Sangua-Clan 2. Blood Rival - Darcy Crimson - E-Book

Sangua-Clan 2. Blood Rival E-Book

Darcy Crimson

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Beschreibung

Ein Vampir liebt seinen Jäger… Während des entscheidenden Kampfes in den Katakomben Neapels ist es den Vampirjägern gelungen, ein Mitglied des verfeindeten Clans gefangen zu nehmen. Ausgerechnet Luc, der seine Schwester vor vielen Jahren an die bluthungrigen Sangua verloren hat, soll den rebellischen Gefangenen Cas beaufsichtigen und dessen Willen brechen. Doch je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto deutlicher wird, dass sie nicht so grundverschieden sind, wie zunächst gedacht. Luc beginnt zum ersten Mal an den Motiven der Jäger zu zweifeln und sieht in seinem Gegenüber mehr als bloß eine Bestie. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Liebe, die sie um jeden Preis geheim halten müssen. Aber ist ihre Zuneigung stark genug, um ihre Verschiedenheiten zu überwinden? Band 2 der mitreißenden Fantasy-Reihe "Blood Rival" rund um Vampire in der Unterwelt von Neapel überzeugt mit viel Tempo, queeren Charakteren und jeder Menge Spice! Der LGBTQIA+-Roman mit dem beliebten Trope "Enemies-to-Lovers" erzählt die prickelnde Romance zwischen zwei schwulen Protagonisten – einem Vampir und seinem Jäger, die sich erst bis aufs Blut hassen. Ein Must-Read für Leser*innen ab 16 Jahren, die Vampire und queere Bücher lieben. Blood Rival: Eine spicy LGBTQIA+-Romantasy - Fantasy trifft LGBTQIA+: Eine fesselnde Vampire Romance voller Spice, Magie und Blutjägern in der faszinierenden Unterwelt Neapels für New Adult Fans ab 16 Jahren. - Voll angesagt: Die packende Romantasy mit dem beliebten Trope "Enemies-to-Lovers" feiert die Vielfalt der Liebe in all ihren Formen. - Spicy: Prickelnde Romance mit starken und queeren Charakteren, die über sich hinauswachsen und den Mut finden, für ihre Liebe einzustehen. - Fesselnd erzählt: Der Pageturner von Darcy Crimson entführt die Leser*innen in die düstere und mystische Atmosphäre Neapels.Die queere Romantasy steckt voller Emotionen, Spannung und Liebe. Eine fesselnde Lektüre für Fans der Crave-Reihe von Tracy Wolff und junge Leser*innen ab 16 Jahren, die sich für Vampire Romance und LGBTQIA+-Geschichten begeistern!

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über dieses Buch

Während des entscheidenden Kampfes in den Katakomben Neapels ist es den Vampirjägerinnen und -jägern gelungen, ein Mitglied des verfeindeten Clans gefangen zu nehmen. Ausgerechnet Luc, der seine Schwester vor vielen Jahren an die bluthungrigen Sangua verloren hat, soll den rebellischen Gefangenen Cas beaufsichtigen und dessen Willen brechen. Doch je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto deutlicher wird, dass sie nicht so grundverschieden sind, wie zunächst gedacht. Luc beginnt, zum ersten Mal an den Motiven der Jägerinnen und Jäger zu zweifeln und sieht in seinem Gegenüber mehr als bloß eine Bestie.

Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Liebe, die sie um jeden Preis geheim halten müssen.

Ist ihre Zuneigung stark genug, um ihre Verschiedenheiten zu überwinden?

 

 

 

 

 

Für alle, die noch an das Gute im Menschen glauben.

Bitte verändert euch nicht.

Prolog

Vor fünf Stunden

»Wir werden uns niemals kampflos ergeben!« Caras schrille Stimme bohrt sich in meinen Schädel.

Ich knirsche mit den Zähnen. Warum muss diese verfluchte Sangua bloß so stur sein? Ich will sie hassen. Wirklich. Aber irgendwie scheint mein Herz sich für das kleine Monster geöffnet zu haben während ihrer letzten Wochen in Gefangenschaft. Das ist ungünstig. Besonders, weil wir, ihre und meine Art, natürliche Feinde sind.

Sie gehört zu den Sangua, einem Clan aus blutdürstigen Bestien, die unzählige Menschenleben auf dem Gewissen haben. Ich hingegen habe mich den Pugna angeschlossen, einer speziell ausgebildeten Einheit von Soldaten, die die Ausbreitung der menschenähnlichen Monster verhindern sollen.

Seit Jahren tänzeln die Sangua und die Pugna umeinander herum, gehen sich aus dem Weg oder meiden die Konfrontation. Doch nicht heute. Dank Cara konnten wir uns endlich in ihr geheimes Versteck vorwagen. In die Katakomben unterhalb Neapels. Hier sind uns die Sangua schutzlos ausgeliefert und zahlenmäßig unterlegen. Der Kopf ihres Clan-Anführers liegt bereits zwischen uns, abgeschlagen durch die Hand unseres Befehlshabers Vicente Cattivo. Und wir werden weiterhin jeden Vorteil nutzen, um sie zu überrumpeln und hoffentlich ein für alle Mal zu eliminieren.

Ein Kampf ist unausweichlich.

Mein Blick zuckt über die Gesteinswände hinweg, die uns von allen Seiten umgeben. Hier, versteckt vor der Außenwelt, leben die Sangua. Geschützt vor dem Sonnenlicht, der einzigen Schwäche der Bestien. Die direkte UV-Strahlung verursacht schwere Verbrennungen und tiefe Wunden auf der Hautoberfläche der Sangua. Ich vermute, dass sie sogar an der dauerhaften Wirkung der Sonneneinstrahlung sterben würden, sollten sie sich nicht rechtzeitig schützen. Allerdings konnte ich diese Theorie bisher noch nicht überprüfen.

Denn trotz ihrer Abneigung gegenüber der Sonne haben die Sangua dank der versteckten Gänge und Tunnel unterhalb der Erdoberfläche vermutlich Zugang zur gesamten Stadt. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viele Menschen sie in dieses unterirdische Labyrinth gelockt und getötet haben.

Kaum formt sich dieser Gedanke in meinem Kopf, verkrampft sich auch schon mein Herz, dieser lästige Verräter. Unweigerlich frage ich mich, ob sie ebenfalls hier unten war, bevor sie ihr Leben verloren hat. War das dunkle Vulkangestein oder der helle Tuffstein das Letzte, was sie gesehen hat? Oder musste sie direkt in das Maul eines dieser Biester blicken? Wer aus dem Clan ist für wohl für ihren Tod verantwortlich?

Prompt erhitzt sich das Blut in meinen Adern und bringt mich zum Brodeln. Es spielt keine Rolle, wer sie auf dem Gewissen hat. Ich werde jedes einzelne Mitglied des Clans töten, das schwöre ich mir. Denn ich tue es aus Rache für sie.

Ein kaltes Lächeln zupft an meinen Lippen, als Vicente lautstark verkündet: »Ihr habt eure Wahl getroffen!«

Die Stimme unseres Befehlshabers hallt tausendfach von den Höhlenwänden wider und wirkt wie ein stummes Signal für die restlichen Pugna. Gleichzeitig heben wir alle unsere Waffen an und rücken schrittweise weiter voran. Die UV-Strahler verfügen am Ende eines langen Stabes über ultraviolette Lampen, deren gebrochenes Licht durch eine Linse gebündelt und so auf einen Punkt konzentriert wird. Damit wirken diese speziell von uns entwickelten Waffen stärker und konzentrierter als die üblichen Sonnenstrahlen und sorgen dementsprechend für größeren Schaden bei den Sangua.

Entschlossen greife ich den UV-Strahler fester und muss mich zurückhalten, um nicht nach vorne zu stürmen und auf eigene Faust zuzuschlagen. Immerhin bin ich die rechte Hand unseres Befehlshabers und muss dementsprechend auf den richtigen Moment warten, bevor ich meine Truppe in die Offensive schicke. Denn nur gemeinsam haben wir eine Chance gegen die Sangua, die uns dank ihrer besonderen körperlichen Fähigkeiten ohne große Mühe übertrumpfen können.

Dieser Gedanke gießt zusätzliches Öl in das Feuer, das vor fünf Jahren in meinem Inneren entflammt ist. Seitdem trainiere ich für die entscheidende Konfrontation mit den Sangua. Ich habe nicht nur Muskeln aufgebaut und meine Ausdauer verbessert, sondern mir eine Kampftechnik nach der anderen angeeignet. Doch das alles bringt mir gar nichts. Egal wie viel ich trainiere, die Sangua sind uns überlegen. Sie sind schneller und stärker als Menschen. Aber nicht nur das: Sie besitzen obendrein überirdische Gaben, die jeden Einzelnen zu einer Gefahr für die gesamte Menschheit machen könnten. Dank der Bespitzelung des Clans durch Cara weiß ich, dass einige Sangua Menschen nur mithilfe eines Blickes in ihre Falle locken können. Wieder andere sind in der Lage, gesundes, junges Blut zu riechen. Wer weiß, wozu sie noch in der Lage sind. Genau deswegen müssen sie von dem Antlitz dieser Erde getilgt werden. Jemand, der so mächtig und unberechenbar ist, darf nicht existieren. Hätte jemand diesen Clan schon früher aufgehalten, wäre ihr nie geschadet worden.

Frustriert presse ich die Zähne aufeinander und gehe in Verteidigungsposition. Erhobene Waffe, gebeugte Knie und ein stets wachsamer Blick. Gerade rechtzeitig, denn nur einen Wimpernschlag später bewegt sich ein rasender Schatten auf die geschlossene Front der Pugna zu und kollidiert mit der Masse.

Schreie dröhnen in meinen Ohren, und ich höre deutlich das Knirschen und Knacken von brechenden Knochen. Erst Sekunden später entdecke ich einen schwarzen Haarschopf zwischen meinen Kameraden. Ist das etwa Cara, die sich durch die Menge kämpft?

Ich erkenne unsere ehemalige Gefangene kaum wieder. Sie wirkt wie der Diavolo höchstpersönlich, wenn sie sich um die eigene Achse dreht, während sie Schläge und Tritte in alle Richtungen austeilt. Wie ein Tornado aus Fäusten. Unwillkürlich empfinde ich einen Hauch Respekt für ihre Durchschlagskraft. Kaum zu glauben, dass sie vor wenigen Wochen kaum in der Lage war, auf mich im Training einzuschlagen. Jeden Tag habe ich mit ihr in der Trainingshalle verbracht, mir ihr Vertrauen erschlichen und sie für ihre Spionagemission ausgebildet.

Schnell verbiete ich mir die sentimentalen Gefühle. Cara gehört zu unseren Feinden. Ich sollte nichts außer Verachtung für sie empfinden.

Entschlossen löse ich den Blick von ihr und wende mich stattdessen dem restlichen Clan zu. Verblüfft realisiere ich, dass dieser Caras Beispiel gefolgt ist und das Überraschungsmoment ebenfalls ausgenutzt hat, um sich den Pugna zu nähern.

Nur wenige Schritte von mir entfernt positioniert sich ein Sangua, dessen drahtige Figur von einem langen schwarzen Mantel umhüllt wird. Beim Anblick der dunkel getönten Rundglasbrille, die auf seiner Nase sitzt, runzle ich die Stirn. Wer zur Hölle trägt in den Katakomben von Neapel eine Sonnenbrille?

Obwohl von dem Fremden eine düstere Aura ausgeht, kann ich nicht aufhören, ihn anzustarren. Die langen Locs, die er zu einem Zopf zusammengebunden trägt. Die spitzen Eckzähne, die er durch sein breites Grinsen offenbart. Mein Herz stolpert.

Sofort legt der Sangua seinen Kopf schief und dreht seinen Kopf in meine Richtung. Unfreiwillig halte ich die Luft an. Obwohl jegliche Logik dagegenspricht, manifestiert sich in meinem Kopf die Vermutung, dass der Fremde meinen unruhigen Puls hören kann. Aber das ist völlig irrsinnig, oder? Impossibile.

Der Fremde tritt nach vorne. Näher an mich heran. Ihn scheint es gar nicht zu stören, dass ich von einem ganzen Haufen Kämpfern umgeben bin. Ich spüre seinen Blick selbst durch die dunklen Brillengläser hindurch. Der Sangua schaut mir direkt auf den Grund der Seele. Merda.

Eine prickelnde Gänsehaut überzieht meine Arme, und der tödliche UV-Strahler in meinen Händen beginnt zu zittern. Bloß wenige Meter trennen uns noch voneinander. Ich kann förmlich spüren, wie unsere Körper einander anziehen, als wären sie über ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Mein Atem rasselt, meine Handflächen werden feucht, und ich schnappe nach Luft. Solche Gefühle habe ich seit meinem ersten Schwarm zu Schulzeiten nicht mehr verspürt.

Die Soldaten in meinem Umfeld werden langsam unruhig. Sie treten nervös von einem Fuß auf den anderen und warten auf Instruktionen. Ich bin in diesem Moment ihr Befehlshaber. Es ist längst an der Zeit, dass ich das Zeichen zur Offensive gebe, Cara greift uns schließlich bereits an. Aber ich kann nicht. Irgendetwas hält mich davon ab. Es ist kaum mehr als ein Bauchgefühl. Intuition.

»Ich übernehme den hier!«, bellt mich plötzlich jemand von der Seite an und reißt mich so aus meiner Trance.

Ich blinzle und unterbreche damit den Bann. Was auch immer uns miteinander verbunden hat, verliert seinen Einfluss auf mich. Erleichtert lasse ich meine Schultern hinabsacken.

Als ich einen Seitenblick zu der Person werfe, die mich mit ihrem Ruf aus der Starre befreit hat, erkenne ich Ambra. Mit ihrer verbissenen Miene und der kantigen Uniform wirkt die junge Offizierin mehr als angsteinflößend. Sie hält den UV-Strahler hoch erhoben, während sie auf den Sangua zusteuert, der sich bis auf wenige Meter an uns herangetraut hat. Der Fremde hat keine Chance. Sie wird ihn gnadenlos zerstören. Ambra hat ihr ganzes Leben lang auf diesen Kampf gewartet. Sie hat noch mehr verloren als ich. Während ich nur um sie trauere, musste Ambra lernen, ohne ihre Familie zu überleben. Alles wegen der verfluchten Sangua. All die jahrelang angestaute Wut strömt ungebremst aus ihren Poren. Sie wird sich nicht zurückhalten. Der Sangua hat schon längst verloren, er weiß es nur noch nicht.

Dieser Gedanke erfüllt mich seltsamerweise mit ein wenig Mitleid, auch wenn ich geglaubt habe, dieses Gefühl längst abgeschaltet zu haben. So sehr kann man sich täuschen. Patetico, ich werde garantiert keine Empathie für ein bluttrinkendes Monster empfinden.

Ich beobachte noch, wie Ambra ausholt, um den ersten Treffer zu landen. Dann wende ich mich jedoch von dem Kampfgeschehen ab. Wie ein Feigling richte ich den Blick zu Boden und trete ein paar Schritte zurück, um ihr den Kampf zu überlassen. Sie wird das schon regeln. Ich hingegen muss erst mal meine aufgewirbelten Gefühle wieder in den Griff bekommen. Was hat dieser Sangua bloß mit mir angestellt?

»Luc!«

Der raue Klang der mir inzwischen mehr als vertrauten Stimme beschert mir eine unangenehme Gänsehaut. Cara spuckt meinen Namen förmlich aus und tritt dann vor mich. Ich versuche, keine Miene zu verziehen, auch wenn mir jegliche Instinkte dazu raten, ganz schnell das Weite zu suchen.

»Hast du mir nichts zu sagen?«

»Warum sollte ich?«, erwidere ich so gelassen wie möglich. Ich kann mich sogar zu einem Grinsen überwinden.

Cara mustert mich voller Abscheu. Sie wirkt so anders als die naive junge Frau, die wir vor ein paar Wochen in unseren Reihen aufgenommen haben. Mir war schon damals klar, dass es ein Fehler wäre, sie bei den Pugna einzugliedern. Vicente war jedoch davon überzeugt, dass wir mit Caras Hilfe die Sangua infiltrieren und so von innen heraus zerstören könnten. Allerdings haben die Sangua sie schließlich auf ihre Seite gezogen, so wie ich es insgeheim von Anfang an befürchtet habe.

Zumindest konnten wir durch ihre Bespitzelung wichtige Informationen über die Fähigkeiten des Clans sowie das Höhlennetz der Katakomben sammeln. Nur so war es uns überhaupt möglich, einen elaborierten Angriffsplan auszuarbeiten.

»Weil du mich wochenlang belogen und manipuliert hast«, antwortet Cara.

Obwohl meine volle Aufmerksamkeit auf ihr liegt, nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, wie sich meine Kameraden neu formieren. Sie richten ihre Waffen gegen die Sangua. Doch bevor irgendeiner von ihnen die UV-Strahler einsetzen kann, hebe ich entschlossen die Hand und bringe mit dieser simplen Geste die Soldaten in unserem Umkreis zum Erstarren.

Mir ist klar, dass keiner von ihnen dieser Herausforderung gewachsen wäre. Es gibt nur einen, der sich Cara entgegenstellen kann und sollte. Ich. Schließlich war ich derjenige, der sie ausgebildet hat. Ich kenne ihre Schwachpunkte. Ich weiß, worauf ich achten muss, um sie schnellstmöglich zu Fall zu bringen. Zudem richtet sich ihre Wut fast ausschließlich gegen mich, ihren vermeintlichen Freund. Dieser Kampf ist persönlich.

»Sie gehört mir«, knurre ich, und sofort wenden sich die Pugna von uns ab. Sie gehorchen meinen Befehlen blind. Keiner von ihnen hinterfragt meine Entscheidungen. Manchmal hat es durchaus seine Vorteile, die rechte Hand des obersten Befehlshabers zu sein.

»Ich will nur eines wissen«, presst Cara hervor, ehe sie in eine Kampfhaltung übergeht. »War alles gelogen?«

Für einen Moment gerate ich in Versuchung, ihr zu antworten. Bloß für einen Moment. Stattdessen zucke ich mit den Schultern, als wäre das alles keine große Sache. Im Endeffekt ist Cara eine von vielen. Sie gehört zu den Feinden. Das ist alles, was für mich zählt. Keine Sangua hat meine Empathie verdient.

»All die Dinge, die du mir erzählt hast über die Sangua? Über dich? Über deine Schwester?«, provoziert Cara.

Überrascht blinzle ich sie an. Irgendwie bin ich nicht davon ausgegangen, dass sie sich an die Erzählung über meine tote Schwester erinnern würde. Diese Geschichte habe ich ihr in einem schwachen Moment erzählt, den ich jetzt zutiefst bereue.

»Halt Calliope da raus«, raune ich und ignoriere geflissentlich die längst vergessene Trauer und Wut, die in diesem Moment wieder aufkeimen. Jeder Mensch hat einen wunden Punkt. Calliope ist meiner. Aber das würde ich niemals gegenüber meinen Feinden zugeben.

»Es ist eine Schande. Wir hätten Freunde sein können, du und ich«, triezt Cara weiter.

Allein das Wort Freunde aus ihrem Mund zu hören, sorgt dafür, dass ich mit den Zähnen knirsche.

»Da irrst du dich«, entgegne ich vehement. »Ich würde mich niemals mit einer Sangua abgeben. Ihr seid Blutsauger, Monster und Mörder. Du bist keine Ausnahme, Cara! Alles, was ich getan habe, ist nur geschehen, um dich genau jetzt an diesen Punkt zu bekommen. Was für ein Jammer, dass du dich trotz allem für die falsche Seite entschieden hast. Du warst uns dennoch eine große Hilfe, Cara. Grazie molto!« Mit jeder Silbe baue ich meine überhebliche Maskerade weiter auf. Der Zorn versickert langsam in meinen Adern, stattdessen schleicht sich kalte Berechnung in jede meiner Regungen. Ich weiß, was ich zu tun habe.

Ich muss Cara angreifen. Doch dieses Mal befinden wir uns nicht in der Trainingshalle und können jederzeit abbrechen. Das hier ist ein echter Kampf. Ohne Gnade und Rücksicht. Und er wird erst enden, wenn einer von uns am Boden liegt.

Ich festige meinen Stand. Atme tief ein und aus. Am Rande bemerke ich, wie sich auch Cara für einen Angriff bereit macht. Innerhalb eines Sekundenbruchteils schalte ich den Strahler in meiner Hand ein und richte den Lichtkegel auf sie. Mit gezielten Zickzack-Bewegungen versuche ich, Cara zu erwischen, doch sie ist schnell. Viel schneller, als ich gedacht habe. Trotzdem kann sie meinen Angriffen nicht komplett ausweichen. Mit Genugtuung beobachte ich, wie der Lichtkegel über ihre Arme und Beine streift. Jede unachtsame Bewegung ihrerseits nutze ich sofort aus, um ihr eine neue Wunde zuzufügen. Trotzdem wagt sich Cara immer weiter in meine Nähe vor. Es scheint sie gar nicht zu kümmern, dass sie verletzt wird. Sie wird doch nicht so lebensmüde sein und einen Angriff starten … Oder?

Kaum habe ich den Gedanken beendet, sprintet sie schon los. Genau in meine Richtung. Mit vollem Tempo. Mein Lichtkegel trifft ihre Schulter und brennt sich durch den dünnen Stoff ihres Hemds. Aus der geringen Distanz kann ich erkennen, wie ihre Haut sich strafft, aufreißt und wundes Fleisch offen legt. Doch selbst das hält sie nicht zurück.

Schockiert realisiere ich, dass ich mich nun in ihrer direkten Reichweite befinde. Sie nutzt ihre Chance und visiert sofort meinen ausgestreckten Arm an. Die Kante ihrer Hand saust auf mein Gelenk nieder. Mein Körper reagiert völlig instinktiv und lockert seinen Griff um den Strahler. Es dauert gerade einmal einen Wimpernschlag lang, dann scheppert meine Waffe zu Boden und schlittert davon.

Überrascht und zugleich ein wenig beeindruckt starre ich Cara an. Mit solch einem waghalsigen Gegenangriff habe ich nicht gerechnet.

»Hast du etwa geglaubt, ich hätte bereits alles vergessen, was du mir beigebracht hast?«, verhöhnt sie mich, woraufhin ich bloß eine Augenbraue hochziehe.

Trotzdem schießt mein Puls in die Höhe. Obwohl ich versuche, unbeeindruckt zu wirken, packt mich in diesem Moment die Angst. Cara kämpft, als hätte sie nichts zu verlieren. Rücksichtslos und aggressiv. Wenn ich mich nicht wehre, dann könnte diese Konfrontation meine letzte sein.

»Denkst du wirklich, du könntest mich mit meinen eigenen Waffen schlagen?«, knurre ich sie an. Nur einen Wimpernschlag später hole ich mit der Faust aus und visiere ihren Kopf an. Bevor meine Knöchel ihre Wange treffen können, duckt Cara sich jedoch unter dem Schlag weg. Genau das habe ich erwartet. Im richtigen Moment reiße ich mein Knie in die Höhe. Es kollidiert ungebremst mit ihrem Kinn und schleudert den Kopf meiner Gegnerin zurück. Ein grässliches Knacken ertönt, und ich lächle. Cara stolpert nach hinten.

Allerdings gönne ich ihr keine Pause. Wenn ich sie überwältigen will, darf ich sie nicht zu Kräften kommen lassen. Deswegen starte ich direkt die nächste Attacke. Ich trete und schlage mit so viel Kraft, dass Cara gar keine andere Wahl bleibt, als zurückzuweichen. Ab und an gelingt es ihr zwar, einen Angriff zu blocken, doch meine Fäuste finden mehr als einmal ihr Ziel.

Die Offensive ist das Einzige, was mir Schutz bietet. Mit einem gezielten Tritt reiße ich Caras Füße zur Seite, sodass sie ungebremst zu Boden stürzt. Schwer keuchend kämpft sich die Sangua in eine kniende Position. Sie spuckt mir einen Klumpen Blut vor die Füße, bevor sie zu mir aufschaut.

»Endlich bekommst du, was du verdienst. Traditrice!«, zische ich. Durch meine Adern pumpt nichts als Hass und Abscheu für diese Verräterin. Sie und alle anderen Sangua sollen zur Hölle fahren!

Entschlossen packe ich ihren Kopf mit beiden Händen und fixiere ihn auf diese Weise. Das hier ist der Moment der Wahrheit. Ich muss Cara töten. Ihr den Hals umdrehen. Das Genick brechen. Wenn ich es nicht tue, wird sie unschuldige Menschen töten. Menschen wie Calliope. Das kann ich nicht zulassen.

Dennoch zögere ich eine Sekunde. Eine Sekunde zu lange.

Ihr Blick fokussiert mich voll und ganz. Meine Fingerspitzen beginnen, an ihren Schläfen zu zittern. Kälte schießt durch meinen Körper, als würde mein Blut gefrieren. Das Herz in meiner Brust pumpt so stark, dass ich befürchte, es könnte mir jeden Moment die Rippen brechen. Bilde ich mir das ein, oder fühlt es sich tatsächlich so an, als würde die Kraft förmlich aus mir herausfließen?

Plötzlich spüre ich einen unsichtbaren Griff, der meinen Oberkörper zu erdrücken scheint. Ich keuche auf. Meine Hände gleiten von Caras Kopf. Meine Lider schließen und öffnen sich flatternd. Der Druck in meiner Brust baut sich immer weiter auf, bis nichts außer Schmerz übrig bleibt. Mit einem Mal nehme ich das fehlende Pulsieren wahr. Die Leere, die genau dort wohnt, wo zuvor mein Herz geschlagen hat.

Erschrocken fasse ich mir an die Brust. Schaue an mir hinab. Bemerke, wie sich meine Fingerspitzen bläulich verfärben.

»Du hättest mich umbringen sollen, als du noch die Chance dazu hattest«, wispert Cara mir ins Ohr, bevor mich die Kraft verlässt.

Ich sacke vor ihr zusammen. Gehe in die Knie. Ringe um mein Bewusstsein. Das hier darf nicht das Ende sein. Das darf einfach nicht sein.

Sobald die Schwärze in mein Bewusstsein kriecht, verfluche ich mich selbst dafür, Cara verschont zu haben. Falls ich diesen Kampf überleben sollte, das schwöre ich mir, werde ich beim nächsten Mal nicht zögern. Sollte ich noch einmal einem Sangua gegenüberstehen, werde ich ihn töten. Ohne die geringsten Gewissensbisse. Das ist mein letzter Gedanke, bevor meine Welt in Dunkelheit getaucht wird.

1. Kapitel | L’inferno sulla terra (Die Hölle auf Erden)

Das Erste, was ich wahrnehme, ist das Pochen meines Herzens. Die schwachen, aber dennoch gleichmäßigen Schläge.

Ich bin nicht tot. Ich bin nicht tot.

Cara hat mich nicht getötet.

Diese Erkenntnis wabert durch meinen Kopf, während ich mich Sekunde für Sekunde zurück in die Realität kämpfe. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich genug Kraft gesammelt habe, um ein Augenlid zu heben. Doch selbst als ich endlich in der Lage bin, beide Augen zu öffnen, erkenne ich nichts. Schummrige Dunkelheit umgibt mich.

Nach und nach kehrt das Gefühl in meine Glieder zurück. Zuerst beginnen meine Fingerspitzen zu prickeln. Das unangenehme Kribbeln wandert von dort aus an meinem Arm empor und über meine Wirbelsäule. Es fühlt sich beinahe so an, als wäre jeder Muskel in meinem Körper eingeschlafen und würde nun langsam erwachen.

Erst jetzt nehme ich wahr, wie mein gesamter Leib durchgeschüttelt wird. Die Welt scheint zu beben. Nein, sie wackelt. Die unruhigen Bewegungen senden dumpfe Schmerzwellen durch meinen gesamten Oberkörper. Was zur Hölle verursacht dieses Rütteln? Und wie kann ich es zum Stoppen bringen?

Ein Stöhnen entflieht meinen Lippen und bringt die Schatten um mich herum dazu, sofort zu erstarren, ehe sie sich in meine Richtung wenden.

»Luciento?«, fragt der erste Schemen, und im nächsten Moment schlingen sich Arme um meine Schultern. Ich werde gegen einen zitternden Leib gedrückt.

»O mio Signore! Er lebt!«, ruft der zweite Umriss direkt neben mir.

Noch immer kann ich ihre Gesichter nicht ausmachen. Trotzdem glaube ich, die beiden zu kennen.

Mühsam versuche ich zu sprechen, doch es kommt wieder nur ein unverständliches Stöhnen über meine Lippen. Erbärmlich, ich bin noch nicht einmal in der Lage, ein einziges Wort zu formulieren. Angeekelt von meiner eigenen Schwäche drehe ich den Kopf zur Seite und spucke auf den schwankenden Boden neben mir. Den Pugna-Soldaten wird ab dem Zeitpunkt ihrer Eingliederung in die militärische Einheit eingetrichtert, dass sie sich keine körperliche oder seelische Blöße geben sollen. Gegner wie die Sangua nutzen jede Schwachstelle aus, um einen Vorteil daraus zu ziehen. Doch in diesem Moment schaffe ich es nicht, meinen Körper zu kontrollieren.

»Ruh dich aus, Luc. Du musst dich schonen«, murmelt die eine Person an meinem Ohr. Ihre Stimme klingt hoch und sanft.

»Ambra?«, hauche ich atemlos.

Ihr spürbares Nicken gibt mir den Rest. Erleichterung durchströmt mich und verdrängt kurz jeglichen Schmerz. Sie lebt! Ambra lebt! Es ist kaum zu glauben …

Langsam kehren meine Sinne zu mir zurück. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Der Geruch von Schweiß und Angst verbeißt sich in meiner Nase, und das Geräusch quietschender Reifen dringt an meine Ohren. Certo! Jetzt ergibt alles Sinn. Wir müssen uns in einem Fahrzeug befinden. Wahrscheinlich in einem Van der Pugna. Aber das muss bedeuten, dass der Kampf vorbei ist …

Plötzlich prasseln Abertausende Erinnerungen auf mich ein. Bilder von den Kämpfen in den Katakomben. Ein Kopf, der über den Boden rollt. Todesschreie. Caras Blick, der mich ins Visier nimmt. Ihr kalter Griff um mein Herz. Das alles darf nicht umsonst gewesen sein.

»Haben wir gewonnen?« Meine Kehle fühlt sich rau und trocken an. Jede Silbe schmerzt wie eine Rasierklinge, die ich herunterschlucken muss. Doch diesen Schmerz nehme ich gerne in Kauf, wenn ich so die Wahrheit erfahre.

Ambra beugt sich tiefer über mich und betrachtet mich kritisch. Vermutlich fragt sie sich, wie ich überhaupt noch am Leben sein kann. Dieselbe Frage plagt mich ebenfalls.

Aufmerksam mustere ich sie. Eine Platzwunde prangt auf ihrer Stirn, und auch wenn die schwarze Uniform die Flecken ihres Blutes verbirgt, ist klar, dass sie ebenfalls viel einstecken musste. Umso erleichterter bin ich, dass wir es gemeinsam aus diesem Höllenloch rausgeschafft haben. Das alte Team wiedervereint. Ambra und ich sind den Pugna damals beinahe zeitgleich beigetreten und haben die Ausbildung zusammen durchlaufen. Ein Leben ohne sie kann ich mir kaum noch vorstellen.

Ihr Kopfschütteln stoppt meine Welt jedoch für einige Sekunden. Bloß meine Gedanken drehen sich weiter. È assolutamente impossibile! Wir haben verloren? Nein. Nein, das kann ich nicht akzeptieren.

»Wir können von Glück reden, dass wir lebend dort rausgekommen sind. Die Sangua sind völlig durchgedreht. Es war ein einziges Gemetzel«, knurrt der zweite Kämpfer, der sich außerhalb meines Sichtfelds im hinteren Teil des Vans befinden muss. Der Pugna klingt erschöpft. Geschlagen.

»No«, flüstere ich.

»Leider doch«, entgegnet Ambra und schenkt mir ein trauriges Lächeln. »Ehrlich gesagt haben wir geglaubt, du wärst ebenfalls verstorben, Luciento. Wir haben dich als Ersten geborgen, noch vor allen anderen. Trotz Herzdruckmassage konnte kein Puls bei dir gemessen werden.«

Kein Puls? Tot?

Allein diese Worte zu denken, schnürt mir die Kehle zu. War ich wirklich tot? Falls das stimmt, sollte ich mich nicht daran erinnern können?

Bevor ich erwacht bin, war da nichts als unendliche Schwärze. Kein Gefühl, keine Erinnerung. Bloß ein ewiges Nichts. Ich habe nichts vermisst und mich zugleich nach nichts gesehnt. Erst als ich meinen Herzschlag wieder spüren konnte, kehrte das Leben in mich zurück. Das Gefühl. Die Erinnerungen.

»Was ist mit den anderen?«, presse ich hervor. Meine Augen brennen verräterisch. Ich ahne bereits, was mir bevorsteht. »Vicente? Wie geht es ihm?«

Ambra zieht die Mundwinkel nach unten und ringt um Worte. Sonst ist sie diejenige, die immer einen Konter oder einen schlauen Spruch auf der Zunge trägt. Doch heute ist sie offensichtlich nicht zum Scherzen aufgelegt. Die Lage ist ernst.

»Vicente ist im Kampf gefallen …« Ambra spricht noch weiter, aber ihre Worte rauschen bedeutungslos durch meinen Kopf hindurch. Ich nehme nichts mehr wahr, blende alles aus. Ihre beruhigende Stimme, ihren sorgenvollen Blick. All das spielt keine Rolle mehr.

In meinem Inneren klafft ein schwarzes Loch auf, das jegliche Emotionen verschlingt. Nichts scheint mehr von Bedeutung zu sein. Es fühlt sich beinahe so an, als würde ich ein zweites Mal sterben.

Tränen lassen meine Sicht verschwimmen, aber ich blinzle heftig gegen sie an, damit sie mir nicht ungehalten über die Wangen laufen. Ein erstickter Laut entkommt meiner Kehle.

Vicente ist tot. Gestorben durch die Hand eines Sangua.

Er war ein Krieger, ein Kämpfer … und mein Vorbild.

Ich habe alles, was ich über die blutrünstigen Monster weiß, von ihm gelernt. Er hat mich vor etwa fünf Jahren in die Untergrundwelt von Neapel geführt. Er hat mich aufgeklärt über die Gefahren, die in den Schatten der Stadt lauern. Er hat mir eine Bestimmung geschenkt. Eine Zukunft.

In meiner dunkelsten Stunde war Vicente für mich da, hat die Hand ausgestreckt und mir aufgeholfen. Die Vorstellung, dass er für immer fort ist und mir nicht mehr zur Seite stehen kann, ist kaum auszuhalten. Einsamkeit nistet sich in den Winkel meines Herzens ein, wo zuvor die Bewunderung für meinen Mentor gehaust hat.

Selten habe ich mich so allein gefühlt.

2. Kapitel | Hoffnungsträger

Vor fünf Jahren

Mein Körper ist taub. Völlig taub. Hat sich Calliope genauso gefühlt, bevor sie aus dieser Welt gerissen wurde? Meine Schwester soll tot sein. Obwohl ich ihren leblosen Körper im Krankenhaus besucht habe, kann ich es nicht glauben. Obwohl die Ärzte mir ihr Beileid ausgesprochen haben. Obwohl meine Eltern im Nebenraum bereits die Beerdigung planen.

Mein Verstand will es einfach nicht begreifen. Ich rechne jeden Moment damit, dass sie durch die Haustür hereinspaziert. Sie würde mich garantiert dafür aufziehen, dass ich mich als frisch gebackener Achtzehnjähriger schon wieder lieber in meinem Zimmer verschanzt habe, um zu zocken, anstatt sie auf eine ihrer Uni-Partys zu begleiten. Sie würde den Kopf nach hinten werfen, bis sich ihre dunklen Locken kringelten, und mich auslachen. Ich kann ihr Gelächter immer noch hören. Es hallt in Endlosschleife durch meinen Kopf.

Es ist meine Schuld. Ihr Verschwinden, ihr Tod … alles meine Schuld. Auch wenn jeder mir erzählen will, dass dies nicht der Fall ist. Ich weiß, dass meine Schwester nicht auf natürliche Weise von uns gegangen ist. Sie wurde gewaltsam aus dem Leben gerissen. Von jemandem, den ich hätte stoppen können, wenn ich ebenfalls bei der Party gewesen wäre. Aber das bin ich nicht. Und jetzt ist Calliope tot.

Das Klingeln an der Haustür reißt mich mit einem Mal aus der Trance. Ich schaue auf, starre die rot gestrichene Tür an. Wir erwarten keinen Besuch. Niemand reagiert. Es klingelt erneut. Wahrscheinlich ist es bloß ein weiterer Freund der Familie, der uns sein Beileid bekunden will. Darauf kann ich gut verzichten.

Es klingelt schon wieder.

»Luc? Geh bitte ran!«, ruft Mamma aus dem Nebenzimmer. Ihre Stimme zittert. Wahrscheinlich musste sie weinen. Seitdem uns die Nachricht von Calliopes Tod erreicht hat, tut sie nichts anderes mehr. Ich kann es ihr nicht verdenken. Mir ist selbst zum Heulen zumute, auch wenn meine Augen trocken bleiben. Babbo meint, ich würde noch unter Schock stehen. Wahrscheinlich.

Wie ferngesteuert erhebe ich mich und trete auf die rote Tür zu, die wie eine Warnung vor mir in die Höhe ragt. Meine Hand umschließt den kalten Knauf. Ich schaudere. Wer auch immer auf der anderen Seite auf mich wartet, hat definitiv starke Nerven, denn er klingelt tatsächlich noch einmal.

Um keine Zeit zu schinden, drehe ich den Knauf und ziehe die Tür auf, sodass ich nach draußen linsen kann.

»Sì?« Skeptisch beäuge ich den Mann auf unserer Türschwelle. Ich erkenne sein Gesicht nicht wieder, also ist er definitiv kein Freund der Familie. Nein, der Fremde trägt eine schwarze Uniform mit roten Applikationen. Er wirkt wie ein Offizier. Jemand vom Militär?

»Spreche ich da mit Luciento Scarano?«, erkundigt sich der Mann und fährt sich mit einer Hand über das zurückgegelte, blonde Haar.

Unwillkürlich versteife ich mich am ganzen Körper. Was will der Typ von mir? Woher kennt er meinen Namen? Misstrauisch ziehe ich die Tür weiter auf.

»Ja, das bin ich«, verkünde ich und verschränke die Arme vor der Brust.

Der Fremde setzt ein breites Lächeln auf, doch es erreicht seine eisblauen Augen nicht.

»Wie schön, dich kennenzulernen. Auch wenn die Umstände natürlich alles andere als schön sind«, meint er.

Ich weiß gar nicht, was ich auf diese Aussage hin überhaupt erwidern soll. Also stelle ich die einzige Frage, die mir in den Sinn kommt.

»Wer sind Sie überhaupt?«

Das Lächeln des Fremden verrutscht ein wenig. »Mein Name ist Vicente Cattivo. Und ich glaube, dass du eine ideale Erweiterung meines neu gegründeten Teams wärst.« Der Fremde klingt absolut von sich selbst überzeugt.

Die Versuchung, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, wird mit jeder Sekunde größer. Keine Ahnung, wovon er spricht, aber ich will es auch gar nicht wissen.

»Aha. Mi scusi, per favore. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen kann«, entgegne ich und bin drauf und dran, die Tür zuzuschlagen, als Vicente seinen Fuß zwischen den Spalt schiebt.

Diese kleine Geste reicht aus, um einen feurigen Ball aus Wut in meinem Bauch zu entzünden. Was denkt dieser Typ eigentlich, wer er ist? Er ist offensichtlich informiert über die schwierige Situation meiner Familie. Warum bedrängt er uns dann?

Ich will gerade den Mund öffnen und ihm eine Beleidigung entgegenschleudern, als er erneut zu sprechen ansetzt.

»Du solltest mir zuhören, Luciento. Ich habe die Antworten, die du willst. Du musst mir nur zuhören. Oder denkst du wirklich, der Tod deiner Schwester war purer Zufall?«

Seine Worte lassen mich auf der Stelle erstarren. Sie lähmen meine Muskeln, ersticken jeden Atemzug, sodass ich um Luft ringen muss.

»Was wollen Sie damit andeuten?«, zische ich. Mir ist klar, dass Calliope keines natürlichen Todes gestorben ist. Sie wurde blutleer in einer verlassenen Gasse gefunden, bevor ein Passant den Notarzt kontaktierte. Das ist alles andere als ein natürliches Ableben.

Meine ganze Familie glaubt, dass mehr dahintersteckt. Die Polizei konnte jedoch weder Spuren sichern, die auf ein Verbrechen hindeuten, noch Zeugen ausfindig machen oder das Opfer befragen. Die Beamten versprachen, die Hoffnung nicht aufzugeben, aber die Erfolgschancen sind verschwindend gering …

»Dass ich die Verantwortlichen kenne, die deine Schwester auf dem Gewissen haben«, offenbart der blonde Mann. Seine Augen blitzen gefährlich.

Ein Schauder läuft mir über die Wirbelsäule. Was hat das zu bedeuten? Ist dieser Kerl Mitglied einer Gang? Vielleicht sogar der Mafia? War er dabei, als Calliopes Leben beendet wurde?

Schlagartig befreie ich mich aus meiner Starre. Der Feuerball aus Wut explodiert in meinem Bauch und lässt mich rotsehen. Heißes Blut pumpt durch meine Adern und fließt geradewegs in meine geballten Fäuste. Nur einen Herzschlag später stürze ich nach vorne, strecke die Hand aus und will den Fremden am Kragen packen. Er soll mir gefälligst sofort alles verraten! Wenn er wirklich mehr über den Tod meiner Schwester wissen sollte, dann will ich es jetzt sofort erfahren!

Allerdings komme ich nicht weit. Bevor meine Fingerspitzen seinen Hemdkragen streifen können, packt der Mann auch schon mein Handgelenk und stoppt den Angriff mitten in der Luft. Er bewegt sich so blitzschnell, dass ich ein paarmal überrascht blinzle, bevor ich mich schließlich aus seinem Klammergriff befreie. Der Typ hat offensichtlich Kampferfahrung, sonst würde er nie im Leben über so schnelle Reflexe verfügen.

»Du scheinst kampfbereit zu sein. Das ist gut. Molto bene …«

Was faselt der Mann denn da? Ich bin nicht kampfbereit, sondern verdammt wütend! Das Einzige, was ich will, ist, dass er von meinem Grundstück verschwindet und meine Familie in Ruhe trauern lässt.

Ich bin jedoch nicht in der Lage, die Worte auszusprechen. Stattdessen knirsche ich bloß vielsagend mit den Zähnen.

Der Mann bemerkt meine ablehnende Reaktion sofort. »Ich versteh schon, ich versteh schon. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Weißt du, was? Ich lass dir meine Karte hier, und du rufst mich an, sobald du bereit für die Wahrheit bist, sì?« Er grinst viel zu breit, mit viel zu glänzenden Zähnen. Seine Anwesenheit fühlt sich wie ein glatter Aal an, der über meine Haut gleitet.

Bevor ich ihm eine Absage erteilen kann, hält er mir eine Visitenkarte entgegen, die ich vor lauter Perplexität sogar annehme. Kaum spüre ich das raue Papier zwischen meinen Fingern, dreht er sich auch schon um und zieht von dannen. Ohne einen weiteren Kommentar. Er schaut nicht ein Mal zurück.

Was für eine absurde Begegnung.

Erst nachdem ich die Tür geschlossen und mehrmals tief durchgeatmet habe, verfliegt meine Wut auf den Fremden. Zurück bleibt lediglich ein Hauch von Unverständnis. Was wollte dieser seltsame Typ mit seinem Besuch bezwecken?

Irritiert schaue ich auf die schmale Visitenkarte in meiner Hand. Dort stehen lediglich sein Name und eine Telefonnummer. Nichts weiter.

Auf der Suche nach Antworten wende ich die Karte um. Tatsächlich befindet sich auf der Rückseite ein Symbol. Eine schwarz gedruckte Schlange, die sich um ein Schwert windet. Bizzarro …

Obwohl jeder Instinkt in meinem Körper mich anschreit, das Angebot des Fremden auszuschlagen, weiß ich nicht, ob ich der Verlockung widerstehen kann. Ich will Antworten. Mehr als alles andere. Und ich bin bereit, alles dafür zu geben. Absolut alles.

3. Kapitel | Il responsabile (Die Verantwortlichen)

»Luc?« Ambras Stimme reißt mich aus dem Strudel aus Erinnerungen.

Ich blinzle sie an und bemerke ihre sorgenvoll verzogene Miene.

»Alles gut«, murmle ich schnell, um sie zu beruhigen. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würde ich schwächeln. Obwohl ich gerade erst von den Toten wiederauferstanden bin, tut das nichts zur Sache. Bei den Pugna zählt nur der Schein. Wenn meine starke, unerschütterliche Maske bloß einen Zentimeter verrutscht, werden die anderen Kämpfer nicht länger in mir den Anführer sehen, auf den sie sich verlassen können. Zugegebenermaßen bildet Ambra die Ausnahme dieser Regel. Sie hat in den vergangenen Jahren so viel mit mir gemeinsam durchgemacht, hat mich heulen und verletzt gesehen. Trotzdem möchte ich nicht wie ein Schwächling vor ihr dastehen.

Obwohl mir die Erinnerung an Vicente und die Nachricht über seinen Tod die Luft abschnüren, atme ich gegen den Schmerz an.

Verdrängen, verdrängen, verdrängen.

»Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist? Du bist noch ganz blass«, merkt Ambra an.

»Bloß ein paar Kreislaufprobleme. Mir gehts gleich wieder gut«, halte ich dagegen.

Ambra ist die Einzige, die schon immer hinter meine Maske blicken konnte. Sie durchschaut jedes Mal meine Floskeln und das falsche Lächeln. Genau wie heute. Trotzdem presst sie die Lippen bloß zu einem Strich zusammen und verkneift sich einen Kommentar.

Ich lasse mich etwas zurücksinken, doch bevor ich die Augen schließen kann, erhebt Ambra erneut die Stimme.

»Wir sind im Unterschlupf angekommen. Glaubst du, dass du aufstehen kannst?«

Wir sind schon da? Im Unterschlupf der Pugna? Ungläubig stütze ich mich auf die Unterarme. Tatsächlich … Der Van steht still. Kein Rumpeln. Die Motorengeräusche sind erstorben. Wann ist das denn passiert? Bin ich wirklich so weggetreten gewesen, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie wir am Ziel angelangt sind?

»Brauchst du Hilfe beim Aufstehen?« Ambra löst sich von mir und erhebt sich langsam, um mir eine Hand entgegenzuhalten.

Obwohl sich jede Sehne bei der kleinsten Bewegung in meinem Körper verspannt, winke ich ab. Ich will das allein schaffen.

»Geh schon mal vor«, murre ich und beobachte, wie sie die Seitentüren des Vans von innen öffnet und aufgleiten lässt. Leichtfüßig hüpft sie aus dem Fahrzeug.

Ich nutze den Moment, um sie prüfend zu mustern. Ihr glattes braunes Haar, das sie in einem strengen Zopf zurückgebunden hat. Die erdfarbenen Augen, die hin und her zucken, als sie die Umgebung nach potenziellen Bedrohungen absucht. Und nicht zuletzt ihre hohe, drahtige Statur, die auf viele Jahre intensives Kraft- und Ausdauertraining hindeutet. Insgesamt scheinen ihre Verletzungen nicht allzu schlimm zu sein, wenn sie schon wieder so agil ist.

Anscheinend ist mein Starren nicht so unauffällig, wie ich gedacht habe, denn der zweite Soldat im Wagen räuspert sich kurz, bevor er ihr stumm folgt. Nun bin ich an der Reihe.

Während ich mich langsam in eine aufrechte Position kämpfe, muss ich ein schmerzerfülltes Stöhnen unterdrücken. Jeder Muskel in meinem Körper pocht dumpf und sendet heiße Wellen durch meinen Torso. Obwohl schwarze Pünktchen am äußeren Rand meines Sichtfelds erscheinen, kämpfe ich mich zuerst ächzend auf die Knie, bevor ich ein Bein auf den Boden stemme und mich langsam in die Höhe drücke. Dabei stütze ich mich Halt suchend an der Wand des leeren Vans ab. Es dauert mehrere Minuten, bis ich endlich auf beiden Beinen stehe. Zwar mit zitternden Knien, aber immerhin. Dieser kleine Triumph verdrängt sogar für einen Moment die Trauerwolke, die mich umgibt.

Vorsichtig bewege ich mich in die Richtung der offenen Schiebetür, wo Ambra bereits mit einer hochgezogenen Augenbraue auf mich wartet. Ihr vorwurfsvoller Blick gibt mir zu verstehen, dass sie mich am liebsten beschimpfen würde. Stattdessen gibt sie bloß ein Grummeln von sich und schüttelt den Kopf.

»Ich schaffe das«, behaupte ich, während ich in Zeitlupe einen Fuß anhebe, ihn aus dem Wagen bewege und anschließend auf den Boden stelle. Es dauert eine geschlagene Minute, bis ich mit beiden Beinen außerhalb des Vans stehe.

»Du überschätzt dich maßlos«, knurrt Ambra. Der zuvor scherzhafte Unterton ist nun endgültig aus ihrer Stimme gewichen.

»Es ist doch nichts passiert. Schau nur, mir geht es blendend!«, entgegne ich und versuche, die Stimmung wieder zu lockern.

»Vor einer Stunde warst du noch tot!«, braust Ambra plötzlich auf. Ihre Fassade beginnt zu bröckeln. Die Anstrengungen der letzten Stunden, der Überlebenskampf und ihre Sorge um mich haben sie anscheinend mehr angegriffen als angenommen.

Also verkneife ich mir einen schnippischen Kommentar und konzentriere mich auf den zweiten Van, der genau in diesem Moment vorfährt und direkt neben unserem parkt. Die perfekte Ablenkung.

»Das muss der Gefangenentransport sein«, verkündet Ambra. Ihre kühle Maske sitzt wieder perfekt. Als hätte ich mir ihren kurzen Gefühlsausbruch nur eingebildet.

»Gefangenentransport?«, hake ich nach. Ausnahmsweise spiele ich ihr Spiel mit. Normalerweise bin ich derjenige, der die Ansagen macht.

Ambras Mundwinkel zucken. »Mir ist es gelungen, einen der Sangua auszuschalten. Ich bin mir sicher, dass er uns noch von großem Nutzen sein wird.«

»Per favore? Du hast einen Sangua geschnappt? Wie?«, entfährt es mir.

Obwohl ich es niemals offen zugeben würde, hoffe ich insgeheim, dass es jeder, nur nicht Cara ist. Was auch immer sie mit mir in den Katakomben gemacht hat, hat tiefe Spuren in meinem Inneren hinterlassen. Ich kann ihren Griff um mein Herz weiterhin spüren. Es fühlt sich an, als hätte sie mich nie losgelassen. Ehrlich gesagt kann ich gut darauf verzichten, ihr ein weiteres Mal gegenüberzutreten.

»Indem ich ihn mit seiner eigenen Waffe geschlagen habe. Purer Brutalität«, beantwortet Ambra vage meine Frage, bevor sie ungeduldig näher an die Schiebetür herantritt, den Griff umfasst und zu sich heranzieht.

Es rumpelt kurz, und ich rechne bereits damit, dass jeden Moment ein Schatten aus dem Fahrzeug schießen und uns angreifen wird. Völlig selbstverständlich geht mein Körper in seine typische Verteidigungsposition über, auch wenn ich überhaupt nicht in der Lage bin zu kämpfen. Doch es geschieht … rein gar nichts.

Zögerlich trete ich neben Ambra und spähe in den Laderaum. Das dumpfe Licht der Tiefgarage dringt ins Innere des Vans vor und enthüllt eine am Boden kauernde Person, die nun den Kopf in unsere Richtung wendet.

Plötzlich stockt mir der Atem. Ein langer Mantel ergießt sich wie eine Tintenpfütze um den Sangua herum. Eine dunkel getönte Rundglasbrille versteckt seine Augen. Ein langer Riss zieht sich durch das rechte Brillenglas. Lange Locs fallen ihm über die Schultern. Schwarzes Blut klebt auf seiner braunen Haut … Ich erkenne ihn.

Erinnerungen blitzen vor meinem inneren Auge auf und überlagern die Gegenwart. Ich sehe diesen Mann vor mir. In den Katakomben. Seine spitzen Eckzähne blitzen auf. Sekunden vor dem Kampf. Mein Herz stolpert. Genau wie bei unserer ersten Begegnung.

»Er ist zwar geschwächt, aber wir müssen dennoch vorsichtig sein. Die Sangua sind unberechenbar, und wir wissen noch nicht, ob dieses Exemplar über irgendwelche besonderen Fähigkeiten verfügt. Am besten wäre es wohl, wenn wir ihn in Caras alte Zelle bringen«, erklärt Ambra.

Das Monster legt unterdessen den Kopf schief und scheint aufmerksam zu lauschen. Sein Rücken spannt sich an, und ich beobachte, wie es in eine hockende Angriffsstellung übergeht.

Meine Instinkte übernehmen die Kontrolle über meinen Körper. Es geschieht wie von selbst. Für einen Moment verdrängt der Beschützerinstinkt jeglichen Schmerz, der zuvor noch durch meinen Körper pumpte.

Im selben Augenblick, in dem der Sangua sich vom Boden abdrückt, um Ambra an die Kehle zu springen, stoße ich sie zur Seite, reiße den UV-Strahler von ihrem Gürtel und schalte das Gerät ein. Ohne zu zögern, richte ich den Leuchtkegel direkt auf die Brust des Sangua. Auch wenn er sich in übermenschlicher Geschwindigkeit bewegen kann, so ist das Licht immer noch schneller als er. Ein Zischen ertönt, direkt gefolgt von einem schmerzerfüllten Jaulen. Der Sangua gerät aus dem Gleichgewicht, sein Angriff erstirbt. Er bricht zusammen. Direkt vor unseren Füßen.

Ambra starrt zunächst schockiert auf den Sangua hinab, bevor sie mir einen überraschten Seitenblick zuwirft.

»Grazie«, flüstert sie atemlos. Ihre Miene wird ganz weich.

Das letzte Mal, als sie mich so angesehen hat, haben wir …

Nein! Daran darf ich gerade keinen Gedanken verschwenden. Wir müssen uns um ein deutlich wichtigeres Problem kümmern.

»Warum ist der Gefangene nicht fixiert?«, brülle ich durch die Tiefgarage.

Sofort eilen mehrere Pugna aus den anderen geparkten Vans herbei, die ratlos auf den stöhnenden Sangua hinabblicken. Niemand traut sich, meine Frage zu beantworten. Es wundert mich nicht. Den meisten Soldaten ist der Schock des zurückliegenden Kampfes deutlich anzusehen.

»Worauf wartet ihr noch? Fesselt ihn endlich!«, belle ich die regungslose, uniformierte Masse an. Mit jedem Wort schießt mein Puls mehr in die Höhe. Ein Krampf durchzieht meinen gesamten Torso, dennoch verziehe ich keine Miene.

Nach einigen Sekunden lösen sich endlich zwei Personen aus der Menge und wagen sich in die Nähe des Sangua. Sie bewegen sich langsam und viel zu vorsichtig. In ihren Händen halten sie ein Paar Handschellen. Wenn die beiden so zögerlich weitermachen, regeneriert sich der Sangua schneller, als sie ihn fixieren können.

»Mio dio, alles muss man selber machen«, knurre ich, während ich mir mit der flachen Hand über die schmerzende Brust reibe. Hoffentlich bekomme ich nicht gleich auch noch einen Herzinfarkt.

Kurzerhand entreiße ich den beiden Pugna die Handschellen und schicke sie mit einer knappen Kopfbewegung fort. Danach überbrücke ich die geringe Distanz zu dem Sangua, der immer noch am Boden kauert und vor Schmerzen stöhnt. Der UV-Strahl scheint ihn schwerer getroffen zu haben als ursprünglich gedacht. Vorerst ist er außer Gefecht gesetzt.

Für einen Wimpernschlag sehe ich in dem am Boden kauernden Wesen nicht das blutsüchtige Monster, sondern einen gebrochenen Mann, der Hilfe benötigt. Genau das ist das Fatale an diesen Biestern. Sie wirken auf den ersten Blick wie gewöhnliche Menschen. Sie bewegen sich unter uns. Aber sie sind kein Teil von uns. Das muss ich mir selbst immer wieder ins Gedächtnis rufen.

»Mach schon, Luc«, erinnert mich Ambra an mein Vorhaben.

Ich nicke hastig, bevor ich meinen Stiefel auf dem Rücken des Sangua platziere, um ihn am Boden zu fixieren. Eilig packe ich seine Handgelenke, führe diese am Rücken zusammen und lasse die Handschellen aus reinem Titan zuschnappen. Das einzige Metall, das so korrosionsbeständig und widerstandsfähig ist, dass selbst ein Sangua einen hohen Kraftaufwand leisten muss, um sich zu befreien. Geschafft.

»Ihr macht einen großen Fehler …«, murmelt der Fremde.

Daraufhin muss ich mir ein Schmunzeln verkneifen. »Der einzige Fehler in diesem Raum bist du.« Ich schaue in das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes und kann gar nicht anders, als ihn für alles, was in den letzten Stunden geschehen ist, verantwortlich zu machen. Seinetwegen und wegen seines Clans mussten meine Kameraden und ich unser Leben riskieren. Seinetwegen weilt Vicente nicht länger unter uns. Es ist alles seine Schuld.

Der Sangua bietet die perfekte Zielscheibe für meinen Hass und Schmerz. Innerhalb einer Sekunde wird er zu meinem persönlichen Sündenbock.

Glühend heiße Abscheu fließt durch meine Adern. Ich richte mich auf und muss mich beherrschen, um meinem Zorn keine Luft zu machen. Der Sangua liegt bereits am Boden. Warum soll ich noch nachtreten?

»Weil er und sein Clan dir etwas genommen haben, das niemals ersetzt werden kann«, flüstert eine Stimme, die der von Vicente sehr nahekommt, in meinem Hinterkopf. Ich knirsche mit den Zähnen.

Glücklicherweise tritt Ambra genau in diesem Moment neben mich. »Führt ihn ab!«

4. Kapitel | Die Zelle

Voller Genugtuung beobachte ich, wie zwei Pugna den Sangua unter den Armen packen und ihn mit sich schleifen. Der Gefangene leistet keinerlei körperliche Gegenwehr. Er lässt sich einfach mitziehen und richtet den Blick zu Boden. Dabei rutscht seine Sonnenbrille bis zu seiner Nasenspitze.

Giftige Worte sammeln sich wie Speichel in meinem Mund. Am liebsten würde ich hier und jetzt all meine Wut rauslassen und dem Sangua meinen ganzen Hass entgegenspeien. Stattdessen spucke ich mein Gift auf den Boden und folge den Pugna wortlos aus der Tiefgarage und hinein in unseren Unterschlupf – ein alter Kriegsbunker, der extra für unsere Zwecke umfunktioniert wurde. Die labyrinthartigen Flure und Gänge unter der Erde bieten nicht nur Schutz vor den Sangua, sondern verbergen unser Vorhaben auch vor den Zivilisten, obwohl wir uns inmitten der Millionenstadt Neapel befinden.

Trotz meiner abschweifenden Gedanken lasse ich den Gefangenen nicht aus den Augen. Selbst als Ambra mich von der Seite anspricht, wende ich den Blick nicht ab. Während ich seine ergebene Miene und die geschlossenen Augen betrachte, setzt mein Herz erneut einen Schlag aus. Ich schiebe diesen Aussetzer auf meinen kürzlichen Herzstillstand.

»Hörst du mir eigentlich zu, Luc?«, empört sich Ambra neben mir.

Ich stöhne leise auf und schaue in ihre Richtung. »Scusi, was hast du gerade gesagt?«

»Du solltest dich schonen! Geh zur Krankenstation, lass dich durchchecken, und schlaf ein paar Stunden. Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche.«

Ich schnaufe. Ich bin doch kein einfacher Soldat, den sie herumscheuchen kann, wie sie will. Diese Zeiten sind längst vorbei. »Du hast mir gar nichts zu sagen. Ich weiß, was ich tue.«

»Nein. Du bist besessen davon zu helfen. Und das wird dich irgendwann ins Grab bringen«, entgegnet Ambra kühl.

»Mag sein«, meine ich bloß. Ich werde diesen Sangua in seine verdammte Zelle bringen, egal was kommt. Wenn ich die Welt nur von einem dieser Monster befreien kann, habe ich meinen Dienst getan.

Obwohl jeder Schritt blitzartige Schmerzen in meine Brust sendet und ich vor Kraftlosigkeit hin und her schwanke, gebe ich nicht nach und bemühe mich, mit den anderen Pugna Schritt zu halten. Gemeinsam durchqueren wir die weiß gefliesten Flure des Schutzbunkers. Wände aus Beton und dicke Metalltüren deuten auf vergangene Kriegszeiten hin. Über uns flimmert das Licht uralter Leuchtstoffröhren. Der Bunker ist definitiv kein Ort, an dem man sich heimisch oder gar wohlfühlt. Die kalte, karge Atmosphäre sorgt vielmehr dafür, dass man wachsam bleibt und jede noch so kleine Veränderung in der Umgebung sofort registriert.

Heute jedoch ist sie dafür verantwortlich, dass ich auf den Beinen bleibe. Ich beiße die Zähne zusammen und passiere mit den anderen Soldaten mehrere Sicherheitstüren, bis wir endlich an die Tür gelangen, die ich in den letzten Monaten mehr als alles andere verabscheut habe. Caras alte Zelle.

Ambra zückt ihren Schlüssel und sperrt die Tür auf, um voranzugehen und zu beobachten, wie der Gefangene von den ächzenden und stöhnenden Soldaten in den Raum hineingeschleift und in der Mitte zu Boden geworfen wird.