Sankt Galler Spitzen - Luca DiPorreta - E-Book

Sankt Galler Spitzen E-Book

Luca DiPorreta

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Beschreibung

Robert Keller, Leiter der Kripo St.Gallen, und seine Partnerin Lea verbringen ein Wellness-Wochenende in einem Luxushotel am Bodensee. Während des Frühstücks bittet der Hoteldirektor den Kommissar, ihm unauffällig zu folgen. In einem Gästezimmer liegt Mia Schneider, Chefdesignerin und Geschäftsleitungsmitglied der renommierten St.Galler Textilfirma Vadiana, nackt und tot im Hotelbett. Die Ermittlungen führen Keller in die Welt der alten Textildynastien der Stadt. Dr. Signer, den CEO der Firma und Schwiegersohn des Firmenpatriarchen, scheint ein düsteres Geheimnis mit der Toten zu verbinden …

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Luca DiPorreta

Sankt Galler Spitzen

Kriminalroman

Zum Buch

Süßer Tod Keller, Leiter der Kripo St. Gallen, und seine Lebenspartnerin Lea, verbringen ein Wellness-Wochenende in einem Luxushotel am Bodensee. Während des sonntäglichen Frühstücks bittet der Hoteldirektor den Kommissar, ihm unauffällig zu folgen. In einem der Gästezimmer liegt Mia Schneider, Chefdesignerin und Geschäftsleitungsmitglied der renommierten St. Galler Textilfirma Vadiana, nackt und tot im Bett. Als Todesursache stellen sich rasch vergiftete »St. Galler Spitzen« heraus, die weitherum berühmten Pralinen einer traditionellen Confiserie. Die Ermittlungen führen Keller in die Welt der alten Textildynastien der Stadt. Im Zentrum steht die Vadiana Textil, eine der letzten Produzentinnen der berühmten Spitzen, die seit Jahrhunderten von St. Gallen aus für die besten Modehäuser hergestellt werden. Dr. Signer, CEO der Firma und Schwiegersohn des Firmenpatriarchen, scheint ein düsteres Geheimnis mit der Toten zu verbinden.

Luca DiPorreta ist ein Pseudonym. Der Autor lebt teils in der Ostschweiz, teils in der Toskana. Er war in verschiedenen Bereichen von Wirtschaft und Wissenschaft sowie in einer internationalen Textilfirma tätig. Heute arbeitet er als freier Autor an seinem nächsten Roman.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Elnur / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7682-2

Kapitel 1

Während er seinen schwarzen Range Rover in die Zufahrt zur Garage steuert, hört er durch die halb offene Scheibe des Wagens die dumpfen Glockenschläge vom Dom, die der Nachtwind vom direkt unter ihm liegenden Klosterviertel zu ihm hinaufträgt. Dreiundzwanzig Uhr. Die Sensoren des eisernen Tors erkennen seinen Wagen. Mit einem feinen Quietschen ziehen die Motoren die beiden Torflügel zur Seite und lassen ihn passieren. Er lässt den Wagen gleich auf dem Kiesplatz vor der Treppe zum Hauseingang stehen. Die Automatik des Garagentors ist seit gestern defekt, und er hat keine Lust, das schwere Tor von Hand beiseitezuschieben, zumal er gleich früh am nächsten Morgen wieder wegfahren will. Obwohl das Gelände gut gesichert ist, verschließt er das Fahrzeug gewohnheitsmäßig mit einem kurzen Druck auf den Funkschlüssel. Er steigt die wenigen Stufen zur hohen, aus massivem Eichenholz gefertigten und einbruchsicher verstärkten Eingangstür der Villa hinauf, öffnet mit einem kurzen Druck seines Zeigefingers auf das unauffällig neben dem Eingang in die Mauer eingelassene Lesegerät die Tür und tritt in die Halle. Die Bewegungssensoren schalten die dezente, in die Holzpaneele der Wände eingelassene Beleuchtung der Eingangshalle ein. Mit einem leisen »Plop« fällt die Türe hinter ihm wieder ins Schloss.

Vor der Schuhablage tauscht er seine Lederschuhe gegen altmodische Filzpantoffel. Er weiß, sie passen zum Stil des Hauses wie die Faust aufs Auge. Aber er liebt sie, und vor allem im Winter, wenn das alte Haus trotz der neuen Zentralheizung kaum warm zu bekommen ist, steigt die Wärme aus den Pantoffeln über die Füße hinauf bis zu seinem Kopf. Das Jackett seines Anzugs wirft er achtlos über den Kleiderständer neben der Schuhablage. Hätte er, wie früher üblich, zu seinem grauen Zegna-Anzug eine Krawatte getragen, wäre auch sie sogleich am Kleiderständer gelandet. Gott sei Dank ist dieses fast ein Jahrhundert lang für jeden Manager, unabhängig von Alter und Status, unabdingbare Erkennungszeichen inzwischen definitiv aus der Mode gekommen. Er hat sich noch so gerne dem neuen Modediktat unterworfen, zum Anzug nur noch ein weißes Hemd zu tragen, dessen oberster Knopf konsequent geöffnet bleibt.

Normalerweise wartet Jeannette, die langjährige Hausdame der Familie, auf seine Rückkehr aus dem Büro und nimmt ihm seinen Mantel oder das Jackett ab. Doch er weiß, dass sie heute ihren freien Abend hat und bei ihrer Schwester übernachtet. Sie wird erst morgen früh in ihr kleines Appartement im Erdgeschoss des Hauses zurückkehren, um das Frühstück für ihn und seine Frau sowie seinen Schwiegervater im Gartenhaus vorzubereiten. So geht er selbst hinüber zur Garderobe. Trotz der für die herbstliche Jahreszeit ungewöhnlichen Wärme hat er am Morgen gewohnheitsmäßig den leichten Mantel mitgenommen. Er hängt ihn an einen der stoffbezogenen Kleiderbügel und klaubt die kleine Schachtel aus laminiertem Karton aus der Manteltasche, die er aus dem Büro mitgenommen hat.

Abgesehen vom Ticken der großen Standuhr ganz hinten in der Eingangshalle ist es still im Haus. Auch Lisa, die kleine Pudelhündin, die manchmal hinter der Tür auf seine Rückkehr wartet, scheint sich heute bereits in ihren Korb in einem der Zimmer in der oberen Etage verzogen zu haben. Er blickt kurz hinauf zur Galerie, zu der die geschwungene Treppe aus der Mitte der Halle hinaufführt. Ein feiner Lichtstreifen fällt aus einem der Zimmer auf den polierten Handlauf des Geländers. Sie ist also zu Hause. Entweder liegt sie einmal mehr mit wirklicher oder vorgetäuschter Migräne im Bett, oder sie zieht es vor, seine Heimkehr zu ignorieren. Letzteres ist inzwischen bei ihnen mehr oder weniger zum Normalfall geworden. Sie haben sich auseinandergelebt in den vielen Jahren, die sich aneinanderreihten wie die Glieder einer stählernen Kette, eines gleich wie das andere. Bis aus den individuellen Gliedern das feste Band entstanden ist, das sie umschlingt, mit einer immer geringeren Möglichkeit, es zu sprengen. In der letzten Zeit hat er die Kette viel stärker verspürt. Er weiß, dass er keine Chance hat, sie abzuschütteln. Das hat sie ihm klar zu verstehen gegeben, als er, in einem abendlichen Gespräch in der Bibliothek, vorsichtig die Zukunft ihrer Beziehung anzusprechen versuchte. Sie machte ihm diese Zukunft unmissverständlich klar: Nebengeleise ja, Weichenstellungen nein. Sie würden die Kette beide nicht sprengen können. Seine Frau wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung, was immer das heißen mag, er wegen seiner Position in der Firma, die er, wie er sich bewusst ist, nur ihrem Status als künftige Alleinerbin des großen Familienvermögens verdankt. So spielen sie ihre Rollen im Netzwerk der »guten Gesellschaft«, wie viele andere Paare in ihrem ausgedehnten Bekanntenkreis auch, jeder für sich und, wenn nötig, auch gemeinsam. Und weil in ihren Kreisen jeder vom anderen weiß, dass auch er nur eine Rolle spielt und es hinter den Fassaden viel weniger Lack und Farbe gibt, als das an den Partys und Bällen den Anschein hat, braucht sich auch niemand große Mühe zu geben, die Langeweile über sich, den jeweils anderen und das Leben ganz allgemein zu verbergen.

Er durchquert die Halle und tritt durch eine halb geöffnete Türe in den Salon. Vorbei an einer Sitzgruppe mit plüschigen, leicht verstaubt wirkenden Sesseln und einem langen Esstisch geht er durch die offen stehende Schiebetür in die Bibliothek. Vor dem großen Kamin steht sein lederner Ohrsessel. Gute Jeannette, denkt er kurz und lächelt, während sein Blick auf das Beistelltischchen neben dem Sessel fällt. Da warten eine Glaskaraffe mit seinem bevorzugten Whisky, eines der Kristallgläser aus dem Gläserschrank im Salon und eine glänzende, von Feuchtigkeit leicht beschlagene Metalldose. Bevor sie abends ihre Arbeit beendet hat und nach Hause gegangen ist, hat Jeanette offenbar noch die Karaffe nachgefüllt, frische Eiswürfel in den metallenen Behälter gelegt und alles für die späte Heimkehr des Hausherrn bereitgestellt.

Mit einem Seufzer lässt er seinen massigen Körper in den Sessel sinken und saugt mit einem tiefen Atemzug den Duft des Leders ein. Hätte man ihn nach seinem Lieblingsplatz auf Erden gefragt, er hätte wahrscheinlich diesen Lehnstuhl hier in der Bibliothek mit den raumhohen Gestellen und den vielen in Leder gebundenen Büchern genannt. In dem riesigen alten Gemäuer ist er für ihn eine kleine Insel der Geborgenheit, auf die er sich, nach einem hektischen Arbeitstag oder nach einem der häufigen gesellschaftlichen Anlässe, fast jeden Abend noch für einige Momente zurückzieht, ehe er nach oben in sein Schlafzimmer geht.

Sein Arbeitstag hat mit einem mühsamen Gespräch zur geplanten Kollektion für das kommende Frühjahr denkbar schlecht begonnen. Die Präsentation des Zwischenabschlusses durch seinen jungen Finanzchef sowie die anschließende langfädige Geschäftsleitungssitzung haben nicht dazu beigetragen, seine Stimmung zu verbessern. Am frühen Abend stand noch eines der digitalen Meetings an, die er so verabscheut und wenn immer möglich durch eine traditionelle Telefonkonferenz zu ersetzen sucht, während der man sich immerhin am Kopf oder wo auch immer kratzen kann, wenn einem danach ist. Nach einem Abstecher zum Kühlschrank in der kleinen Büroküche lief er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wechselte einige belanglose Worte mit dem Nachtportier und verließ das Gebäude. Es war einmal mehr spät geworden.

Ein weiterer anstrengender Tag in der Firma liegt hinter ihm. Der Gedanke, dass nicht mehr allzu viele weitere vor ihm liegen, wenn alles gut läuft, tröstet ihn. Die vergangenen Wochen haben ihm Hoffnung auf eine Entwicklung gegeben, die er anfänglich mit großer Skepsis, später mit wachsender Begeisterung zur Kenntnis genommen hat, auch wenn er selbst dabei keinen aktiven Beitrag leisten kann. Die Aussicht auf die stattliche Summe, die seinem Konto zufließen würde und dank der er bald auch die ehelichen Fesseln loswerden könnte, lässt die Zukunft mit einem Mal in einem wieder viel helleren Licht erscheinen.

Wenn alles gut läuft.

Er greift nach der Karaffe und gießt sich einen Whisky ein. Exakt zwei Finger hoch, auch wenn er weiß, dass dem ersten ein zweites und auch ein drittes Glas folgen würden, sodass er sich eigentlich gleich ein volles Glas einschenken könnte. Aber Rituale sind dazu da, um gepflegt zu werden. Und er liebt Rituale, nicht nur beim Trinken.

Zum Ritual gehört, dass er mit dem ersten Glas immer ein Stückchen Schokolade nimmt. Mal ist es eine Praline, mal ein Riegel Milchschokolade oder eine andere süße Spezialität. Er weiß, dass manche Whiskypuristen über das Pairing von Whisky und Schokolade die Nase rümpfen, was ihn wenig kümmert. Für ihn passen die latenten Holzaromen und die feine, fast ein wenig süßliche Note des Getränks perfekt zu einer cremigen, süßen Schokolade. Schokolade ist ein Laster, zu dem er trotzig steht, auch wenn Doktor Rentsch, der Hausarzt der Familie, ihn immer wieder mahnend auf seine grenzwertigen Blutbefunde und das Übergewicht hinweist.

Für den heutigen Abend hat er sich die restlichen Pralinen aus dem Büro mitgebracht, die seine Sekretärin für ihn im kleinen Kühlschrank der Büroküche aufbewahrt. Normalerweise bekommen er oder irgendwelche Besucher, die ihn in seinem Büro aufsuchen, eine der Schokokreationen zum Kaffee gereicht. Er hat heute Abend die beiden letzten Stücke in der Schachtel aus dem Kühlschrank mitgenommen. Eigentlich wollte er sie gleich auf dem Weg in die Tiefgarage essen, da ihn, wie häufig am Ende eines stressigen Arbeitstags, eine unbändige Lust auf Süßigkeiten überfallen hat. Dann erhielt er einen Anruf auf sein Handy, und über dem langen Gespräch hat er die Schokolade wieder vergessen. Zu Hause angekommen, nahm er den Mantel aus dem Wagen. Erspürte die kleine, harte Schachtel mit den süßen quadratischen Sankt Galler Spitzen in der Tasche. Seine Lust auf etwas Süßes wurde übermächtig, doch er wollte sich die Pralinen bewusst für den Moment aufsparen, wo er sie gemeinsam mit den kleinen Schlucken des erstklassigen Whiskys genießen konnte, den er sich gleich gönnen würde.

Ohne Hast greift er nach dem Whiskyglas und führt es zum Mund. Während das Aroma des ersten kleinen Schlucks sich im Gaumen entfaltet, öffnet er mit der anderen Hand die Pralinenschachtel und klaubt das erste der beiden noch vorhandenen Stücke heraus. Er schluckt das Getränk und schiebt sich die Schokolade in den Mund. Dann schließt er genießerisch die Augen und spürt, wie die herbe Süße der Praline sich mit den komplexen, im Gaumen verbliebenen Aromen des Whiskys verbindet. Langsam lässt er die Schokolade in seinem Mund schmelzen, ehe er sie mit einem weiteren Schluck Whisky hinunterspült.

Sekunden später weiten sich seine Augen. Zuerst in verständnislosem Staunen über das, was er in seinem Körper verspürt. Sekundenbruchteile später geht das Staunen in Entsetzen über. Sein Körper strafft sich und erstarrt für einen Moment, der Kopf zuckt nach hinten, während er sich mit der freien Hand an seine Kehle greift. Er bekommt keine Luft mehr, reißt den Mund auf im hilflosen Versuch, Sauerstoff in seine Lungen zu saugen. Die andere Hand krampft sich um das Whiskyglas, als wolle er es mit den Fingern zerdrücken. In den letzten Momenten seines Lebens spürt er, wie sich die Muskellähmung in seinem Inneren ausbreitet. Er versucht zu schreien, aber seinem Mund entfährt nur ein leises Röcheln, und sein massiger Körper sackt in sich zusammen. Der Kopf zuckt zur Seite, Augen und Mund immer noch weit aufgerissen.

Das Whiskyglas fällt ihm aus der Hand auf den Boden, ohne dass das massive Kristallglas zerbricht. Mit einem feinen Rumpeln rollt es ein wenig vom Stuhl weg und hinterlässt auf dem Boden eine dünne goldene Spur, die langsam in den feinen Ritzen des alten Fischgrätparketts versickert.

Kapitel 2

Als kleines Kind dachte Lea, der Bodensee sei das Meer. Man nannte den See ja auch das Schwäbische Meer. Da ihre Familie ihren Urlaub immer in den Bergen verbracht hatte und nie mit ihr an ein richtiges Meer gereist war, war der Bodensee für sie zum Sinnbild des Meeres geworden. Und wenn bei schlechtem Wetter der Wind manchmal die Wellen aufpeitschte und mit weißen Krönchen verzierte, während das gegenüberliegende Ufer in einer grauen Wolkenwand verschwand, sah der See auch tatsächlich aus wie ein richtiges Meer, das sich bis zum Horizont und weit darüber hinaus erstreckte.

Im Licht der noch tief über den Hügeln Vorarlbergs stehenden Septembersonne zeigte das Wasser an diesem Sonntagmorgen eine fast karibisch blaue Farbe. Lindau am gegenüberliegenden Ufer schien zum Greifen nah, und der spiegelglatte See verlockte zur Annahme, ein geübter Schwimmer könnte ihn problemlos überqueren. Das Personal hatte die großen Glasscheiben des Frühstücksraums im Hotel Seebad ein wenig zur Seite geschoben. Die Sonne wärmte die Scheiben und den dahinter liegenden Frühstücksraum, während die leichte Brise vom See her frische Morgenluft und die kreischenden Schreie der Möwen, die vor dem Hotel über dem Wasser umherschossen, in den Gastraum trug.

Es war kurz vor 10 Uhr. Der Frühstücksraum war gut besetzt, wie meist an den Wochenenden um diese Tageszeit. An den Tischen saßen vornehmlich Paare mittleren Alters, die sich ein verlängertes Weekend im renommierten Wellnesshotel gönnten. Auch Lea und Robert, die am Ecktisch ganz hinten im Raum saßen, gehörten zu dieser Kategorie von Hotelgästen. Von ihrem Frühstückstisch aus bot sich ihnen ein schöner Ausblick auf den vor dem Restaurant liegenden Garten und den angrenzenden See. Robert hatte seine Lesebrille auf der Nase weit nach vorne geschoben und sich in eine der Sonntagszeitungen vertieft, die beim Eingang zum Frühstücksraum für die Gäste bereitlagen. Lea hatte gerade ihr Joghurt ausgelöffelt und platzierte Butter und Konfitüre für den nächsten Gang ihres Frühstücks auf ihrem Teller.

»Robert, reichst du mir mal den Brotkorb?«

Der Angesprochene zeigte keinerlei Reaktion. Lea musste lächeln, während sie ihren Partner betrachtete, der ihr am Frühstückstisch des Hotels gegenübersaß vertieft in seine morgendliche Lektüre. Die Zeitung lag halb auf seinem Teller mit einem angebissenen Stück Sonntagszopf, halb auf seinen Knien, während er den Kopf über den Artikel beugte, den er gerade las und der ihn offensichtlich so in Beschlag nahm, dass er Leas Frage gar nicht wahrgenommen zu haben schien. Oder, wie sie aus Erfahrung wusste, irgendwo in seinem Kopf wahrgenommen und sogleich wieder ausgeblendet hatte, um seine ganze Konzentration dem zu widmen, was er jeweils gerade zu tun im Begriff war. In diesem Fall dem Lesen der Wochenendausgabe des Tagblatts.

Sie hob ein wenig ihren Kopf und sprach ihn nochmals an, diesmal etwas lauter:

»Robert? Hallo?«

Mit einem Lächeln winkte sie ihm über den Tisch hinweg zu. Diesmal bemerkte er sie und schreckte auf. Wie ein zerstreuter Professor der nahegelegenen Universität Sankt Gallen, der aus irgendwelchen fernen Gefilden seiner Gedankengänge überraschend auf den Boden der Realität zurückgeholt wurde, blickte er sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, er überlege sich, was für eine Gestalt ihm da auf der anderen Seite des Frühstückstisches gegenübersäße. Keller war kein Professor, sondern Kriminalkommissar. Und natürlich wusste er, wer ihn da ansprach und wo er war. Es war nur so, dass er sich manchmal in etwas vertiefen konnte und die Welt um sich herum einfach vergaß. Eine Eigenschaft, die sein Beruf erforderte und die sich in langen Berufsjahren verstärkt hatte, wie Lea vermutete.

Keller bewies ihr sogleich, dass er in seinem Unterbewusstsein durchaus notiert hatte, was sie von ihm wollte. Er griff nach dem Brotkörbchen neben seinem Frühstücksteller, das noch einen letzten Buttergipfel und eine Scheibe Zopfbrot enthielt. »Entschuldigung! Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich es bei mir platziert habe.« Er reichte ihr den kleinen geflochtenen Korb über den Tisch.

»Nimm, was du willst, ich habe genug gehabt. Die Gipfel sind übrigens köstlich!«

»Danke«, sagte Lea und nahm sich den Gipfel und die Brotscheibe aus dem Körbchen. »Das scheint eine spannende Lektüre zu sein. Etwas, das ich auch lesen sollte?«

Keller wiegte den Kopf. »Kaum. Aber spannend ist es tatsächlich. Es geht um einen Giftmord, der gerade in zweiter Instanz vor dem Obergericht verhandelt wird. Erinnerst du dich an den Fall vor einigen Jahren, der in den Medien unter dem Namen ›Die Kräuterhexe‹ eine Zeit lang Schlagzeilen machte? In der ersten Instanz wurde die Angeklagte freigesprochen. Mangels Beweisen, wie das Gericht meinte, trotz starker Indizien, die auf sie als Täterin hinwiesen. Jetzt wird das Ganze in der zweiten Instanz nochmals aufgerollt. Ob sie wirklich zu neuen Erkenntnissen gelangen werden, wage ich zu bezweifeln. Obschon ich mir sicher bin, dass sie hinter dem Giftanschlag auf ihren Ex stand.«

Lea erinnerte sich dunkel an den Mord. Er war in einem Nachbarkanton geschehen und deshalb nicht in den Kompetenzbereich ihres Partners gefallen, der zu jener Zeit bereits Leiter der Gruppe Gewaltverbrechen der Kriminalpolizei Sankt Gallen gewesen war.

»Wenn man jemanden umbringen will, ohne dass man die Todesart auf den ersten Blick erkennen kann, hat sich Gift seit Jahrhunderten als eine der zuverlässigsten Methoden bewährt«, fügte Robert hinzu. »Vor allem wenn keine Anzeichen einer äußerlichen Gewalteinwirkung feststellbar sind, kann der Mörder oder die Mörderin in den meisten Fällen davon ausgehen, dass seine Tat unentdeckt bleibt. Erschreckend viele Menschen werden jedes Jahr kremiert oder begraben, ohne dass jemand ahnt, dass sie eigentlich nicht eines natürlichen Todes gestorben sind. Gift ist zudem, rein statistisch gesehen, die von Frauen am häufigsten verwendete Methode, um jemanden umzubringen. Männer, so scheint es, bevorzugen dazu direktere Methoden.«

Er warf einen kurzen Blick auf Lea. »Das Thema fasziniert dich wahrscheinlich nicht so sehr wie mich«, meinte er lächelnd.

Da hatte er recht, das Thema interessierte Lea an diesem friedlichen, noch immer spätsommerlich warmen Septembermorgen tatsächlich wenig. Während Robert sich wieder in seine Lektüre vertiefte, bestrich sie sich ein weiteres Brötchen fast fingerdick mit der süßen Himbeermarmelade, die sie vorhin vom Buffet geholt hatte. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, in den kommenden Wochen ihren Kalorienkonsum ein wenig zu reduzieren. Ende Oktober stand der seit Langem gebuchte gemeinsame Strandurlaub auf einer Insel im Indischen Ozean an, auf den sie sich wie ein kleines Kind freute. In der Woche vor der Abreise würde sie sich in ihrer Lieblingsboutique einen neuen Bikini kaufen. Dazu musste natürlich die Figur stimmen. Nicht dass sie zwingend hätte abnehmen müssen. Sie war Mitte 40 und wusste, dass sie für ihr Alter noch immer eine gute Figur hatte. Wie die meisten Frauen ihres Alters hatte sie ein bestimmtes Zielgewicht im Kopf. Und das war, wie ihr regelmäßiger morgendlicher Blick auf die Waage zeigte, seit Längerem und recht deutlich überschritten. Robert sagte ihr bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit, dass sie doch besser noch ein, zwei Kilo zulegen und sich nicht über Maßnahmen zur weiteren Gewichtsreduktion den Kopf zerbrechen solle. Während er wie die meisten Männer bei der Beurteilung ihrer Figur mehr auf Busen und Hintern schaute, ging ihr Blick eher zu den Ausbuchtungen von Bauch und Hüften. Hier hatte sich ein wesentlicher Teil der zusätzlichen Kilos abgelagert, die sie sich in den vergangenen Monaten mit gutem Essen und nicht weniger gutem Wein angefuttert hatte. Dass sie gleichzeitig wegen ihrer großen beruflichen Belastung den ganzen Sommer hindurch ihre sportlichen Aktivitäten weitgehend einstellen musste, trug zusätzlich dazu bei, die Anzeige auf ihrer digitalen Waage im Wochentakt ansteigen zu lassen.

Sie biss in ihr Brötchen und lehnte sich zufrieden kauend in ihrem Sessel zurück. Ihr Blick streifte durch den fast voll besetzten Frühstückssaal. Das gedämpfte Murmeln der Hotelgäste lag wie ein weicher Klangteppich über dem Raum. Offiziell würde das reichhaltige Frühstücksbuffet noch eine weitere Stunde geöffnet bleiben. Und inoffiziell, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, so lange, bis auch der letzte Langschläfer unter den Gästen zufrieden und satt die zerknautschte Serviette auf den Tisch gelegt und den Speisesaal verlassen hatte.

Durch die hohen Fenster, welche die ganze Front des Frühstückssaals einnahmen, ging ihr Blick hinaus über die kleine Gartenterrasse zum See. Das Hotel lag direkt am Bodensee. Die Sonne stand inzwischen hoch über den Hügeln des gegenüberliegenden deutschen Ufers und tauchte die vom Föhnsturm der vergangenen Nacht noch aufgewirbelten Wellen in ein warmes Herbstlicht. Möwen auf der Suche nach Nahrung schossen hin und her oder ließen sich vom Wind über das Wasser tragen. Am Holzsteg vertäut, der vom Hotel weit in den See hinausführte, schaukelte die antike Hoteljacht Lucy auf den Wellen. Weiter draußen kreuzten die ersten Segelboote im Wind. Im Laufe des Tages würde sich das obere Seebecken mit hin- und herfahrenden Motor- und Segelschiffen füllen. Lea musste immer wieder staunen, dass es an den schönen Tagen mit nahezu idealen Segelbedingungen wie heute angesichts der Dichte von Booten aller Kategorien nicht häufiger zu Kollisionen kam.

Wären nicht noch letzte Windböen des nächtlichen Föhnsturms über die Terrasse hinweggefegt, hätten Robert und sie das Frühstück draußen in der Morgensonne unter einem der bunten Sonnenschirme des Restaurants eingenommen, wie meistens, wenn sie im Sommer oder Herbst für ein gemeinsames Wochenende hier waren. Immerhin hatten die Gäste dank der halb geöffneten Fensterflächen auch im Inneren des Restaurants das Gefühl, direkt am Seeufer zu sitzen.

Kapitel 3

Aus rein meteorologischer Sicht war der Sommer vorbei und hatte dem Herbst Platz gemacht. Es war einmal mehr ein überdurchschnittlich warmer Sommer gewesen. Auch jetzt erinnerten die Temperaturen mehr an den Spätsommer als an die bevorstehenden Herbsttage. Und wenn man den Wetterfröschen in den Medien glauben wollte, würde das Hochdruckgebiet, das seit einer Woche über dem See und den angrenzenden Gebieten lag, auch über die nächsten Tage hinweg stabil bleiben.

Vor einigen Tagen hatte Robert sie angesichts der guten Wetterprognosen für ihren bevorstehenden Geburtstag mit einer Einladung zu einem Wellness-Wochenende ins Luxushotel Seebad am Bodensee überrascht. Trotz ihrer Freude über die spontane Geste hatte sie gezögert, die Einladung anzunehmen. Denn eigentlich hatte sie überhaupt keine Zeit für ein solches Timeout, und an ihren Geburtstag hatte sie in den vergangenen Wochen nicht ein einziges Mal gedacht. Sie stand mitten in der Vorbereitung zu einer großen Ausstellung im Textilmuseum, die sie als verantwortliche Kuratorin planen und realisieren musste, und deren Eröffnung in wenigen Wochen bevorstand. Ein verlängertes Wochenende im Wellnesshotel konnte sie sich mit Blick auf die anstehenden Arbeiten im Museum zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht leisten. Aber sie wollte Roberts Einladung nicht ablehnen. Nicht nur, weil der Anlass ihr Geburtstag war. Sie spürte auch, dass es ihr guttun würde, sich eine kurze Auszeit nehmen. Manchmal hatte sie das Gefühl, von der Arbeit erdrückt zu werden, die es zur Vorbereitung der Ausstellung noch zu erledigen galt. Robert schien gespürt zu haben, wie die immer längere Pendenzenliste, die sie auf ihrem Pult in ihrem kleinen Büro im ersten Stock des Museumsgebäudes führte, ihr buchstäblich auf dem Magen lag. Seine Geburtstagsüberraschung kam deshalb genau zur richtigen Zeit. Und weil sie merkte, dass die kurze Auszeit ihr wirklich helfen würde, hatte sie nur halbherzig auf all die Arbeiten hingewiesen, zu deren Erledigung sie die freien Stunden am Wochenende unbedingt brauchen würde.

Robert hatte ihre Einwände einfach ignoriert. »Keine Diskussionen«, war seine Antwort. »Ich hole dich ab. Es ist alles gebucht, und das Wetter scheint auch mitzuspielen.«

Als er am Freitagnachmittag zum vereinbarten Zeitpunkt mit seinem uralten Mercedes-Cabrio auf dem Garagenvorplatz des kleinen Appartementhauses ganz oben am Rosenberg stoppte, stand sie mit ihrem kleinen Rollkoffer bereit. Er hatte das Verdeck des Oldtimers zurückgefaltet, die Seitenscheiben heruntergekurbelt und begrüßte sie mit seinem spitzbübischen Lächeln, das sie so sehr an ihm liebte. Ohne die Tür zu öffnen, schwang er sich aus dem Fahrersitz und kam um das Fahrzeug herum zu ihr. Er griff nach ihrem Gepäck und legte es neben seine lederne Reisetasche auf die schmale hintere Sitzbank des Oldtimers und öffnete ihr die Beifahrertür. Mit einer Handbewegung forderte er sie zum Einsteigen auf und setzte sich neben sie ans Steuer.

»Pünktlich wie eine Schweizer Uhr!«, scherzte er und gab ihr einen zärtlichen Kuss.

Sie musste lächeln. Normalerweise fuhr er mit seinem unscheinbaren Kombi einer japanischen Marke durch die Stadt. Vom Frühling bis in den Spätherbst holte er bei einigermaßen trockenem Wetter mindestens einmal pro Woche den Oldtimer aus der Garage. Der alte Mercedes SL aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war sein großer Stolz, dem er auch einen großen Teil seiner meist karg bemessenen Freizeit widmete. Mit dem von ihm sorgfältig in Schuss gehaltenen Fahrzeug hatten sie manche schöne Tour durch das Appenzellerland oder den Bodensee entlang gemacht. Entweder sprachen sie sich vorher ab, wohin die Ausfahrt führen sollte, oder er überraschte sie mit einer Fahrt ins Blaue, die abends irgendwo in einem schönen Boutiquehotel im Hinterland des deutschen oder österreichischen Bodenseeufers oder in einem kleinen Dorf im Thurgau endete.

Das Wellnesshotel Seebad lag, eine knappe Viertelstunde Autofahrt von Sankt Gallen entfernt, direkt am Ufer des Bodensees. Keller hatte an diesem Wochenende Pikettdienst. Er durfte sich nicht zu weit vom Stützpunkt der Kripo entfernen, um im Bedarfsfall rasch einsatzbereit zu sein. Die kurze Fahrt im offenen Cabrio ließ bei beiden rasch so etwas wie Feriengefühle aufkommen. Mit jedem Kilometer, den sie dem großen See entgegenfuhren, lösten sich die Alltagssorgen ein wenig mehr in der warmen Septembersonne auf. Robert steuerte den Wagen schwungvoll in die Zufahrt zum Hotelportal, und beiden war, als fiele bereits jetzt der Stress von ihnen ab.

Der Hotelportier eilte ihnen aus der Lobby entgegen und öffnete Lea die Wagentür. »Willkommen, Frau Keller«, und, mit einem Blick zu Robert, »Herr Keller! Schön, dass Sie wieder einmal bei uns sind.«

Sie waren über die vergangenen Jahre viele Male gemeinsam ins Seebad gekommen, und das Hotelpersonal ging der Einfachheit halber davon aus, dass sie ein Ehepaar mit gleichem Namen waren. Da Lea bei ihrem ersten Besuch mit »Frau Keller« angesprochen wurde, hatte Robert sie fragend angesehen. Sie hatte nichts gesagt und ihm nur kurz zugelächelt. Seither wurde sie hier wie selbstverständlich als seine Frau angesprochen, ohne dass einer von ihnen sich je bemüßigt gefühlt hätte, das zu korrigieren. Zumindest für Lea entsprach es auch dem, was sie fühlte.

Der Portier nahm die beiden Gepäckstücke aus dem Auto und meinte mit einem fragenden Blick: »Direkt aufs Zimmer, nehme ich an?«

Keller nickte und übergab ihm den Autoschlüssel. »Bitte in die Tiefgarage. So können wir das Verdeck offen lassen.«

Gemeinsam gingen sie zur Rezeption, wo sie ebenfalls als Stammgäste begrüßt wurden. Sie erhielten umgehend den Batch zu ihrem Lieblingszimmer, einer schönen Juniorsuite mit einem kleinen Balkon direkt zum See. In ihrem Zimmer wartete das Gepäck bereits auf sie. Lea öffnete sogleich die beiden Fensterflügel und trat auf den Balkon. Robert stellte sich hinter sie und umarmte sie zärtlich. Sie streckte ihre Arme in die Höhe und seufzte wohlig, während ihr Blick über den See hinüber zum deutschen Ufer ging, das noch von der Sonne beleuchtet wurde, und weiter zu den Vorarlberger Alpen. Die für diese Gegend typische Föhnstimmung ließ in der trockenen Luft alles zum Greifen nah erscheinen.

»Sooo schön! Ich freue mich riesig!«, seufzte Lea glücklich. Museum, Ausstellung und Pendenzenliste schienen in einer weit entfernten Welt zu liegen.

Sie packten die wenigen Kleider und Utensilien, die sie für das Wochenende mitgenommen hatten, in den Wandschrank und brachen sogleich auf zu einem ersten langen Spaziergang, der sie bis hinauf zum kleinen Hafen von Arbon führte. Erst zum Nachtessen kamen sie ins Hotel zurück.

Das Wochenende war wie immer viel zu schnell vergangen. Zuerst machten sie eine lange Wanderung im Rheintal, dann hatten sie den Rest des Samstags im luxuriösen Spa des Hotels verbracht. Abends hatten sie auf der Hotelterrasse eines der lokalen Fischgerichte genossen, für die das Hotelrestaurant berühmt war, begleitet von einer guten Flasche aus einem kleinen Weingut im Rheintal. Auch den Sonntagmorgen waren sie gemütlich angegangen. Ein wenig ausschlafen, das gemeinsame lustvolle Erwachen, eine ausgedehnte Joggingrunde das Seeufer entlang und zum Sonntagsbrunch zurück ins Hotel – das war fast ein Ritual, das sie bei den meisten ihrer gelegentlichen Auszeiten hier zelebrierten.

Lea blickte von ihrem Frühstücksteller auf, um bei einer der Kellnerinnen für sich und Robert einen weiteren Espresso zu bestellen. Ihr Blick fiel auf einen groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann in einem hellen Anzug, der ganz hinten beim Eingang zum Frühstücksraum stand. Mit leicht zusammengekniffenen Augen blickte er nervös durch den Saal und schien jemanden zu suchen. Sie erkannte Lorenzo Berger, den Hoteldirektor. Ihre Blicke kreuzten sich. Offensichtlich suchte er sie oder Robert, denn sobald er sie erkannt hatte, kam er mit raschen Schritten direkt zu ihrem Tisch, ohne erst nach rechts und links die anderen Gäste zu begrüßen, an denen er vorbeilief, wie er das sonst jeden Morgen zu tun pflegte.

Erst als er fast unhöflich nahe direkt neben ihrem Tisch stand, nahm ihn auch Robert wahr, ließ die Zeitung sinken und blickte über den Rand seiner Lesebrille fragend auf. Ehe er etwas sagen konnte, beugte sich der Direktor zu ihnen hinunter. Er war unübersehbar aufgeregt.

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Keller!«

Mit einem kurzen Blick schloss er auch Lea in die Entschuldigung mit ein. Beide blickten den Direktor fragend an.

»Könnten Sie vielleicht mit mir hinauskommen?«, bat er Keller mit leiser Stimme, offensichtlich darauf bedacht, nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste zu erregen.

Robert zog erstaunt und fragend die Augenbrauen nach oben.

»Ist etwas passiert?«

Der Direktor ließ die Frage im Raum stehen. »Bitte kommen Sie! Ich erzähle es Ihnen draußen.«

Keller legte seine Serviette auf den Tisch. Er warf Lea einen entschuldigenden Blick zu und folgte dem Direktor hinaus in die Lobby des Hotels. Einige der Gäste, an denen sie vorbeieilten, hoben kurz den Kopf und schauten ihnen nach, ehe sie sich wieder ihrem Frühstück widmeten. Die junge Frau an der Rezeption lächelte Keller routinemäßig zu, während sie verfolgte, wie die beiden Männer aus dem Frühstücksraum kamen und durch die Lobby liefen. Berger gab immer noch keine Erklärung ab. Er warf Keller nur einen Blick zu und wies mit dem Kopf auf die geschwungene Treppe, die von der Rezeption hinauf in die Zimmeretagen führte.

»Wir gehen in den ersten Stock!«

Er schien keine Zeit zu haben, den Gästelift zu benutzen, und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Mit einer Handbewegung forderte er Keller erneut auf, ihm zu folgen. Oben angekommen, ging er wortlos den mit einem weichen blauen Teppich ausgelegten Flur hinunter. Der Flur war leer, auch keines der Zimmermädchen, die um diese Zeit meist mit den Servicearbeiten in den Gästezimmern begannen, war zu sehen. Nur ein einsamer Servicewagen stand an der Wand zwischen zwei Zimmertüren. Im hinteren Teil des Flurs war die Tür zu einem der Gästezimmer einen Spaltbreit geöffnet. Vor dieser Tür blieb der Direktor stehen und blickte um sich, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sie sehen konnte. Er klopfte kurz zweimal. Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß er die Tür auf und winkte Keller, ihm ins Zimmer zu folgen.

Mit einem in vielen Berufsjahren geschulten Blick scannte Keller das Zimmer, kaum war er hinter dem Hoteldirektor durch die Tür getreten. Von seiner Dimension und Einrichtung her war es weitgehend identisch mit demjenigen, das er und Lea eine Etage höher bewohnten. Ein Grand Deluxe Superior Room, wie es im Hotelprospekt etwas großspurig bezeichnet wurde. Zwei große, fast raumhohe Fenster öffneten den Blick auf den in der späten Morgensonne glitzernden See. Einer der Fensterflügel stand offen. Er war der Zugang zum Balkon, der mit zwei Korbstühlen und einem kleinen Tischchen möbliert war. Die leichte Seebrise hatte das Fenster aufgestoßen und blähte die raumhohen Vorhänge, die noch vom gestrigen Abendservice zugezogen waren. Ein marineblauer Wollteppich bedeckte den Zimmerboden. Die weiß tapezierten Wände waren im unteren Drittel mit dunkel gebeizten Kirschholzpaneelen verkleidet. Aus dem gleichen Holz war auch die Bettstatt des Doppelbetts gefertigt. Ein kleiner Salontisch stand inmitten einer Sitzgruppe aus Sofa und zwei breiten Sesseln. Gleich neben der Eingangstür war ein ebenfalls aus Kirschholz gefertigter Kleiderschrank in die Wand eingelassen. Eine Kommode mit drei Ausziehschubladen vervollständigte die Ablagemöglichkeiten für die Gäste. Auf dem Salontischchen stand ein silberner Kühler, schräg darin eine entkorkte Flasche Krug Champagner, um deren Hals eine weiße Serviette drapiert war. Eine halb volle Flute stand neben der Flasche. Bläschen perlten keine mehr in der gelblichen Flüssigkeit. Der geöffnete Champagner, notierte Keller bei sich, musste seit Längerem dagestanden haben.

Der Hoteldirektor hatte bisher kein Wort gesagt. Er trat ein wenig zur Seite und gab Keller den Blick auf das große Doppelbett frei. Immer noch wortlos wies er mit der Hand auf das Bett, in dem eine Frau lag. Sie war nackt, hatte nur das Bettlaken über ihren Unterleib gezogen. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, die Frau schlafe. Das linke Bein ragte über die Bettkante hinaus, das Knie leicht abgewinkelt. Die Laken waren zerwühlt, die leichte Daunendecke wie achtlos auf die andere Bettseite geworfen. Auch die linke Hand hing über die Bettkante, die Finger zusammengekrampft, als wollten sie mit Gewalt etwas festhalten. Der Kopf der Frau war Keller zugewandt. Ihre weit aufgerissenen Augen schienen durch ihn hindurch ins Leere zu blicken. Der Mund stand halb offen, der Unterkiefer war leicht herabgefallen.

Es war offensichtlich, dass die Frau nicht schlief, sondern tot war.

Kapitel 4

Gleich nach dem Betreten des Zimmers hatte Kellers Denken und Handeln aus dem Modus des Wochenendgastes in denjenigen des Kriminalkommissars gewechselt. Er war seit 30 Jahre Polizist. Den größten Teil dieser Zeit hatte er bei der Kriminalpolizei verbracht und im Verlauf seiner Karriere eine Vielzahl von Funktionen und Abteilungen kennengelernt. Vor einigen Jahren hatte er die Leitung der Gruppe Gewaltverbrechen übernommen. Vor einer Leiche zu stehen, war keine Überraschung für ihn, sondern gehörte sozusagen zum Beruf. Auch wenn es in der ruhigen Umgebung der Stadt, in der er seinen Dienst tat, natürlich nicht alltäglich war, zu einer Toten gerufen zu werden. Erst recht nicht, wenn die Leiche nackt im Bett eines Luxushotels lag.

Rasch trat er zum Bett, kniete sich neben die Frau und ergriff das herabhängende Handgelenk. Der Tod musste bereits vor einem längeren Zeitraum eingetreten sein, denn ihre Hand fühlte sich kühl und etwas sperrig an. Den genauen Todeszeitpunkt würde später der Gerichtsmediziner feststellen. Er hob für einen Moment das Laken und musterte den Körper der Toten. Etwa 40 Jahre alt, schätzte er bei sich. Sie war schlank, mit gut trainierter Muskulatur. Abgesehen von den Bikinizonen war ihre Haut leicht gebräunt, schön gleichmäßig, als hätte sie regelmäßig ein Solarium besucht oder eine jener Cremes benutzt, die eine dezente Tönung der Haut bewirkten. Spuren einer Gewaltanwendung vermochte er bei dieser ersten kurzen Musterung nicht zu entdecken.

Er ließ das Laken wieder auf ihren Körper fallen und inspizierte das Bett und dessen unmittelbare Umgebung. Es war ein extrabreites Doppelbett, ein Boxspring-Modell, das auch er und Lea in ihrem Zimmer im oberen Stock hatten, mit einer Kingsize-Matratze und zwei Garnituren von Decken und zwei Kissen. Kissen und Daunendecke auf dem Teil des Bettes neben der Toten schienen unberührt zu sein, so wie das Zimmermädchen sie bei der Vorbereitung des Raumes für den nächsten Gast hinterlassen hatte. Routinemäßig notierte er im Kopf, dass wahrscheinlich niemand neben ihr gelegen hatte. Neben dem Kissen lag ein aufgeschlagenes Taschenbuch. Kellers Blick streifte kurz den Umschlag. Extra Vergine, der Aufmachung des Taschenbuchs nach nicht ein Buch über das gleichnamige italienische Olivenöl, sondern ein Kriminalroman. Der Name des Autors sagte ihm nichts. Er war kein großer Bücherleser, von Fachliteratur einmal abgesehen. Und Krimis las er, im Unterschied zu Lea, überhaupt nicht. Verbrechen hatte er genug in seinem Berufsalltag.

Auf dem Nachttischchen neben der Toten stand eine Leselampe. Ihr Licht war angeknipst und auf den Kopf der Toten gerichtet. Keller vermutete, dass sie, nachdem sie sich ins Bett gelegt hatte, wahrscheinlich noch im Buch, das neben ihr lag, gelesen hatte oder zumindest hatte lesen wollen. Neben der Lampe stand eine geöffnete, aus glänzendem Karton gefertigte Schachtel, in der ein quadratisches Schokostückchen lag. Eines der beiden Fächer für die Schokostücke war leer. Keller kannte die Schachtel. St. Galler Spitzen hießen die Pralinen, von denen eine kleine, zwei Stückchen enthaltende Schachtel jedem neu ankommenden Gast als süßes Willkommensgeschenk aufs Zimmer gelegt wurde. Die rote Banderole, mit der die Schachtel verschlossen war, lag am Boden vor dem Nachtkästchen, ebenso der Deckel mit der Aufschrift »St. Galler Spitzen«. Keller ergriff nochmals die kalte Hand der Toten. Die Kuppen von Daumen und Mittelfinger zeigten mit bloßem Auge erkennbare braune Spuren, die vermutlich von der Schokolade stammten. Aber das würden die kriminaltechnischen Untersuchungen der Spurensicherung bestätigen oder widerlegen müssen.

Seit Keller das Zimmer betreten hatte, waren erst wenige Minuten vergangen. Er drehte sich zum Hoteldirektor, der inzwischen neben der Sitzgruppe stand und ihn anblickte. Erst jetzt nahm er wahr, dass hinten im Zimmer noch eine Person war. Keller erkannte Stefanie, die Frau des Hoteldirektors. Bei den bisherigen Aufenthalten, die er sich zusammen mit Lea im Hotel gegönnt hatte, hatten sie rasch bemerkt, dass sie die gute Seele des Hotels war, die den Betrieb mit straffer Hand führte und leitete, während ihr Mann mehr für die repräsentativen Aufgaben und den Kontakt mit den Gästen im Speisesaal und in der Bar zuständig war. Eine Frau, die mit beiden Füßen auf dem Boden stand, so hatte er sie immer eingeschätzt. Sie war ihm und Lea auf Anhieb sympathisch gewesen. Er wusste, dass sie Appenzellerin war, ein Exemplar jenes Völkchens, das ein wenig mundfaul, aber keineswegs auf den Mund gefallen war und mit Fremden ohne Anlass nur gerade so viel redete, wie es unbedingt notwendig war.

»Was ist passiert?«, wandte Keller sich an die beiden.

Berger zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Wir wissen es auch nicht.« Er zeigte mit der Hand auf das Bett mit der Toten. »Das Zimmermädchen hat sie so gefunden, wie sie hier liegt.«

»Wann war das?«

»Vor etwa einer halben Stunde. Sie wollte wie jeden Vormittag das Zimmer machen, solang die Gäste noch beim Frühstück sitzen. Als sie das hier«, er zeigte mit dem Kinn auf das Bett, »gesehen hat, ist sie aus dem Zimmer gelaufen und hat sogleich Stefanie informiert. Meine Frau hat mich geholt, ich war gerade unten in meinem Büro. Wir kehrten zusammen hierher ins Zimmer zurück. Es war uns sogleich klar, dass die Frau tot ist. Da ich wusste, dass Sie Gast bei uns sind, und vermutete, dass Sie gerade beim Frühstück sitzen, bin ich sogleich zu Ihnen gekommen.«

Keller warf Stefanie einen Blick zu, die mit einem angetönten Nicken die Ausführungen ihres Mannes bestätigte. Beide schienen verstört, der Schrecken stand ihnen ins Gesicht geschrieben. »Ich hoffe, niemand hat hier etwas berührt oder gar verändert«, bemerkte er.

Sie verneinten und bestätigten, dass das auch für das Zimmermädchen gelte, das in seiner Panik gleich wieder aus dem Zimmer gestürzt sei.

»Wer ist die Tote?«, wollte Keller wissen.

Der Blick, den die beiden für Sekundenbruchteile austauschten, entging ihm nicht. Diesmal beantwortete Stefanie seine Frage.

»Mia Schneider. Eine Textildesignerin. Sie arbeitet seit vielen Jahren oben in der Stadt bei der Vadiana. Soviel ich weiß, ist sie dort auch Mitglied der Geschäftsleitung.«

Keller hatte inzwischen sein schmales Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts geklaubt und kritzelte ein paar Stichworte hinein. Anschließend knipste er, mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit, mit dem Handy einige Bilder vom Zimmer und der Toten. Er musste sowieso gleich das Team der Spurensicherung aufbieten, das den Raum professionell untersuchen und fotografieren würde.

»Sie kennen die Frau?«, meinte er fragend zu Stefanie, die wie ihr Mann weiterhin abwartend neben der Zimmertür stand und ihm bei seinen Verrichtungen zugeschaut hatte.

»Kennen ist zu viel gesagt. Ich weiß, wer sie ist.« Sie wies mit dem Kopf auf ihren Mann. »Fragen Sie Lorenzo. Der kennt sie besser.«

Keller glaubte, einen leichten Unterton von Aggressivität in ihrer Stimme zu hören. Er blickte zu Berger, der mit den Schultern zuckte.

»Sie war öfters Gast bei uns«, antwortete der Hoteldirektor. »Sie ist eine Designerin. Wir haben vor einigen Jahren das Hotel modernisiert, und sie hat uns mit einem guten Gespür für Stil und Harmonie bei der Inneneinrichtung beraten. Seither kommt«, er verbesserte sich sogleich, »kam sie oft für ein Wellnesswochenende zu uns.«

»Allein?«, wollte Keller wissen.

»Meistens ja.«

Stefanie mischte sich ein. »Einige Male war sie mit einem jungen Typen hier, auch aus Sankt Gallen. Von ihm wissen wir nicht viel. Scheinbar hat er ein kleines Unternehmen, das sich mit irgendwelchen Technologien in der Textilproduktion befasst. Vielleicht ihr Freund. Übernachtet hat er jedenfalls nie bei uns.«

»Und gestern?«

»Gestern ist sie alleine gekommen.«

»Ist Ihnen etwas an ihr aufgefallen? Hat sie ein in irgendeiner Weise auffälliges Verhalten gezeigt? Oder war sie krank?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Nein, sie war wie immer«, meinte Berger. »Ob sie krank war, wissen wir nicht. Zumindest nicht so, dass es aufgefallen wäre. Natürlich können wir nicht in unsere Gäste hineinsehen.«

Keller drehte sich wieder der Toten zu. Sie hatte ein schönes, ebenmäßiges und sehr gepflegtes Gesicht. Vor dem Zubettgehen hatte sie sich abgeschminkt, man konnte die ersten feinen Falten auf der Stirn und um die Augen sehen. Ihre halblangen schwarzen Haare waren zu einer gerade mal wieder modernen Pagenfrisur geschnitten. Die weit geöffneten Augenlider und die stumpf blickenden, leicht mandelförmigen Augen hatten wahrscheinlich den Eingriff eines Schönheitschirurgen hinter sich. Wie er vorhin festgestellt hatte, war sie schlank und hatte einen für ihr Alter straffen und muskulösen Körper. Schmuck trug sie keinen. Auf dem Nachttischchen sah Keller zwei Ohrstecker mit je einem kleinen Brillanten, die sie offenbar vor dem Zubettgehen dort deponiert hatte. Ebenfalls auf dem Nachttischchen lag eine Geldbörse aus feinem braunem Leder. Ohne sie zu öffnen, sah er, dass sie mehrere Hunderterscheine enthielt, deren oberster Rand sichtbar war. Diebstahl, dachte er bei sich, war offenbar nicht das Motiv des Mordes. Falls es überhaupt ein Mord war, korrigierte er sich sogleich.

Er ging hinüber zur einen Spaltbreit offen stehenden Badezimmertür und ging ins Badezimmer. Auf dem Waschtisch standen die üblichen Kosmetikutensilien einer Frau mittleren Alters. Neben der gläsernen Dusche lag ein achtlos auf den Boden geworfenes weißes Frottiertuch. Es war trocken, wie sein rascher Kontrollgriff zeigte.

Etwas Auffälliges konnte er auf den ersten Blick nicht erkennen. Er ging zurück ins Zimmer, nahm sein Handy aus der Hosentasche und drückte den Code für den Pikettdienst des Kommissariats. Der diensthabende Beamte meldete sich. Keller informierte ihn kurz über den Sachverhalt und beauftragte ihn, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Danach wandte er sich wieder dem noch immer im Hintergrund des Zimmers wartenden Ehepaar zu.

»Ich muss Sie bitten, das Zimmer zu verlassen. Das Team der Spurensicherung und der Amtsarzt werden demnächst hier eintreffen. Die Kollegen werden die weiteren Untersuchungen und Abklärungen übernehmen.«

Die beiden nickten. Ehe Berger hinaus auf den Flur trat, fragte er Keller mit gedämpfter Stimme: »Was meinen Sie, wie ist sie gestorben?«

Keller warf einen letzten Blick auf die Tote und hatte das Gefühl, ihr leerer Blick folge ihm, während er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. »Keine Ahnung«, meinte er. »Bis jetzt wissen wir nur, dass sie tot ist. Nach einer Gewalteinwirkung sieht es nicht aus. Aber bei einem Todesfall einer Person in ihrem Alter kann man nicht einfach von einer natürlichen Todesursache ausgehen.«

Sie gingen zurück zur Treppe, die zur Lobby und zur Rezeption führte. Ehe sie die Stufen hinunterstiegen, fasste Stefanie Keller am Ellenbogen und hielt ihn zurück. »Bitte«, fragte sie leise, »können wir das so diskret wie möglich behandeln? Es müssen nicht alle Gäste mitbekommen, dass wir eine Leiche im Hotel haben!«

»Wir geben uns Mühe, unsere Arbeit so unauffällig wie möglich zu verrichten«, versprach Keller. »Geheim halten können wir die Sache kaum. Bald kommen drei, vier Leute des Technischen Dienstes, teils in weißen Schutzanzügen, zusätzlich ein Gerichtsmediziner. Später werden wir einen Sarg und einen Leichenwagen brauchen. Und wir werden nicht darum herumkommen«, fügte er hinzu, während sie das Foyer erreichten, wo die ersten Gäste nach dem Frühstück am Auschecken waren, »möglichst rasch zumindest die Gäste der ersten Etage nach auffälligen Wahrnehmungen zu befragen.«