Saphirgeflüster - Stephanie Tölle - E-Book

Saphirgeflüster E-Book

Stephanie Tölle

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Beschreibung

Ein Anhänger aus Saphir. Erdrückendes Schweigen. Und ein streng geheimer Text, der alles verändert. Saphira führt ein Leben im Schatten. Auf der Flucht vor dem mächtigen Hochmagier wird sie vor die gefährlichste Aufgabe ihres Lebens gestellt: Die Erfüllung einer uralten Prophezeiung. Warum musste die Tochter des Hochmagiers sterben? Und was hat es mit dem seltsamen Schmuckstück auf sich, das sie Saphira vor ihrem Tod anvertraute? Saphira bleibt nur wenig Zeit, denn tief verborgen im Eis lauert eine fast vergessene Macht darauf, aus der ewigen Kälte auszubrechen und sie zu vernichten.

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Für all diejenigen,

die nie daran gezweifelt haben,

dass es dieses Buch jemals bis zur Fertigstellung

schafft.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Wie alles begann

Prolog

Auf der Flucht

Es hat begonnen

Septentriones

Lons Spiel

Der gläserne Turm

Neues Bündnis

Prophezeiung

Gefährlicher Auftrag

Das Wissen der Zwerge

Saphiras

Ungewöhnlicher Weg

Abschätzende Blicke

Lons Rache

Zweifel

Yhucas Neuigkeiten

Alter und neuer Plan

Im Nirgendwo

Jäger und Gejagte

Verfluchte Ruinen

Verlorene Spur

Fehlende Erinnerungen

Außer Kontrolle

Blutiges Geheimnis

Beobachter im Dunkeln

Erwachen

Alte Rivalen

Tränenbruch

Warten

Eine Frage des Vertrauens

Am Ziel

Das Experiment

Die List geht auf

In letzter Sekunde

Lons Spione

Teil 2: Die Prophezeiung

Blutrune

Unbequeme Wahrheit

Folgenreiche Entscheidung

Traummagie

Countdown

Erste Lektion

Die Gastfreundschaft der Magier

Die ersten Bannmeister

Lons Wut

Ein Wort für ein Wort

Zweite Lektion

Teuflischer Plan

Herynas

Drei Geschwister

Hinab in die Tiefe

Macht im Dunkeln

Fremde Hilfe

Der erste Schritt

Geheimnisse in der Tiefe

Die Fassade bricht

Flucht

Fiebertraum

Teil 3: Wächterin

Im Auftrag des Primus

Jhtessims Geheimnis

Last der Vergangenheit

Warten

Der vierte

Weißer Krieger

Der zweite Mann

Gewagter Plan

Blut für Blut

Epilog

Wie alles begann

Prolog

Grelle Blitze zuckten durch die Dunkelheit und erhellten den Wald um sie herum in unregelmäßigen Abständen. Stimmen wurden hinter ihr laut.

Keuchend und mit vor Angst laut hämmerndem Herzen beschleunigte Ivrean ihre Schritte. Vor ihren Augen flimmerte es und der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Es fiel ihr immer schwerer, sich zu orientieren. Ihre Lungen brannten vor Anstrengung und ihre Kleider klebten schweißnass an ihrem Körper. Sie war am Ende ihrer Kraft, aber sie wusste, dass sie nicht stehen bleiben durfte.

Nicht jetzt. Nicht hier.

Sie musste Saphira finden. Koste es, was es wolle.

Mit einem Zischen kündigte sich ein Feuerball in ihrem Rücken an. Entsetzt schlug Ivrean einen Haken. Krachend schlug das Geschoss in den Stamm einer mächtigen Tanne ein. Holzsplitter flogen wie Projektile durch die Luft und verfehlten die junge Frau nur um Haaresbreite. Ein weiterer Feuerball nahte heran, wurde aber unerwartet von einer fremden Energie abgelenkt und schlug mit einem dumpfen Knall in den Boden ein. Ein Beben erschütterte den Grund unter Ivreans Füßen. Innerhalb von Sekunden fraß sich das Feuer durch Tannennadeln, Zweige und Unterholz und schlug eine hell leuchtende Schneise in den Wald. Die hoch auflodernden Flammen hielten ihre Verfolger zurück und verschafften Ivrean wertvolle Sekunden.

Gehetzt blieb Ivrean stehen und sah sich nach ihrem Retter um. Eine Gestalt huschte durch die Bäume und kam auf sie zu. Sie war durch ihre Kleidung kaum von ihrer Umgebung zu unterscheiden. Ihr Gesicht lag im Schatten einer weiten Kapuze. Doch das goldbraune, hüftlange Haar und die deutlich durch zwei Schlitze hervor stehenden, langen, spitzen Ohren waren unverkennbar. Bewaffnet mit Pfeil und Bogen trat sie auf Ivrean zu.

»Saphira, dem Himmel sei Dank!« Ivrean hatte kaum ausgesprochen, da hob ihr Gegenüber drohend die Waffe gegen sie.

»Wie hast du mich gefunden, Ivrean? Meint dein Vater immer noch, es wäre klüger für mich, sich ihm und seiner Sippschaft anzuschließen?« Die Worte der jungen Frau waren nur ein wütendes Knurren.

»Das ist unwichtig. Er weiß nicht einmal, dass ich hier bin«, erklärte Ivrean schnell. Abwehrend hob sie die Hände und fixierte Saphira mit einem eindringlichen Blick. »Bitte, du musst mir glauben. Ich bin nicht hier, um dich an die Magier auszuliefern. Du weißt, ich habe dich noch nie belogen. Vertrau mir, so wie du es früher getan hast. Ich bin hier, um dir etwas sehr Wichtiges zu geben und ich befürchte, wir haben nicht viel Zeit.« Ivrean hatte den Satz noch nicht ganz beendet, da ließ Saphira die Sehne ihres Bogens plötzlich nach vorne schnellen. Entsetzt riss Ivrean die Augen auf und duckte sich, doch der Pfeil sauste zischend an ihr vorbei. Mit einem hässlichen Geräusch bohrte sich das Geschoss in den Oberkörper einer dunkel gekleideten Gestalt, die sich unbemerkt an Ivrean herangeschlichen hatte. Röchelnd fiel der Angreifer zu Boden. Er war bereits tot, bevor sein lebloser Körper aufschlug.

Entsetzt taumelte Ivrean zurück. Ein weiterer Pfeil schoss an ihr vorbei und streckte einen anderen Mann nieder. Dann spürte sie, wie sich eine Hand fest um ihr Handgelenk schloss. Es war Saphira.

»Rasch, wir müssen hier weg!« Angstvoll zog sie Ivrean hinter sich her, die ihre Hand nervös abschüttelte.

»Noch nicht«, sagte sie hastig und griff unter ihre Bluse. Eilig zog sie das Kleinod hervor, wegen dem sie den langen, gefährlichen Weg in die Wildnis auf sich genommen hatte und streifte es Saphira über den Kopf.

Stirn runzelnd betrachtete die Ephraym den Anhänger aus Saphir, der an einer dünnen Kette aus Silber baumelte. »Was ist das?«, fragte sie verständnislos.

Ivrean lächelte schwach. »Das ist der Grund, warum ich hier bin. Behüte den Anhänger für mich. Du darfst ihn nur jemandem zeigen, dem du vertraust. Gib ihn niemals aus der Hand und verteidige ihn mit deinem Leben. Versprichst du es mir?« Erwartungsvoll sah sie ihre Freundin an.

Saphira zuckte nur verständnislos mit den Achseln. »Meinetwegen«, erwiderte sie gehetzt. Abgelenkt flirrte der Blick ihrer Katzenaugen ins Dunkel.

Rufe und Fußgetrampel wurden hinter ihnen laut. Erneut eilte eine Hand voll Männer herbei.

»Lauf!« Saphira griff nach Ivreans Hand und stachelte die alte Freundin zu ungeahnter Leistung auf.

So schnell sie konnten, liefen sie einen alten, gewundenen Pfad entlang. Ihre Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Ivrean konnte ihren Atmen hören und spürte die Vibration ihrer Schritte, die unaufhaltsam näher kamen.

»Es ist zwecklos, Saphira. Sie kesseln uns ein!« Ivrean wusste nicht, woher sie die Kraft dazu nahm, die Worte über ihre Lippen zu bringen. Anstatt stehen zu bleiben, ließ Saphira sie los und richtete ihre Waffe in die Dunkelheit. In Sekundenschnelle verschoss sie Pfeil um Pfeil, doch ihre Feinde wurden immer zahlreicher.

»Da vorne ist ein Fluss, Ivrean. Wir müssen springen. Vielleicht können wir sie dadurch aufhalten!« Saphiras Worte hallten seltsam in Ivreans Ohren wider. Plötzlich teilte sich der dichte Nadelwald vor ihnen. Eine alte, in der Mitte zerstörte Brücke aus Stein rückte in ihr Blickfeld. Rechts unten, an einem der Brückenpfeiler stieg Rauch auf. Anzeichen eines, erst vor kurzem aufgegebenen Lagers machten Ivrean stutzig, bis sie begriff, dass Saphira dort vor wenigen Minuten noch Rast gemacht haben musste. Prüfend nahm Ivrean nun die Lücke in dem verwittert anmutenden Bauwerk aus Stein in Augenschein.

»Unmöglich, Saphira. Das schaffen wir nicht!«, urteilte sie schließlich. Mutlos verlangsamte sie ihre Schritte und traf eine folgenschwere Entscheidung.

Verzweifelt griff Ivrean nach dem letzten Funken ihrer Magie und bündelte sie.

Saphira, der ihr Gesichtsausdruck nicht entgangen sein durfte, hielt abrupt inne.

»Ivrean, nein! Tu das nicht!« Ihr entsetzter Schrei kam zu spät.

Schlagartig setzte Ivrean ihre letzte, verbliebene Energie frei und spürte, wie die Wucht ihres Angriffs sie innerlich auseinander riss.

Auf der Flucht

»Verdammt, woher wussten sie es?« Fluchend stemmte Aurys die Arme in die Hüfte und lehnte sich erschöpft an den Stamm einer alten Eiche. Keuchend rang er nach Atem und behielt dabei die fernen Lichter der Stadt im Auge.

Saphira ging nur wenige Schritte von ihm entfernt im Schutz eines Dornenbusches in Deckung. Mit zittrigen Fingern löste sie den Knoten in ihrem Nacken und zog die farbenfrohe Maske von ihrem Gesicht. »Das fragst du ausgerechnet mich?« Amüsiert blitzten ihre katzengleichen, gelben Augen zu ihrem Begleiter hinüber. »Du bist hier der Magier von uns beiden.«

»Aber ich bin es nicht, an dem der Hochmagier Lon derart interessiert ist«, konterte Aurys mit einem liebevoll neckenden Unterton in der Stimme.

Seine Worte entlockten Saphira ein breites Grinsen. »Nein. Hinter dir sind sie nur her, weil euch unüberwindbare Differenzen trennen«, zitierte sie ironisch und lachte.

Aurys hingegen verzog beleidigt das Gesicht. »Lach du nur. Das ist nicht mehr so witzig, wenn es Lon irgendwann tatsächlich gelingen sollte, uns zu fassen. Diesmal war er gefährlich nah dran. Ich bezweifle, dass wir das nächste Mal ebenso glimpflich davonkommen.« Aurys’ Stimme wurde mit jedem Wort ernster.

Unsanft erinnerte er Saphira daran, dass sie mit ihrer Entscheidung beinahe ihr Leben riskiert hatten. Dabei war der Maskenball in der Stadt die Gelegenheit gewesen, sich unbemerkt unter die Schwarzmagier zu mischen und jene Informationen abzufangen, die sie so dringend benötigten.

Saphiras Blick glitt wachsam an der Dornenhecke vorbei in die Senke hinunter, in der sich die Stadt Inauriel hell erleuchtet bis zum funkelnden Sternenhimmel ausbreitete. Die Hochburg der Magier war gut befestigt und noch besser bewacht. Unzählige Türme prägten das markante Aussehen der Stadt, die für ihre prachtvollen Bauten aus weißem Marmor und ihre engen Gassen bekannt war. Die Zitadelle im Zentrum, genannt das Diadem, war trotz all ihrer Schönheit eine einzige, unbezwingbare Festung. Es erschien Saphira wie ein Wunder, dass es ihnen überhaupt gelungen war, bis auf den Maskenball in ihrem Inneren vorzudringen.

»Was machen wir jetzt?« Angestrengt fingerte sie an ihrem Korsett herum und löste die daran befindlichen Schnallen. Erleichtert legte sie es ab und spürte, wie ihre Rippen sich wieder an deren gewohnten Platz bewegten.

»Zuallererst müssen wir aus diesen unglaublich hübschen, aber unpraktischen Sachen raus«, murmelte Aurys vor sich hin. Zielsicher griff er in eine, durch Efeu versteckte, Aushöhlung im dicken Stamm der Eiche und förderte mehrere Bündel zutage. Eins davon warf er Saphira zu, die es geschickt auffing.

Innerhalb von Sekunden hatte sie es auseinandergerollt und schlüpfte in ihre bequemen Alltagskleider. Sie war froh über die Dunkelheit der Nacht, denn sich ohne Sichtschutz vor Aurys umzuziehen, war ihr selbst nach all den Wochen, die sie nun gemeinsam durch die Lande streiften, unangenehm.

Prüfend zupfte Saphira ihre Kleidung zurecht. Für einen Menschen wäre ihre moosgrüne und braune Farbe im kalten Licht der Himmelskörper nicht zu erkennen gewesen. Für Saphira, die zur Spezies der Ephraym gehörte, war es jedoch ein Leichtes. Sie war mit den geschärften Sinnen eines Raubtieres geboren worden und besaß dank ihrer Herkunft trotz ihrer menschlichen Gestalt typische animalische Merkmale. Mit ihren klauenartigen Händen, den hervorstehenden, spitzen Fangzähnen und den gelben Katzenaugen wirkte sie schnell befremdlich und beängstigend auf andere Kermythaner1, die ihren Weg kreuzten.

Flink schloss sie die Schnallen an ihrem Harnisch aus Leder und nahm anschließend Köcher und Bogen, sowie mehrere Dolche und Wurfmesser von Aurys entgegen. Die Waffen waren üppig verziert und verrieten, dass Saphira aus einer der besser gestellten Familien ihrer Spezies stammte. Eilig schulterte sie den Köcher, steckte die Klingen an den Gürtel und richtete sich mit dem Bogen in der Hand zu voller Größe auf. Wachsam sah sie sich erneut um und tastete jeden Zentimeter der nächtlichen Umgebung mit ihren überempfindlichen Katzenaugen ab. Die langen Ohren, die zu beiden Seiten spitz von ihrem Kopf abstanden, zuckten dabei horchend in alle Richtungen.

»Uns ist niemand gefolgt«, schlussfolgerte die Ephraym schließlich. »Jedenfalls hält sich keiner der Magier in unserer Nähe auf. Das ist sehr ungewöhnlich.« Sie runzelte die Stirn.

Aurys lachte leise. »Wundert dich das? Sieh dich doch an! Du bist eine Ephraym! Die meisten Menschen bekommen in ihrem ganzen Leben niemanden wie dich zu Gesicht. Und selbst für einen Magier ist es etwas Besonderes. Lebt deine Spezies nicht überwiegend zurückgezogen in den Wäldern?«

Saphira nickte grimmig. »Ja, das bedeutet aber nicht, dass ich die einzige Ephraym bin, die in einer Stadt groß geworden ist. Lon jagt mich mittlerweile lange genug. Mindestens die Hälfte aller Magier im Land kennt mein Gesicht. Es dürfte sie also nicht mehr überraschen, dass ich die allgemein bekannte Klaustrophobie meiner Spezies nicht teile. Es fällt mir leicht, mich zwischen prachtvollen Gebäuden und in engen Gassen zu bewegen. Sie mussten damit rechnen, dass wir versuchen würden, in Inauriel einzudringen. Der Maskenball war die perfekte Gelegenheit.«

Aurys‘ Gesicht verdüsterte sich. »Unterschätze Lon nicht. Wir konnten den Überraschungsmoment nutzen, um zu fliehen. Der Hochmagier wird schnell herausfinden, weshalb wir dieses Risiko eingegangen sind. Spätestens dann wird er unsere Spur wieder aufnehmen und uns seine Schergen hinterher schicken.« Mahnend sah er sie an.

Saphira seufzte leise. »Wahrscheinlich hast du Recht, wie immer. Es überrascht mich ohnehin, dass offensichtlich nicht einmal die Magier wissen, weshalb der Primus die Wölfe ausgesandt hat«, erwiderte sie mit unverhohlener Enttäuschung.

Aurys schüttelte nur ungläubig mit dem Kopf. »Die Wölfe sind eine Militäreinheit mit streng geheimem Auftrag. Nur unser politisches Oberhaupt, der Primus, darf ihnen Befehle erteilen. Die Identität der einzelnen Wölfe wird deshalb eisern unter Verschluss gehalten. Die Magier mögen ein mächtiges, nach Macht strebendes Volk sein. Aber was den Primus und seine politischen Schachzüge angeht, sind sie genauso unbedeutend wie du und ich.«

Aurys’ Einwand machte Saphira nachdenklich. »Wir müssen es weiter versuchen. Irgendwann wird es gelingen, einen der Wölfe aufzuspüren. Nur sie können uns sagen, warum Ivrean sterben musste.«

»Bist du dir immer noch sicher, dass sie Ivrean in den Tod getrieben haben?«, hakte Aurys nach. In seiner Stimme schwangen Zweifel mit, die auch Saphira nachts wach hielten.

Sie seufzte. »Ich bin mir sicher, das Abzeichen der Wölfe an der Kleidung ihrer Verfolger erkannt zu haben. Lon muss es irgendwie erfahren haben. Ich bin die Einzige, die bezeugen kann, wer Ivrean das angetan hat.«

»Und dennoch willst du ihm nicht helfen«, merkte Aurys spitz an und fing sich dafür einen finsteren Blick seitens der Ephraym ein.

»Wieso sollte ich? Lon hat mein Leben zerstört!« Aufgebracht wandte Saphira sich von ihm ab. Ihr Entschluss stand fest und die Erlebnisse in Inauriel bestärkten sie nur noch mehr in ihrer Überzeugung, das Richtige zu tun.

Aurys nickte schließlich. Ohne ein Geräusch zu verursachen, trat er an ihre Seite und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Unser nächster Anlaufpunkt liegt weit im Norden. Der Tag bricht bald an. Wir sollten aufbrechen«, erinnerte er sie an ihren Zeitplan.

Saphira seufzte und wandte sich zum Gehen. »Ja, das sollten wir.« Mitten in der Bewegung hielt die Ephraym plötzlich inne. Winzige Lichtpunkte, die sich langsam entlang des Hanges auf sie zu bewegten, erregten ihre Aufmerksamkeit. Alarmiert stieß sie Aurys in die Seite. »Da kommen Späher, lauf!«

Fluchend hasteten sie Pfad hinauf, der hinaus auf eine weitläufige Ebene führte. Dort war es unmöglich ihre Verfolger abzuschütteln. Verbissen versuchte Saphira so viel Abstand wie möglich zu gewinnen. Ihr Vorhaben drohte in letzter Sekunde zu scheitern.

»Saphira!« Aurys’ aufgeregtes Zischen ließ die Ephraym abrupt inne halten.

Suchend sah sie sich nach ihrem Gefährten um, doch dieser war nirgends zu entdecken. »Wo bist du?«, flüsterte sie heiser und außer Atem zurück. Ihr Herz raste vor Angst und für einen Moment wurde ihr übel. Sie erschrak, als er unvermittelt vor ihr aus der Dunkelheit auftauchte.

»Hier drüben ist ein Entwässerungsgraben«, flüsterte der junge Mann zurück und zog sie mit sich in eine schmale Mulde.

Er stand nun so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Zögernd sah sie sich um. Es war so dunkel, dass selbst sie nur noch schemenhafte Silhouetten erkennen konnte. Schwarze Wände aus Erde ragten zu beiden Seiten steil in den Nachthimmel auf. Der Graben schien gerade so breit zu sein, dass ihn ein durchschnittlich gebauter Erwachsener durchqueren konnte. Der schwere Geruch von feuchter Erde und Gras drang in Saphiras empfindliche Nase und überdeckte ihre Furcht.

»Er führt direkt nach Norden. Solange wir gebückt gehen, sollten wir unentdeckt bleiben«, erklärte ihr Aurys rasch. Entschlossen streckte der Magier die Hände zu beiden Seiten aus und ging eilig voraus.

Saphira wunderte sich, dass er so schnell voran kam, wagte es jedoch nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Stattdessen tastete sie sich ebenfalls voran und stellte fest, dass die verräterischen Stimmen ihrer Verfolger hinter ihnen zurückblieben. Erleichtert atmete sie auf. Die Anspannung fiel mit jedem Schritt mehr von ihr ab und wich einer beinahe lähmenden Müdigkeit. Saphira gähnte.

Sie waren nun seit zwei Tagen und Nächten auf den Beinen.

Schweigend trottete sie hinter Aurys her, von dem sie in der Dunkelheit nichts außer einem Schatten erkennen konnte. Ihr Zeitgefühl verschob sich und dehnte Minuten zu Stunden aus. Stur starrte sie zu Boden, um nicht über Wurzeln oder Steine zu stolpern. Erst als sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, sah sie wieder auf. Überrascht bemerkte Saphira, dass es am Horizont bereits dämmerte.

Morgenröte durchzog den klaren Himmel. Ein paar Meter entfernt flachte die Grube zu beiden Seiten ab und führte zu einem breiten Bergausläufer, der in dichten Nebel gehüllt wurde. Feucht- kalte Luft schlug den Gefährten vom Gebirge entgegen und ihr Atem blieb in kleinen, weißen Wolken vor ihren Mündern hängen.

»Ist uns jemand gefolgt?« Aurys’ Stimme fuhr wie ein Peitschenhieb in Saphiras Bewusstsein. Er war nur wenige Schritte von ihr entfernt stehen geblieben und blickte sich suchend um.

Erschrocken zuckte sie zusammen und zog frierend ihren Umhang enger um die Schultern.

»Nein, sieht nicht danach aus«, urteilte sie mit einem kritischen Blick zurück. Währenddessen zog Aurys eine zerknitterte Landkarte aus seinem Mantel. Angestrengt versuchte er zu lokalisieren, wie weit sie ihr Umweg vom Kurs abgebracht hatte.

Saphira beobachtete ihn dabei verstohlen von der Seite her. Dunkle Ringe gruben sich in sein Gesicht und ließen ihn älter erscheinen. Der junge Magier wirkte müde, aber bei weitem nicht so erschöpft, wie sie sich fühlte. Saphira fragte sich, ob er heilende Magie verwendete, um seinen Körper bei Kräften zu halten. Bei genauer Betrachtung machte er nicht den Eindruck eines Mannes, der die Strapazen einer unerwarteten Reise hinter sich hatte. Ein seltsames Glitzern trat unvermittelt in seine aquamarinblauen Augen und lenkte Saphiras Aufmerksamkeit von seinem äußeren Erscheinungsbild ab.

»Wir haben Glück. Wenn wir diesem Pfad dort vorne folgen, sollten wir gegen Mittag die nächste Stadt erreichen. Dort können wir übernachten und unsere Vorräte auffüllen«, stellte er schließlich fest.

Saphira war dazu geneigt, ihm zu widersprechen. Innerhalb der Städte schwebten sie in ständiger Gefahr. Ihre Herkunft als Ephraym ließ sich kaum verbergen. Überall, wo sie hinkamen, erregten sie Aufmerksamkeit.

Aurys hat trotzdem Recht. Wir brauchen dringend eine Pause.

»Einverstanden«, murmelte sie nur und zwang sich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen. »Wir sollten uns beeilen.«

Aurys runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts.

Schweigend gingen sie in einen neuen Tag hinein, ihr Ziel fest vor Augen.

1 „Kermyth“ bedeutet „freier Mann“ und ist der Name der Welt, in der Saphira lebt. Eine alternative Bezeichnung sind die „kermythanischen Lande“. Ihre Bewohner werden zusammenfassend und unabhängig von ihrer Spezies als Kermythaner bezeichnet

Es hat begonnen

Lange, feine Risse zogen sich durch Holz und Metall. Winzige Kratzer und der unbeschädigte Schließmechanismus deuteten auf die Anwendung eines Dietrichs hin.

Stirnrunzelnd betrachtete Arina- Ivrean die Einbruchspuren, die das Wachpersonal der Zitadelle derart in Aufruhr versetzt hatten.

»Saphira war außergewöhnlich gut vorbereitet«, urteilte sie schließlich unter Lons wachsamen Augen. »Ein simpler Dietrich genügt nicht, um in das Herz Inauriels einzudringen. Ohne die Hilfe eines Magiers ist das unmöglich.«

Fluchend sprang der Hochmagier von seinem Platz auf. Er hüllte sich in beharrliches Schweigen, während er in dem prachtvollen Nebenzimmer des Ballsaals auf und ab ging.

Die Vorhänge aus rotem Samt und die zahlreichen, mit Gold beschlagenen Möbelstücke schmeichelten der imposanten, dunklen Gestalt des Mannes und hoben seine Stellung noch hervor.

Arina- Ivrean wagte es nicht, ihn anzusehen. Gedämpft drangen Musik, Gelächter und Stimmengewirr an ihre Ohren. Der Maskenball war in vollem Gange. Doch mit der Leichtigkeit und Sorglosigkeit war es für die Familie des Hochmagiers und seine engsten Vertrauten seit der Entdeckung der aufgebrochenen Tür vorbei.

Angespannt beobachtete Arina- Ivrean, wie Lons Schritte immer energischer wurden. Sie kannte die unberechenbare, cholerische Ader des Hochmagiers nur zu gut. Geduldig wartete sie auf eine Reaktion und konzentrierte sich auf ihre Tarnung.

Wenn sie wüssten, mit wem sie es zu tun haben, würden sie mich in der Luft zerfetzen. Die Magier empfinden sich als Elite der Gesellschaft. Sie würden es nie dulden, dass jemand wie ich ihre Autorität untergräbt.

Jhtessims Auftrag zu erfüllen, wurde mit jedem Tag schwieriger.

Als Gestaltenwandlerin war sie es gewohnt, stets das Äußere von fremden Personen anzunehmen. Vollends in Ivreans Haut zu schlüpfen und ihrer Familie vorzugaukeln, sie wäre noch am Leben, war jedoch ein viel schwierigeres Unterfangen. Niemals hätte Arina- Ivrean zu hoffen gewagt, dass Jhtessims Plan, einen Spion in die mächtigste aller Magierfamilien einzuschleusen, funktionieren würde. Sie war das Risiko eingegangen und spielte ihre Rolle so gut, dass Lon sie zu dem großen Ball der Magier in Inauriel mitgenommen hatte.

»Bist du dir ganz sicher, dass Saphira sich das nötige Wissen nicht auch anderweitig angeeignet haben kann?«, hakte Lon unerwartet nach und riss Arina- Ivrean damit abrupt aus ihren Gedanken.

»Ausgeschlossen, Vater. Alle Bücher darüber halte ich unter Verschluss. Saphira war in Begleitung von Aurys. Ich habe ihn trotz seiner Maske eindeutig erkannt«, entgegnete ihm die Gestaltenwandlerin rasch, um auch die letzte Zweifel auszuräumen.

Einige der umherstehenden, hochrangigen Berater des Hochmagiers nickten zustimmend, die übrigen wurden kreidebleich. Ihr Entsetzen war beinahe körperlich spürbar. Der Einbruch in die Zitadelle brachte allen schreckliche Gewissheit.

Eine Kenntnis, die Arina- Ivrean am liebsten weiterhin verschwiegen hätte.

Hilflos sah die Gestaltenwandlerin dabei zu, wie sich der Hochmagier fassungslos wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.

Plötzlich wirkte er blasser als sonst. Die feine Narbe, die sich quer durch sein Gesicht zog, trat ungewöhnlich deutlich hervor. Verbissen presste Lon die Zähne aufeinander und versuchte damit offenbar die Wut zurückzudrängen, die in ihm aufstieg. Knirschend grub er die Hände in die Lehnen seines Stuhls.

Schweigen breitete sich unter ihnen aus. Bevor einer der Anwesenden etwas sagen konnte, klopfte es an der Tür.

»Herein!« Lons Stimmung wurde mit jedem Wort gereizter. Die Tür schwang auf und ein junger Magier betrat den Raum.

Arina- Ivrean beobachtete, wie sich Lons Miene für den Bruchteil einer Sekunde aufhellte.

Es war Agarwrin, sein ältester Sohn, der leise die Tür hinter sich schloss. Der junge Magier war sehr schlank, beinahe schon dürr. Er wirkte zierlich, aber keinesfalls zerbrechlich, obwohl er ungesund blass aussah. Das spitze Kinn stach aus seinem lang gezogenen Gesicht hervor und war glatt rasiert. Strohblondes Haar fiel geschmeidig an seinen markanten Wangenknochen hinab und hob sich in einem sehr starken Kontrast zu seiner nachtschwarzen Kleidung ab. Emotionslos sah er seinem Vater entgegen.

Arina- Ivrean schauderte insgeheim. Sie fragte sich immer wieder, wie Lon den Blicken seines Sohnes standhalten konnte. Seine hellgrauen Augen etwas kaltes, berechnendes an sich. Jedes Mal, wenn sie Agarwrin ansah, hatte sie das unangenehme Gefühl, von ihnen durchbohrt zu werden.

»Die Zitadelle ist gesichert, Vater. Saphira und Aurys ist jedoch die Flucht gelungen«, erstattete der junge Magier Bericht.

Lons Mundwinkel zuckten. »Was haben Saphira und Aurys gestohlen?«, fragte er gefährlich ruhig.

»Nichts. Das ist ja das Merkwürdige daran. Sie haben sich eine Uniform angesehen, einige Magier dazu befragt und sind gegangen.« Agarwrins Worte sorgten für allgemeine Verwirrung. Ein Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden, dem erst mit einer wirschen Handbewegung des Hochmagiers Einhalt geboten wurde.

»Welche Uniform?«, hakte Lon ungehalten nach.

Agarwrin blieb erschreckend gelassen. »Die im geheimen Zimmer«, antwortete er seinem Vater, dessen Augenbrauen sich wie ein Unwetter zusammenzogen.

»Sie suchen also nach den Wölfen des Primus«, schlussfolgerte Lon leise. Erschüttert ließ er den Blick sinken und strich sich nachdenklich über den pechschwarzen Kinnbart.

Arina- Ivrean reagierte prompt auf das Verhalten ihres vermeintlichen Vaters. Mit einem freundlichen, aber angespannten Lächeln schickte sie alle Anwesenden hinaus und schloss sorgfältig die Tür.

Agarwrin versiegelte das Holz und die Wände mit Magie, sodass keines ihrer Worte nach draußen dringen konnte. Für einen Moment blieb es still zwischen ihnen.

Nervös spielte Arina- Ivrean mit dem Anhänger ihrer Kette herum. Sie hatte Lon noch nie dermaßen aufgewühlt erlebt. Wütend ja, aber niemals beunruhigt oder gar besorgt.

»Wieso sollten Saphira und Aurys ausgerechnet nach den Wölfen suchen, Vater?« Agarwrin war der Erste, der es wagte, das Schweigen zu brechen.

Verstimmt sah der Angesprochene auf. »Genau das ist hier die Frage, Agarwrin. Und die einzig mögliche Erklärung dafür wäre, dass sie schon einmal einem der Wölfe begegnet sind. Anscheinend haben sie Fragen, die bei diesem ersten Treffen nicht hinreichend geklärt werden konnten«, erläuterte der Hochmagier leise.

Verwundert zog Arina- Ivrean die Augenbrauen zusammen. »Was könnten die Wölfe für Informationen besitzen, die für eine Ephraym wie Saphira von Bedeutung sind?«, fragte sie verwirrt nach.

Lons Gesicht verdüsterte sich. »Eine Nachricht«, antwortete er so leise, dass seine Kinder ihn beinahe nicht verstanden hätten. »Eine Nachricht, die alles andere in den Schatten stellen wird.«

Noch bevor Arina- Ivrean nachfragen konnte, was Lon damit meinte, klopfte es erneut.

»Herein!« Mit einer unwirschen Handbewegung seitens des Hochmagiers wurde die Tür aufgerissen.

Ein verängstigt wirkender Magier trat ein und verbeugte sich hastig. »Saphira und Aurys sind uns entkommen, Meister«, stammelte er und ihm war anzusehen, dass er sich vor der Strafe für sein Versagen fürchtete.

Lon hingegen blieb überraschend gelassen. »Das war anzunehmen«, entgegnete er lediglich und ließ die Tür donnernd ins Schloss fallen. »Wohin sind sie geflohen?«

»Richtung Norden, Meister.«

»Sehr gut.« Der Oberste Magier nickte zufrieden. »Nördlich von hier befindet sich nur eine einzige größere Stadt. Saphira und Aurys werden versuchen nach Septentriones zu gelangen. Ivrean, Agarwrin, macht Euch bereit für die Abreise. Der Maskenball ist für uns vorbei. Wir brechen so schnell wie möglich auf. Saphira und Aurys dürfen uns kein zweites Mal entkommen.«

Beunruhigt bemerkte Arina- Ivrean, dass ein seltsames Funkeln in seine granatroten Augen getreten war. Gehorsam nickte sie, verbeugte sich und ging Seite an Seite mit Agarwrin zur Tür. Sie überließ es ihrem Bruder, diese zu öffnen, doch als sie über die Schwelle treten wollte, hielt er sie am Arm zurück. Ein eisiger Schauer jagte über ihren Rücken und ihre Muskeln verkrampften sich, während Agarwrin sie ganz nah zu sich heranzog.

»Hast du den Ausdruck in seinem Gesicht gesehen?«, wisperte der junge Magier in ihr Ohr.

Die Gestaltenwandlerin deutete ein Nicken an. Verwundert bemerkte sie, dass Agarwrins Hand zitterte.

»Die Zeit ist gekommen«, flüsterte er in ihr Ohr. »Die Jagd hat begonnen.«

Septentriones

Gähnend sah Saphira aus dem schmutzigen Fenster des Gasthauses hinaus auf die Straße. Draußen herrschte das alltägliche Gedränge. Kermythaner unterschiedlichster Herkunft hasteten durch die gepflasterten, engen Gassen zwischen den zwei- bis dreistöckigen Fachwerkhäusern und gingen eilig ihren Beschäftigungen nach. Saphira beobachtete, wie der Bäcker von gegenüber seine Waren auslegte. Der Töpfer lud seine Keramik von einem niedrigen Karren ab, ehe die kostbaren Gefäße von zwei jungen Burschen ins Innere des Hauses getragen wurden. Ein Mädchen trieb eine Schar Gänse in Richtung Stadtmauer vor sich her und eine alte Frau verkaufte Blumen am Straßenrand.

Saphira seufzte wehmütig. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie dieses alltägliche Treiben vermisst hatte. Noch immer fiel es ihr schwer, zu realisieren, dass ein winziger Gegenstand ihre ganze Existenz auf den Kopf stellte.

Mehrmals am Tag vergewisserte sich Saphira, dass ihr wertvollster Besitz noch immer vor neugierigen Blicken geschützt unter ihrer Kleidung verborgen auf ihrer Brust ruhte. Den Anhänger aus Saphir, der an einer schmalen Silberkette um ihren Hals hing, hatte bislang nur Aurys zu Gesicht bekommen. Und dabei sollte es vorerst auch bleiben.

Wo bleibt Aurys? Ungeduldig blickte Saphira auf die große Standuhr hinter der Theke. Wie lange kann es dauern, unsere Vorräte aufzufüllen?

Er hätte längst zurück sein müssen.

Nervös griff sie nach dem Saphiranhänger und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her, während sie wachsam die Straße im Auge behielt. Je länger sie wartete, desto schwerer wurde es, im Meer der Passanten den Überblick zu behalten und potentielle Gefahrenquellen herauszufiltern.

Sie hatten bewusst ein Gasthaus am Rande der Stadt ausgewählt, in dem viele andere Reisende ihre Nächte verbrachten. Durch einen glücklichen Zufall waren am selben Abend noch zwei andere Ephraym eingetroffen, was dazu führte, dass man Saphira und ihre Artgenossen für Diplomaten des Primus hielt und in Ruhe ließ.

Das war nun zwei Tage her.

Saphira konnte sich bei der Erinnerung daran ein grimmiges Schmunzeln nicht verkneifen. Die Menschen, insbesondere die Städter, waren schon immer leicht an der Nase herumzuführen gewesen. Bei den Magiern verhielt sich das anders.

Etwa die Hälfte aller Schwarzmagier kannte inzwischen Saphiras Gesicht und ausnahmslos alle von ihnen begegneten Vertretern ihrer Spezies mit Misstrauen und Feindseligkeit. Noch schützte ein Gesetz des Primus die Ephraym vor offener Verfolgung und Hetze, doch lange würde selbst das politische Oberhaupt dem Druck der Magier nicht mehr Stand halten können.

Noch ein Grund mehr, so schnell wie möglich zu verschwinden!

Angespannt zog Saphira sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und gähnte in ihren Ärmel. Das Warten war ermüdend. Zwar verhielten sich die Magier in der Stadt bislang unauffällig, doch Saphira war sich der Gefahr zu jeder Zeit bewusst. Sie kannte ihre Tricks und wusste, dass viele von ihnen zu unberechenbaren Handlungen neigten. Achtsam behielt die Ephraym ihre Waffen immer nah bei sich und verhielt sich möglichst unauffällig.

Immer wieder kreisten ihre Gedanken um die Wölfe des Primus. Die Militäreinheit des politischen Oberhaupts war wie ein Phantom. Je mehr sie darüber hinauszufinden versuchten, desto weniger brachten sie in Erfahrung. Ihre Suche nach Informationen wurde mit jedem Tag, der verging, mühseliger.

Die Sonne neigte sich bereits gen Westen, als Saphira plötzlich eine groß gewachsene Gestalt in langen, dunklen Roben ins Auge fiel. Auf einen dicken Stab gestützt erweckte diese gekonnt den Anschein von Gebrechlichkeit, doch Saphira durchschaute die Fassade sofort. Alarmiert sprang sie von ihrem Platz auf, warf ein paar Kupfermünzen für das Bier auf den Tisch und schulterte ihren Köcher. Durch das schmutzige Fenster beobachtete Saphira, wie die Gestalt sich dem Gasthaus näherte. Fluchend nahm sie ihren Bogen zur Hand, warf ein paar Münzen auf den Tisch und trat hinaus auf die Straße.

Unzählige Kermythaner gingen an Saphira vorbei. Ihre Anwesenheit bot der Ephraym einen gewissen Schutz. Kein Magier würde es wagen, sie inmitten dieses Pulks anzugreifen. Kollateralschäden waren den Magiern nicht unbekannt, allerdings bargen sie immer das Risiko, dass ihre Vormachtstellung anschließend von Rebellen in Zweifel gezogen wurde. Und dies versuchten die Magier angesichts der internen Streitigkeiten mit allen Mitteln zu verhindern.

Wachsam sah Saphira sich nach weiteren verdächtigen Personen um, konnte jedoch keine entdecken. Dann mischte sie sich unter die Leute und bewegte sich so unauffällig wie möglich auf die Gestalt in den langen Roben zu. Während sie sich ihrem Ziel näherte, fiel ihr auf, dass die Roben aus überaus wertvollen, seltenen Stoffen gefertigt waren. Wie Seide flossen sie über schmale Schultern, die auf einen zierlichen Körperbau schließen ließen. Ein silberner Schimmer tanzte darüber und formte sich vor Saphiras forschenden Augen zu einem Symbol, das ihr vertraut war.

Erschrocken hielt Saphira die Luft an. Sie konnte gar nicht fassen, was sie sah. Es war das einprägsame Emblem der Wölfe des Primus.

Wie elektrisiert beschleunigte Saphira ihre Schritte und drängte sich eilig durch die Passanten hindurch. Entschieden trat sie der Gestalt in den Weg und riss ihr mit einem Ruck die weite Kapuze vom Kopf.

Darunter kam das erschrockene Gesicht einer Frau zum Vorschein, das ihr gänzlich unbekannt war. Im Bruchteil einer Sekunde holte die Fremde zum Schlag aus, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung.

»Saphira?!« Ihre Augen weiteten sich, als sie ihre Angreiferin erkannte. »Saphira, was um Himmels Willen tust du hier?«

»Woher kennt Ihr meinen Namen?!« Die Worte der Ephraym waren nur ein heiseres Flüstern. Sie war unfähig auch nur einen Muskel zu rühren. Egal was sie auch erwartet hatte: Das hier war anders.

»Das ist unwichtig«, entgegnete ihr die Frau rasch. Saphira wollte etwas sagen, doch die Fremde bedeutete ihr hastig zu schweigen. Gehetzt sah sie sich nach allen Seiten hin um.

Die Ephraym konnte Furcht in ihrem Blick ablesen. Wovor hatte sie Angst?

»Hör mir zu, Saphira. Wir haben wahrscheinlich nicht viel Zeit. Egal was Aurys dir erzählt hat, du darfst ihm nicht vertrauen. Ich bin nicht befugt, dir zu sagen, weshalb. Aber jemand anderes wird dir helfen. Geh’ weiter nach Norden, Saphira. Du musst den letzten Außenposten vor der Nebelwand erreichen. Dort wirst du die Antworten finden, nach denen du so verzweifelt suchst.«

Ein Ruck ging durch den Körper der Frau. Ihre Augen weiteten sich und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Sie bekam keinen Ton heraus. Stattdessen gaben ihre Beine unter ihr nach und sie fiel ungebremst mit einem hässlich dumpfen Geräusch auf das Pflaster. Noch bevor ihr Körper aufschlug, brach etwas in ihrem Blick.

Entsetzt schlug Saphira die Hand vor den Mund und taumelte rückwärts von der Leiche weg. Ein ungewöhnlich breiter, schwarzer Pfeil ragte aus ihrem Rücken heraus und erklärte stumm, was geschehen war.

Saphira kämpfte mit dem Drang zu schreien. In ihrem Kopf drehte sich alles. Übelkeit drohte die zu überwältigen. Tränen rannen haltlos über ihr Gesicht. Geschockt tauchte sie in der Menge unter, ehe sie jemand mit dem Mord an der jungen Frau in Verbindung bringen konnte. Wie in Trance brachte sich in einer der angrenzenden Gassen in Sicherheit. Währenddessen wurden am anderen Ende der Straße Schreie laut.

Fluchend ballte Saphira die Hände zu Fäusten und beschleunigte ihre Schritte. Ohne zurückzusehen, änderte sie mehrmals die Richtung und wählte den nächstgelegenen Weg zum nordwestlichen Stadttor. Sie war fest entschlossen Septentriones zu verlassen, auch ohne Aurys.

Vorsichtig lugte sie um eine Häuserecke. Das Tor war bereits in Sichtweite, doch zu ihrem Entsetzen musste Saphira feststellen, dass es geschlossen wurde. Nun unter massivem Zeitdruck suchte die Ephraym die Stadtmauer nach weiteren Fluchtmöglichkeiten ab. Septentriones war gut gegen Feinde von außen gerüstet. Ebenso unmöglich war es jedoch auch, die Stadt zu verlassen, sobald die Tore geschlossen waren. Ihre Ausweglosigkeit schnürte Saphira mit jeder Sekunde, die verging, mehr die Kehle zu.

»Saphira!« Aurys’ vertraute Stimme ließ die Ephraym erschrocken zusammenfahren. Suchend wandte sie ihre langen, spitzen Ohren in alle Richtungen bis sie das Schlagen von Pferdehufen vernahm. Ein Reiter preschte die Hauptstraße zum Tor entlang.

Es war tatsächlich Aurys. Saphira konnte es nicht fassen. Ihr Herz machte einen unerwarteten Satz. Erleichtert lief sie ihm entgegen.

»Nimm meine Hand!« Ungebremst, in vollem Galopp, streckte der Magier ihr seinen Arm entgegen. Saphira ergriff ihn, stieß sich blitzartig vom Boden ab und schwang sich zu ihm auf den Rücken des Pferdes, das protestierend aufwieherte. Während sie sich an ihn lehnte, fing sie den schwachen, vertrauten Geruch seines Schweißes auf, der über seine Stirn perlte. Mit harter, angestrengter Miene hielt er den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet und Saphira spürte, wie Aurys einen magischen Schutzschild um sie beide wob.

Inzwischen waren auch die Stadtwachen auf sie aufmerksam geworden. Eilig versuchten einige von ihnen das Tor zu schließen, während andere ihre Posten aufgaben und mit gezogenen Schwertern auf die beiden Reiter zu stürmten. Aurys trieb das Tier zur absoluten Höchstleistung und preschte an ihnen vorbei, bevor die bewaffneten Männer ihnen zu nahe kommen konnten.

Wie in Zeitlupe schwangen die Flügel des Stadttors nach innen. Der Spalt zwischen ihnen wurde immer geringer. Saphiras Herz hämmerte wild in ihrer Brust und Angst lähmte ihren Körper. Ihre Flucht stand auf Messers Schneide und drohte allein an wenigen Sekunden zu scheitern. Panik machte sich in ihr breit. Sie wollte die Augen schließen, um den Aufprall nicht mit ansehen zu müssen. Doch sie war nicht schnell genug.

Buchstäblich im letzten Augenblick sprang Aurys’ Pferd durch den bedrohlich engen Türspalt hinaus in die Freiheit. Während das Tor krachend hinter ihnen ins Schloss fiel, tauchten sie ein in das orange- goldene Licht der untergehenden Sonne.

Saphira jauchzte. Ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung spülte den Grund ihrer Flucht wie ein reißender Fluss aus ihrem Gedächtnis fort. Zufrieden bemerkte Saphira, dass Aurys in der Wildnis nördlich von Septentriones Schutz zu suchen gedachte und ließ sie sich in den Rhythmus des Tieres unter sich fallen.

Im Stillen beschloss sie, Aurys nur einen Teil von dem zu erzählen, was der Wolf ihr anvertraut hatte. Der Hinweis der jungen Fremden war bislang ihre einzige Spur. Und diese dachte sie nicht für eine Warnung vor jenem einen Magier aufzugeben, den sie für vertrauenswürdig hielt. Sie war zu neugierig, was sie am nördlichsten und entlegensten Ort Kermyths erwartete.

Schweren Herzens traf Saphira eine Entscheidung.

Sie würde den Außenposten finden. Koste es, was es wolle.

Lons Spiel

»Hast du ihren Gesichtsausdruck gesehen, Vater? Saphira hatte Angst.« Arina- Ivrean bemühte sich, ihre Worte möglichst gleichgültig klingen zu lassen. Sie war verwirrt und ein wenig eingeschüchtert von dem Anblick, der sich ihnen bot. Sie wusste, dass keines der in ihr tobenden Gefühle auch nur den Hauch einer Veränderung in ihr Gesicht zeichnen durfte. Angesichts des Sturms, der in ihrem Inneren herrschte, fiel ihr das überaus schwer.

Nachdenklich sah Lon von dem Leichnam am Boden auf. Er hatte die letzten Minuten damit zugebracht, den leblosen Körper auf Spuren des Todesschützen zu untersuchen. Mehrmals hatte er die Tote hin und her gedreht, schien letztendlich jedoch nichts auffälliges gefunden zu haben.

Arina- Ivreans Vermutung wurde durch ein wütendes Funkeln in seinen, zu Schlitzen verengten, Augen bestätigt.

»Ja, das habe ich. Sie wollte nicht, dass jemand ihretwegen stirbt. Das wollte sie nie«, erwiderte der Hochmagier mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. In seinem Gesicht spiegelte sich Ärger. Seine Augenbrauen hatten sich zu einer dunklen, harten Linie zusammengezogen. Skeptisch sah er sich um und nahm jedes der angrenzenden Häuser genauestens unter die Lupe, bis ihm augenscheinlich etwas Merkwürdiges auffiel.

»Der Täter hat von dort oben geschossen«, schlussfolgerte Lon sachlich. Er deutete auf eins der hohen Giebeldächer.

Arina- Ivrean folgte seinem Blick. Es war ein ganz normales Wohnhaus mit dem entscheidenden Unterschied, dass trotz der eisigen Kälte eins der Fenster im Oberschoss sperrangelweit offen stand. Die Gestaltenwandlerin runzelte zweifelnd die Stirn.

»Weshalb sollte jemand Jagd auf die Wölfe des Primus machen?« Sie konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen. Lons Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

»Das weiß ich nicht. Aber wer immer es auch war, ist das Risiko eingegangen, auch Unbeteiligte zu verletzten. Auf diese Entfernung hätte er sogar Saphira treffen können.« Es machte ihm sichtlich zu schaffen, keine Erklärung für den Vorfall auf Septentriones Straßen zu finden. Unter seiner gewohnt arroganten Art entdeckte Arina- Ivrean plötzlich gut versteckte, fürsorgliche Züge. Dieser Eindruck erlosch augenblicklich, als Agarwrin zu ihnen trat.

Ivreans Bruder sah zerzaust aus und ein langer, bläulich verfärbter Schnitt zog sich über seine Wange. Anscheinend hatte ihn im vollen Galopp einen Ast gestreift. Nur um Haaresbreite hatte die Wunde sein Auge verfehlt. Blut befleckte den hellen Kragen seines Hemdes.

»Saphira und Aurys sind über die nördliche Grenze in unerforschte Wildnis geflohen. Ich konnte ihnen noch eine Weile lang folgen. Danach habe ich ihre Spur verloren«, berichtete der junge Magier frustriert. Erschöpft lehnte er sich gegen eine Hauswand und fuhr sich mit einer eleganten Handbewegung durch das verschwitzt an seinem Kopf klebende, helle Haar.

Arina- Ivrean musterte ihn eingehender und bemerkte alarmiert, dass der rechte Ärmel seines Mantels aufgeschlitzt war. Auch dort blutete er. Agarwrin wirkte insgesamt sehr ramponiert, aber vor allem war er aufgebracht und wütend.

Arina- Ivrean schmunzelte. Anscheinend verspürte Agarwrin weniger den Schmerz seiner Wunden, als die Schmach seines verletzten Stolzes.

Lon fluchte und kickte verdrossen einen herumliegenden Stein von der Straße.

»Nördlich von hier gibt es nichts außer einem Außenposten. Balduin wird sich ihrer annehmen, so wie es vorher gesagt wurde.« Lon verzog das Gesicht, als hätte er einen unangenehmen Geschmack im Mund. »Es gibt nur einen Weg aus dem Zwergenreich hinaus. Balduin wird sie sicherlich auf direktem Wege ins Regierungsviertel zum Primus schicken. Sobald sie dort ankommen, wird es keine Möglichkeit mehr geben, sie auf unsere Seite zu ziehen. Genau das wollte ich vermeiden!« Wütend wandte Lon sich von seinen Kindern ab und entfernte sich einige Schritte.

Arina- Ivrean nutzte die Gunst des Augenblicks, um Agarwrin verwirrt anzusehen.

»Wer ist Balduin?«, zischte sie ihrem Bruder leise zu. Dieser runzelte nur misstrauisch die Stirn.

»Der letzte Zwerg, der vor über zweiundvierzig Jahren das Massaker in den Bergen als Einziger überlebte. Seit dem Untergang seines Volkes lebt er zurückgezogen in der nördlichen Feste«, erläuterte Agarwrin leise. Ein Glitzern in seinen Augen verriet Arina- Ivrean, dass sie auf einen sensiblen Punkt in Familie des Hochmagiers gestoßen war.

»Du bist ihm schon begegnet, vor langer Zeit. Kannst du dich nicht an ihn erinnern, Schwesterherz?«, bohrte ihr Gegenüber weiter nach.

Angestrengt dachte Arina- Ivrean darüber nach, was sie darauf erwidern sollte. Sie war froh, als sich Lon, von einem Geistesblitz erfasst, wieder zu ihnen umdrehte und unerwartet freudig in die Hand klatschte.

»Zeit, mein Sohn. Ganz recht, das ist es! Wir brauchen mehr Zeit.« Eine Euphorie, die Arina- Ivrean nicht teilen konnte, schwang in seiner Stimme mit. Ein Leuchten trat in seine granatroten Augen. Offensichtlich war ihm gerade eine passende Idee zur Lösung ihres Problems gekommen. Aufgeregt winkte er die Geschwister zu sich heran.

»Es gibt nur eine Möglichkeit, Saphira dazu zu zwingen, ihren Weg zu ändern: Ich muss sie direkt und unmittelbar angreifen. Druck hat ihr noch nie geschadet. Wenn wir sie zwingen, zu Balduin zu gehen und dann die Richtung ihres eingeschlagenen Weges zu unseren Gunsten zu ändern, könnte es uns gelingen, sie in den Schoß der Magier zurückzuführen.« Noch während er sprach bückte er sich und hob einen Kieselstein von der Straße auf. Fasziniert drehte er ihn zwischen den Fingern hin und her. Eine angespannte, sowie unangenehme Stille trat ein.

»Darauf würde sich Balduin niemals einlassen«, widersprach Agarwrin schließlich argwöhnisch. Sein Einwand war berechtigt, doch Lon zeigte sich davon unbeeindruckt.

»Ich werde den Zwerg nicht um Erlaubnis fragen, wenn du das meinst, Agarwrin«, wies er seinen Sohn verärgert zurecht. Ein diebisches Lächeln schlich sich auf seine Züge, das jedoch sofort wieder erlosch, als seine Gedanken zu Saphira zurück kehrten. »Aurys hat sich Saphira nicht aus Mildtätigkeit angeschlossen. Er wird sie dazu benutzen, um eine Begnadigung zu erwirken. Nun ist es an der Zeit zu beweisen, wie weit er dafür gehen würde.«

Lons Worte klangen unheilvoll in Arina- Ivreans Bewusstsein wider. Sie ahnte, dass der Hochmagier nun weitaus größere und gefährlichere Geschütze auffahren würde, um Saphira in seine Gewalt zu bringen. Und sie war sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, wie er dieses lang gehegte Ziel nun endlich zu erreichen gedachte.

»Was macht dich so sicher, dass Aurys dein Spiel mitspielen wird?«, hakte Agarwrin zögernd nach. Sein Gesicht war voller Zweifel. Lon lachte leise.

»Nun, in dieser Hinsicht ist er seinem Vater überaus ähnlich«, erwiderte der Hochmagier nur. Ein geheimnisvolles Glitzern hatte sich in seine Augen geschlichen und ein süffisantes Grinsen umspielte seine dünnen Lippen. »Haltet euch bereit. In einer Stunde brechen wir auf.«

Der gläserne Turm

Das Donnern und Tosen des Sturms verklang nur langsam in der Ferne. Der Wind legte sich, bis nur noch abgeknickte Äste und herabgestürzte Bäume an das vorübergezogene Unwetter erinnerten. Dicke, graue Wolken zogen am Himmel über ihnen rasch dahin. Es war dämmrig und die Landschaft wirkte grau und trist. Es regnete, doch mit jedem weiteren Schritt mischten sich Schneeflocken unter die Regentropfen. Das viele Wasser hatte den Fluss anschwellen lassen, den Aurys und Saphira angespannt, aber ohne Zwischenfälle überquerten. Er glich einer trüben, schlammigen Brühe, die an den Ufern bereits zu Eis erstarrte.

Aurys war sehr schweigsam geworden, seit sie die wackelige Brücke an der Grenze passiert hatten. Wie erwartet, war er wenig begeistert von Saphiras Plan gewesen.

Saphira beobachtete ihn verstohlen von der Seite her. Er schien noch immer wütend darüber zu sein, dass sie ihr Pferd am Fluss zurückgelassen hatten. Es war keine leichte Entscheidung gewesen. Die Wassermassen hatten das Ufer und die Brücke derart unterspült, dass sie schon unter dem Gewicht der beiden Kermythaner gefährlich wankte. Saphira war das Risiko nicht eingegangen, das Tier an die Fluten zu verlieren. Seitdem mühten sie sich mit den großen Satteltaschen ab, die sie wie Rucksäcke über ihre Schultern geschnallt hatten. Aurys mochte die Anstrengung im wahrsten Sinne des Wortes als Last verstehen, doch Saphira war froh, genügend Vorräte, Waffen und andere Utensilien dabei zu haben.

Je weiter sie nach Norden kamen, desto kälter wurde es. Der scharfe, pfeifende Wind ließ auch die letzten Regentropfen zu tanzenden Schneeflocken erstarren. Die karge Landschaft um sie herum verwandelte sich langsam in eine unwirklich weiße, grausame Schönheit. Soweit Saphira sehen konnte, breitete sich die Ebene aus verfrorenen, hohen Gräsern und vereinzelten Dornenbüschen bis zum Horizont aus. Die tief hängenden Wolken und das immer dichter werdende Schneetreiben machten die Orientierung schwer. Nach einer Weile spürte Saphira, wie das Gelände zu einer seichten Erhebung anstieg. Hier und da ragte ein kahler, vom Wind gebeugter Laubbaum in das schmutzige Grau des Himmels und ein einsamer Raubvogel kreiste rastlos auf der verzweifelten Suche nach Beute.

Frierend zog Saphira die Kapuze tiefer ins Gesicht, schlug den Kragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels. Insbesondere der schneidend kalte Wind setzte ihr immer mehr zu. Monoton heulte er um die Gefährten herum und machte jeden Schritt nur noch schwerer.

Der Tag war schon weit fortgeschritten. Die Dämmerung setzte ein. Mit jeder Minute wurde es dunkler.

Fragend spähte Saphira zu Aurys hinüber. Sie hatten seit Stunden nicht mehr miteinander geredet. Langsam wurde das Schweigen zwischen ihnen unbehaglich.

Aurys’ Gesicht lag im Schatten seiner Kapuze. Die Ephraym konnte nur seinen Mund erkennen, der zu einer grüblerischen, ernsten Miene verzogen war. Ein harter Zug umspielte seine Lippen, den sie noch nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte.

Saphira schauderte.

Als Aurys ihre forschenden Blicke bemerkte, verschwand der ungewohnte Ausdruck aus seinem Gesicht. Er lächelte schmal und strich die Kapuze zur Seite, um sie anzusehen. In seinen Augen spiegelte sich dieselbe Erschöpfung, die auch Saphira verspürte.

»Es wird langsam dunkel«, schrie der junge Magier gegen die Windböen an. »Wir sollten uns einen Platz zum Rasten suchen.«

Saphira nickte zustimmend. Ihr ganzer Körper fühlte sich mittlerweile steif an und schmerzte vor Kälte. Lange würden sie diese Tortur nicht mehr durchhalten. Suchend sah sie sich um. Zu ihrer rechten rückte die dunkle Front eines dichten Nadelwaldes näher. Zu ihrer linken hingegen wurde das Land immer abschüssiger, karger und trister. Nirgends waren Steine oder Felsformationen zu sehen, die ihnen vor dem eisigen Wind Schutz bieten konnten.

»Wir sollten zwischen den Bäumen nach einer geeigneten Stelle suchen«, schlug Saphira nach kurzer Überlegung vor. Aurys hingegen schüttelte energisch den Kopf.

»Das ist zu gefährlich. Wir könnten uns im Wald verirren und vom Weg abkommen«, widersprach er ihr knapp. Saphira stutzte. Irgendetwas an der Art, wie Aurys seine Worte aussprach, missfiel ihr zutiefst. Ein diffuses Gefühl der Verwirrung und Angst stieg in ihr auf, als sie sich wieder an die Worte des Wolfes in Septentriones erinnerte.

Egal was Aurys dir erzählt hat, du darfst ihm nicht vertrauen.

Seitdem sie die Stadt verlassen hatten und unbeirrt nach Norden vorgedrungen waren, schien sich etwas Mächtiges, etwas Dunkles Aurys’ Geist bemächtigt zu haben. Saphira spürte zunehmend, dass er etwas vor ihr geheim hielt. Zweifel nagten an ihr, insbesondere jetzt, da sich Aurys der einzig vernünftigen Lösung verweigerte.

»Hier draußen werden wir erfrieren«, konterte die Ephraym ungerührt. Ohne den Magier noch einmal anzusehen, stampfte sie durch den Schnee auf den Wald zu. Die letzten, verbleibenden Augenblicke des Tages waren zu kostbar, um sie mit sinnlosen Diskussionen zu verschwenden. Nach wenigen Schritten hatte sie bereits den Waldrand erreicht und tauchte in das Zwielicht zwischen den Bäumen. Der Wind blieb größtenteils hinter ihr zurück. Er hatte nicht die Kraft durch das, mit Schnee beladene, Nadeldach zu dringen.

Geduldig hielt Saphira inne und wartete darauf, dass Aurys ihr folgte. Sie wusste, er würde es tun. Es wäre töricht und dumm gewesen sich der, auch für Magier, tödlichen Kälte weiter auszusetzen.

Ein Rascheln im Unterholz und das knackende Geräusch von zerbrechenden Zweigen gaben Saphira schließlich Recht. Fluchend tauchte Aurys aus dem Dämmerlicht hinter ihr auf. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er wütend darüber, dass Saphira ihn ohne ein weiteres Wort stehen gelassen hatte. Ein Glitzern in seinen Augen verriet seinen Unmut.

Die Ephraym hingegen fand seine Reaktion ziemlich übertrieben. Ihr war nicht klar, weshalb Aurys sich dermaßen aufregte. Sie wollte sein merkwürdiges Verhalten gerade hinterfragen, als das Dröhnen eines Horns sie beide plötzlich zusammenfahren ließ.

»Was war das?« Erschrocken irrte Saphiras Blick durch das Zwielicht des Waldes. Dort rührte sich nichts.

Aurys ging eilig in die Hocke, zog ein trichterförmiges Gebilde aus seiner Tasche und hielt es horchend an den Waldboden. Für einen Moment blieb es still, dann wiederholte sich das Dröhnen.

Saphira hielt angstvoll den Atem an und wartete auf Aurys’ Urteil.

»Magier«, stellte er schließlich fest und sein Mund verzog sich zu einer Grimasse. »Sie müssen unsere Fährte wieder aufgenommen haben.«

Fluchend zog Saphira ihren Kompass aus der Tasche, richtete ihn aus und rannte los. Aurys folgte ihr mit versteinerter Miene.

Bereits nach kurzer Zeit schlug ihr das Herz bis zum Hals und ihr Atem ging keuchend. Anders als Aurys konnte sie sich im Dämmerlicht besser orientieren. Zielsicher bewegte sie sich zwischen den Bäume hindurch, während Aurys hinter ihr mehrmals ins Straucheln geriet und sie aufhielt. Die Signalrufe der Magier kamen unterdessen erschreckend schnell näher. Unwirsch half Saphira ihrem Gefährten wieder auf die Füße und zog ihn hastig weiter. Angst schlich sich in jeden Winkel ihres Bewusstseins.

Wie hatten die Magier sie gefunden?

Je weiter sie in den Wald vordrangen, desto dunkler wurde es. Wurzeln bildeten tückische Stolperfallen und das ohnehin immer dichter werdende Unterholz machte es ihnen schwer, ihr Tempo beizubehalten. Bereits nach wenigen hundert Metern waren sie dazu gezwungen ihre Schritte zu verlangsamen.

Ein Stechen in der Seite raubte Saphira den Atem. Aurys schien es nicht anders zu ergehen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte angelangt.

Angst hielt ihr Bewusstsein gefangen, aber Saphira war nicht dazu bereit, aufzugeben. Horchend stellte die Ephraym ihre spitzen Ohren auf und drehte sie in alle Richtungen.

Das Trampeln von schweren Stiefeln, wie sie die Magier im Allgemeinen zu tragen pflegten, hallte dumpf vom Waldboden wider. Ihre Verfolger waren ihnen dichter auf den Fersen, als Saphira es sich in ihren schlimmsten Befürchtungen ausgemalt hatte. Ihr Herz pochte nun so schnell, dass sie das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Atemlos stolperten sie weiter. Suchend flirrte Saphiras Blick durch die aufkommende Dunkelheit. Ihr stockte der Atem, als sie plötzlich etwas entdeckte, das ihren Augen bisher entgangen war. Zu ihrer Linken ragte zwischen Dornenbüschen und eng beieinander stehenden Tannen eine massive Felsformation in die Höhe. Die tief hängenden Zweige der Bäume warfen einen tiefen Schatten über eine Spalte im Gestein, die gerade breit genug war, das eine schlanke Gestalt hindurch gehen konnte.

Schwer atmend blieb Saphira stehen. Aurys, der nicht damit gerechnet hatte, stolperte unwillkürlich in sie hinein. Er fluchte leise, dann folgte er dem Blick der Ephraym, der starr auf das Gebilde vor ihnen gerichtet war. Zitternd streckte Saphira die Hände nach dem kalten Stein aus und fasste durch die Öffnung ins Ungewisse. Dahinter schien sich ein Hohlraum zu befinden, der groß genug war, dass sie sich vor ihren Angreifern verstecken konnten. Die Ephraym wusste, dass Höhlen in der Wildnis selten unbewohnt waren, aber sie hatten keine andere Wahl. Es war leichter, einen Kampf mit einem wütenden Bären aufnehmen, anstatt mit einem Dutzend Magier.

Ohne weiter darüber nachzudenken, zwängte sie sich durch den Spalt in die Dunkelheit und Aurys folgte ihr. Eng aneinander gedrängt, verharrte sie lautlos und lauschten.

Kaum eine Minute später, brachen mehrere Gestalten durch die Zweige des Waldes. Sie wurden begleitet von mehreren magischen Lichtkugeln, die mit einem leisen Surren durch die Luft schwebten und ihre Umgebung in einen kalten, gleißend hellen Schein tauchten. Die markanten Gesichter von mehreren Magiern tauchten aus der Dunkelheit auf. Nur wenige Schritte von dem Versteck der Gefährten blieben sie stehen.

»Wo zum Henker verstecken sie sich? Saphira war hier und sie hat diesen Ort noch nicht verlassen, das spüre ich!«

Saphira hielt unwillkürlich den Atem an. Ein eisiger Schauer jagte über ihren Rücken. Die Stimme des Magiers kam ihr bekannt vor. Ein weiterer Mann trat in ihr, vom Spalt im Gestein begrenztes, Sichtfeld.

»Wenn ich mich nur auf dein unzureichendes Gespür verlassen würde, wären wir niemals im Stande, sie zu finden«, entgegnete er seinem Gefährten geringschätzig. Saphira erstarrte. Die gereizte Stimme des erschöpft wirkenden Magiers war ihr vertrauter als alles andere: Agarwrin. Ihr Körper versteifte sich.

Tiefe Schatten hatten sich in seine sonst so makellos wirkenden Züge geschlichen und vermittelten ein eindrucksvolles Gefühl von innerer Leere. Dort, wo sie ihn auf ihrer Flucht aus Septentriones mit dem herab hängenden Zweig eines Baumes ins Gesicht geschlagen hatte, war die Wange des jungen Mannes blutig aufgerissen und geschwollen. Hass glitzerte in seinen grauen Augen, während er fieberhaft das Unterholz nach ihr absuchte. Als sein Blick den Eingang der Höhle streifte, zog sich Saphira ruckartig in den Schatten zurück und stieß mit dem Rücken an Aurys. Der Magier legte ihr beruhigend die Hände auf die Arme, doch ihr Herz raste nur noch schneller. Mit angehaltenem Atem horchte sie in die Stille des Waldes hinein. Nichts passierte.

Die Magier wechselten noch ein paar unverständliche Worte miteinander. Dann bemerkte Saphira erleichtert, wie sich die magischen Lichter entfernten. Geräuschvoll schlugen sich ihre Verfolger ins nahegelegene Unterholz, um die Suche nach ihnen fortzusetzen. Mit jedem Geräusch, das im nächtlichen Wald verklang, fiel die Anspannung mehr von Saphira ab.

»Das war verdammt knapp!« Aurys war der Erste, der seine Sprache wiederfand.

Saphira zuckte unwillkürlich zusammen. Seine Stimme war so leise und so nah an ihrem Ohr, dass sie seinen Atem an ihrem Hals spüren konnte. Aurys’ vertrauter Geruch stieg Saphira in die Nase und in ihrem Bauch breitete sich ein nervöses Kribbeln aus. Erneut raste ihr Herz und ihre Muskeln versteiften sich.

Aurys hingegen schien keine Notiz davon zu nehmen. Mit einem einzigen, langen Schritt trat er zur Seite und entzündete ein halbes Dutzend winziger, magischer Flammen über seiner Hand. Flackerndes Licht erhellte seine Züge und Saphira konnte keine Anzeichen dafür entdecken, dass ihm irgendetwas an ihr aufgefallen wäre.

»Lons Männer haben uns erschreckend schnell gefunden«, bemerkte Aurys stirnrunzelnd.

»Da hast du Recht«, stimmte Saphira leise zu. Sie konnte kaum verhindern, dass ihre Stimme merkwürdig belegt und heiser klang. Der verschlossene Ausdruck auf Aurys’ Gesicht machte die Situation nicht besser.

»Wir sollten uns beeilen und von hier verschwinden. Sie werden wiederkommen, wenn sie uns nicht finden. Agarwrin ist nicht dumm. Früher oder später wird er die Höhle ebenfalls entdecken.«

Saphira wollte gerade zustimmend nicken, da entdeckte sie im Licht der magischen Flammen eine treppenartige Struktur im Fels.

»Warte!«, sagte sie schnell und machte vorsichtig ein paar Schritte auf das Gebilde zu. Ein leichter, nach Moder und Erde riechender, kalter Luftzug strich über ihre Haut. Angewidert verzog Saphira das Gesicht.

»Was ist das hier?« Neugierig stieg die Ephraym die Stufen hinab. Eine der magischen Flammen folgte ihr und offenbarte nach wenigen Schritten, dass die Treppe in einen schmalen Gang hinab führte.

»Saphira, warte!« Fluchend eilte Aurys ihr hinterher. Am Klang seiner Stimme nahm Saphira Wut und noch ein anderes Gefühl wahr, das sie nicht konkret einzuordnen wusste. Alarmiert blieb sie stehen und wartete, bis er sie eingeholt hatte.

»Ich halte das für keine gute Idee«, bemerkte der Magier spitz, als er sie erreichte.

Saphira ignorierte seinen Einwand. Sie war zu sehr abgelenkt von dem, was nun vor ihnen lag. Der Gang war keinesfalls natürlichen Ursprungs, sondern eindeutig von fleißigen Bauarbeitern mühsam errichtet worden. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis plötzlich das Licht einer Fackel über den Boden flackerte.

Erschrocken blieben sie stehen. Der Lichtschein wurde rasch heller. Ihm folgte das leise, leicht schlurfende Geräusch zweier Füße, die, den Lauten zu urteilen, eine behäbige Gestalt tragen mussten. Ein großer Schlüsselbund klirrte in der Ferne und der Geruch von altem Öl drang unangenehm in ihre Nase.

Saphira wagte vor Angst kaum zu atmen. Bevor sie auch nur einen Schritt zurück in die Höhle machen konnten, trat plötzlich eine kleine, stattliche Gestalt um die Ecke und blieb abrupt stehen.

Saphira blinzelte überrascht.

Es war ein Zwerg. Sein imposanter, geschickt geflochtener Bart fiel wie rotes Herbstlaub auf seinen sorgfältig gearbeiteten Waffenrock aus Wildleder. Ebenso wie sein wallendes, gewissenhaft gekämmtes Haupthaar, das ihm bis auf die breiten Schultern reichte, war sein Bart bereits von grauen Strähnen durchzogen und zeugte von einem hohen, stolzen Alter. In der einen Hand hielt der Zwerg eine Öllampe, in der anderen eine, reich mit dunkel und geheimnisvoll leuchtenden Edelsteinen besetzte, Axt. Wie elektrisiert glitt der wilde, aber entschlossene Blick des Zwergs unter den rostroten, buschigen Augenbrauen zwischen Aurys und Saphira hin und her. »Potzblitz!« Die Stimme des Zwergs war tief und hatte einen beruhigenden, warmen Klang. Ehrfurcht glimmte in dem alten, klugen Augen auf und die Falten darum herum traten deutlich hervor. Seine Lippen kräuselten sich zu einem zufriedenen Lächeln. »Da seid Ihr ja endlich, Saphira. Ich dachte schon, die Magier wären das Risiko tatsächlich eingegangen, die Prophezeiung zu durchkreuzen.«

Blitzartig riss sie ihren Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil an die Sehne. Drohend richtete sie ihre Waffe auf den Neuankömmling. »Wer seid Ihr und was wollt Ihr von uns?« Scharf nahm sie den Zwerg ins Visier.

Dieser hob beschwichtigend die Hand. »Dafür ist keine Zeit, meine Liebe. Ihr seid spät dran. Eure Verfolger werden Euer Versteck bald entdeckt haben. Ich bin hier, um Euch meine Hilfe anzubieten. Wenn Ihr sie annehmt, kann ich Euch in Sicherheit bringen.«

»Dann habt Ihr mich also erwartet?«

Der Zwerg nickte eifrig. Wie zur Bestätigung seiner Worte drangen Geräusche von oben an Saphiras empfindliche Ohren.

Aurys fluchte. Seine Körperhaltung verriet, dass er alles andere als begeistert davon war, ihr beider Leben einem Fremden anzuvertrauen.

Aus den Augenwinkeln nahm Saphira wahr, wie für den Bruchteil einer Sekunde ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht huschte, den sie nicht zu deuten wusste. Schlagartig erinnerte sie sich an die Worte der jungen Frau, die ihr in Septentriones begegnet war.

Du musst den letzten Außenposten vor der Nebelwand erreichen. Dort wirst du die Antworten finden, nach denen du so verzweifelt suchst.

Hatte sie damit etwa diese seltsame Begegnung gemeint?

Saphira hatte keine Zeit, ausführlich darüber nachzudenken. Ohne ihren Gefährten mit einzubeziehen, traf sie eine folgenschwere Entscheidung. »Einverstanden. Geht voraus, Herr Zwerg.«

So schnell es die kurzen Beine des Zwerges vermochten, lief er voraus und das Licht seiner Laterne entfernte sich.

Saphira schulterte Pfeil und Bogen, vergewisserte sich jedoch, dass einer ihrer Dolche immer griffbereit und vor neugierigen Augen verborgen in ihrem Ärmel steckte. Dann folgte sie ihm ohne zurück zu sehen und bemerkte erleichtert, dass Aurys nicht einen Zentimeter von ihrer Seite wich. Seine direkte Nähe fühlte sich für Saphira immer noch eigenartig an. Es kostete sie viel Willenskraft den verwirrenden Gedanken niederzukämpfen, dass er ihr unter Umständen mehr bedeutete, als sie sich selbst eingestehen wollte.

Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich innerlich selbst. Aurys ist ein treuer Freund und Gefährte, mehr nicht. Du hättest dir keinen schlechteren Zeitpunkt für solch sentimentalen Ballast aussuchen können.

Das stimmte. Trotzdem konnte sie die geheimnisvolle Anziehungskraft, die ihr Gefährte auf sie ausübte, kaum leugnen.

Verbissen schob sie ihre Gefühle beiseite und konzentrierte sich darauf, den Zwerg einzuholen. Währenddessen wurde der Gang immer schmaler. Die Wände rückten näher, bis sie nur noch wenige Millimeter von ihrer Haut entfernt waren.

Saphira schnappte nach Luft. Das Gefühl, im Herzen der Erde wie in einem Sarg eingeschlossen zu werden, überkam sie. Selbst wenn sie die allgemein verbreitete Klaustrophobie ihrer Spezies nicht teilte, wurde es mit eingezogenem Kopf zum Fürchten eng.

Dem Zwerg entging diese Veränderung nicht.

»Gleich habt Ihr es geschafft, meine Liebe«, beruhigte er sie einfühlsam und blieb plötzlich vor einer langen Leiter stehen. Durch ein rundes Loch in der Decke fiel ein silberner Lichtschein auf sie herab.

Erleichtert atmete Saphira auf. Sie war froh, der Enge des Ganges endlich zu entkommen. Staunend sah sie ihren Retter nach, der überraschend leichtfüßig in eine weitaus breitere Röhre aufstieg. Eilig tat sie es ihm gleich. Monoton zog dunkler Stein an ihren Augen vorbei, der mit einem Mal von Glas durchbrochen wurde. Sie blinzelte und erkannte, dass die Leiter in einem großen Raum endete. Atemlos brachte Saphira die letzten Meter hinter sich und stieg aus einer runden Luke ins Freie. Überwältigt und gleichzeitig erschrocken von dem, was sie sah, blieb sie stehen.