Scharlach - Zweig Stefan - E-Book

Scharlach E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

"Scharlach" ist eine frühe Erzählung des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig aus dem Jahr 1908. Der Medizinstudent Bertold Berger kommt mit seinem Leben an der Universität, im Medizinstudium und in der Studentenverbindung nicht zurecht. Er droht zu scheitern. Dann erkrankt die Tochter seiner Vermieterin an Scharlach und er entdeckt die Liebe zum Arztberuf.

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Scharlach

Titel SeiteImpressum

Stefan Zweig

Scharlach

In der Josefstadt, hatten ihm die Freunde zu Hause gesagt, solle er sich ein Zimmer nehmen, wenn er nach Wien ginge. Das sei nahe der Universität und alle Studenten wohnten dort gerne, weil es ein stiller, ein wenig altväterischer Bezirk sei und dann, weil es schon durch Tradition ihr Hauptquartier geworden war. So hatte er sich also gleich von der Bahn, wo er das Gepäck vorläufig ließ, durchgefragt, war hingegangen durch die vielen fremden lauten Gassen, vorbei an all den hastigen Menschen, die wie gejagt durch den Regen liefen und ihm nur unwillig Auskunft gaben.

Das Herbstwetter war unerbittlich. Unablässig plätscherte ein spitzer nasser Schauer nieder, schwemmte von den falben Bäumen das letzte zitternde Laub, trommelte von allen Traufen und zerriß den melancholischen Himmel in Millionen grauer Fasern. Der Wind warf manchmal den Regen wie ein flatterndes Tuch vor sich her, schleuderte ihn gegen die Wände, daß es nur so prasselte und zerbrach den Leuten die Schirme. Bald waren auf der Straße nur mehr die holpernden schwarzen Wagen mit den dampfenden Pferden zu sehen und hie und da ein paar fliegende Schatten von Vorüberrennenden.

Der junge Student ging von Haus zu Haus, stieg viele Treppen auf und nieder, froh, für ein paar Augenblicke dem bösartigen Regen zu entkommen. Er sah viele Zimmer, aber keines konnte ihm behagen. Daran war vielleicht der Regen schuld und das kalte graue Licht, das alle Räume bedrückt erscheinen ließ und sie anfüllte mit kränklicher gepreßter Luft. Ein leise beengtes Gefühl wurde in ihm wach, als er das Elend und die Unreinlichkeit mancher Quartiere sah, zu denen er auf krummen feuchten Treppen hinaufkroch, irgendwie eine erste Ahnung der großen Traurigkeiten, die hinter der Stirne dieser kleinen gebückten, abgeschabten Vorstadthäuser sich verbergen. Immer mutloser wurde sein Suchen.

Endlich traf er seine Wahl. Es war in der Josefstadt oben, nicht mehr weit vom Gürtel, in einem recht alten, aber schwerfällig breiten Hause von altbürgerlicher Behaglichkeit, wo er Quartier nahm. Das Zimmer war einfach und eigentlich kleiner, als er gewünscht hatte, aber die Fenster gingen in einen großen Hof hinaus, in einen jener alten Vorstadthöfe, wo ein paar Bäume standen, jetzt rauschend im Regen und leise fröstelnd. Dieses letzte zage Grün, die ganz verlorene Erinnerung an die Gärten seiner Heimat, lockte ihn an und dann, daß im Vorzimmer, als er die Glocke zog, ein Kanarienvogel in seinem Gehäuse zu trillern anfing und nicht müde wurde seiner Koloraturen, solang er das Zimmer besah. Das schien ihm ein gutes Vorzeichen, und auch die Vermieterin gefiel ihm, eine ältere verhärmte Frau, Beamtenswitwe, wie sie erzählte. Sie selbst bewohnte nur ein armseliges Kabinett mit ihrer kleinen Tochter, nebenan hatte noch ein anderer Student sein Zimmer, dessen Anwesenheit schon die Visitkarte an der Eingangstür verriet.

In den paar Stunden, die bis Abend blieben, wollte er noch eilig etwas sehen von der fremden, seit tausend Tagen herbeigesehnten Stadt, aber der kalte, vom Wind aufgepeitschte Regen vertrieb ihm bald das Gelüst. Er trat in ein Kaffeehaus, sah dann lange gedankenlos zu, wie der weiße Ball am Billardbrett dem roten nachlief, hörte das Gespräch von vielen fremden Menschen rings um sich herum und mühte sich, das bittere Gefühl der Enttäuschung niederzuringen, das langsam in seiner Kehle aufquoll und Worte wollte. Noch einmal versuchte er dann über die Straßen zu streifen, aber der Regen war zu hartnäckig. Triefend und durchnäßt ging er in ein Gasthaus, ein Abendbrot rasch und ohne Lust zu nehmen, und dann nach Hause.

Und nun stand er in seinem Zimmer und sah sich darin um. Ein paar Sachen lehnten da beieinander wie vergessen, ohne alle innere Zusammengehörigkeit, ohne Anmut und Lebendigkeit: zwei alte Schränke vornübergebeugt und aufseufzend, wenn man ihnen nahe trat, ein Bett mit verschossener Decke, eine weiße Lampe, die melancholisch im Dunkel des verdüsterten Zimmers pendelte, ein gebrechlicher Alt-Wiener Ofen. Dazwischen ein paar Farbdrucke und Fotografien, bleiche Dinger ohne Beziehungen zueinander, fremde Gesichter, die sich seit Jahren vielleicht hier schon anstarrten, ohne sich zu kennen. Frösteln quoll auf von der unebenen Diele, das eine Fenster schloß schlecht und klapperte unruhig, wenn der Wind den Regen gegen die Scheibe warf.

Ihn fröstelte. Fremd stand er unter diesem Altväterkram. Wer hatte in diesem Bette geschlafen, wer auf diesen Sesseln geruht, wer in diesen Spiegel geblickt, aus dem ihn nun sein eigenes blasses Kindergesicht angstvoll und fast weinerlich ansah? Nichts erinnerte ihn hier an Vergangenes und Erlebtes, fremd war alles und er fühlte die Kühle bis ins Blut.

Sollte er schon zu Bett gehen? Es war neun Uhr. Zum ersten Male schlief er unter fremdem Dach. Zu Hause saßen sie jetzt wohl freundlich bestrahlt vom goldenen Lampenlicht um den runden Tisch, im ruhigen Gespräch. Nun wußte er, würde Edith, seine blonde Schwester, bald aufstehen und hingehen zum Klavier und noch spielen, eine schwermütige Sonate oder irgendeinen lachenden Walzer, ganz wie er sie bat. Aber wo war er heute, der dort sonst am Klavier im Schatten stand und zu den Tönen träumte, bis sie aufstand und ihm herzlich gute Nacht bot?

Nein, er konnte noch nicht schlafen. Er ging hin und nahm aus dem Koffer, den er inzwischen hatte abholen lassen, seine paar Sachen. Alles war sorglich von den Seinen gepackt, und wie er die Ordnung auseinandernahm, mußte er an die Hände denken, die das für ihn in Liebe getan. Zwischen den Büchern fand er, froh erschreckt, eine Überraschung, das Bild seiner Schwester, die es ihm verstohlen hineingelegt, mit einer herzlichen Zeile darauf. Lang sah er es an, dieses helle lächelnde Gesicht, und stellte es dann hin auf den Schreibtisch, damit es freundlich auf ihn hinsehe und ihn tröste, den Heimatlosen. Aber es war ihm, als werde das Lächeln immer trüber auf dem Bilde und als würde sie hier, im Dunkel, traurig mit ihm. Kaum wagte er mehr hinzusehen, so dunkel schien es ihm schon.

Sollte er noch einmal hinaus aus diesem trüben trostlosen Gelaß? Wie er ans Fenster trat, sah er den Regen rastlos rinnen. Auf den trüben Scheiben sammelten sich die Tropfen, blieben stehen, bis sie ein anderer mitnahm, und rannen dann rasch herab, wie Tränen über glatte Kinderwangen. Immer neue kamen und immer wieder rannen sie herab, von allen Seiten, als weinte da draußen eine ganze Welt ihre Traurigkeit in Millionen Tränen aus. Er blieb stehen, vielleicht eine halbe Stunde lang. Dieses leise murmelnde Spiel voll dumpfen Leides, dieses stete Tropfenrinnen, die unverständliche Musik der klagenden Bäume – tief griff das wunderliche Bild der kollernden Tränen in sein Herz. Eine wilde Traurigkeit fiel ihn an, die nach Tränen schrie.

Er wollte sich aufreißen. Aber war das sein erster Abend in Wien? Wie oft schon hatte er ihn vorausgelebt, im Traum, im Gespräch mit der Schwester und den Freunden. Nichts Deutliches hatte er sich dabei gedacht, aber doch etwas Wildes und Helles, ein Hinstürmen durch die funkelnden Straßen, vorwärts, nur vorwärts, als sei morgen all die Pracht nicht mehr da, als wollte schon in der ersten Stunde Unvergeßliches erlebt sein. Im lachenden Gespräch hatte er sich gesehen, singend vor Übermut, den Hut aufwirbelnd und mit klopfendem Herzen. Und nun stand er da, vor einer blinden Scheibe, fröstelnd, allein, und sah zu, wie die Tropfen niederrannen, zwei und jetzt drei und wieder zwei, starrte hin, wie sie sich unsichtbare Gleise schufen, auf denen sie niederrollten, und kniff die Lider ein, daß nicht plötzlich auch seine eigenen Tränen herabliefen und hinfielen auf seine kalten Hände. Hatte er das seit Jahren ersehnt?

Wie langsam doch die Zeit verging. Der Zeiger auf dem Holzgehäuse der alten Uhr kroch ganz unmerklich vorwärts. Und immer drohender fühlte er die Abendangst, dieses unerklärliche kindische Bangen vor der Einsamkeit in diesem fremden Zimmer, die wilde Sehnsucht Heimweh, die er nicht mehr verleugnen konnte. Ganz allein war er in dieser riesigen Stadt, in der Millionen Herzen hämmerten, und keiner sprach zu ihm, als dieser plätschernde höhnische Regen, keiner hörte auf ihn oder sah ihn an, der da mit Schluchzen und Tränen rang, der sich schämte zu sein wie ein Kind und doch sich nicht zu retten wußte vor diesem Bangen, das hinter dem Dunkel stand und ihn mit stählernen Augen unerbittlich anstarrte. Nie hatte er sich so nach einem Wort gesehnt wie jetzt.

Da knarrte nebenan eine Tür und fiel sausend ins Schloß. Der Hingekauerte sprang auf und horchte. Eine rauhe und doch geübte Stimme summte nebenan eine abgerissene Strophe aus einem Burschenlied, dann surrte das angeflitzte Zündholz und er hörte das Hantieren mit der offenbar jetzt entzündeten Lampe. Das konnte nur sein Nachbar sein, ein Jurist, wie ihm die Vermieterin erzählt hatte, der vor den letzten Prüfungen stand. Er atmete tief auf, denn er fühlte sein Verlassensein für einen Augenblick beruhigt. Von drinnen knarrten die schweren strammen Tritte des Auf- und Abgehenden auf der Diele, das Lied klang immer deutlicher, und plötzlich schämte sich der Lauschende, so zitternd und hinhorchend dazustehen, und er schlich geräuschlos zum Tisch zurück, wie in Angst, als könnte ihm der nebenan durch die Wand zusehen.

Jetzt schwieg drin die Stimme und auch das Auf- und Niedergehen verstummte. Offenbar hatte sich sein Nachbar gesetzt. Nun fingen die surrenden Tropfen wieder an auf ihn einzusprechen, und die Einsamkeit mit all ihrer Angst lugte wieder aus dem Dunkel hervor.

Ihm war, als müßte er ersticken in dieser Enge. Nein, er konnte jetzt nicht allein bleiben. Er richtete sich auf, wartete, bis die Wangen nicht mehr gerötet waren vom Daliegen, probierte mit einem Räuspern die Stimme, dann schlich er hinaus und zur Tür des Nachbars hin. Zweimal hielt er an, doch dann klopfte endlich sein Finger zaghaft an die fremde Tür.

Ein offenbar erstauntes Schweigen folgte. Dann klang ein helles »Herein«.

Er klinkte die Tür auf. Blauer Rauch quoll ihm entgegen. Das enge Zimmer war ganz vollgedampft, und alle Gegenstände verschwammen zuerst in dem dicken, von der Zugluft aufschwankenden Nebel. Sein Nachbar stand hochaufgerichtet und sah erstaunt auf den Eintretenden. Er hatte Weste und Gilet bereits abgelegt, das halboffene Hemd zeigte ungeniert eine breite, behaarte Brust, die Schuhe lagen rechts und links am Boden hingehaut. Er war eine kräftige, bäuerisch derbe Gestalt, einem Arbeiter mehr ähnlich als einem Studenten, wie er da stand, die kurze Shagpfeife im Mund, deren Rauch er jetzt mit einem starken Stoß bis zur Tür hinblies.

Der Eintretende stammelte ein paar Worte. »Ich bin heute hier eingezogen und wollte mich Ihnen als Nachbar vorstellen.«

Sein Gegenüber schnellte mechanisch die Beine zusammen. »Sehr erfreut. Jurist Schramek.«

Nun nannte auch der Besuchende, hastig, um das Versäumnis zu reparieren, seinen Namen »Bertold Berger«.

Schramek überflog ihn mit einem Blick. »Sie sind im ersten Semester?«

Berger bejahte und fügte gleich bei, es sei auch sein erster Tag in Wien.

»Sie studieren natürlich Jus. Alle Leute studieren nur mehr Jus.«

»Nein, ich will mich an der medizinischen Fakultät inskribieren lassen.«

»So, bravo, endlich einmal einer … Aber bitte, nehmen Sie doch ein bißchen Platz!«

Die Aufforderung war herzlich.

»Sie nehmen doch eine Zigarette, Herr Collega.«

»Ich danke, ich rauche nicht.«

»Na … das wird schon werden. Die Nichtraucher sind im Aussterben begriffen. Also einen Kognak. Einen guten.«

»Danke … danke sehr.«

Schramek zog lachend die Schultern hoch: »Sie, lieber Kollege, seien Sie nicht böse, aber ich glaube, Sie sind, was man so sagt, ein Fadian. Kein Kognak, nicht rauchen, das ist sehr verdächtig.«