Sammelband der romantischen Engel-Fantasyserie (Die Engel-Reihe) - Jennifer Wolf - E-Book

Sammelband der romantischen Engel-Fantasyserie (Die Engel-Reihe) E-Book

Jennifer Wolf

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Beschreibung

»Ich habe mir selbst das Herz gebrochen. Ich habe mich in einen Engel verliebt.« Eigentlich hatte sich Polly ihren ersten Collegetag ganz anders vorgestellt. Anstatt wie jeder andere Student orientierungslos über den Campus zu irren, wird sie von dunklen Wesen gejagt und angegriffen. Im letzten Moment rettet ihr ein mysteriöser junger Mann das Leben. Erst in seinen Armen erkennt sie, dass Yashiel kein normaler Sterblicher ist. Und plötzlich bittet der Himmel selbst um ihre Hilfe…   Leserstimmen auf Amazon: »Einfach nur wow« »Ich bin absolut begeistert« »Seit langer Zeit mal wieder ein Buch, das ich nicht weglegen konnte« »Engel mal nicht von der Stange« »Witzig, berührend und übernatürlich gefühlvoll«     //Dies ist ein E-Book-Sammelband zur himmlischen Fantasy-Reihe von Bestsellerautorin Jennifer Wolf. Er enthält alle Bände der Buchserie: -- Berührt von himmlischen Schwingen (Die Engel-Reihe 1) -- Bedroht von höllischen Kräften (Die Engel-Reihe 2)//

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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2019 Text © Jennifer Wolf, 2019 Lektorat: Isabell Schmitt-Egner Coverbild: shutterstock.com / © Sabphoto / © garetsworkshop Covergestaltung der Einzelbände: formlabor, Isabell Schmitt-Egner Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck / Derya Yildirim Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60566-2www.carlsen.de

Jennifer Wolf

Berührt von himmlischen Schwingen (Die Engel-Reihe 1)

**Ein himmlischer Beschützer mit einem göttlichen Auftrag**Polly ist geschockt, als sie an ihrem ersten Collegetag von dunklen Kreaturen angegriffen und quer über den Campus gejagt wird. Ein geheimnisvoller junger Mann kommt ihr zu Hilfe, der seine Augen hinter einer weißen Binde verbirgt und jede Berührung mit ihr zu vermeiden versucht. Polly kann sich nicht erklären warum. Denn immer, wenn ihr Retter sie in seine Arme zieht, fühlt sich das einfach himmlisch an! Eine fremde Magie scheint von ihm auszugehen, der sie sich einfach nicht entziehen kann. Bis Yashiel ihr seine wahre Gestalt zeigt und der Himmel selbst um ihre Hilfe bittet …

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Vita

Danksagung

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© Marcus Lieske

Jennifer Wolf lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einem kleinen Dorf zwischen Bonn und Köln. Aufgewachsen ist sie bei ihren Großeltern und es war auch ihre Großmutter, die die Liebe zu Büchern in ihr weckte. Aus Platzmangel wurden nämlich alle Bücher in ihrem Kinderzimmer aufbewahrt und so war es unvermeidbar, dass sie irgendwann mal in eins hineinschaute. Als Jugendliche ärgerte sie sich immer häufiger über den Inhalt einiger Bücher, was mit der Zeit zu dem Entschluss führte, einfach eigene Geschichten zu schreiben.

Für Isabell Schmitt-Egner,

ich weiß, ich habe dir schon mal ein Buch gewidmet, aber wenn einer verdient hat, hier zu stehen, dann du.

Kapitel 1

»Poliana?«, schrie jemand in meinen Tagtraum hinein. Darin ging ich gerade so schön mit meinem Freund, der zufälligerweise aussah wie Shawn Mendes, Hand in Hand über den Schulhof. Ich zuckte zusammen und zwang mich gedanklich Shawn loszulassen und meinen Kopf zurück ins Hier und Jetzt zu holen. Nur noch diese Woche, dann waren meine Highschool-Tage gezählt und das College wartete auf mich. Endlich raus aus dieser amerikanischen Vororthölle im Bundesstaat Washington. Ich konnte es kaum erwarten. Den Staat würde ich zwar nicht verlassen, aber hoffentlich das Hinterwäldler-Dasein. Vielleicht würde ich sogar einen Freund finden? So einen richtig echten, mit Haut und Haaren und zum Anfassen. Hier hatte ich bisher nicht so viel Glück. Vielleicht lag es an den Jungs, die waren für mich einfach zu … Ich wusste nicht mal, wie ich es ausdrücken sollte. Rückständig? Altbacken? Oder es lag schlichtweg an mir. Es gab hier lauter Kreise und Rechtecke und ich war nun mal ein Trapez. Nun ja, jetzt galt es erst mal nur noch diese Woche zu überstehen. Alle Prüfungen und Zeugnisse waren geschrieben und die allgemeine Motivation hatte bei den Lehrern genauso stark nachgelassen wie bei den Schülern. Die letzten Schultage brauchte absolut niemand und das wusste auch jeder, bis auf meine Mathelehrerin.

»Poliana Havering?« Ein Buch krachte mit voller Wucht auf mein Pult und ließ mich erneut aufschrecken. Mrs Williams starrte mich mit wütenden graublauen Augen an. Ihre zierliche Nase wirkte noch spitzer als sonst.

»Da ich nun Ihre Aufmerksamkeit habe, könnten Sie mir vielleicht verraten, warum Sie meiner Aufforderung, an die Tafel zu kommen, nicht gefolgt sind?«

»Weil ich Ihnen nicht zugehört habe«, gab ich ehrlich zu und spielte mit meinen bunten Armbändern. Die Lehrerin seufzte und musterte mich von oben bis unten.

»Das sehe ich. Sie scheinen in anderen Sphären herum zu schweben. Aber Ihnen sollte klar sein, dass damit bald Schluss ist. Das College wartet auf Sie, junge Dame! Und Ihre Hippie-Eltern sollten mehr darauf achten, wie Sie herumlaufen. Woodstock ist nun wirklich schon lange vorbei.«

»Zum Glück müssen Sie meine Fransenkleider schon bald nicht mehr ertragen. Nur in einem Punkt möchte ich Sie etwas korrigieren: Ich bin zu einem Viertel Yakama. Dieses Kleid ist angelehnt an die Tradition meiner Vorfahren. Woodstock geht anders.«

Mrs Williams stand mit verkniffenem Gesicht vor mir, offenbar grübelnd, was sie darauf niederdrückend und zugleich pädagogisch gerechtfertigt antworten konnte. War anscheinend nicht ganz so einfach.

»Die ist nicht mal getauft«, hörte ich eine weibliche Stimme flüstern und fragte mich, was das eine mit dem anderen zu tun hatte. Als ich mich zu ihr umdrehte, sahen mich drei meiner Mitschülerinnen unschuldig an. Ich wusste aber, von wem dieser Kommentar stammte. Diese Person bald nicht mehr sehen zu müssen, verstärkte die Vorfreude auf mein neues Leben außerhalb dieser Schule beträchtlich. Dabei waren wir mal beste Freundinnen gewesen. Als man jedoch in der Middle School anfing über mich zu lachen, trennten sich unsere Wege. Traurig, aber wahr. Und vielleicht auch der Weg fast aller »Freundschaften« mit solchen Mädchen in meinem Alter. Das war das einzig Gute am Ende: Man erkannte, dass man in Wahrheit gar nichts verloren hatte.

Auch jetzt tuschelte sie wieder über mich. Gut, warum auch nicht, es war schließlich die letzte Gelegenheit, über mich herzuziehen, bevor wir in die Welt hinauszogen. Hoffentlich jeder in eine andere Richtung. Und ich, die verrückte, ungetaufte Teilindianerin mit dem irren Großvater aus Deutschland, der mit seinen Wahnvorstellungen den kleinen Ort hier tüchtig aufgemischt hatte, würde verschwinden. Und darauf freute ich mich wie wahnsinnig.

Kevin, dessen Gesicht immer etwas angeschwollen wirkte, flüsterte seinem Platznachbarn Jake etwas zu und grinste dann dümmlich in meine Richtung. Der Junge hätte mir leidgetan, wäre er nicht so ein verblödeter Idiot gewesen, dem jede Erziehung abging. Ich beschloss ihn einfach zu ignorieren und schaute stattdessen Mrs Williams an, die inzwischen ihr Buch wieder aufgenommen und es wie einen Säugling an ihren Busen gedrückt hatte.

Ich hoffte, dass sie meinen unmissverständlichen Blick kapierte und mit dem Unterricht weitermachte. Sie räusperte sich und ich hob die Brauen in Erwartung eines weiteren Seitenhiebs.

»Wir machen weiter auf Seite dreiundfünfzig. Wollen wir doch mal sehen, ob wir dieses Buch noch beenden können, bevor das Schuljahr endet.«

Aha. Ich verbuchte das mal als Punkt für mich, auch wenn ich nicht wirklich etwas davon hatte. Aber die Vorstellung, dass sie mit uns unbedingt noch dieses Buch zu Ende bringen wollte, amüsierte mich dann doch ein wenig. Vielleicht war sie auch einfach nur stur oder fiel es ihr am Ende schwer, ihre Klasse gehen zu lassen? Ich wusste es nicht, aber Stillarbeit hatte ich schon immer genossen, von daher wollte ich mal nicht klagen. Meistens kam ich so viel schneller voran, als wenn wir im Klassenverband arbeiteten. Also legte ich los, hielt den Kopf gesenkt, und blendete alles Getuschel und jede Bemerkung um mich herum aus.

Wenig später herrschte einigermaßen Ruhe im Raum. Ich hatte bereits drei weitere Aufgaben gemacht, während Kevin sich offensichtlich immer noch an der ersten den Kopf zerbrach. So viel zum Thema College. Welches College hatte ihn wohl angenommen? Egal. Gelangweilt angelte ich in meiner Tasche nach meinem Smartphone und steckte mir die Bluetooth-Kopfhörer in die Ohren. So konnte ich meinen Kopf in meine Hände stützen und heimlich Musik hören. Rammstein beruhigte meinen Geist und ließ mich aufatmen. Ich mochte die Härte der deutschen Sprache. Vermutlich verdankte ich das meinen Wurzeln. Wie gesagt, ich war ein Trapez, und vielleicht war es dem bunten Mix meiner Gene zu verdanken, dass ich hier nirgends so richtig dazu passte. Ich glaubte, Rammstein war eine der wenigen deutschsprachigen Bands, die es bis in die USA durchgeschafft hatten, auch wenn die meisten hier kein Wort verstanden. Das Klingeln erlöste mich von der Mathestunde. Große Pause – oder wie ich es auch gerne nannte: Leseauszeit. Ich packte das Butterbrot aus, welches ich mir in der Früh im morgendlichen Koma geschmiert hatte, und setzte mich auf eine Bank am Rand des Schulhofs.

Wie immer kam niemand auf die Idee, sich mir zu nähern, und dafür war ich sehr dankbar. Noch ein Grund, mein Outfit nicht dem allgemeinen Geschmack anzupassen: Es hielt lästige Mitschüler von mir fern. Es war nicht so, dass sie mich gehasst hätten, aber man zog es anscheinend vor, unter seinesgleichen zu bleiben. Ich war dann wohl doch ein bisschen zu anders und meine Klamotten trugen nicht dazu bei, das zu verschleiern. Es gab noch ein paar weitere Außenseiter an unserer Schule und manchmal saßen wir zusammen, aber ich musste gestehen, dass selbst ich die schräg fand. Mitch hatte zum Beispiel eine Tendenz zum Kokeln. Irgendwann würde er hier mal für einen Waldbrand sorgen, wenn er sich nicht vorher selbst angezündet hatte.

Seufzend sah ich von meinem aktuellen Schmöker auf und entdeckte Miss O’Sullivan, meine Religionslehrerin. Mit einem müden Lächeln auf den Lippen und einem für meinen Geschmack etwas zu traurigen Gesichtsausdruck führte sie die Pausenaufsicht. Als unsere Blicke sich trafen, kam sie auf mich zu.

»Darf ich mich setzen?«, fragte sie mit belegter Stimme. Ich nickte und zog meinen durch die Jahre harter Büffelei doch schon recht abgenutzten Rucksack zur Seite. Für das College hatte ich bereits einen neuen zu Hause. Mom und ich hatten ihn an vielen langen Abenden mit jeder Menge Keksen und Kräutertee selbst gemacht. Dabei hatten wir bestimmt achtzehn verschiedene Stoffe und ein Feuerwerk an buntem Stickgarn verarbeitet. Wenn das mit dem College nichts würde, dann konnte ich immer noch mit Mom zusammen einen Shop auf Etsy eröffnen, in dem wir unsere selbstgeknüpften Armbänder und Halsketten aus Muranoglas verkaufen würden. Aber erst mal blieb ich bei Plan A.

»Es macht mich traurig, dich immer so alleine hier zu sehen, Poliana.«

Was sollte man darauf sagen?

»Du bist ein so intelligentes Mädchen.«

»Intelligenz ist nicht unbedingt ein Kriterium, nachdem sich die Leute hier einen Freund aussuchen würden. Jedenfalls nicht nur.« Ich nahm meinen grünen Apfel aus dem Rucksack und biss hinein. Sauer mochte ich sie am liebsten. Miss O’Sullivan ließ ihren Blick über den Schulhof streifen. Auch wenn sie einen totalen Engel-Knall hatte und ich nicht gläubig war, war sie doch meine Lieblingslehrerin. Sie scheute sich nicht vor langen Diskussionen über Gott und die Welt und hatte wahrlich eine Engelsgeduld mit mir und meinen Warum-Fragen. Ich mochte Menschen, mit denen man diskutieren konnte, ohne dass sie gleich eingeschnappt waren, wenn man etwas anders sah als sie. Es beunruhigte mich allerdings, dass sie heute so niedergeschlagen wirkte.

»Stimmt etwas nicht?« Ich brachte es nur schwer über das Herz, sie zu fragen.

»Ja, Poliana.«

Ich würde es nie schaffen, ihr meinen Spitznamen einzutrichtern. Menschen, die ich mochte, durften mich Polly nennen, und sie hatte ich definitiv gern.

»Ich werde nach den Sommerferien nicht an die Schule zurückkehren. Für mich ist diese Woche auch ein Abschied.«

»Wieso?« Das wäre so traurig für die Klassen, die noch kommen würden. Miss O’Sullivans trüber Blick traf auf meinen und mich erfasste eine bedrückende Vorahnung.

»Ich bin krank, Poliana.« Sie versuchte mit einem Seufzen eine Träne zu unterdrücken und griff mit ihrer dürren Hand nach der Engelskette um ihren Hals. »Ich habe Krebs und die Ärzte können nichts mehr für mich tun. Er ist bereits zu weit fortgeschritten.«

Ich saß einfach nur da, rührte mich nicht, wagte es nicht, sie anzusehen.

Warum erzählte sie mir das? Kein Laut wollte über meine Lippen kommen. In so einem Moment war jedes Wort zu viel und falsch noch dazu. Miss O’Sullivan schien meinen Zwiespalt zu spüren und ihre freie Hand griff nach meiner.

»Schon gut, Liebes.« Sie brachte ein bitteres Lächeln zustande. »Bald schon wird mich ein Engel abholen und mich an einen Ort bringen, an dem die ganzen Schmerzen und Sorgen endlich ein Ende haben.«

Hieß das, ich würde mich bald für immer von ihr verabschieden? Ich legte Buch und Frühstück beiseite und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Es war mir peinlich, denn nicht ich war diejenige, die jetzt Zuspruch brauchte. Ich schämte mich, dass ich nicht die Kraft hatte, Miss O’Sullivan beizustehen und selbst weinte wie ein Kind, dem sie, die Todkranke, tröstend über den Rücken streichen musste. Und, ja, ich schämte mich auch, dass ich mir gewünscht hatte, sie hätte das für sich behalten. Was war ich nur für ein Mensch? Und was war das für ein Gott, der so etwas zuließ?

***

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte eine vollkommen übermotiviert grinsende Verkäuferin im Baumarkt. Ich kannte sie vom Sehen her, ihr Vater war hier im Ort der Klempner. Da mein Dad aber meistens alles selbst machte, hatte ich ihren kaum gesehen.

Zu ihrer Motivation passte das Schild an ihrem Hemd, das sich nicht mit einer schnöden Namensnennung zufriedengab, sondern in fröhlichen Lettern verkündete:

Hallo – mein Name ist Angela – Wie kann ich Ihnen behilflich sein?

Ich fragte mich, ob sie trotz dieses Schilds so grinste oder wegen des Schilds. Wie auch immer.

»Ich brauche schwarze Wandfarbe«, antwortete ich und versuchte so zu tun, als hätte ich ihren darauffolgenden, irritierten Blick nicht bemerkt. Sie musterte mich von oben bis unten. »Ich will mein Zimmer schwarz streichen und meinem Gott Satan huldigen.« Ich sah mich mit entspannter Miene um, als suchte ich in den Regalen nach passenden Accessoires für meinen Altar, während das Grinsen sich blitzartig aus Angelas Gesicht verabschiedet hatte. Das würde hier im Ort wieder die Runde machen.

»Ähm, ja … gut. Wenn Sie mir folgen würden?«

Ich trottete ihr hinterher und dachte über die Idee meiner Mutter nach. Wir wollten an einer ungefähr zwei Meter breiten Wand eine Art Erinnerungsschrein für unsere Verblichenen machen. Nachdem ich Mom von Miss O’Sullivan erzählt hatte, waren wir nach einem langen Gespräch auf diese Idee gekommen. Von einem Flohmarkt hatte Mom noch Vasen, die man an die Wand hängen konnte, und gerade war sie auf der Suche nach schönen Bilderrahmen. Die Wand wollten wir Schwarz streichen, damit die Bilder und die Blumen mehr zur Geltung kamen.

»Was halten Sie hiervon?«, riss mich Angela aus den Gedanken und zeigte mir einen Eimer mit schwarzer Farbe.

»Schwarz ist Schwarz.« Ich griff nach dem Eimer und suchte den Preis. Es war ein bisschen viel Farbe. »Gibt es den in kleiner?«

»Nein, leider nicht.«

»In Ordnung, vielen Dank.« Ich wanderte zur Kasse und bemerkte, dass sich nicht nur der Eimer in meiner Hand schwer anfühlte. Auch meine Brust. Krebs war so unnötig und wieso traf er gefühlt immer nur die Guten? Man hört nie, dass irgendein Arschloch-Diktator daran erkrankte und vom Angesicht der Erde wegsiechte. Nein, die wurden steinalt. Ich hievte den Farbeimer auf das Band, wo eine kaugummikauende Verkäuferin mich genauestens beobachtete. Am Wochenende arbeitete sie in der Bäckerei, aus der Mom nichts mehr holte, weil wir mehrmals Haare im Brot gefunden hatten. Seitdem backten wir selbst. Es war ansonsten recht leer im Baumarkt, nur ein paar alte Leute saßen im angrenzenden Restaurant, rührten Zucker in ihren Kaffee und bestellten das Tagesgericht für drei Dollar fünfzig, wobei sie Fliegen verscheuchten, die sich auf ihnen niederlassen wollten. Eine Frau mit einem kreischenden Baby im Einkaufswagen stellte sich hinter mich und versuchte mit einem nervtötenden Sing-Sang ihr Kind zu beruhigen, bis mir der Gedanke kam, dass das Kind eben wegen des Gesangs nicht mit dem Heulen aufhörte. Was war zuerst da? Das Plärren oder der Sing-Sang? Das Grinsen oder das Namensschild? Die Welt mit all ihren Rätseln, warum, warum. Warum hier, warum jetzt, warum Miss O’Sullivan.

Nachdem ich bezahlt hatte, schleppte ich den schweren Eimer zu Fuß nach Hause. Natürlich hatte ich den Bus verpasst und hatte keine Lust, eine Stunde auf den nächsten zu warten. Meine Arme taten mir bereits nach wenigen Schritten weh, weil ich den Eimer immer wieder von der einen in die andere Hand wechselte. Mittlerweile waren die Striemen, die der Tragegriff auf meinen Handinnenflächen hinterließ, schon feuerrot. Der Schmerz war jedoch eine willkommene Abwechslung zu dem Gefühl der Hilflosigkeit, das Miss O’Sullivan mit ihrer Neuigkeit in mir verursacht hatte. Ich machte eine kurze Pause, um die Blutversorgung in meinen Fingern sicherzustellen. Der dünne Henkel hatte sich schon in meine Handflächen geschnitten. Ich setzte mich auf den Eimer und vergrub meinen Kopf in meinen Armen. Eigentlich hätte ich weinen wollen, doch keine Träne schaffte es aus meinen Augen hinaus ans Licht. Stattdessen saß ich da und … atmete. Ein Auto kam neben mir zum Stehen und ich sah fast schon wütend und genervt auf.

Miss O’Sullivan ließ die Scheibe heruntersurren und blickte mich entschuldigend an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich in der Straße war, in der sie wohnte. Soweit ich wusste, hatte ihr verstorbener Mann sogar im Baumarkt gearbeitet.

»Poliana.« Sie seufzte. »Soll ich dich nach Hause bringen?« Ich sah erst meine Hände und dann das Auto an. Nickend stellte ich mich auf und quälte mich erneut beim Anheben des Farbtopfes. Wieso gab es die nicht kleiner? Ich meine, gerade Schwarz dürfte doch eine Farbe sein, die man nicht großflächig brauchte. Ich stellte den Topf auf die Rückbank und stieg neben Miss O’Sullivan ein.

»Danke«, brachte ich verlegen heraus. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Was sagte man zu jemandem, der bald sterben würde? Dessen Uhr nicht mehr heimlich und versteckt austickte, sondern sichtbar war?

»Es tut mir leid, Poliana. Ich hätte feinfühliger sein sollen.« Ihr Blick huschte von der Straße kurz zu mir.

»Schon gut.«

»Nein, … ich … ich hätte es dir nicht sagen sollen. Aber der Gedanke, mich von dir am Freitag zu verabschieden, ohne dass du weißt, dass es ein Lebwohl für immer sein wird, hat mir keine Ruhe gelassen. Ich habe dich sehr gerne und das war bei Schülern nicht immer der Fall. Du bist klug und ich weiß, dass Gott auf dich aufpassen wird.« Sie zwinkerte mir kurz zu. »Auch wenn du eine Heidin bist.«

Ich lehnte meinen Kopf an die Fensterscheibe und sprach kein Wort, bis das Auto vor dem Haus meiner Eltern anhielt. Es wollte mir einfach nichts einfallen, was nicht nach Abschied klang und dafür war ich jetzt und hier noch nicht bereit.

»Was hast du mit der Farbe vor?«, fragte Miss O’Sullivan, als ich den Eimer aus dem Auto zerrte.

»Ich streiche mein Zimmer neu«, log ich, denn ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass bald ein Bild von ihr an unserer Totenwand hängen würde.

»O schön, in welcher Farbe?« Offensichtlich hielt sie die schwarze Farbe für die Verpackung.

»Flieder«, log ich. Das war die aktuelle Farbe meines Zimmers.

Miss O’Sullivan lächelte mich an, nachdem ich ausgestiegen war und sie noch einmal durch das Fenster ansah. In ihrem Blick lagen so viele Worte, die sie mir sagen wollte, aber sie schwieg und startete wieder den Motor. Ich verstand sie auch, ohne dass sie ausgesprochen wurden. Dass ich gelogen hatte, war ihr auch klar. Wer strich schon sein Zimmer neu, bevor er aufs College ging.

»Bis morgen früh, Poliana.« Sie wartete meine Antwort gar nicht ab und fuhr die Auffahrt zurück zur Straße. Das Tor am Grundstück schloss sich mit einem leisen Knarren. Erst letztes Jahr hatte Dad es mit Strom versorgt, sodass es sich nun automatisch öffnete und schloss. Er war immer noch sehr stolz auf sein Werk. Ich schleppte den Eimer die Stufen der Veranda hinauf und parkte ihn erst mal in dem knarrenden, alten Schaukelstuhl, auf dem Granny Cathy gerne saß und den Anblick der Berge genoss. Ich kramte in meinem Umhängebeutel nach meinem Schlüssel und fand ihn unter meiner Geldbörse. Drinnen roch es nach Essen.

»Bin wieder da!«, informierte ich den Teil meiner Familie, welcher gerade anwesend war. Ich hörte Mom und Granny in der Küche reden. Die Mutter meines Vaters steckte den Kopf durch die Tür und lächelte.

»Hallo, Kind, es gibt gleich Abendessen. Hast du die Farbe bekommen?«

»Ja, Granny.« Ich hob den Eimer hoch und deutete darauf.

»Sehr schön, ich habe schon ein Bild von deinem Großvater herausgesucht.« Manchmal fragte ich mich, wie sie die Ehe mit ihrem geistig kranken Mann erlebt und verarbeitet hatte. Aber er war ja nicht immer so gewesen. Granny Cathy erzählte mir wiederholt, dass er damals der hübscheste junge Mann im Ort gewesen sei und wie stolz sie gewesen war, dass er sie zum Traualtar geführt hatte. Mom drückte sich an meiner Granny vorbei und kam auf mich zu. Ihr selbst gebatiktes Kleid schmeichelte ihrer schlanken Figur und die großen braunen Mandelaugen sahen mich fragend an.

»Geht es dir gut? War das Miss O’Sullivans Auto draußen?«

»Ja, das war es.«

»Konntet ihr reden?« Moms langes schwarzes Haar, das ihr offen bis zum Po reichte, verströmte den vertrauten Duft nach Wildblumen, den ich so liebte. Ich nickte nur, weil ich darüber jetzt nicht mehr sprechen wollte, und nahm die Treppe nach oben. Für heute hatten wir genug geredet. Den Farbeimer parkte ich an der Wand, die wir streichen wollten, dann eilte ich in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett. Ich vergrub mein Gesicht in den Kissen. Leider war es das mit dem von mir selbst gehäkelten Überzug. Die Wolle war kratzig, ich behielt ihn nur, weil er hübsch geworden war. Ich rollte mich herum und starrte auf den mit Postern beklebten Schrank. Nicht mal Shawns süßes Lächeln konnte mich heute aufmuntern. Dann fiel mir etwas ein.

»Abdeckfolie!«, jammerte ich laut. Mist, hoffentlich hatte Dad davon noch etwas im Keller. Wie hatte ich die nur vergessen können? Es mussten zwar keine Möbel geschützt werden, aber der Boden und die Fußleiste. Ich sprang aus dem Bett und flitzte die Treppe hinunter. Granny beobachtete mich aus den Augenwinkeln, während sie gerade eine potthässliche Skulptur namens Der Drachen abstaubte. Das Ding sah eher wie etwas aus, das man aus der Zahnpastatube gedrückt und dann zum Trocknen in die Sonne gestellt hatte. Mom und Dad hatten teilweise eine echt komische Auffassung von Kunst. Im Keller suchte ich nach Dads Malerausrüstung. Ich fand eine Latzhose voller fliederfarbener Farbkleckse, eine Kappe, Rollen und tatsächlich auch einen kläglichen Rest Abdeckfolie. Leider viel zu wenig, also schnappte ich mir eine Packung Müllsäcke. Wenn ich die auftrennte, erfüllten sie sicher auch ihren Zweck. Ich schaltete das Licht hinter mir aus und rannte wieder nach oben. Nur gut, dass Dad leidenschaftlich gerne bastelte und sich im Keller ein kleines Heimwerker-Refugium aufgebaut hatte. Mom und ich nutzten es ab und an auch gerne.

»Granny?«, rief ich und stellte den ganzen Kram im Erdgeschoss auf den Boden. »Granny?« Sie war doch gerade noch hier gewesen?

»Ja?« Sie stand oben ans Geländer gelehnt und sah zu mir herunter. Granny Cathy war mal eine wunderschöne Frau gewesen. Das Leben hatte sie allerdings gezeichnet, ganz besonders die Krankheit ihres Mannes und wie unsere Stadt mit ihr umgegangen war. Dann war da noch Dad, den sie fast ganz alleine großgezogen hatte.

»Ist heute der Papiermüll abgeholt worden?«

Sie schien einen Moment zu überlegen und schüttelte dann ihren Kopf, dass die grauen Locken flogen. Gut, gut, ich brauchte vielleicht zur Sicherheit noch ein paar alte Zeitungen, um den Boden abzudecken. Ich ging hinüber zur Küche und nahm die Tür zur Garage, die ich schnell wieder hinter mir schloss. Grandma behauptete, der Benzingeruch würde sonst in die Küche ziehen. Ich umrundete das Auto meiner Eltern und scannte die Ansammlung von Fahrrädern und Schrott dahinter mit Blicken ab. Der Stapel Altpapier schien das Ordentlichste in diesem Chaos zu sein, zumal Mom ihn mit Kordeln zusammengebunden hatte. Gerade wollte ich ein paar alte Zeitungen herausziehen, da wurde ich auch schon zum Essen gerufen.

***

»Wunderschön.« Meine Mom betrachtete unser Kunstwerk und wischte sich eine Strähne aus der Stirn. Die Trauerwand war fertig und es hing dort bereits ein leerer Bilderrahmen, reserviert für das Foto meiner Lehrerin. Vor ungefähr einem Jahr hatte sie auf einem Ausflug eine Engelsstatue entdeckt und mich gebeten, ein Bild von ihr neben der Figur zu machen. Bald würde sie bei ihnen sein, jedenfalls hoffte ich das. Mit meinem Glauben war es nicht gerade weit her. Ich schätzte, das passierte, wenn man in einer Familie groß wurde, in der jeder was anderes glaubte. Leider quälte mich mein Unglauben nun umso mehr, da Miss O’Sullivan an all das glaubte und ich fürchtete, dass ihr Glaube enttäuscht werden könnte. Was, wenn da einfach nichts sein würde? Kein Gott, keine Herrlichkeit, keine Engel, einfach nichts? Ich wagte es nicht, ihr diesen Gedanken mitzuteilen, aber sie davon sprechen zu hören, konnte ich ebenfalls kaum ertragen.

»Das habt ihr prima gemacht.« Dad stellte sich zu uns mit einem Glas Wasser, in dem ein Alka Seltzer sprudelte. Die freie Hand legte er auf meine Schulter. »Mir gefällt das Bild von meinem Vater.«

»Das hat Granny ausgesucht«, sagte ich.

»Hmh.« Nachdenklich schaute Dad auf die Fotografie. »Er sieht darauf so friedlich aus.«

Das war wohl in seinen letzten Jahren eher selten der Fall gewesen. Am besten gefiel mir das Bild meiner anderen Großmutter in ihrer Stammestracht. Stolz lächelte sie in die Kamera und als mein Blick den ihren traf, kamen mir die Tränen. Meine Eltern umarmten mich und ich ließ mich eine Weile von ihnen trösten, bevor ich ging, um mich bettfertig zu machen. Ich wollte nicht daran denken, was Miss O’Sullivan noch alles durchmachen musste, bevor ihre vermeintlichen Engel sie holen kommen würden. Müde setzte ich mich auf mein Bett und verbrachte dort eine lange Zeit schweigend. Die Gedanken rasten nur so durch meinen Kopf und als ich mich erhob, um die Fenster zu schließen, war es bereits stockfinster.

***

»Dir wird es da mit Sicherheit gefallen«, sagte Mom und biss in ein halbes Brötchen mit Heidelbeermarmelade. Ich konnte nicht anders, als darauf zu starren. Im nächsten Sommer würden Mom und Grandma die Beeren zum ersten Mal ohne mich ernten und einkochen. Mom blätterte derweil in dem Prospekt, das wir von unserem Besichtigungstermin in meinem College vor einigen Monaten mitgebracht hatten. »Jeder Student hat hier sein eigenes Zimmer und die Pädagogen dort sollen großartig sein.« Mom und Dad hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht die Colleges leisten konnten, auf die ich gerne gegangen wäre, und nun verspürte Mom wohl das Bedürfnis, mir ständig alle Vorzüge des Taylor-Hilton-Colleges aufzulisten. Dabei freute ich mich wirklich dorthin zu gehen und versuchte mich darauf zu konzentrieren. Das Einzige, was mir Sorgen machte, war die Erinnerung an die Studentinnen, die ich dort angetroffen hatte. Sie hatten so bieder und ernst dreingeschaut. Den Trakt, in dem sich die interessanteren Studenten – nämlich die männlichen – befanden, hatte man uns damals auf der Girls-Tour nicht gezeigt. Was war, wenn da der gleiche Menschenschlag herumrannte wie hier? Nein. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht tat ich ihnen Unrecht und sie liefen nur so herum, weil Besuchstag gewesen war. Ich würde es herausfinden, denn Mom war von dem College total begeistert und Dad und sie konnten es sich aus finanzieller Sicht erlauben, mich dorthin zu schicken.

»Ich gehe jetzt zu Miss O’Sullivan und verabschiede mich«, teilte ich Mom mit. Für alle anderen war es der letzte Tag Highschool, für mich war es der, an dem ich von meiner Lieblingslehrerin Abschied nehmen musste. Sie war vorgestern ins Krankenhaus eingeliefert worden, hatte man mir in der Schule erzählt. Also würde ich die ersten Stunden schwänzen und sie besuchen gehen, denn ab morgen würden wir zu unserer alljährlichen Urlaubsreise mit dem alten Campingmobil durch Amerika aufbrechen. Vorausgesetzt, Dad bekam das Ding zum Laufen, aber das würde er. Was mir Sorgen machte, war die Frage: Ließ ich Miss O’Sullivan im Stich? Dieser Gedanke beschäftigte mich auf dem ganzen Weg zum Krankenhaus.

Als ich dann endlich vor dem grauen Betonklotz stand, wurden meine Knie weich. Ich hasste Krankenhäuser. Die Atmosphäre war bedrückend und ich fühlte mich jedes Mal total krank, wenn ich nur einen Fuß hineinsetzte. Wie man hier gesund werden konnte, war mir schleierhaft. Aber dafür war Miss O’Sullivan auch nicht hier.

»Polly!«, rief meine Lehrerin freudig aus, als sie mich erkannte. Schließlich und letzten Endes hatte sie sich doch meinen Spitznamen merken können. Ich bekam Gänsehaut und in meinen Augen brannte es. Sie sah schlecht aus und wirkte so, als stünde sie unter starken Medikamenten. Ihr Lächeln war schief und matt.

»Schön, dass du gekommen bist.« Sie lag in einem Meer aus Blumen und Karten. Anscheinend war ich nicht die erste Schülerin, die sie besuchte, aber wohl die einzige, die ein Geschenk vergessen hatte. Ich schämte mich furchtbar, doch sie schien diesen Fauxpas gar nicht zu bemerken und streckte ihre knochige Hand nach mir aus. Ihr Arm war voller blauer Flecke. Sie bemerkte meinen Blick und rieb sich darüber.

»Die Schwesternschülerin hatte Probleme beim Blutabnehmen.«

Ich verzog den Mund und ergriff ihre Hand.

»Komm, setz dich zu mir.«

Ich nahm auf dem Stuhl neben ihrem Bett Platz.

»Wir fahren morgen in den Urlaub«, platzte es aus mir heraus. Miss O’Sullivan sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, doch sie schien zu begreifen, dass das hier unser Lebewohl wurde. Wobei man das Wort bei ihr nicht benutzen konnte. Leben lag nicht mehr viel vor ihr. Sie ergriff die Kette um ihren Hals und drückte meine Hand fester.

»Gottes Wege sind unergründlich«, versuchte sie mich zu trösten. »Sicher wird ein Engel mit dir reisen und vielleicht tut dir der Abstand mal ganz gut, hmh?«

Ich lächelte sie an. »Wie geht es Ihnen?«, stellte ich schließlich die Frage, die normale Besucher einem Kranken als Erstes stellten. Miss O’Sullivan atmete tief durch und sah zum Fenster.

»Erinnerst du dich an die fünf Sterbephasen nach Elisabeth Kübler-Ross, die wir letztes Jahr besprochen haben?«

Ich nickte. Verleugnung und Isolierung, Zorn und Ärger, Verhandeln, Depression und schließlich Zustimmung.

»Ich bin bereit zu gehen, Polly.« Die fünfte Phase. Der Sterbende hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. »Ich freue mich darauf, in die Arme meines Schöpfers zurückzukehren.«

Mein Brustkorb wurde plötzlich viel zu eng und ich rutschte nervös auf dem Stuhl herum. Miss O’Sullivan verblasste förmlich vor meinen Augen und einen Moment hatte ich das Gefühl, neben einem leeren Bett zu sitzen. Ich wünschte mir aus tiefstem Herzen, dass es wirklich diesen Schutzengel gab, von dem sie oft gesprochen hatte. Hoffentlich würde er sich ihr bald zu erkennen geben und sie schmerzfrei dorthin bringen, wo sie glaubte, dass Menschen nach ihrem Tod hinkamen. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass sie unter Qualen ihre Augen schloss und dann einfach verschwand.

»Polly?«, riss sie mich aus meinen Gedanken.

Ich sah sie fragend an.

»Versprichst du mir etwas?«

Ich zuckte mit den Schultern und wartete ab.

»Versuche die schönen Dinge im Leben zu sehen. Es ist nicht alles immer nur furchtbar und ungerecht. Du musst nur deine Augen öffnen.« Konnte man so etwas versprechen? Ich tat es, denn ich würde Miss O’Sullivan wohl nie wiedersehen. An ein Leben nach dem Tod glaubte ich nicht. Da mir keine passenden Worte einfallen wollten, umarmte ich sie. Zum ersten und zum letzten Mal. Ich wünschte mir zu weinen, aber ich konnte es nicht. Als sich die Tür zu Miss O’Sullivans Zimmer hinter mir geschlossen hatte, war in mir irgendetwas gestorben. Ich fühlte mich, als wäre ich gar nicht da … als stünde ich neben mir … wie ein Geist, der seinen sterbenden Körper betrachtet. Irgendwie kämpfte ich mich durch meinen letzten Schultag und die Zeremonie, bekam aber kaum etwas davon mit.

Als ich nach Hause kam, lag mein Koffer bereits auf meinem Bett. Eine unauffällige Aufforderung, meinen Kram für unseren Familienausflug zu packen. Ich kam ihr nach und legte sorgfältig meine Lieblingskleidungsstücke, mein Make-up, Schuhe, Unterwäsche und was ich sonst noch so brauchte hinein. Danach nahm ich meinen Rucksack und stopfte auch ihn randvoll. Schon seltsam, wie das Leben für die einen endet und für die anderen einfach weitergeht.

Kapitel 2

Am Taylor-Hilton-College herrschte wildes Durcheinander. Aber das war ich schon gewohnt, zu Hause war es die letzten zwei Tage genauso zugegangen. Ich hatte meinen Urlaubskoffer aus- und schließlich meine Sachen für das College wieder eingepackt. Die Waschmaschine hatte nie stillgestanden, da Mom im Akkord wusch. Ich hatte ihr dabei geholfen und bei all den anderen Dingen, die liegen geblieben waren. Immer getrieben davon, beschäftigt zu sein, und mein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Miss O’Sullivan lebte noch, so hieß es in der Stadt. Aber ich hatte es nicht übers Herz gebracht, mich erneut verabschieden zu gehen, und so hatte ich mich so gut es ging abgelenkt. Am Morgen hatte ich dann die letzten Sachen in meinen Rucksack gequetscht.

Mom, Dad und Granny halfen mir mit meinem Kram und kämpften sich durch die Massen von Studenten und ihren Familien. Ich war so aufgeregt, dass mir speiübel war. Schon in wenigen Minuten würde ich mich von meinen Eltern verabschieden und war zum ersten Mal ganz auf mich selbst gestellt. Der Unterricht würde erst morgen beginnen, doch heute war ein Kennenlern-Tag für alle Neulinge und auf dem Campus fanden zahlreiche Willkommensveranstaltungen statt. Dad hielt einen Brief in der Hand, auf dem der Weg zu meinem Wohnheim verzeichnet war. Wir fanden es schließlich, doch drinnen war es nicht weniger chaotisch als draußen. Ach du Scheiße, hier würde ich bestimmt irrewerden. Ein Gang sah aus wie der andere. Schließlich fanden wir die richtige Tür und siehe da, die Keycard, die den Unterlagen des Colleges beigelegen hatte, funktionierte. Der Raum war klein, die Möbel hingegen groß, alt und ein wenig muffig. Dennoch fand ich es besser als befürchtet. Damit würde ich arbeiten können. Ich starrte auf die gefühlt tausend Zettel, die man mir bei der Anmeldung unten im Wohnheim in die Hand gedrückt hatte. Hilfe, mir dröhnte der Schädel. Meine Familie stellte meine Sachen ab.

»Also«, meinte Dad und seine Stimme klang brüchig. »Sollen wir noch bleiben und dir auspacken helfen, oder …?«

»Nein«, unterbrach ich ihn hastig und sah abwechselnd in die drei Paar Augen, die mich musterten. »Mir wäre es lieber, wir machen es schnell wie bei einem Pflaster.«

Mom begann zu schluchzen. Nein, genau das wollte ich verhindern. Ich drückte sie an mich.

»Thanksgiving bin ich wieder da«, versprach ich ihr und sie nickte, löste sich dann von mir, um mir einen Kuss zu geben.

»Ich warte am Auto«, sagte sie und verließ fluchtartig das Zimmer. Ich drückte noch meinen Dad und Granny, die beide mit glasigen Augen noch einmal einen Blick über ihre Schultern zu mir ins Zimmer warfen. Dann war ich allein.

Hin- und hergerissen zwischen Heimweh und Euphorie. Auf den Moment hier hatte ich lange gewartet. Ich war auf dem College. Verrückt, es fühlte sich gar nicht so an wie in all meinen Träumen. Irgendwie fremd, dennoch wusste ich: Jetzt würde alles besser werden. Hoffentlich. Irgendwo hier mussten sich doch ein paar coole Leute verstecken! Ich sah auf die Uhr, noch hatte ich Zeit. Drei Stunden, dann wollte ich die Gelegenheit einer Informationsveranstaltung für Neulinge nutzen. Ich wischte mir mit dem Ärmel ein paar Tränen aus dem Gesicht. Zumindest musste man hier keine Angst haben, die Möbelstücke zu benutzen, so robust sahen sie aus. Auch wenn es nur wenige waren. Ein Schreibtisch mit Stuhl, eine kleine Kommode, ein Schrank und natürlich ein Bett. Die Matratze war viel zu hart. Dies ergab jedenfalls mein erster Test, als ich mich erschöpft darauf fallen ließ. Vielleicht sollte ich als Erstes meine Bettwäsche auspacken. Wenn ich heute etwas brauchen würde, dann sie. Ich atmete tief durch und beschloss aus diesem Raum meinen zu machen. Meine Poster, Shawn musste einfach mit, mein Laptop, meine Kleidung und Jacken. Das alles half und ich sollte Recht behalten, denn als ich die Fotos meiner Familie auf die kleine Kommode neben dem Bett stellte, fühlte ich mich gleich besser. Vielleicht sollte ich mir noch ein paar Pflanzen besorgen? Verantwortung übernehmen und sehen, ob ich sie durch den Winter bekam. Es klopfte an meiner Tür und noch ehe ich etwas sagen konnte, stürzte das Empfangskomitee herein. Es bestand aus drei Mädchen. Die Blonde war eindeutig das Alphatier und wurde von den beiden Brünetten flankiert. Das war ja so … Highschool. Mir fehlten die Worte, gleich würde sich die Blonde bestimmt als Ashley vorstellen, wetten? Ich tadelte mich innerlich, dass ich Leute in Schubladen schob, obwohl ich das bei mir selbst nicht leiden konnte. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte vorurteilsfrei zu sein. Es gelang mir nicht.

»Hallo, ich bin Francine!«, sagte die Blonde und streckte mir die Hand entgegen. Erwähnte ich, dass alle drei Faltenröcke in verschiedenen Farben trugen und dazu passende Blusen? Wenigstens hatte sie einen schönen Namen.

»Mein Name ist Poliana«, sagte ich und ergriff die zierliche, mit Ringen geschmückte Hand, »aber mich nennen alle Polly.«

Ja, gut so, gleich offen und freundlich sein, feuerte ich mich selbst an. Francine rümpfte kurz die Nase, als sie mich von oben bis unten musterte, fing sich aber schnell wieder.

»Schön dich kennenzulernen, Polly. Das hier sind Sarah und Eva, wir sind die Tutoren. Falls du also Fragen hast, kannst du dich gerne an uns wenden.«

»Danke, ich melde mich, wenn ich Hilfe brauche.« Ich sah sehnsüchtig zur Tür, in der Hoffnung, dass sie gehen würden. Peinliches Schweigen entstand, doch zum Glück verabschiedeten sie sich schnell und sagten, dass sie noch die anderen begrüßen müssten. Sollten sie denen helfen, ich würde schon alleine klarkommen. Na, das war ja jetzt nicht so gut gelaufen. Ich nahm mir vor, bei der Kennenlernrunde mein Bestes zu geben und mich von meiner freundlichen Seite zu zeigen.

***

Kaum hatte man mich im großen Speisesaal nach vorne geholt, packte mich die Nervosität und ich lächelte dümmlich meine potenziellen neuen Freunde an. Diese Veranstaltung war wirklich der Horror. Ich erinnerte mich daran, dass es vermutlich allen hier so ging und atmete tief durch.

»Wird man mir nun einen Hut aufsetzen, der mich einem Haus zuteilt?« Ich grinste etwas übertrieben das Mädchen neben mir an. »Slytherin, Slytherin«, wisperte ich vor mich hin. Sie sah mich mit großen, ausdruckslosen Augen an. Abwartende Gesichter umgaben mich und verzogen keine Miene. Kannte denn hier niemand Harry Potter? War ich in einem Paralleluniversum gelandet, in dem J.K. Rowling Erotikromane schrieb und der gute Harry ein reicher Milliardär mit Kindheitstrauma war, der seinen Zauberstab nur für eine Kellnerin schwang, die ständig hinfiel und daheim ihren Cousin dritten Grades pflegte? Offensichtlich fanden sie meinen Witz nicht lustig oder fühlten sich irgendwie gekränkt, weil ich ihre Veranstaltung nicht ernst genug nahm. Ich räusperte mich und stellte mich mit meinem Namen vor. Mein Gesicht brannte und ich musterte den Boden, bis die Blicke zur Nächsten wanderten. Jetzt hatte ich den Ruf des verrückten Nerds inne und dafür hatte ich nicht mal einen ganzen Tag gebraucht. Neuer Rekord. Aber das hier war das College, es musste doch noch mehr von meiner Sorte geben! Im Anschluss an die peinliche Vorstellungsrunde zeigte man uns das Gelände und wies uns in Nützliches und weniger Nützliches ein. Wenigstens wusste ich jetzt, wo alles war. Zumindest in der Theorie, denn der ausgeteilte Lageplan gab mir mehr Rätsel auf, als er löste. Es gab sogar einen Kiosk hier direkt im Hauptgebäude. Allerdings war er nur zu bestimmten Zeiten geöffnet, was einen natürlich sehr einschränkte. Am Nachmittag und an den Wochenenden blieb also nur die Flucht vom Campus. In der großen Eingangshalle nahm ich mir ein Prospekt mit einem Stadtplan und eine Tabelle mit den Busfahrzeiten von einem Stapel. Ich konnte mir die Gegend anschauen fahren. Vielleicht sogar heute noch? Unruhe trieb mich umher, als ich zurück in mein Zimmer ging. Die Wände schienen fast schon näher zu kommen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, hier raus zu müssen. Während sich die anderen Neuen beschnupperten, stopfte ich mein Portemonnaie und mein Handy in die Hosentaschen und machte mich auf die Suche nach der Haltestelle College. Die hiesigen Stadtwerke, die diese Buslinie betrieben, waren bei der Vergabe der Haltestellennamen unheimlich kreativ gewesen. Ich dachte mir, dass ich mit dem Freundesuchen bis morgen warten sollte, bis sich der erste Trubel gelegt hatte, und ich wusste, mit wem ich überhaupt in den Kursen saß. Die Bluetoothkopfhörer in den Ohren starrte ich im Bus zum Fenster hinaus und versuchte nicht zu atmen. Der Typ neben mir hatte wohl noch nie etwas von einem Deo gehört. Kaum hatte ich die Mauern des Colleges verlassen, war ich ruhig geworden. Es war ein wenig, als wäre ich ferngesteuert und jemand würde mich zwingen von dort abzuhauen. Aber wo zur Hölle sollte ich denn hin? Ich seufzte und atmete dabei aus Versehen einen guten Schuss schwitziger Mann ein. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, sonst hätte ich wahrscheinlich gewürgt. Ob der das nicht bemerkte? Ich sah auf den Busplan und stellte erleichtert fest, dass die übernächste Haltestelle meine war. Durch den Mund atmend drehte ich mich zu der Stinkbombe neben mir um und bat ihn mich aufstehen zu lassen. Der Bus wurde bereits langsamer, den letzten Weg zu meiner Station würde ich stehend verbringen. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es bereits später war, als ich gedacht hatte. Die Veranstaltung im College hatte fast den ganzen Nachmittag gedauert und nun dämmerte es.

Hoffentlich klappen die hier nicht gleich die Bürgersteige hoch, dachte ich, als ich aus dem Bus an die frische Luft trat. Es war ein merkwürdiger Ort, irgendwie hatte ich mit Trubel und vielen Menschen gerechnet. Nicht mit dieser geisterartigen Stille. Der Bus fuhr ab und ließ mich in der fremden Stadt zurück. Die Einkaufsstraße lag vor mir, doch ich konnte nur wenige Menschen in der Ferne ausmachen.

Poliana.

Ich drehte mich um. Aber hinter mir stand niemand. Jetzt bekam ich schon eine Art Ohrensausen vor Stress, wie es schien. Ja, es war richtig gewesen, mal rauszufahren. Andererseits war ich eben erst angekommen. Was sollte wohl aus mir werden, wenn ich nach wenigen Stunden in dem Laden schon das Gefühl hatte, abhauen zu müssen? Ich beschloss einfach ein Stück die Straße runterzugehen.

Keine arme Gegend, stellte ich schnell fest, als ich in einen Seitenweg einbog. Alte Herrenhäuser und Villen mit wunderschönen Vorgärten und weißen Gartenzäunen reihten sich nebeneinander. Ich lief weiter und schaute mir jedes der Gebäude an. Dabei stellte ich fest, dass sie doch recht verschieden waren, auch unterschiedliche Baustile aufwiesen. Aber ich wäre, ohne zu zögern, in so ziemlich jedes davon eingezogen.

Komm zu mir, Poliana.

Mein Herz machte einen Satz und ich fuhr herum. Da musste jemand sein! Ein Collegenachmittag schaffte es nicht, dass ich so verrückt wurde und Stimmen hörte. Ob sich da einer meiner Kommilitonen einen Scherz mit mir erlaubte? Wahrscheinlich waren sie mir nachgeschlichen. Aber hätte ich dann nicht im Bus jemanden sehen müssen? Ich hatte nicht darauf geachtet, war von dem verschwitzten Mann etwas abgelenkt gewesen. Es war nicht ausgeschlossen, dass mir nun ein paar Verrückte folgten, um dem Freak einen Willkommensscherz angedeihen zu lassen. Aber nicht mit mir! Ich tat so, als würde ich ungerührt weiterschlendern und stellte mir vor, wie die Jungs – oder auch Mädchen – sich grinsend an mich heranpirschten. Dann, ohne mir vorher etwas anmerken zu lassen, wechselte ich in einen Sprint, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her, und erst als ich die Wohngegend hinter mir gelassen hatte und nur vereinzelt ein paar Farmhäuser und Felder ausmachen konnte, hielt ich an. Ich fuhr herum und scannte mit scharfem Blick meine Umgebung ab. Ha! Ich hatte sie abgehängt! Da war niemand, nicht eine Menschenseele. Mein Herz klopfte trotzdem vor Aufregung und Anstrengung noch zu schnell. Ich hatte mir eindeutig einen ruhigeren Start in meinen neuen Lebensabschnitt gewünscht. Wenn sich jetzt hier dieselben Pfeifen tummelten wie an der Highschool … Nein, Stopp!

Miss O’Sullivans Worte kamen mir in den Sinn. Es war nicht immer alles schlecht. Und ich würde nicht undankbar sein und vom Positiven ausgehen. Das Schlimmste, was hier passierte, war ein möglicher Streich zum Willkommen, den ich überleben würde. Nichts weiter! Ich lag nicht in einem Bett, in dem mir ungeschickte Schwesternschülerinnen den Arm zerstachen. Ich war jung, gesund und marschierte durch eine schöne Landschaft. Es gab keinen einzigen Grund, mir selbst leidzutun.

Ich atmete einmal durch und fühlte mich besser.

Den Ort hatte ich hinter mir gelassen und irgendwo dort zwischen den Häusern standen wahrscheinlich meine Mitstudenten herum und konnten es selbstverständlich nicht wagen, mir auf das freie Feld zu folgen. Selbst schuld. Ich entschloss mich den Ort zu umrunden und von der anderen Seite zur Bushaltestelle zurückzugehen. Dann würde ich den nächsten Bus zurück zum College nehmen. Damit war mein Ausflug zwar schneller beendet als geplant, aber ich hatte wirklich keine Lust auf noch mehr Streiche und Kinderkram.

Also marschierte ich los. Rechts von mir lag ein Wald, der sich fast bis an die ersten Häuser heranschmiegte und links die kleine Stadt. Ich schätzte, dass ich in einer guten halben Stunde die Ausläufer der Siedlung umrundet haben könnte. Dabei konnte ich in Ruhe nachdenken, hatte etwas Bewegung, und im Studentenheim würde ich eine schöne, heiße Dusche nehmen und dann ins Bett gehen.

Ich bewegte mich querfeldein, denn einen richtigen Weg schien es hier nicht zu geben. Das Gras wuchs nicht zu hoch, sodass ich recht gut vorankam.

Ein warmer Wind kam auf und umwehte mich, blies mir die Haare ins Gesicht. Ich strich sie mir aus der Stirn und stapfte weiter. Zwischendurch warf ich einen Blick hinter mich. Niemand folgte mir. Sicher hatten sie aufgegeben. Ich nahm mir vor darauf zu achten, ob ich sie im Bus wiedersehen würde. Der Wind kreiste weiter um mich und langsam wurde es lästig. Leider hatte ich keinen Haargummi dabei. Ein besonders intensiver Windstoß traf meinen Nacken. Warm, fast heiß, als würde mir jemand an den Hals pusten.

Polly.

Der Schrei kam wie von selbst aus meiner Kehle, ich konnte nichts dagegen tun. Ich wirbelte im Kreis, mehrmals. Nichts, da war nichts. Und dieser heiße Wind hatte auch aufgehört, ganz plötzlich. Kein Grashalm bewegte sich und die Strahlen der Abendsonne lagen warm über den Feldern. Trotzdem fröstelte ich. Ich stolperte ein paar Schritte, fing mich wieder und trat Schritt für Schritt vorwärts, in einem flotten Rhythmus. Dabei versuchte ich mich selbst zu analysieren. Fühlte ich mich verwirrt, als wäre Watte in meinem Kopf, sah ich die Farben meiner Umgebung falsch? Ich überlegte, was ich gegessen und getrunken hatte und wie wahrscheinlich es war, dass sie mir was ins Getränk gemischt hatten. Ob sie mir deswegen gefolgt waren? Wollten sie meine Situation ausnutzen? Aber es war seltsam, ich kam mir normal vor, komplett bei Verstand. Ich würde sogar sagen, dass meine Sinne bis aufs Äußerste geschärft waren. Der Wald kam näher und während ich entschied einfach quer hindurchzumarschieren, um noch etwas Zeit zu sparen, bevor ich meinen Kommilitonen wieder in die Arme lief, fiel es mir ein. Wie dumm ich gewesen war! Ich blieb stehen und fingerte hastig mein Smartphone hervor. Ich schaltete das Display ein. Alles wirkte normal. Aber das war es sicher nicht! Diese Witzbolde hatten mir garantiert eine App draufgespielt, die mich aus meiner Tasche heraus ansprach und verrückt machte. Witzig! Richtig kreativ. Darum würde ich mich später kümmern. Im Bus würde ich einen Virenscan laufen lassen, der das Mistvieh hoffentlich aufspürte. Sie waren clever, aber nicht clever genug. Ich presste den Daumen auf die Taste an der Seite und das Display schrieb: Herunterfahren oder Neustart?

Ich wählte herunterfahren, ein Rädchen kreiselte, dann wurde es schwarz. Prima. Ich steckte das Smartphone ein und nahm meine Wanderung wieder auf. Durch den Wald würde ich nur weitergehen, wenn es einen vernünftigen Weg gab, ansonsten würde ich doch lieber drum herumlaufen. Ich fand einen kleinen Trampelpfad, doch leider endete er einfach so, nachdem ich schon bestimmt dreihundert Schritte gegangen war. Mein Herz klopfte immer noch wie verrückt, als ich stehen blieb und das Ende des Weges anstarrte. Langsam wurde es mir echt zu viel. Ich wollte nur noch zu dieser Bushaltestelle, einsteigen, auf verschlissenen Sitzen zum College gefahren werden und dort nach einer heißen Dusche in mein zu hartes Bett fallen.

Ein knackendes Geräusch hinter mir ließ mich aufschrecken. Waren sie mir doch gefolgt? Ich spähte in das Unterholz und stieg dann über ein Wirrwarr von Ästen zu meinen Füßen. Ich würde mich irgendwo kurz verstecken und warten, bis sie wieder weg waren. Vielleicht konnte ich sogar erkennen, wer es war. Mom würde ich jedenfalls richtig was zu erzählen haben nach diesem Tag. Tapfer kletterte ich auf der Suche nach einem guten Versteck weiter über einen umgefallenen Baumstamm und quetschte mich durch ein dichtes Gebüsch. Hier würden sie mich nicht ohne Weiteres entdecken. Ich ging in die Hocke und konzentrierte mich. Sehen konnte ich nicht viel, aber ich spitzte meine Ohren. Die Sonne ging langsam unter und wer hätte gedacht, dass dichte Baumkronen dermaßen das Licht abhielten? Ich hatte Schwierigkeiten, in den jetzt tieferen Schatten alles zu erkennen.

Ich wartete, bis es in meinen Beinen zu kribbeln begann. Gefühlt waren es mehrere Minuten, aber wahrscheinlich war in Wirklichkeit deutlich weniger Zeit vergangen. Trotzdem glaubte ich inzwischen, dass ich mich geirrt hatte. Da war niemand, und selbst wenn doch, würde ich jetzt einfach weitergehen. Wer wusste schon, wann der letzte Bus in diesem Kaff abfuhr? Ich richtete mich auf und der Wald lag friedlich vor mir – so wie vorher auch. Gut, ich würde dieses Spielchen jetzt beenden.

Ein warmer Windhauch streifte mich, als ich mich zum Gehen wandte. Es fühlte sich seltsam an hier in diesem kühlen Wald, aber gerade war alles seltsam, die ganze Situation, weshalb ich meine Schritte beschleunigte. Wieder knackte etwas hinter mir, aber diesmal drehte ich mich nicht um. Der warme Wind umspielte mich erneut, hauchte mir in den Nacken und ich lief schneller, vorwärts, einfach vorwärts. Der Wald hätte längst enden müssen. Oder? So weit, wie ich schon gelaufen war, hatte ich die Ausläufer der kleinen Stadt sicher schon hinter mir gelassen, aber wohin ich blickte, sah ich nur Äste, Stämme, Blattwerk. War ich doch in die falsche Richtung gelaufen? Sofort kämpfte ich die aufsteigende Panik zurück. Es war alles gut, alles gut. Ich würde ab jetzt einfach scharf nach links gehen, denn dort musste sich die Stadt befinden.

Wieder fühlte ich einen Windstoß, aber diesmal war es, als wäre etwas Großes an mir vorbeigezischt. Ich wollte mich umdrehen, als ein Schmerz in meine Wade fuhr, der so gewaltig war, dass ich nicht schreien konnte. Nur ein krächzender Laut kam mir über die Lippen, dann knickten meine Beine ein und meine Hand fuhr reflexartig an die schmerzende Stelle.

Etwas hat mich gebissen! Der Gedanke erschien mir surreal. Es konnte doch nicht sein, dass ich hier in einem einsamen Waldstück lag und mich ein Tier angefallen hatte. Ich fühlte die Feuchtigkeit an meiner Handfläche und als ich sie vor mein Gesicht hob, war sie rot von meinem Blut.

Shit!

Hektisch sah ich mich nach dem Tier um. Es musste etwas Größeres sein. Ich atmete zu schnell, die Panik kam zurück, trotzdem gelang es mir, nach meinem Smartphone zu tasten. Ich würde jetzt den Notruf wählen und meinen Standort durchgeben. Das hier war kein Spiel mehr! Ich drückte die Einschalttaste und wartete, dass das verdammte Ding hochfuhr, dabei behielt ich meine Umgebung ängstlich im Blick.

Etwas raste über meinen Kopf hinweg, streifte mich dabei an der Schulter. Ein Geräusch wie von riesigen Flügeln irgendwo über mir. Mein Verstand schaltete auf Überleben um und ich sprang auf, um zu rennen. Das Smartphone in der Hand floh ich durch den Wald, Äste schlugen mir ins Gesicht, es war mir gleich. Irgendein verrückter Vogel hatte mich angegriffen, vielleicht weil ich einem Nest zu nahe gekommen war. Ich musste das Vieh im Unterholz abhängen.

Die Wunde an meinem Bein brannte wie Feuer und hinter mir brach etwas Großes durch das Geäst. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter, sah aber nichts. Was zur Hölle? Noch ehe ich einen Gedanken zu Ende bringen konnte, wurde ich gepackt und zu Boden gerissen. Ich sah nichts mehr außer Blättern und Ästen, ein unglaubliches Gewicht drückte mich nieder. Jetzt schrie ich in Todesangst, schlug mit dem Arm nach hinten, berührte heiße, ledrige Haut. Mein Verstand wollte sich verabschieden, mir einreden, dass ich halluzinierte, dass das hier nicht wirklich geschah. Aber das tat es, denn jetzt wurde mir die Luft aus der Lunge gepresst. Es war, als wollte das Ding über mir tatsächlich, dass ich nicht mehr atmen konnte. Das Wesen knurrte. Ein tiefes Grollen, das mich an einen Löwen erinnerte.

Eine Klaue legte sich um meinen Oberarm und ich wusste, dass ich keine Chance mehr hatte. Das Ding, das eigentlich nicht existieren durfte, hatte Beute geschlagen und würde diese nicht einfach hergeben. Instinktiv hörte ich auf mich zu wehren, und ließ alle Gliedmaßen erschlaffen. Manche Tiere ließen von ihrer Beute ab, wenn sie sich nicht mehr bewegte. Heißer Atem traf mich im Nacken und es war genauso wie eben, als ich noch auf dem Feld unterwegs gewesen war. Das konnte nicht sein! Da draußen war eindeutig nichts gewesen …

Wieder dieses Grollen. Ich unterdrückte ein Wimmern und wartete. Wartete, dass es endlich losließ, verschwand. Aber das tat es nicht. Der Druck verstärkte sich noch mehr und jetzt bekam ich wirklich Atemnot. Ich schnappte nach Luft, konnte nicht mal mehr meinen rechten Arm heben, um nochmals nach dem Ding zu schlagen, denn es hielt ihn immer noch mit seiner Klaue fest.

Hilfe … Ich rief es in Gedanken, ich konnte nicht mehr schreien. Vor meinen Augen tanzten Lichtpunkte, die Welt schien zur Seite zu kippen. Ich begriff, dass das Tier mich hochgehoben und wieder fallen gelassen hatte. Dabei schlug ich mit der Schläfe gegen eine Wurzel. Der Schmerz betäubte alles in mir, aber ich atmete sofort in tiefen Zügen ein, griff blind nach vorne, um mich an irgendetwas festzuklammern und mich ins Unterholz zu ziehen, außer Reichweite des Riesenvogels. Wo war das Biest?

Ich stöhnte vor Schmerzen und vor Angst, denn hinter mir knackten wieder Zweige. Eine heiße Klaue legte sich auf mein Bein und dann hörte ich etwas Schreckliches: Das Rauschen von gewaltigen Schwingen! Ein zweites Biest? Das Wesen hinter mir knurrte wieder, diesmal schien sich das Grollen aber gegen etwas anderes zu richten. Ich drehte den Kopf, und was ich sah, war einfach unaussprechlich. Das Licht reichte nicht aus, um Einzelheiten zu erkennen, aber ich sah ohnehin nichts als glühende Augen auf einem schwarzen Körper mit seltsam hochgezogenen Schultern. Bevor sich mein Verstand wieder weigern konnte, diese Situation als Realität wahrzunehmen, brach hinter mir das Chaos los. Außerhalb meines Blickfelds krachten Äste, das Wesen stieß ein Heulen aus und wurde dann mit einer unfassbaren Wucht von mir geschleudert.

»Kopf runter«, rief eine männliche Stimme. Hastig und zitternd kam ich der Aufforderung nach. Der Arm, an dem die Klaue mich gepackt hatte, lag nun genau vor meinem Gesicht und ein ekelhafter Geruch nach verbranntem Fleisch stieß mir in die Nase. Mir wurde übel und gleichzeitig wurde mir bewusst: Ich war nicht mehr allein! Nicht mehr allein …

Das dunkle Geschöpf brüllte, es klang markerschütternd und erinnerte mich an Tiere, die längst ausgestorben waren. Splitterndes Holz, animalisches Kreischen, wieder das wilde Flügelschlagen. Ich wollte hinsehen, wer da gegen das Biest kämpfte, aber ich konnte nicht, ich blieb liegen wie ein kleines Kind, das sich vor etwas Bösem unter der Bettdecke verbarg, und schützte weiter mein Gesicht mit den Armen. Ein lang gezogenes Heulen, dann Stille.

Ich lauschte meinem Atem, der viel zu schnell und heftig ging und dabei immer wieder kleine Grashalme an meine Lippen sog. Der Geschmack von Erde lag mir auf der Zunge, als sich mir jemand näherte. Eine Hand berührte mich an der Schulter.

Alles wurde hell.

Nicht um mich herum.

Nein, meine Augen waren immer noch fest verschlossen.

In meinem Inneren.

Wärme prickelte auf meiner Haut und tief in meinem Bauch.

»Ganz ruhig«, sagte die Stimmer wieder. Die fremden Hände packten mich vorsichtig, dann wurde ich hochgehoben. Jemand trug mich auf seinen Armen und ich wollte sehen, wer es war, wollte die Augen öffnen.

Da war es wieder … das Schlagen riesiger Flügel. Ich fühlte den Luftzug, den sie verursachten und seltsamerweise bebte der Körper meines Retters im Takt des Flügelschlags, was in meinem Kopf irgendwie keinen Sinn ergab.

Ich öffnete die Augen …

Da war Licht, verschwommen von meinen Tränen.

»Mach die Augen zu.« Die Stimme klang wunderschön … dunkel und warm. Erneut folgte ich ihrem Wunsch und sank in die Arme meines Retters.

Ich sollte mir Sorgen machen, tausend Fragen stellen, doch ich konnte es nicht. Alles war gut, sicher und schön. Bis ich abgesetzt wurde. Meine Hände legten sich stützend auf etwas, das sich wie Ackerboden anfühlte. Blinzelnd öffnete ich die Augen und meine Lippen öffneten sich, um etwas zu sagen, aber mein Kopf war wie leer gefegt. Die Sonne war bereits untergegangen, dennoch konnte ich meinen Retter ohne Probleme erkennen. Es war, als wäre da ein schwaches Licht in ihm, das seine Erscheinung erleuchtete. Blondes Haar fiel über eine weiße Binde, die seine Augen verdeckte. Darunter kamen eine gerade Nase und ein Mund zum Vorschein, von dem jedes Model, Mann wie Frau, nur träumen konnte.

»Geht es dir gut?«

Unfähig zu antworten, schüttelte ich einfach den Kopf. Mein Retter wischte sich mit einer Hand über den nackten Oberarm. Er blutete dort ein wenig. Leise zischend schmierte er es an seinem weißen Hemd ab und griff nach der Augenbinde, doch er überprüfte nur ihren korrekten Sitz.

»Lass mich nach deinem Bein sehen.« Der junge Mann kniete sich wieder zu mir herunter und griff nach besagtem Körperteil.

Obwohl ich es besser wusste, hätte ich fast behauptet, dass er mich anschaute. Konnte er das durch die weiße Binde? Oder war er sogar blind? Genau konnte ich es nicht sagen, aber es sah aus, als musterte er mich von oben bis unten. Ich begutachtete meinen Arm, an dem mich, so verrückt es mir jetzt im Nachhinein vorkam, eine Klaue gepackt hatte. Die Haut war gerötet, aber der merkwürdige Gestank war verflogen. Ich hätte schwören können, dass ich eine Brandwunde …

»Brennt es?«, fragte der Fremde, bevor seine Finger zielsicher die Wunde an meinem Bein fanden. Doch ihre Berührung tat mir nicht weh, ganz im Gegenteil.

»Nein.«

Ich betrachtete die blonden Strähnen, die über die Binde vor seine Augen fielen, während er meine Wunde untersuchte.

»Es scheint mir kein Gift hineingelangt zu sein«, stellte er nach einiger Zeit zufrieden fest.

»Ich muss träumen … oder … vielleicht hat mir jemand was in mein Getränk getan.« Erschöpft fasste ich mir an den Kopf. Er tat ganz schön weh, besonders dort, wo ich die Bekanntschaft mit einer Wurzel gemacht hatte.

Vorsichtig rieb ich mir über das geschundene Gesicht und hoffte, dass ich dadurch aufwachen würde.

Vielleicht stand er gleich in der Kluft eines Arztes oder Krankenpflegers vor mir und der Acker unter meinen Händen war in Wirklichkeit ein Bett. Ja, das war absolut möglich. Ich neigte dazu, doch wieder meine Mitstudenten zu verdächtigen, mir irgendwelche Magic Mushrooms oder was auch immer verabreicht zu haben. Das war die einzige Erklärung. Wie konnte sich so etwas dermaßen real anfühlen?

»Ich bringe dich jetzt nach Hause.« Sein Ton war ruhig und duldete keinen Widerspruch. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie er das anstellen wollte, aber mir war alles recht, Hauptsache zurück ins College und weg von hier.

Dort würde ich sicher wieder ganz zu Sinnen kommen. Bei dem Versuch aufzustehen, wurde mir schwarz vor Augen. Meine Beine knickten einfach weg, aber zwei Hände fingen mich auf. Er half mir auf die Beine und hielt mich fest, bis ich sicher stand. Dabei geschah etwas mit mir, es war seltsam und fantastisch zugleich. Und wenn ich nicht gewusst hätte, dass das blanker Unsinn war, hätte ich behauptet, dass es an seinen Händen lag, an seiner Berührung. Es war, als würde das pure Leben in mich fließen, als käme reine Freude aus seinen Fingern, die sich wie ein warmer, fast elektrisierender Strom in meinem Körper verteilte. Meine Schmerzen, die Angst, alles wurde einfach davongespült. Ich wollte für immer so stehen bleiben, es sollte nicht aufhören!

»Geht es wieder?«, fragte er und in dem Moment, indem ich nickte, ließ er mich leider los.

Etwas enttäuscht klopfte ich mir den Staub von der Hose. »Wer bist du und was hast du im Wald gemacht?«

»Man nennt mich Yashiel.« Er drückte sich so eigenartig aus, doch die Gedanken in meinem Kopf waren zu verworren, um den Finger darauf zu legen, was an dieser Aussage so seltsam war. Yashiel drehte den Kopf. Es sah aus, als schaute er zu der Straße, die den Acker passierte, auf dem wir uns befanden. Die Antwort auf meine zweite Frage blieb er mir schuldig.

»Ich bin Polly.«