn.
Er hielt erst inne, als der Pfad die Bäume durchbrach. Hier war der Blick frei auf die Berge am anderen Seeufer. Die Sonne ging eben erst auf und schickte ihr rötliches Licht in das Grau, das über dem See schwebte. Unten am Ufer war es noch dunkel, aber der gegenüberliegende Hang wurde langsam von Helligkeit überzogen. Felsen traten gut sichtbar aus der Eintönigkeit der Bergspitzen hervor. Darunter zeichneten sich Baumgruppen ab und glitzernde Wasserläufe.
Auf halber Höhe zwischen dem hoch aufragenden Westberg und dem Seeufer hing ein steiles, schmales Tal. Zur Hälfte lag es schon im Sonnenlicht, während die andere Hälfte noch im Nachtschatten verborgen war. Einige Häuser waren zu sehen. Sie standen in kleinen Gruppen oder einzeln in der engen Talmulde, vom Bergfuß bis hinunter zum Steilhang. Dort wohnten die Bergleute.
Das unterste Gebäude, ein Turm, markierte die Stelle, an der das Tal abrupt abbrach und in den Steilhang zum See hin überging. Nur wenige Bäume wuchsen gleich unterhalb des Turms. Wer dort oben stand, musste ungehindert über den See schauen können.
Ein heller Ton durchdrang den Morgen. Der Holzfäller erkannte das Horn des Turmwächters. Es erklang zweimal und bedeutete eine Ankunft. Der See lag noch immer in grauem Licht. Erst nach einiger Zeit nahm der Holzfäller eine Bewegung wahr. Von Osten fuhr ein großes Boot heran. Boote wie dieses konnten viele Menschen und große Ladungen transportieren. Meistens brachten sie das Salz von hier fort und Fleisch und Getreide zurück. Was das Boot diesmal führte, war noch nicht zu sehen. Es glitt auf den Steg am Ufer unterhalb des Steilhanges zu. Die Menschen an Bord würden von dort zweifellos den gewundenen, steilen Weg zum Hochtal nehmen.
Der Holzfäller wandte sich ab und setzte seinen Weg fort. Er musste heim, um seinen Sohn kennenzulernen.
Endlich verstand Arnu, was Tolan meinte, wenn er vom Hochtal sprach. Jedes Mal, wenn er davon erzählt hatte, war Arnu bemüht gewesen, sich die Heimat seines Freundes vorzustellen. Obwohl er viele Tage in den Bergen verbracht hatte, war er nicht vorbereitet auf den Anblick, der sich ihm nun bot. Hier unten am See ragten die Berge auf allen Seiten hoch. Felsige Ungetüme, dicht mit Bäumen bestanden, sodass sie dort, wo sie nicht felsengrau waren, fast schwarz wirkten. Der See selbst war nicht bedrohlich. Sein Wasser kräuselte sich leicht im Wind und spiegelte das milchige Licht eines trüben Himmels. Während eines Sturmes jedoch würde es für ein Boot ohne Zweifel gefährlich werden. Aber an einem Tag wie heute lag das Boot ruhig im Wasser, und nicht einmal die beiden Pferde zeigten die übliche Aufregung. Tolan stand vorne am Bug und unterhielt sich mit einem der beiden Männer, die das Boot steuerten. Arnu bewunderte, mit welchem Geschick sie die langen, schmalen Paddel bewegten. Das Ufer war bereits sehr nahe.
Arnu ließ seinen Blick über den steilen Berghang schweifen, auf den sie zufuhren. Ihn mussten sie überwinden, hatte Tolan vorhin angekündigt, denn dort oben befand sich das untere Ende des Hochtals, das Ziel ihrer Reise. Ein Tal, das höher lag als der See, viel höher. Es war von vielen Menschen bewohnt, das wusste Arnu, aber von hier unten konnte er nur ein einziges Gebäude sehen, einen Turm. Er befand sich an der Stelle, wo der steile Berghang endete und das Hochtal begann. Tag und Nacht tat ein Wächter dort Dienst. Arnu bildete sich ein, eine Gestalt zu erkennen. Da erklang der durchdringende Ton eines Horns. Offensichtlich hatte er sich nicht getäuscht. Wer auch immer auf dem Turm stand, hatte sie gesehen und kündigte ihre Ankunft an.
Die beiden Bootsführer holten ihre Paddel ein. Arnu hatte nicht bemerkt, dass sie bereits am Steg unterhalb des Steilhangs angelangt waren. Es dauerte nur wenige Momente, bis das Boot sicher vertäut war.
»Nimm nur dein Bündel mit. Die Männer kümmern sich um die Pferde«, rief Tolan über die Schulter, sprang aus dem Boot und lief den Steg entlang auf das Ufer zu.
Arnu folgte ihm langsam. Er verstand Tolans Eile, aber er selbst hätte die Ankunft gerne noch etwas hinausgezögert. Nach so langer Zeit, die er fast ausschließlich in Gesellschaft von Tolan verbracht hatte, schien ihm die Aussicht auf all die Fremden, denen er gleich begegnen würde, wenig verlockend. Gleichzeitig war er neugierig. Und Tolan hatte ihm für diese Nacht ein weiches Bett versprochen und eine Mahlzeit, die sie nicht selbst kochen mussten.
»Beeil dich!«, rief Tolan. Er hatte schon fast den Weg erreicht, der sich den Steilhang hinaufwand.
Arnu rannte ein paar Schritte, um seinen Freund einzuholen. »Ist ja gut«, keuchte er, »ich beeile mich. Aber wir müssen ja nicht verschwitzt wie die Tiere ankommen.«
Tolan lachte laut auf. »Warum nicht? Wir haben eine weite Reise hinter uns. Das darf man uns ruhig ansehen.«
Schweigend stiegen sie den Weg hinauf, der durch niedriges Gestrüpp und lichten Wald führte. Wie erwartet geriet Arnu mit dem schweren Packen auf seinem Rücken ins Schwitzen. Er vermisste sein Pferd. Dieser Weg war nicht zu steil, um nach oben zu reiten. Doch das Hochtal bot nicht genügend Platz und Futter für Pferde, hatte Tolan gesagt. Solange er hier Gast war, würde er zu Fuß gehen müssen.
Endlich hatten sie den Steilhang überwunden. Sie standen am unteren Ende des Tals in der Nähe des Turms. Arnu riss erstaunt die Augen auf. Es war tatsächlich ein langes, schmales Tal hoch oben in den Bergen. Auf beiden Seiten war es eingesäumt von steil aufragenden Berghängen, an denen sich Bäume und nackter Fels abwechselten. Das Tal selbst zog sich nicht übermäßig steil nach oben. Weit hinten endete es an einem gewaltigen Felsen, der sich mächtig über dem Talschluss erhob.
»Der Berg deiner Göttin«, keuchte Arnu.
Sein Freund nickte. Nach so langer Zeit musste dieser Anblick sogar ihm etwas bedeuten. Tolan nahm sein Gepäck ab und machte keine Anstalten, weiterzugehen. Arnu tat es ihm gleich und betrachtete weiterhin, was vor ihm lag. Er konnte den Blick nicht abwenden von dem Berg am Ende des Tals. Wie war es möglich, dass man ihn von unten nicht sehen konnte? Der steile Berghang, den sie gerade erklommen hatten, nahm jedem, der unten am See stand oder mit einem Boot darauf fuhr, die Sicht auf dieses Tal. Obwohl Arnu es nun mit eigenen Augen sah, konnte er es schwer begreifen. Dieser Ort war so versteckt und doch so bedeutungsvoll.
Im ganzen Tal waren Häuser und Hütten errichtet worden, dazwischen kleine Viehpferche, die nur für einige Ziegen und Schweine taugten. Um das Salz aus dem Berg zu holen, waren viele fleißige Hände nötig. Die Bewohner des Tals mussten jeden freien Platz nutzen. Soweit Arnu es erkennen konnte, war alles solide gebaut. Auf ihrer Reise waren sie oft an den ärmlichen Behausungen von Hirten und armen Bauern vorbeigekommen. Doch hier schienen die Wohnungen in gutem Zustand zu sein.
Es geht den Menschen gut, dachte Arnu. Und es mussten viele sein! Tagelang waren sie in dieser Einöde kaum jemandem begegnet, und hier stand ein ganzes Dorf! Aus seiner Heimat war er viel größere Städte gewohnt. Doch die waren in weiten Ebenen oder auf sanften Hügeln erbaut, nicht in unzugänglichem Gebirge.
Aber hier ist der Salzberg, sagte Arnu sich. Nur deshalb leben so viele Leute hier.
Er konnte es nicht erwarten, sich alles genau anzusehen. Vor allem wollte er hinein in das Bergwerk. Irgendwo hoch oben hinter der Siedlung musste der Eingang sein. Tolan hatte ihm versprochen, ihm alles zu zeigen, obwohl es nicht üblich war, Fremde in den heiligen Berg einzulassen.
»Aber du bist kein Fremder, Arnu, du bist mein Freund«, hatte Tolan immer wieder versichert. Hoffentlich war seine Familie einverstanden.
Der durchdringende Ton des Horns zerriss erneut die Stille. Weiter oben im Tal, in der Nähe des größten Gebäudes, entdeckte Arnu Leute zwischen den Häusern. Das Horn hatte sie wohl bei ihrer Arbeit unterbrochen, und nun kamen sie einzeln oder in Gruppen den Weg nach unten, um zu schauen, wer angekommen war.
»Ich kann Renis sehen!«, rief Tolan und riss winkend einen Arm empor.
Arnu blickte ihn überrascht an. »Du freust dich also doch auf deine Familie?«
Tolan ließ den Arm sinken und zuckte wortlos mit den Schultern.
*
Renis schreckte beim Klang des Horns hoch. Es konnte unzählige Gründe geben, warum es erschallte, und unzählige Male war sie in den letzten drei Jahren erschrocken, manchmal mehr, manchmal weniger. Im Winter seltener, denn wer reiste schon bei Schnee und Eis aus dem Süden über die Berge? Aber jetzt, am Ende des Frühlings …
Sie warf den unfertigen Teig in die Schüssel und rannte aus dem Backhaus. Draußen wusch sie schnell ihre Hände, so gut es ging. Dann lief sie los, vorbei an der Halle ihrer Mutter. Dort bog sie auf den Weg, der die ganze Länge des Tals hinunterführte. Aus den Häusern auf beiden Seiten des Wegs traten überraschte Bewohner und riefen nach ihr. Renis achtete nicht auf sie, sondern rannte weiter. Sie raffte ihren Rock höher, um schneller laufen zu können. Jetzt sah sie weit unten zwei Gestalten. Ihre Gesichter waren beim besten Willen nicht zu erkennen. Renis spürte, wie sich beim Laufen die Nadel aus ihrem Haar löste, und riss sie ungeduldig heraus.
Der Weg führte zwischen einigen Bäumen durch und versperrte Renis für eine Weile den Blick. Als sie um den letzten Baum bog, hielt sie jäh inne.
Da unten stand Tolan! Es gab keinen Zweifel, es war wirklich ihr Bruder!
Oh, Göttin, du hast ihn nach Hause geführt!
Ihre Eltern würden außer sich sein vor Freude. Am liebsten wäre sie wieder losgelaufen. Stattdessen bemühte sie sich, langsam weiterzugehen. Der Mann neben Tolan war ein Fremder, keiner der Leute aus dem Tal oder von einem der Häuser am See. Solange sie nicht wusste, wer er war, musste sie auf ihr Benehmen achten. Ihrem Bruder wild und mit aufgelöster Frisur entgegenzustürzen, würde keinen guten Eindruck machen. Womöglich hatte Tolan der Bergherrin einen wichtigen Gast mitgebracht.
Hastig steckte Renis die Haarnadel an ihren Platz zurück und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Hoffentlich klebte nicht noch irgendwo Mehl an ihr. Tolan würde sich tagelang über sie lustig machen.
Und da war er, stand schmunzelnd wenige Schritte vor ihr und breitete seine Arme aus. »Renis!«, rief er.
Sie fing wieder zu laufen an und stürzte nun doch blindlings in seine Umarmung. Wie früher, als sie noch klein gewesen war, wirbelte er sie herum, bis sie kreischte.
»Du Verrückter!«, rief sie. »Du wolltest nach einem Jahr wieder zu Hause sein! Wie kannst du es wagen, mich so lange alleine zu lassen!« Aber sie lächelte und küsste ihn auf beide Wangen. »Ich bin froh, dass du noch lebst«, flüsterte sie und drückte ihn fest an sich.
»Natürlich lebe ich noch, kleine Schwester. Ich habe dir doch versprochen, gesund zurückzukommen.«
Renis schob ihn weg und räusperte sich. »Ich grüße dich im Namen der Bergherrin, Tolan, und auch deinen Begleiter.« Sie sah den Fremden an, der ihr zunickte.
»Renis, das ist Arnu«, sagte Tolan. »Ich habe ihn als Beute aus dem Süden mitgebracht.«
Der Fremde lachte gutmütig. »Ich bin freiwillig mitgekommen. Auch von mir Grüße, Renis.«
Er beherrschte ihre Sprache gut, fand Renis. Ihr Bruder und der Fremde kannten sich wohl schon länger. Es würde später noch viel Zeit geben, alles über ihn zu erfahren, was Tolan zu erzählen bereit war.
»Unseren Eltern gehe es gut, haben mir alle weit und breit berichtet, seit wir in die Berge gekommen sind. Ich hoffe, das stimmt?«
Renis nickte. »Ja, glücklicherweise sind alle in der Familie gesund geblieben. Auch Großmutter geht es gut. Und es hat keine großen Unfälle gegeben.« Im Berg, meinte sie.
Tolan schnaubte zufrieden. »Lass uns hinaufgehen. Dann ersparen wir allen anderen, bis zu uns herunterlaufen zu müssen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, packte er seine Sachen und stürmte voran.
*
Arnu blickte ihm nach. Er freute sich, Tolan so glücklich zu sehen. Nach so langer Zeit heimzukehren, war dafür ein guter Grund. Erst nach einigen Augenblicken bemerkte er, wie Renis ihn von der Seite her ansah.
»Verzeih mir«, stotterte Arnu. »Wir sollten ihm wohl folgen.«
Renis lächelte. »Wir haben es nicht eilig. Jetzt, wo ihr endlich da seid, ist Zeit genug.« Auffordernd streckte sie einen Arm aus. »Soll ich etwas für dich tragen?«
»Nein! Ich meine, nein, ich danke dir, aber ich schaffe es selbst.« Rasch bückte er sich nach seinem Bündel.
»Natürlich schaffst du es. Immerhin hast du das alles schon lange Zeit getragen.« Ihre Stimme klang ein wenig spöttisch.
»Eigentlich war das mein Pferd«, bemerkte er lächelnd.
Am Weg hinauf durch das Dorf holten sie Tolan ein, der von den Bewohnern des Hochtals umringt und mit Fragen bestürmt wurde. Wo er gewesen und wie weit nach Süden er gereist sei, woher der Fremde komme, wen er getroffen und was er gesehen habe, was er mitbringe, ob er verletzt worden sei. Arnu hielt sich ein wenig abseits, so wie Renis.
»Wie lange seid ihr schon unterwegs?«, fragte sie.
Arnu überlegte. »Beim letzten Vollmond hatten wir die höchsten Pässe noch vor uns. Zum Vollmond davor sind wir in meiner Heimat aufgebrochen.«
»Am Meer?«
Arnu nickte. »Meine Familie lebt eine halbe Tagesreise entfernt, in einer kleinen Stadt.« In der Stadt, die seinem Vater gehörte. So wie das Land und die Dörfer in der ganzen Umgebung. Aber das sprach er nicht aus.
Renis lächelte. »Das Meer war sein großes Ziel. Ich habe es noch nie gesehen. Darum beneide ich Tolan.«
»Er hat sich nicht viel daraus gemacht. Hat ständig von seinen Bergen und dem See erzählt.« Arnu grinste.
»Wirklich?«, fragte Renis. »Tolan hatte Heimweh?«
»Er war lange von zu Hause weg. Das war sicher nicht immer leicht.«
Die Gruppe um Tolan wurde leiser. Weiter oben auf dem Weg kam ein Paar langsam auf sie zu.
»Das sind Sina und Hiram, unsere Eltern«, erklärte Renis. »So glücklich habe ich meinen Vater lange nicht gesehen.«
Tolans Eltern trugen die gleiche Kleidung wie alle anderen Leute hier, was Arnu erstaunte. An Hirams Gürtel glänzte eine einfache Gürtelschließe, aber sonst verriet nichts seinen Rang. Sina zierte überhaupt kein Schmuck, und ihr Haar wurde nur lose von einem bunten Band im Nacken gehalten. Arnus Eltern kleideten sich auch ohne besonderen Anlass weitaus prunkvoller. An einem Tag wie heute, zur Rückkehr ihres Sohnes, hätte sich seine Mutter die Zeit genommen, den Großteil ihres Schmuckes anzulegen, und sein Vater wäre ihm in Rüstung auf dem Rücken eines seiner prächtigen Pferde entgegengeritten. Beim Gedanken an seine Familie verspürte Arnu einen Stich.
Sina sagte etwas, das er nicht verstand, aber dann erhob sie ihre Stimme, sodass auch Arnu sie gut hören konnte. »Göttin!«, rief sie. »Hab Dank für die gesunde Rückkehr unseres Sohnes!«
»Hab Dank!«, antworteten alle außer Arnu.
Sina trat vor und zog Tolan in eine feste Umarmung. Als sie ihn wieder losließ, sah Arnu Tränen in ihren Augen glitzern. Auch Hirams Wangen waren nass, als er seinen Sohn an sich drückte.
»Danke, dass du ihn beschützt hast, Göttin«, murmelte Renis.
Sie muss sich große Sorgen gemacht haben, dachte Arnu. Tolan war lange fort gewesen und bis zum Meer gereist. In all der Zeit hätte ihm wer weiß was zustoßen können, und doch stand er hier, in seiner Heimat, umringt von seiner Familie und seinen Freunden, gesund und unverletzt.
Jetzt machte Tolan seine Eltern auf seinen Freund aufmerksam und winkte Arnu zu sich. Eilig drängte er sich durch die Menge, um der Bergherrin gegenüberzutreten.
»Mutter, Vater, das ist Arnu, mein Freund. Wir haben einiges gemeinsam durchgestanden, auch auf der Reise hierher. Ich bitte euch, ihn als euren Gast aufzunehmen.«
Sina nickte lächelnd. »Sei willkommen, Arnu, Tolans Freund, im Tal, in meiner Halle, an meinem Tisch, solange du möchtest.«
Arnu verneigte sich kurz. »Ich danke dir, Sina, Bergherrin, und dir, Hiram.«
»Es ist noch früh am Tag«, stellte Sina fest. »Genügend Zeit, um für heute Nacht ein kleines Fest vorzubereiten.« Sie nickte einigen der Umstehenden zu, die sofort in unterschiedliche Richtungen davongingen. »Renis, bitte zeig Arnu das große Gästehaus und hilf ihm, es sich bequem zu machen. Tolan, du kannst dich später noch ausruhen.« Sie griff nach dem Arm ihres Sohnes und zog ihn weiter.
Arnu sah ihnen nach. Sina mochte einfach gekleidet sein, doch sie war Respekt einflößend.
»Komm mit«, forderte Renis ihn auf. »Das Haus ist gleich hier drüben.«
Während die Dorfbewohner und Bergleute, die Tolan begrüßt hatten, ihm und seinen Eltern folgten, führte seine Schwester Arnu zu einem großen Gebäude etwas abseits des Weges. Wie alles hier war es aus mächtigen, glatten Holzpfosten gebaut, die auf steinernen Fundamenten ruhten. Tolan hatte ihm oft von all dem Schnee und Matsch erzählt, dem die schindelgedeckten Dächer während der langen Winter standhalten mussten. Arnu tat sich schwer, sich das vorzustellen, selbst jetzt, wo er die Häuser mit eigenen Augen sah. Er kannte Schnee. Aber er hatte das Gefühl, nicht die geringste Ahnung von einem Winter in den Bergen zu haben.
Das Innere des Hauses war dunkel, bis Renis die Fensterläden aufriss. Im hereinströmenden Sonnenlicht erkannte Arnu mehrere geräumige Nischen, die mit bunten Vorhängen abgetrennt waren. Wie die Röcke, Hemden und Umhänge der Bewohner waren die Stoffe bunt: rot in allen Schattierungen, braun und grau, gelb und grün, hie und da ein dunkles Blau. Es verlieh dem Raum eine gemütliche Wärme. Der Fußboden bestand aus breiten Holzdielen und war ordentlich blank gescheuert. In jeder Nische gab es ein Bett, einen Hocker und ein paar Haken an der Wand. Auf den Betten lagen helle Tücher, dick gewebte Decken aus brauner Wolle und Schaffelle. Alles sah sauber aus und roch auch so. Die Menschen im Hochtal waren es wohl gewohnt, viele Gäste zu haben.
»Du hast freie Wahl«, sagte Renis. »Es ist gerade niemand hier. Zum Bergfest werden sich die Betten füllen, aber jetzt hast du das Haus für dich alleine.«
Arnu nickte anerkennend. »Tolan hat nicht gelogen. Sina und Hiram müssen reich sein, wenn schon ihr Gästehaus so groß und bequem ist.«
Renis schüttelte den Kopf. »Dieses Haus gehört nicht meinen Eltern. Es gehört zum Berg, so wie alles hier.«
»Und wem gehört der Berg? Ich dachte, er ist im Besitz deiner Familie.«
»Das hat mein Bruder dir erzählt?« Renis runzelte die Stirn. »Tolan hätte das wohl gerne. Aber der Berg gehört niemandem. Nur der Berggöttin. Wir dürfen das Salz holen, solange wir uns an die Regeln halten.«
Für Arnu klang es, als hätte sie das schon oft erklären müssen. Nicht nur Fremden, sondern auch ihrem Bruder. »Die Göttin …«, sagte er leise. »Wenn sie euch ihre Gunst entzieht, geschieht ein Unglück oder das Salz versiegt. Nicht wahr?«
Renis nickte. »Zumindest das scheint Tolan dir richtig erzählt zu haben.«
Arnu behielt für sich, in welchem Ton sein Freund diesen Satz immer wieder gesagt hatte.
Renis deutete auf die Nischen. »Nimm dir ein Bett und ruh dich aus, solange du möchtest. Wenn du Tolan suchst, geh hinauf zur Halle. Dort wird jemand sein, der weiß, wo er ist. Ich muss jetzt ins Backhaus und mich beeilen, wenn wir heute Abend genügend Brot haben wollen. Komm einfach, wenn du etwas brauchst.« Sie wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb sie kurz stehen. »Du kannst dich überall im Tal frei bewegen, niemand wird dich aufhalten. Nur vom Eingang zum Bergwerk musst du dich noch fernhalten. Das hat Tolan dir bestimmt gesagt.«
»Ja, hat er«, log Arnu rasch.
»Das Fest beginnt, wenn es dunkel wird«, rief sie und ließ die Tür zufallen.
Die Tochter der Bergherrin verbringt den Tag in der Backhütte, dachte Arnu, während er sich auf eines der Betten fallen ließ. In Tolans Land waren die Dinge anders als in seiner Heimat, so viel stand fest. Aber bisher hatte er nichts gesehen, was ihm nicht gefallen hätte.
*
Arnu hatte keine sauberen Hosen mehr, aber immerhin ein einziges Gewand, das er seit der Abreise aus seiner Heimat nicht getragen hatte. Seine Mutter hatte das rote Hemd für ihn genäht. Es war hoffentlich angemessen, um der Bergherrin und ihrem Mann heute gegenüberzutreten.
Mit seinen Geschenken unter dem Arm stand er vor der Halle. Sie war von beeindruckender Größe und konnte sich mit dem Haus, in dem sein Vater Gäste empfing, durchaus messen. Die mächtigen Stämme, aus denen sie erbaut war, waren grau und verwittert. Darüber erhob sich das steile Dach und verdeckte den Blick auf die in der Dämmerung immer dunkler werdenden Berggipfel.
Arnu holte tief Luft und betrat die Halle. Ein riesiger Raum erstreckte sich vor ihm, geteilt durch eine lange Reihe aufwendig beschnitzter Säulen, die den Dachstuhl trugen. Überall brannten Feuer. Leute saßen und standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich laut. Es duftete verführerisch. Arnus Magen knurrte. Seit heute Morgen hatte er nichts mehr gegessen.
Aus einer Gruppe im hinteren Teil der Halle löste sich Tolan und kam auf ihn zu. »Arnu, mein Freund!« Er grinste über das ganze Gesicht.
Lange Zeit war Tolan Gast bei Arnus Familie gewesen. Nun sind die Rollen vertauscht, dachte Arnu, und Tolan kann die Gastfreundschaft endlich erwidern.
Arnu folgte Tolan, vorbei an lächelnden Frauen und Männern, die ihm freundlich zunickten. Einige hatte er heute kurz gesehen, doch die meisten waren ihm fremd. Jetzt bemerkte er Sina. Sie saß auf einem bequemen Stuhl, der auf einem kleinen Podest ganz hinten an der Wand stand. An diesem Abend, in ihrem reich bestickten blauen Kleid, sah die Bergherrin Ehrfurcht gebietend aus. An den Schultern steckten große Gewandspangen. Bronzedraht, gebogen zu vielfachen Spiralen, wand sich wie kleine, eingeringelte Schlangen auf dem dunklen Stoff. An den Handgelenken trug sie glänzende Bronzereifen, und eine tiefrote Bernsteinkette lag eng um ihren Hals. Ihr dunkles Haar war hochgesteckt. Die Köpfe der kleinen Nadeln glänzten im Feuerschein. Arnu starrte sie an. Hoffentlich brachte er ein vernünftiges Wort heraus.
Er zuckte zusammen, als Tolan sich laut räusperte. In der Halle wurde es ein wenig stiller, und die Menschen wandten sich Arnu erwartungsvoll zu.
Er richtete sich etwas auf. »Herrin, ich überbringe dir Grüße von meiner Familie und Geschenke aus meinem Land.« Seine Stimme klang laut und deutlich, was ihn erleichterte. Als jüngster Sohn der Familie hatte er noch nicht oft die Pflicht übernommen, vor vielen Menschen zu sprechen. Sina wirkte einschüchternd dort oben auf ihrem Stuhl, doch jetzt lächelte sie ihn an und bedeutete ihm, fortzufahren.
»Ich habe Speisen aus dem Süden für dich, Herrin, und Schmuck, den mein Vater dir schickt. Möge er deine Schönheit mehren und ein Zeichen für deine Macht sein.«
Sina lachte hell auf. »Das sind sehr schöne Worte, Arnu, und ich danke dir dafür. Auch für die Geschenke, die du bringst. Du hast an manchen der Dinge lange schwer getragen. Das hat mein Sohn mir berichtet.« Sie nickte anerkennend. Dann stand sie auf, breitete die Arme aus und sah ihn ernst, aber freundlich an.
Jetzt heißt sie mich willkommen, dachte Arnu. So blickte auch sein Vater drein, wenn er Gastfreundschaft gewährte.
»Arnu aus dem Süden, Freund meines Sohnes Tolan, sei noch einmal willkommen am Salzberg und unter den Bergleuten sowie in meiner Familie. Möge die Göttin über dich wachen, solange du hier bist und darüber hinaus. Bleib, solange du magst. Ich bestimme Renis dazu, dir unsere Wege zu zeigen, damit du nicht irrtümlich von ihnen abweichst.«
Arnu verneigte sich tief. »Ich danke dir, Herrin.« Mehr wurde nicht von ihm erwartet, hoffte er.
Als er sich wieder aufrichtete, sah er das Lächeln, das in Sinas Gesicht zurückgekehrt war. Sie stieg zu ihm herunter und streckte die Arme aus. Einen Moment lang dachte er, sie würde ihn umarmen, doch sie griff nach den Bündeln, die er ihr entgegenhielt.
»Ich danke dir und auch deiner Familie für diese Geschenke. Ich werde sie ansehen, wenn ich alleine bin.« Mit einem Nicken wandte sie sich ab.
Überall in der Halle setzten die Leute ihre Unterhaltungen fort, und einen Augenblick später war es wieder so laut wie zuvor. Tolan führte Arnu zu einem der Tische, an dem neben Hiram und Renis noch eine ältere Frau saß. Sie sah Sina und auch Renis ähnlich, und sie trug ein ebenso blaues Kleid wie die Bergherrin. Auf ihrer Brust glänzten helle Bernsteinperlen. Zu Arnus Überraschung reichte sie ihm beide Hände und begrüßte ihn in seiner eigenen Sprache. Es waren nur wenige Worte, aber sie lösten einen Stich in seiner Brust aus. Er war schon lange unterwegs und kannte dieses Gefühl von Heimweh gut. Voller Freude stellte er sich der alten Frau in seiner Sprache vor und fragte, warum sie diese spreche.
»Das ist zu viel, und zu schnell!«, rief sie. »So gut beherrsche ich deine Sprache nicht. Aber ich sehe, ich habe dich beeindruckt mit meinen wenigen Worten.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Du hast sehr gut gesprochen. Deshalb dachte ich …«, Arnu verstummte.
Sie tätschelte seine Hand. »Komm, Arnu, setz dich zu mir. Dann erzähle ich dir, wo ich diese Worte gelernt habe. Ich bin Renis’ Großmutter. Mein Name ist Ran, aber alle nennen mich Mimma. Das darfst du auch.«
Arnu setzte sich auf die Bank. Gegenüber saß Hiram, der ihn ebenso wie alle anderen anlächelte.
»Sei willkommen, Arnu.«
Tolan stand hinter ihm und klopfte ihm auf die Schulter. »Während Mimma dir die Geschichte erzählt, die wir alle bereits kennen, werde ich dir zu essen holen, damit du uns nicht an deinem ersten Abend hier verhungerst.«
»Sei nicht frech zu deiner Großmutter, Tolan!«, ermahnte Sina ihren Sohn und setzte sich neben ihren Mann.
»Oh, lass ihn, er ist ein wenig übermütig wegen seiner gesunden Rückkehr«, sagte Ran.
Sie war also Sinas Mutter. Obwohl Arnu und Tolan schon so lange Gefährten waren, hatte er nicht viel über die Familie seines Freundes erfahren. Tolan hatte nur manchmal Uneinigkeiten angedeutet.
Arnu war dankbar, weil Sina ihre Tochter dazu bestimmt hatte, ihm die Gepflogenheiten dieses Landes zu erklären. Unwissenheit konnte peinlich oder sogar gefährlich werden, deshalb war es wichtig zu wissen, wer mit wem verwandt war.
Tolan riss ihn aus seinen Gedanken und stellte eine große Schale vor ihn auf den Tisch. Neugierig untersuchte Arnu mit seinem Löffel den Inhalt. Ein großes Stück gebratenes Fleisch lag in einem dickflüssigen Eintopf. Arnu erkannte Bohnen, die er seit seinem ersten Tag in den Bergen immer wieder zu essen bekommen hatte. Es war erstaunlich, in wie vielen Varianten sie zubereitet wurden und wie gut man davon satt wurde.
Während Arnu hungrig aß, hörte er der Großmutter aufmerksam zu. Offenbar hatte sie eine hohe Stellung gehabt, als Sinas Vorgängerin Bergherrin gewesen war. Es hatte etwas mit den Stoffen zu tun, die sie herstellte und die sehr begehrt waren. Arnu verstand nicht alle Worte, die sie verwendete. Er hatte die Sprache dieses Landes von Tolan gelernt, und der wusste vom Spinnen, Weben und Färben genauso wenig wie Arnu. Aber es schien nicht so wichtig zu sein, dass er jede Kleinigkeit verstand. Worauf Ran hinauswollte, war die Begegnung mit einem Stoffhändler aus dem Süden, der einen Winter über im Hochtal geblieben war und Ran ein paar Worte seiner Sprache beigebracht hatte.
»Und wenn wir uns das dunkle Haar unserer Mutter ansehen, fragen wir uns immer, ob der Fremde aus dem Süden die Zeit nicht womöglich auch noch für etwas anderes genutzt hat«, lachte Tolan.
Arnu riss erschrocken die Augen auf. Was für eine Beleidigung! Doch er beruhigte sich rasch, als er sah, wie alle am Tisch lauthals in das Lachen einfielen. Offensichtlich war das ein liebevoll gepflegter Scherz in dieser Familie. Konnte es sein, dass es niemanden gekümmert hätte, wenn der Fremde wirklich Sinas Vater gewesen wäre? Arnu fragte sich, ob er es wagen sollte, Renis danach zu fragen. Er sah verstohlen in ihre Richtung und fing ihren Blick auf. Rasch wandte er sich wieder seiner Schale zu, doch die war bereits leer.
»Komm, Arnu, du schaffst noch mehr!«, rief Tolan, griff nach seiner Schale und verschwand in Richtung Herdfeuer.
»Ich weiß nicht recht«, murmelte Arnu.
»Natürlich kannst du noch essen!« Renis schmunzelte. »Der Abend hat erst begonnen. Gib mir deinen Becher, ich hole dir Bier.«
Ich darf nicht zu viel trinken, ich bin es nicht mehr gewohnt, dachte Arnu. Trotzdem schob er seinen Becher zu Renis.
Während er aus seiner Schale löffelte und Bier trank, hörte er mit halbem Ohr zu, wie Tolan der Familie von seiner Reise nach Süden berichtete. Den Großteil der Geschichte kannte Arnu, weil er selbst dabei gewesen war. Er hatte Tolan gleich nach dessen Ankunft im Süden kennengelernt. Die Beschreibungen von der Stadt, aus der Arnu stammte, waren ein wenig überschwänglich, und auch den Reichtum und die Bedeutung seiner Familie übertrieb Tolan, aber Arnu unterbrach seinen Freund nicht. Seine Familie war tatsächlich reich und verfügte über große Macht. Sein Vater besaß ein Salzbergwerk. Es war nicht besonders groß, doch seinem Vater gehörte das Salz, und er konnte dafür verlangen, was er wollte.
Langsam näherte sich Tolan dem Thema, das ihm wirklich wichtig war, und Arnu legte sein Messer weg, um die Reaktion von Hiram und Sina zu beobachten. Tolans Vater hatte noch nicht viel gesprochen, das schien nicht seine Art zu sein. Mit einem Lächeln im Gesicht hörte er seinem Sohn aufmerksam zu. Als nun Tolan begann, von Arnus Vater und dessen Arbeit zu berichten, wurde Hirams Gesichtsausdruck nachdenklicher. Tolan erzählte von den vielen Arbeitern, die täglich unter Tage schufteten, von den Werkzeugen und wiederholt vom großen Reichtum, den das Salz einbrachte. Hiram sah immer betrübter drein, sagte aber nichts.
Er hört das alles nicht zum ersten Mal, dachte Arnu, ebenso wenig wie ich. Arnu bemerkte, wie Sina kurz zu ihrem Mann schaute und dann einen Blick mit ihrer Mutter tauschte. Ran nickte knapp.
Mit einer abrupten Bewegung stand Sina auf und schnitt Tolan dadurch das Wort ab. »Hört her!«, rief sie laut in die Halle hinein. »Bergleute, sagt mir, was gehört noch zu einem richtigen Fest, das würdig sein will, meinen Sohn daheim willkommen zu heißen?«
»Musik!«, schallte es zurück.
Sina klatschte in die Hände und setzte sich wieder. Sie lächelte Tolan zu, der seinen Mund verzog und einen Schluck Bier nahm. Er schien genau zu wissen, was gerade passiert war.
Sie will nicht am ersten Abend nach seiner Rückkehr Unfrieden an ihrem Tisch, dachte Arnu. Hoffentlich bleibt die Stimmung gut. Tolan ließ sich selten von etwas abbringen, das wusste Arnu genau.
In der Nähe des Eingangs wurden unter lautem Rumoren mehrere Tische weggeräumt. Den frei gewordenen Platz nahmen einige Leute ein, die begannen, ihre Instrumente einzuspielen.
»Ich hoffe, du bist Lärm gewohnt«, sagte Renis schmunzelnd. »Aber du musst nicht mitsingen, keine Sorge.«
Ihre letzten Worte gingen in den ersten Trommelschlägen unter. Eine hohe Flöte ertönte, dann eine zweite, tiefere, und eine weitere Trommel. Die Stimme einer Frau gesellte sich dazu. Sie konnte mühelos mit den Instrumenten mithalten. Solche Musik hatte Arnu noch nie gehört, aber obwohl sie laut war, klang sie auch melodisch, und er spürte, wie seine Beine unwillkürlich im Rhythmus zuckten. Einige Frauen und Männer fingen zu tanzen an, manche sangen mit, sogar Renis und Sina hier am Tisch.
Nach einer Weile kamen einige junge Männer, zogen Tolan hoch und drängten ihn, mit ihnen zu tanzen. Lied folgte auf Lied, Becher auf Becher, und irgendwann aß Arnu noch ein Stück Fleisch, in der Hoffnung, dadurch weniger schnell betrunken zu sein. Es war zu laut, um sich zu unterhalten, also musste er sich wenigstens keine Sorgen machen, ob er womöglich Unsinn redete.
Wahrscheinlich war die Nacht weit fortgeschritten, aber Arnu hatte jedes Zeitgefühl verloren. In der Halle war es heiß. Die Menschen hatten sich von so vielen Schichten Kleidung wie möglich befreit, um ungehindert tanzen und feiern zu können. Ran hatte Renis vor einiger Zeit gebeten, sie zu ihrem Bett zu begleiten, und sich von Arnu und ihrer Familie verabschiedet. Renis war nicht zum Tisch zurückgekommen, sondern saß mit einigen Frauen bei der Sängerin.
Als die Stimmen in der Halle immer lauter wurden, und Arnu das Gefühl hatte, an einem Tisch in der Nähe würde demnächst ein Streit ausbrechen, stand Sina auf und ging langsam zurück zu ihrem Stuhl hinten in der Halle. Arnu beobachtete sie neugierig.
Die Bergherrin setzte sich und richtete sich würdevoll auf, sagte aber nichts. Die Musiker am anderen Ende der Halle beendeten ein schnelles Stück und gingen ohne Unterbrechung zu einem ruhigeren Lied über. Nur eine Flöte begleitete die Sängerin. Es dauerte nicht lange, und die Menschen in der Halle hörten zu tanzen auf und kehrten zu ihren Bänken zurück. Renis durchquerte den Raum und deckte das Bierfass zu, aus dem sich kurz zuvor noch ein paar Männer und Frauen bedient hatten.
Arnu lächelte. Die Mütter brauten das Bier, die Töchter verteidigten es, so war das nun einmal.
Renis kam an den Tisch, setzte sich jedoch nicht auf ihren Platz, sondern neben Arnu. Sie sah ihn bedeutungsvoll an und holte aus den Falten ihres Kleides einen Becher hervor, den sie dort versteckt gehalten hatte. »Letztes Bier für diesen Abend, Fremder«, flüsterte sie.
Arnu grinste und dankte ihr.
Das Lied verklang, und alle wandten ihre Gesichter Sina zu.
»Tolan und seinem Freund Arnu zu Ehren soll heute der Barde singen.«
Tolan seufzte laut, was ihm einen tadelnden Blick seines Vaters eintrug. Einige Männer und Frauen verließen unauffällig die Halle, aber die meisten blieben erwartungsvoll sitzen. Jemand holte zwei Hocker, die neben der Feuerstelle in der Mitte des Raumes aufgestellt wurden. Dann erst traten zwei Männer hervor. Der ältere hatte weiße Haare, die er zu einem Zopf geflochten trug. Er war glatt rasiert und sah frisch gewaschen aus, im Unterschied zu seinem jüngeren Begleiter, der mit strubbeligem Haar und in einem schmutzigen Überwurf hinter ihm her zu einem Hocker schlurfte und sich setzte. Der Jüngere hielt eine kleine Trommel in der Hand, die er leise und schnell zu schlagen begann. Der Ältere blieb stehen, stellte einen Fuß auf den Rand des zweiten Hockers und stützte seine Hände auf dem Knie auf. Dann begann er zu singen.
Arnu lief es trotz der Hitze in der Halle kalt über den Rücken. Eine solche Stimme hatte er noch niemals gehört, schon gar nicht bei einem Mann. Sie war nicht besonders hoch, aber klar wie sauberes Wasser, und sie schien in jeden Winkel dieses Raumes und darüber hinaus zu dringen. Die Töne der Trommel mischten sich mit der Melodie und den Worten des Sängers auf eine Weise, die Arnu das Gefühl gab, als würde hier mehr geschehen als nur der Vortrag eines Liedes. Während der Barde von den Ahnen der Menschen in diesem Raum erzählte, schienen die Schleier zwischen dem Hier und dem Dort zu verschwinden. Die Schatten lösten sich von den Wänden und mischten sich unter die Lebenden. Wovon auch immer der Barde sang, es wurde lebendig und Teil dieses Abends.