Schatten über der Werse - Henrike Jütting - E-Book

Schatten über der Werse E-Book

Henrike Jütting

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Beschreibung

Auch in der Idylle lauert das Böse Auf dem idyllisch gelegenen Campingplatz Werseparadies am Rande von Münster wird an einem Novembermorgen der Besitzer Rainer Heffner tot aufgefunden. Brutal erschlagen mit einer Flasche. Schnell wird deutlich, dass es an Verdächtigen nicht mangelt, denn Heffner war ein Querulant. Da sind zum Beispiel die Dauercamper, denen überraschend die Stellplätze gekündigt wurden. Oder der Nachbar, der mit dem Ermordeten handfeste Probleme hatte. Und dann gibt es da noch einen herumstreifenden Obdachlosen, den eine uralte Geschichte mit Heffner verbindet ... Als die Ermittlungen ins Stocken geraten, wird Katharina Klein kurzerhand auf dem Campingplatz eingeschleust. Undercover taucht sie in die traute Gemeinschaft der Dauercamper ein. Ihre Tarnung als Biologin ist perfekt. Bis plötzlich ein weiterer Mord geschieht und Katharina dem skrupellosen Mörder gefährlich nahe kommt ...

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Villa 13

Henrike Jütting wurde 1970 in Münster geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau und studierte dann in Bremen Soziologie und Kulturwissenschaften. Anschließend promovierte sie in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und arbeitete in Bremen, Brüssel und Celle.

Seit fünfzehn Jahren lebt sie mit ihrer Familie wieder in ihrer Heimatstadt Münster. Hier begann sie mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und absolvierte ein Fernstudium in Literarischem Schreiben. 2017 erschien ihr erster Krimi unter dem Titel Schweigende Wasser.

Nach Villa 13 wird die beliebte Reihe um die Münsteraner Kommissarin Katharina Klein nun mit Schatten über der Werse fortgeführt.

HENRIKE JÜTTING

SCHATTEN ÜBERDER WERSE

1. Auflage November 2020

2. Auflage Mai 2021

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendungvon © Stephan Sühling_stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-543-4

E-Book-ISBN 978-3-95441-552-6

Für Axel, Paula und Marlene.

»Das Schicksal nimmtmanchmal,um uns nicht zu erschrecken,die Miene des Zufalls an.«

John Nepomuk Nestroy(1801 - 1862)

Inhalt

Über den Autor

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 1

Dezember 1978

Da!« Zorro stach mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Luft. »Da könnten wir ihn tagelang festhalten, ohne dass jemand ihn entdeckt.« Er war von seinem Rad gesprungen, das er vor zwei Monaten zu seinem zwölften Geburtstag bekommen hatte, und blies gegen seine Finger. Die Dezemberkälte hatte sie steif und rot werden lassen. Genauso rot wie seine Ohren, die wie die Henkel eines Pokals von seinem Kopf abstanden.

Zorros beste und einzige Freunde, Sindbad und Batman, waren dicht hinter ihm zum Stehen gekommen und starrten zu dem Tannenwald hinüber.

Batman musste dazu seine viel zu große Pudelmütze, ohne die seine Mutter ihn nicht aus dem Haus gehen ließ, aus dem Gesicht schieben. Sein rundes Mondgesicht war heiß und verschwitzt. Er wog fast doppelt so viel wie seine Freunde, und körperliche Anstrengung brachte ihn immer schnell aus der Puste. Im Moment aber waren ihm sein Seitenstechen und seine Zunge, die sich anfühlte wie ein trockener Schwamm, egal. Was für eine gute Idee von ihrem Anführer, hierherzufahren! Gut verborgen in dem gegenüberliegenden Wald lag die verlassene Fabrik, und sie war perfekt für ihre Mission. »Ja, super Sache«, sagte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn.

»Dann nichts wie hin.« Zorro stieg wieder auf sein Rad, und unter abenteuerlichem Geheul radelte er los.

Zorro, Batman und Sindbad, deren richtige Namen keine Rolle spielten, wenn sie zu dritt unterwegs waren, überquerten die B 54 und fuhren hintereinander in den Wald hinein. Nach kurzer Zeit mündete der Weg in eine Lichtung, die etwas größer war als ein Fußballfeld und von allen Seiten von hohen, tiefgrünen Nadelbäumen eingefasst war. Mitten darauf befand sich ein langgestrecktes Gebäude. Die »Lemke-Fabrik«, so wurde das trostlose Bauwerk von den Rinkerodern genannt.

Bis vor acht Jahren waren hier in kleinem Umfang Steinplatten aus Beton hergestellt und an den örtlichen Baustoffhändler verkauft worden. Die Betreiber der Steinfabrik waren zwei Brüder aus Rinkerode gewesen, Harald und Rupert Lemke. Im Alter von fünfundfünfzig Jahren erkrankte Harald, der Ältere, aus heiterem Himmel an Leukämie. Zwei Jahre kämpfte er gegen die Krankheit an, dann gaben die Ärzte ihn auf. Harald selber gab sich auch auf. Er erhängte sich mit einem Strick in der Fabrik. Rupert war es, der seinen Bruder mit heraustretenden Pupillen und blau angelaufenem Gesicht fand, und Rupert war es auch, der es anschließend fertigbrachte, binnen weniger Monate die Firma in den Ruin zu führen. Nur neun Monate nach Haralds Tod stellte die Lemke-Fabrik ihren Betrieb ein. Rupert wollte schon immer weg aus Rinkerode, das als Ortschaft zu Drensteinfurt gehört, und zog ins nahegelegene Münster. Seitdem war die Lemke-Fabrik ihrem Schicksal überlassen und verfiel vor sich hin.

Über die Jahre hinweg hatte die leerstehende Fabrik immer mal wieder die Dorfjugend aus Rinkerode angezogen. Aber für einen dauerhaften Treffpunkt war die Lage nicht attraktiv genug. Dafür lag sie zu weit außerhalb. Immerhin drei Kilometer vor dem Ortseingang von Rinkerode – und das war auch der Grund, warum sie nach Zorros Meinung genau richtig für ihre Mission war. Ihre Mission. So nannten sie das, was sie in den vergangenen zwei Wochen im Partykeller von Zorros Eltern bei Kartoffelchips und Cola geplant hatten.

Die Jungen lehnten ihre Räder gegen die Hauswand. Als ihre Lenker dagegen stießen, lösten sich Teile des Putzes und bröckelten auf den Boden.

Sindbad kratzte sich mit seinem dicken, handgestrickten Fäustling am Kopf und sah sich um. Überall auf dem Gelände befand sich zurückgebliebener Unrat. Holzpaletten türmten sich neben einem rostigen Betonmischer auf. Eimer, Bretter und Plastiksäcke, die wohl niemals verrotten würden, lagen verstreut zwischen hüfthohen Brennnesseln. Betonplatten in unterschiedlichen Größen, die nicht mehr verkauft worden waren, stapelten sich entlang der Hauswand.

»W-w-w-wo w-w-w-wollen w-ir a-ls E-e-e-erstes …«

»Als Erstes sehen wir im Haus nach«, unterbrach Zorro seinen Freund. Wenn er aufgeregt war, stotterte Sindbad noch schlimmer als ohnehin schon.

Sie marschierten halb um das Gebäude herum, und Batman zog die Eisentür so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Drinnen schlug ihnen der Geruch nach feuchtem Beton entgegen. Das letzte Mal hatte es sie vor zwei Monaten zur alten Fabrik verschlagen. Da waren sie vor Henk aus der Neunten und seinen ekelhaften Freunden auf der Flucht gewesen.

Auf ihrer Liste der meistgehassten Menschen kamen diese Jungs gleich nach Mr. X. Sie waren genauso gut darin, ihnen das Leben zur Hölle zu machen, wie ihr Klassenlehrer.

Batman rümpfte seine Nase. Heute lag im Inneren der Fabrikhalle noch etwas anderes in der Luft. Ein furchtbarer Gestank, der ihnen entgegenschlug wie ein unfreundlicher Willkommensgruß. »Iiiii!« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Was ist das? Das stinkt ja hier wie … wie … wie zehn Stinkbomben auf einmal!«

Damit hatte er recht. Der Gestank nach faulen Eiern war betäubend.

Die Halle bestand nur aus zwei Räumen. In dem ersten, in dem sie jetzt standen, waren früher die Steinplatten hergestellt und gelagert worden. Jetzt war der weitläufige Raum leer, bis auf eine vergessene Schaufel, einen Haufen zerlumpter Leinensäcke und einige leere Getränkeflaschen. Strom gab es natürlich keinen mehr. Es fiel aber genug Licht durch die kaputten Fenster und die Löcher im Dach.

»Hier hat sich aber auch gar nichts verändert, seit wir das letzte Mal hier waren«, meinte Batman.

»D-d-das st-st-simmt. A-a-außer d-d-dem G-gestank.«

»Wo das wohl herkommt?« Zorro sah sich suchend um. Sein Blick fiel auf einen Bretterverschlag. Das war der zweite Raum, den es hier gab. Die Lemkebrüder hatten in eine Ecke der Fabrikhalle zwei Wände aus Sperrholz eingezogen und den auf diese Weise entstandenen Raum als Büro genutzt. Zorro ging zu dem Bretterverschlag hinüber. Der Gestank nahm zu, und ihm wurde ein wenig übel davon. In die schmalere der beiden Holzwände war eine Tür eingelassen. Zorro drückte die Klinke nach unten, aber sie öffnete sich nicht. Sindbad und Batman waren ihm gefolgt.

»D-d-da st-st-eckt e-e-ein …« Während er sprach, deutete Sindbad auf den rostigen Schlüssel, der von außen in der Tür steckte, und an dem ein rotes Plastikschild mit der Aufschrift Büro baumelte.

»Ja, ich sehe es«, fiel Zorro Sindbad ins Wort. Er hatte selten die Geduld, seinen Kumpel aussprechen zu lassen. »Da steckt ein Schlüssel«, vollendete er deshalb den Satz und drehte gleichzeitig den Schlüssel um. Er stieß die Tür auf, und fast gleichzeitig schnappten alle drei Jungs nach Luft. Der Gestank nach Fäulnis und verrottendem Fleisch war jetzt unerträglich. Batman gab ein würgendes Geräusch von sich, drehte sich auf dem Absatz um und stürzte zum Ausgang.

Zorro und Sindbad hatten reflexartig ihre Hände vors Gesicht geschlagen. Sie hielten sich die Nasen zu und atmeten durch den Mund.

»Jetzt wissen wir wenigstens, woher der Gestank kommt«, murmelte Zorro mit nasaler Stimme und spähte in den kleinen Raum.

In den beiden Außenwänden war jeweils ein Fenster eingelassen. Durch die zersplitterten Scheiben drang diffuses Tageslicht.

An das ehemalige Büro erinnerte nichts mehr. Abgesehen von einigen fest an der Wand verschraubten Regalbrettern war der Raum leer. Fast leer. Denn in einer Ecke lag ein dunkles Bündel. Zorro spürte, wie seine Handflächen feucht wurden und ihm ein kalter Schauer über die Wirbelsäule kroch. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er wissen wollte, was es mit dem Gestank auf sich hatte. Trotzdem machte er zwei Schritte nach vorne. Es war wie bei einem Verkehrsunfall – man will nicht hinsehen und doch kann man nicht anders.

Zorro erkannte Reste von schwarzem Fell, vier Beinen und einem Kopf. Eine Katze! Der Körper war eingefallen, der Verwesungsprozess in vollem Gang. Das war zu viel für Zorro, den grenzenlosen Tierfreund und stolzen Besitzer von vier Meerschweinchen, zwei Zwergkaninchen und einem Wellensittichpärchen. Er wirbelte herum, stieß gegen Sindbad und schrie: »Scheiße! Verdammte Scheiße!«

Sindbad starrte seinen Anführer erschrocken an.

Zorro deutete auf die verendete Katze. »Jemand hat diese Katze eingeschlossen und verhungern lassen!« Mit diesen Worten stürzte er aus dem Bretterverschlag. Sindbad folgte ihm auf den Fersen.

Draußen lehnte sich Zorro an die Hauswand. Sein Gesicht war so weiß wie ein Fischbauch.

»Wer macht denn so was?«, fragte Batman betroffen, nachdem Zorro ihn über die Ursache des Gestanks aufgeklärt hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in das Geäst der Tannen, als könnte er dort die Antwort finden.

Mit bebender Stimme sagte Zorro: »Es gibt halt solche Schweine.«

»V-v-vielleicht war sie schon t-t-t-tot, b-b-bevor sie …«, begann Sindbad.

»… bevor sie dort eingesperrt wurde?«, beendete Zorro die Frage. »Das glaube ich nicht. Wer sperrt schon eine tote Katze ein. Nein, irgendein Superarschloch hat sie hier reingelockt, eingesperrt und verhungern lassen. Ganz bestimmt ist das so gewesen.« Zorro spuckte auf den Boden. Dann lehnte er den Kopf nach hinten und schloss die Augen.

Seine Freunde betrachteten ihn beunruhigt. Er würde ja wohl nicht anfangen zu heulen?! Klar, wenn jemand die Katze lebendig in das Kabuff gesperrte hatte, dann war das natürlich schrecklich. Aber wurden nicht auch täglich Katzen überfahren? Andererseits ging ihr Tod dann wohl deutlich schneller vonstatten.

»S-s-s-sollen w-w-wir sie b-beerdigen?«, schlug Sindbad vor.

Zorro öffnete die Augen. »Das ist eine gute Idee, Sindbad. Du bist ein guter Mann!«

Sindbads Wangen färbten sich zartrosa. Es kam nicht oft vor, dass jemand ihn für etwas lobte.

»Die Schaufel in der Halle!«, rief Batman, der in der Gunst ihres Anführers nicht zurückstehen wollte. »Damit können wir ein Grab ausheben.«

Eine Dreiviertelstunde später war alles vorbei. Die sterblichen Überreste der unglückseligen Katze lagen keine zehn Meter von der Fabrik entfernt unter der Erde. Batman und Sindbad hatten ein Loch direkt unter einer gewaltigen Tanne ausgehoben. Zuerst mussten sie sich durch eine nicht enden wollende Schicht aus Tannennadeln arbeiten. Dafür war der Boden darunter aber locker und weich gewesen. Zorro hatte sich indessen seinen Schal um Mund und Nase gebunden und war in das Haus zurückgekehrt. Mit Hilfe von einem der alten Leinensäcke hatte er die Katze, beziehungsweise das, was von ihr noch übrig war, nach draußen transportiert.

Als sie die Grube wieder geschlossen hatten, blieben sie eine Weile schweigend an dem Katzengrab stehen.

Sindbad war es, der das Schweigen brach. »I-ich h-h-hab’s! W-w-wir b-buddeln a-a-auch f-für Mr. X e-e-e-ein …«

In Zorros Augen glomm ein Leuchten auf. Er haute Sindbad kameradschaftlich auf die Schulter. »Mensch, Sindbad, heute ist wohl dein Tag! Na klar! Wir schaufeln ihm ein Erdgefängnis und sperren ihn darin ein. Da kann er dann darüber nachdenken, ob er weiterhin so fies zu uns sein will.«

»Klasse!«, stimmte Batman zu. »Und verschließen können wir das unterirdische Verlies mit Steinplatten, die hier herumliegen. Dann kann er auch nicht türmen.«

Zorro sah seine Mitstreiter zufrieden an. »Ich habe wirklich eine tolle Bande«, sagte er feierlich.

KAPITEL 2

2019

Als Rainer Heffner seine kurze Ansprache beendet hatte, herrschte im Aufenthaltsraum des Campingplatzes Werseparadies brodelndes Schweigen. Sechs Augenpaare starrten ihn auf eine Weise an, die es ihm unmöglich machte, aufzustehen und die Runde aufzulösen.

Entscheidung mitteilen, Begründung nachschieben, Ende der Diskussion. So war sein Plan gewesen. Doch ganz so einfach würde es wohl nicht werden. Vielleicht hätte er den Dauercampern die Kündigung ihrer Stellplätze besser einzeln beibringen sollen. Er wich ihren stummen Blicken aus und schaute zum Fenster hinüber. Kompakte Dunkelheit drückte sich von außen dagegen und verstärkte Rainers Gefühl, etwas losgetreten zu haben, das jetzt und hier außer Kontrolle geraten könnte.

Diese Ahnung wurde zur Gewissheit, als Horst Lohoff seine riesigen Pranken auf den Tisch knallte und damit die Stille zum Platzen brachte. Er hievte sich hoch. Das Gesicht so dunkelrot wie eine überreife Tomate. »Was hast du gerade gesagt?! Du kündigst uns die Stellplätze? Du aufgeblasener kleiner Dorfschullehrer, du …«

»Horst!« Erika Lohoff zupfte am Pulloverärmel ihres Mannes.

»Was denn, Erika? Hast du verstanden, was der Idiot gerade gesagt hat? Er will uns vom Platz schmeißen. Nach über zwanzig Jahren sollen wir unseren Stellplatz räumen!« Horst starrte Rainer über den Tisch hinweg an. »Das werden wir nicht zulassen! Das kann ich dir versprechen! Ich verschwinde hier nicht freiwillig!«

Rainer hob beschwichtigend die Hände. Er war ein großer, athletischer Mann, mit einem länglichen, von Sonne und Wind gezeichneten Gesicht. Sein immer noch volles Haar war eisgrau, genauso wie der kurz gestutzte Vollbart. Wie immer trug er eine Cargohose, Trekkingschuhe und einen Fleecepullover mit Reißverschluss. Auf den ersten Blick wirkte Rainer wie ein sympathischer Naturbursche in den Sechzigern. Tatsächlich hatte er im April seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. »Du hast offenbar nicht richtig zugehört, Horst. Ich schmeiße euch nicht vom Platz. Ich biete euch andere Stellplätze an, die ihr im Sommer nutzen könnt.«

»Ja, schönen Dank auch.«

Rainer nahm seine Brille ab und begann sie umständlich zu putzen. »Wie ich schon sagte, ich will das Konzept des Campingplatzes verändern. Er wird nur noch von März bis Oktober geöffnet haben. Weniger Wohnwagen und Zelte, dafür mehr Mobilheime. Eure drei Stellplätze sind prädestiniert dafür. Es sind die größten auf dem Platz und liegen direkt an der Werse. Ich wäre ja bescheuert, das nicht zu nutzen.« Während er sprach, fand Rainer zu seiner alten Selbstsicherheit zurück. Er war nun mal der Eigentümer des Campingplatzes und konnte tun und lassen, was er wollte. Horst plusterte sich sowieso bei jeder Gelegenheit auf wie ein Hahn im Hühnerhof. Das musste man nicht weiter ernst nehmen. Er setzte die Brille wieder auf.

Horst gab ein Schnaufen von sich. Bevor er aber etwas sagen konnte, fiel ihm Sebastian Lewandowski ins Wort. »Aber warum setzt du die Mobilheime nicht dahin, wo die anderen stehen? Das macht doch viel mehr Sinn. Dann ist das wie eine kleine Siedlung.«

Rainer musterte Sebastian und dessen Frau Corinna abschätzig. Ein Paar mittleren Alters. Er, selbstständiger Steuerberater und ein Klugscheißer vor dem Herrn. Sie, Krankenschwester, bei der die Gefahr, sie könnte jemals mit einem Halbgott in Weiß durchbrennen, gegen Null tendierte. »Ich möchte aber«, Rainer sprach zu Sebastian in einem Ton, als würde er einem uneinsichtigen Erstklässler zum hundertsten Mal etwas erklären, »die neuen Mobilunterkünfte nun mal am Wasser haben. Schluss. Aus. Ende.«

»Aber du kannst uns doch nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen«, meldete sich Corinna zu Wort. Zwischen ihren viel zu dichten Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.

Sie sollte nicht so ein Gesicht machen, dachte Rainer. Es machte sie älter und auch nicht unbedingt attraktiver.

»Kannst du uns überhaupt so einfach kündigen? Es gibt ja schließlich auch Fristen. Vor allem im Fall von Horst und Erika. Die haben ihren Platz ja schon so lange.« Corinna strich sich eine Strähne ihres aschblonden Haares hinter das Ohr.

Rainer seufzte. »Glaubt ihr denn, ich hätte mich nicht vorher abgesichert? Als ich den Platz vor einem Jahr übernommen habe, habe ich mir die Pachtverträge genau angeschaut. Walter Steinkötter hat in jeden Vertrag eine Klausel aufgenommen, nach der die Kündigungsfrist für beide Seiten drei Monate beträgt und zwar unabhängig von der Laufzeit des Vertrages.«

»Walter hätte uns niemals gekündigt«, murmelte Erika vor sich hin und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Niemals.«

»Ich muss auch sagen, Rainer, dass deine Entscheidung eine riesige menschliche Enttäuschung für mich ist«, ließ Frauke verlauten, und Isa, ihre Partnerin, fixierte ihn mit einem schwer zu deutenden Blick. »Du hast dich zwar hier von Anfang an aufgeführt wie ein kleiner König, aber das hätte ich dir nun doch nicht zugetraut.«

Rainer stieß Luft zwischen seinen Zähnen hervor. Frauke, dieses Mannsweib, war ihm schon zu Beginn auf die Nerven gegangen. Vorlaut und ruppig. Eine Kampflesbe. Isa, dieses bildhübsche Ding mit Modelfigur, konnte nicht ganz gescheit sein, sich an so eine Frau zu hängen. »Mein Gott, ihr tut so, als ob ihr alle im kommenden April auf der Straße stehen würdet. Nun macht aber mal einen Punkt! Es ist jetzt Mitte November. Gekündigt habe ich euch zum 31.3. des kommenden Jahres. Ihr habt also jetzt viereinhalb Monate Zeit, euch was Neues zu suchen. Das sollte doch wohl reichen. Ihr vier«, Rainer zeigte nacheinander auf Sebastian, Corinna, Frauke und Isa, »ihr verdient doch gutes Geld. Ihr könntet euch doch sonst was leisten, nachdem ihr jetzt ein paar Jahre so günstig gewohnt habt.«

Ein lautes Krachen ließ die Gruppe zusammenfahren und die Bierflaschen und Weingläser leise klirren. Diesmal war es Sebastian, der seine geballte Faust auf den Tisch hatte sausen lassen. Als er anfing zu sprechen, zitterte seine Stimme vor unterdrückter Wut. »Du hast überhaupt nichts verstanden, Rainer! Es geht uns doch nicht ums Geld! Es geht uns um das Lebensgefühl! Wir fühlen uns in einer Wohnung nicht wohl. Natürlich könnten wir uns eine schicke, große Wohnung leisten. Aber das wollen wir gar nicht! Was wir wollen, ist das Campingfeeling. Und zwar das ganze Jahr durch. Uns reichen der Wohnwagen und das Vorzelt. Mehr brauchen wir nicht. Wir wollen diese Idylle hier und nicht eine Wohnung oder ein Haus. Das haben wir alles gehabt.«

Rainer schaute Sebastian überrascht an. So emotional hatte er den Steuerberater noch nie erlebt. Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Verstehe ich nicht.« Er sah zu Frauke und Isa hinüber. »Am allerwenigsten übrigens bei euch beiden. Ihr seid doch noch jung. Ihr wollt doch bestimmt noch mal etwas anderes, als auf einem Campingplatz leben.«

»Was wir wollen oder nicht, muss dich doch gar nicht interessieren«, fauchte Frauke. »Im Moment wollen wir auf diesem Campingplatz leben und wenn wir es nicht mehr möchten, dann sagen wir Bescheid!«

Während Frauke redete, war Horst aufgestanden und einmal um den Tisch herum auf Rainer zugegangen. Seine Hände fuhren unablässig an der Naht seiner Hose auf und ab. Rainer sah Horst misstrauisch an. Das mulmige Gefühl von vorhin kehrte zurück. Horst brachte locker hundertzwanzig Kilo auf die Waage – und er war jähzornig. Rainer hatte ihn im Sommer ein paar Mal im Clinch mit anderen Campinggästen erlebt. Man tat gut daran, Horst Lohoff nicht zu reizen. »Was dich und Erika angeht«, versuchte Rainer Horst deshalb zu beschwichtigen, »so gibt es staatliche Unterstützung, wenn die Rente nicht reicht. Wohngeldzuschuss nennt sich das.«

»Wir wollen in keine Wohnung!«, brüllte Horst. »Kapierst du das nicht? Wir sind Camper!!«

»Horst, denk an deinen Blutdruck«, flehte Erika.

Doch Horst interessierte sich im Augenblick kein bisschen für seinen Blutdruck. Er legte eine Hand auf Rainers linke Schulter und drückte fest zu.

Rainer schnappte vor Schmerz nach Luft. »Hör auf damit!«, keuchte er. »Du tust mir weh.«

Horst beugte sich zu Rainer hinunter. Sein Atem roch nach Bier. »Das ist mir scheißegal, ob dir das wehtut. Frauke hat recht. Du hast von Anfang an so getan, als wärst du sonst wer. Und jetzt meinst du, du kannst uns einfach vor vollendete Tatsachen stellen und wir nicken brav dazu?«

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß Rainer hervor: »Wenn ihr unbedingt euer Leben als Dauercamper fristen wollt, dann sucht euch doch einen anderen Cam…« Weiter kam er nicht.

Horst riss ihn an der Schulter auf die Füße, schleifte den überrumpelten Besitzer des Werseparadieses quer durch den Raum bis zur gegenüberliegenden Wand und drückte ihn unsanft dagegen. Dann ließ er Rainers Schulter los, umfasste aber dafür seinen Hals. Das alles geschah in einer Geschwindigkeit, die niemand Horst zugetraut hätte. Sprachlos starrten alle die beiden Männer an.

»Ich noch nie in meinem Leben dem Staat auf der Tasche gelegen!«, schrie Horst in einer Lautstärke, dass es in Rainers Ohren zu klingeln begann. »Da fange ich doch jetzt nicht damit an, nur weil so ein Hanswurst wie du meint, den großen Affen markieren zu müssen!« Seine Hand umklammerte Rainers Hals fester.

»Horst«, jammerte Erika.

Rainer versuchte vergeblich, Horsts Finger aufzubiegen, aber Horst verstärkte seinen Griff daraufhin nur. Aus Rainers Mund kam nur noch ein Röcheln.

»Hör auf! Lass ihn los! Du bringst ihn ja um!« Erika war zu ihrem Mann hinübergehastet und zerrte an seinem Arm.

Horst hatte wieder angefangen zu brüllen. »Ich bring dich um! Ich mach dich kalt!«

»Sebastian«, rief Erika kläglich über ihre Schulter, »komm her! Du musst mir helfen! Er ist ja nicht mehr bei Sinnen!«

Nicht nur Sebastian, alle sprangen sie auf und mit vereinten Kräften brachten sie Horst dazu, von Rainer abzulassen.

Sobald Rainer befreit war, beugte er sich vornüber und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab, wie ein Hundert-Meter-Läufer im Ziel. »Der ist ja komplett irre«, stieß er hervor. »Der wollte mich umbringen!«

Horst hatte sich abgewandt und schlurfte mit hängenden Schultern zurück zum Tisch. Dort ließ er sich auf seinem Stuhl nieder, der unter seinem Gewicht gefährlich ächzte. Er griff nach seiner Bierflasche und leerte sie in einem Zug.

Sebastian und Corinna brachten Rainer, der unablässig mit einer Hand über seinen Kehlkopf fuhr, ebenfalls zum Tisch zurück. Isa rückte ihm, in gebührenden Abstand zu Horst, einen Stuhl zurecht. Niemand sonst setzte sich. Unschlüssig blieben sie zwischen den beiden Männern stehen, als wären sie nicht sicher, ob der Streit tatsächlich vorbei war.

Horst hielt seine leere Bierflasche im Schoß und hatte den Kopf gesenkt. Seine Wut war verflogen. Corinna reichte Rainer ein Glas Wasser. Er trank einige Schlucke und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ich habe bestimmt eine Kehlkopfquetschung.«

»Du hast ganz bestimmt keine Kehlkopfquetschung«, widersprach Corinna. »In dem Fall könntest du nicht so deutlich sprechen.«

»Wenn Sie das sagen, Frau Doktor. Aber ihr habt es alle gesehen, oder? Der wollte mich umbringen. Um ein Haar wäre ich erstickt.«

»Jetzt mach mal halblang«, sagte Sebastian. »Horst hätte dich schon nicht erwürgt.«

»Eiskalt gekillt hätte der mich.«

Erika hatte sich hinter Horst gestellt und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Ihre Apfelbäckchen glühten noch röter als sonst. »Das ist Quatsch. Horst kann keiner Fliege was zuleide tun. Du hast ihn zur Weißglut getrieben, Rainer, mit deinem Gerede.«

Rainer schnaubte verächtlich. »Jetzt bin ich auch noch selber schuld, dass der Verrückte mich umbringen wollte, oder was?«

Horst erhob sich schwerfällig und sofort schnellte auch Rainer von seinem Stuhl hoch. Noch mal würde er sich nicht so überrumpeln lassen. Doch Horst kümmerte sich nicht um Rainer. »Erika! Wir gehen!« Er steuerte auf die Tür zu. Erika folgte ihm beflissen.

Rainer rief ihnen nach: »Das wird ein Nachspiel haben, Horst, das schwöre ich dir!« An die Übriggebliebenen gewandt sagte er: »Die Party ist zu Ende. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.« Mit diesen Worten begann er damit, die Flaschen und Gläser einzusammeln.

»Willst du es dir nicht noch mal überlegen?« Sebastian hatte nach seiner Jacke gegriffen.

»Nach dem Auftritt von Horst gerade? Der kann froh sein, wenn ich ihn nicht gleich morgen vom Platz jage.«

»Ach, komm, du kennst doch Horst. Der ist ruckzuck auf hundertachtzig und genauso schnell fährt er wieder runter. Wir könnten ja mal zusammen darüber nachdenken, ob wir etwas mehr an Pacht bezahlen.«

»Keine Chance. Ich habe mir das alles gut überlegt und durchgerechnet. Den Platz im Winter für sechs Dauercamper offenzuhalten, ist absolut unwirtschaftlich. Hinzu kommt, dass ich mir das mit den Mobilheimen in den Kopf gesetzt habe.« Rainer ging hinüber zur Theke. Als er sich umdrehte, stand Sebastian immer noch auf demselben Fleck. »Meine Güte, Sebastian. Das Werseparadies ist doch nicht der einzige Platz rund um Münster. In Handorf gibt es auch einen, der direkt an der Werse liegt und sehr schön sein soll.«

Sebastians Gesichtszüge verhärteten sich. »So etwas wie dies hier gibt es kein zweites Mal.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Auch Corinna und Isa hatten den Aufenthaltsraum bereits verlassen, nur Frauke stand noch mitten im Raum und nestelte umständlich am Reißverschluss ihrer Jacke herum. Rainer kam mit einem feuchten Spüllappen zum Tisch zurück.

»Weißt du, Rainer«, sagte Frauke. »Eigentlich hätten wir ja mit so etwas rechnen müssen. Du hast ja keine Gelegenheit verpasst, uns spüren zu lassen, dass du keine Lust auf Dauercamper hast. Aber da ist auch immer noch etwas anderes gewesen. Etwas Subtileres, weniger greifbar als deine Ablehnung uns gegenüber.«

Rainer wischte mit dem Lappen über den Tisch. »Ach ja?« Er machte sich nicht die Mühe hochzublicken.

»Wir hatten hier wirklich eine schöne Zeit alle miteinander. Aber seitdem du den Platz übernommen hast, hat sich die Atmosphäre verändert. Als hätte deine schlechte Aura auch auf uns abgefärbt.«

Rainer, der versuchte, einen hartnäckigen, klebrigen Rand wegzubekommen, schaute nun doch auf. Er fixierte die junge Frau aus zusammengekniffenen Augen. Mit bedrohlich leiser Stimme sagte er: »Ich bin ganz bestimmt ein anderer Typ als es euer Kuschelwalter war und führe den Platz auf eine andere Art. Aber du kannst mich nicht für alles verantwortlich machen, was sich hier auf dem Platz abspielt. Da machst du es dir etwas zu einfach. Für die Untreue anderer Leute kann ich nun wirklich nichts.«

Seine Worte zeigten unmittelbar Wirkung. Fraukes Gesicht verlor alle Farbe. Sie machte Anstalten, etwas zu erwidern, schloss den Mund aber wieder und wandte sich zum Gehen.

Oh, dachte Rainer, da hatte er wohl mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Selbstgefällig sah er hinter Frauke her, die sich an der Tür noch mal umdrehte.

Ihre Stimme klang spröde, als sie sagte: »Das wird alles auf dich zurückfallen, Rainer, pass gut auf dich auf.«

Eine Stunde später schloss Rainer die Tür der Rezeption sorgfältig ab. Er hatte im Büro noch ein paar fällige Rechnungen überwiesen und Angebote für die Neugestaltung der Rezeption verglichen. Vor allem mit dem Aufenthaltsraum musste bis zum nächsten Saisonstart unbedingt etwas passieren. Aber die Angebote waren ihm allesamt überteuert vorgekommen. Da musste er wohl noch mal nachverhandeln.

Beim Abschließen achtete er darauf, dass ihm die Rotweinflasche, die er sich unter den Arm geklemmt hatte, nicht wegrutschte. Ein gemütliches Freitagabendschlückchen auf der Couch, das hatte er sich wirklich verdient. Wenn man von Horsts Ausbruch absah, war es alles in allem gut über die Bühne gegangen. Jetzt konnten sie alle erst mal eine Nacht darüber schlafen – und dann würde sich morgen die Aufregung schon wieder gelegt haben.

Als er sich seinem Fahrrad zuwandte, das vor einer Anpflanzung üppiger Rhododendronbüsche in einem Fahrradständer stand, hielt er inne. Er war sich sicher, hinter dem Buschwerk eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Angestrengt blickte er in die Richtung, bis seine Augen anfingen zu tränen und er blinzeln musste. Er war seit sechs Uhr auf den Beinen, vielleicht hatte sein übermüdeter Geist ihm auch nur einen Streich gespielt. Doch als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte er keine Zweifel mehr: Da stand jemand. Er erkannte die Person nicht, und es war unmöglich zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, ob jung oder alt. Warnend meldete sich eine Stimme in seinem Kopf:

Geh zurück ins Haus. Sofort. Da drüben ist jemand, der keine guten Absichten hat.

Aber Rainer ignorierte die Stimme, die klang wie die seiner verstorbenen Mutter. Was sollte ihm schon passieren? Er war körperlich gut in Form. Außerdem war er neugierig. Gut möglich, dass es wieder dieser Penner war, der sich seit einiger Zeit hier herumtrieb. Es war höchste Zeit, Klartext mit ihm zu reden. Mit strammen Schritten ging er auf die Rhododendronbüsche zu.

KAPITEL 3

Frauke wachte am nächsten Morgen viel zu früh für einen freien Samstag auf. Schuld war ihr Handy. Sie hatte vergessen, die Weckfunktion auszustellen, und nun drangen aus ihrem Smartphone die ersten Takte von Morning Glory von Oasis.

Sie tastete im Halbschlaf nach dem Telefon, und mit einem Wisch verstummte die Musik. Isa neben ihr murmelte etwas Unverständliches, atmete dann aber ruhig und gleichmäßig weiter. Es brauchte schon etwas mehr als ein bisschen Gedudel, um sie aus dem Schlaf zu reißen.

Frauke wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde, und entschied sich deshalb fürs Aufstehen.

Während sie in Jogginghose und Hoody schlüpfte, betrachtete Frauke ihre Freundin. Isa lag in Embryonalstellung mit dem Gesicht zu ihr. Sie hatte die Decke bis zum Kinn gezogen. Man sah nichts von ihr außer einer Flut langer, brauner Haare, die ihr wunderschönes Gesicht zur Hälfte verdeckten. Frauke hatte Isa schon oft im Schlaf betrachtet. Immer wieder war sie fasziniert davon, wie anders sie dann aussah. Hilflos und schutzbedürftig. Frauke war jedes Mal ganz gerührt davon.

Sie knipste die Nachttischlampe aus und verließ die Schlafkabine.

Den Wohnwagen samt Vorzelt hatte Frauke vor fünf Jahren von einem Rentnerehepaar übernommen, denen es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich war, dauerhaft auf einem Campingplatz zu leben. Sie hatte von dem Verkauf rein zufällig gelesen. Seit sie zwanzig war, hatte sie davon geträumt, so zu wohnen. Unabhängig und im Grünen. Zusammen mit dem fest verbauten Vorzelt hatte sie in ihrem neuen Zuhause mehr Wohnfläche zur Verfügung als in ihrem Appartement in der Hammerstraße, wo sie nicht mal einen Balkon gehabt hatte.

Frauke goss sich einen grünen Tee auf und hockte sich dann mit angezogenen Beinen auf die Bank der Sitzecke. Auf dem Tisch lag die Zeitung von gestern. Sie schlug sie auf, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Rainer hätte gestern nicht diese Anspielung machen sollen. Warum hatte dieser Mann nicht einfach seine Klappe gehalten? Und warum war sie darauf angesprungen? Das war wohl die viel entscheidendere Frage. Sie hätte das ignorieren müssen.

Seit Februar war Frauke jetzt mit Isa zusammen. Vor sieben Monaten war Isa zu ihr auf den Campingplatz gezogen. Von Zusammenziehen war da eigentlich noch gar keine Rede gewesen. Aber Isa war wegen Eigenbedarfs gekündigt worden, und so hatten sie beschlossen, es zu probieren. Frauke wusste, dass das Wohnen auf dem Campingplatz nur ein großes Experiment für Isa war. So wie alles, auf das sich Isa einließ. Alles war wie ein Spiel für sie. Auch die Beziehung zu ihr.

Frauke pustete in ihren Becher. Sie überlegte, ob sie Isa mit Brötchen zum Frühstück überraschen sollte, wurde aber durch ein Klopfen an eines der Fenster aus diesem Gedanken gerissen. Frauke war vor Schreck zusammengefahren, sodass etwas von dem Tee auf ihrem Handrücken gelandet war. Sie stieß einen Fluch aus, zwängte sich hinter der Bank hervor und spähte aus dem Fenster. Draußen stand eine wild gestikulierende Corinna mit ungekämmten Haaren und im Jogginganzug.

Frauke schob das Fenster ein Stück auf. »Was ist los? Braucht ihr Kaffee?«

Corinna schüttelte den Kopf. »Ihr müsst sofort zur Rezeption kommen. Es geht um Rainer. Er ist tot! Die Polizei ist schon unterwegs.«

Eva Mertens, Kommissarin bei der Kripo Münster, und ihr Kollege Tim Novak schauten auf den Mann hinunter, der vor ihnen am Boden lag. Unter seinem Kopf hatte sich eine riesige, dunkelrote, fast schwarze Blutlache sternförmig ausgebreitet.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Tim den Notarzt, der vor der Leiche kniete, und fügte hinzu: »Bin ich froh, dass ich noch keine Zeit zum Frühstücken hatte.«

»Jemand hat ihm mit voller Kraft eine Weinflasche auf den Kopf geschlagen. Anschließend muss dem Täter die Flasche aus der Hand gefallen sein oder er hat sie fallen gelassen. Jedenfalls ist sie auf dem Boden zersprungen. Was Sie hier sehen, ist nicht nur Blut, sondern zum Teil auch Rotwein.«

Jetzt erst nahmen Eva und Tim die Scherben wahr, die um den Mann herumlagen.

»Wo ist der Rest der Flasche?«, fragte Eva. »Der Flaschenhals und der Boden?«

»Nicht hier«, antwortete Dr. Jaspers. »Der Täter wird die Teile wohl eingesammelt haben. Was Sinn ergibt, immerhin handelt es sich um die Tatwaffe. Und Fingerabdrücke auf Flaschen sind ja für die Beweisaufnahme ein reines Geschenk.«

Eva betrachtete das Opfer zu ihren Füßen aufmerksam. Der Anblick war grausig. Dabei war es gar nicht mal die schwere Kopfverletzung, die so abschreckend wirkte. Die konnte man, aufgrund des vielen geronnen Blutes, nur erahnen. Es war vielmehr sein Gesicht. Unter beiden Augen hatten sich Blutergüsse gebildet. Sie leuchteten wie zwei dunkelviolette Halbmonde. Es schien, als hätte der Täter sein Opfer nicht nur mit einer Weinflasche erschlagen, sondern ihm auch noch zwei blaue Augen verpasst. Außerdem war die Leichenstarre bereits voll ausgeprägt. Die Gesichtszüge wirkten maskenhaft, so wie es für dieses Stadium typisch war. Aber da war noch etwas anderes. Die linke Gesichtshälfte war ein Stück abgesackt, als hätte der Mann kurz vor seinem Tod eine schiefe Grimasse geschnitten, die dann so geblieben war.

»War er sofort tot?«, fragte Eva.

»Genau kann ich das nicht sagen. Aber er war sofort ohne Bewusstsein. Es sieht nach einer Felsenbeinfraktur aus, also ein Schädelbasisbruch. Dafür sprechen die Blutergüsse unter den Augen und die Gesichtsnervenlähmung. Die erkennt man an den asymmetrischen Gesichtszügen. Das Schädeldach wird auch gebrochen sein. Eine volle Weinflasche kann schon einiges anrichten. Beide Frakturen sind nicht unbedingt tödlich, aber in diesem Fall wird es durch die Wucht des Schlags zu einer Hirnblutung gekommen sein, die dann zum Tod geführt hat. Die Gerichtsmedizin wird Ihnen da ja noch Genaueres zu sagen. Für den Moment können wir festhalten, dass der Tod durch brachiale, vermutlich spontane Gewalteinwirkung auf den Kopf herbeigeführt wurde.«

»Man, man, man«, sagte Tim und wandte den Blick ab.

Eva entging nicht die Blässe in seinem Gesicht. Der Anblick des Mordopfers schien Tim diesmal mehr zuzusetzen als sonst. »Ungefährer Todeszeitpunkt?«, fragte sie den Arzt.

»Ich denke, dass der Tod zwischen 20 und 23:30 Uhr eingetreten ist. Viel später sicher nicht. Bei dieser Kälte dauert das Voranschreiten der Leichenstarre viel länger. Aber der Leichnam ist schon komplett versteift. Das indiziert einen Todeszeitpunkt vor Mitternacht.«

Ein Motorengeräusch erklang, und Tim und Eva hoben die Köpfe. Auf der Zufahrt zum Campingplatz, die rechts und links von blattlosen Bäumen gesäumt war, näherte sich ein Auto.

»Wir machen mal Platz für die Kollegen der Kriminaltechnik und kümmern uns um das Trüppchen da drüben«, sagte Eva zu Dr. Jaspers. »Da ist wahrscheinlich auch die Dame dabei, die den Toten gefunden hat, oder?«

»Ja. Das sind Dauercamper. Die wohnen alle hier auf dem Campingplatz, und dafür haben sie meine volle Bewunderung. Ich bin auch leidenschaftlicher Camper, aber nur bei Außentemperaturen jenseits der zwanzig Grad.« Dr. Jaspers teilte Eva und Tim noch mit, dass er sich auf den Weg machen werde, sobald er den Totenschein ausgestellt habe.

Der Tatort, zu dem Evas und Tims Chef sie heute Morgen bestellt hatte, befand sich auf einem Campingplatz. Das Opfer, Rainer Heffner, war der Besitzer des Platzes gewesen.

Bis heute Morgen hatte Eva nichts von diesem Campingplatz gewusst, obwohl er nicht mal fünf Kilometer von Münsters Innenstadt entfernt war. Um genau zu sein, hatte sie auch noch nie etwas von der Bauernschaft Hofkamp gehört, zu der der Campingplatz gehörte – wunderschön gelegen direkt am Ufer der Werse, umgeben von alten Bäumen, Feldern und Weiden.

Auf dem Weg zu der kleinen Menschenansammlung sagte Eva zu Tim: »Du siehst total erledigt aus. Warst du feiern?«

»Feiern? Ich wüsste nicht, wann ich das letzte Mal feiern war. Nein, Louis hat die ganze Nacht geschrien. Er leidet unter Blähungen. Ich sage dir, ich bin so am Ende. Ich könnte im Stehen einschlafen.«

»Es ist aber auch ein Pech, dass immer wir beide Bereitschaft haben, wenn etwas passiert.« Evas Gedanken wanderten kurz zu ihrer Kollegin und Freundin Katharina Klein, die das Wochenende mit ihrem Freund im Sauerland verbrachte. Sie hielt Tim eine Schokokugel in goldenem Alupapier hin, doch der schüttelte den Kopf. »Danke, aber so früh am Morgen kann ich noch keine Schokolade essen.«

»Nein?« Eva war erstaunt. Nach ihrer Meinung war das Genießen von Schokolade völlig unabhängig von der Tageszeit. »Das tut mir leid mit dem Kleinen. Aber toll, dass du Annkathrin unterstützt und nicht alles ihr überlässt.« Sie wickelte die Schokokugel aus und schob sie sich in den Mund.

»Das würde Annkathrin gar nicht zulassen. Da muss man sich keine Sorgen machen.«

Eva zog ihren Strickschal fester um den Hals. Es war empfindlich kalt heute Morgen. Fast so eine trockene Kälte, wie man das vom Januar kannte. Sie warf Tim einen Blick zu, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte und mit hochgezogenen Schultern neben ihr her stapfte. Kein Wunder, er trug nur eine dünne Jeansjacke.

Tim hatte gerade seinen dreiundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Seit vier Monaten war er Vater und im Gegensatz zu seiner Freundin, die immer einen ausgeruhten und entspannten Eindruck machte, schien Tim die neue Lebenssituation ziemlich zu schlauchen. Das muntere Glitzern in seinen eisblauen Augen hatte Eva jedenfalls schon lange nicht mehr gesehen. »Das erste von dreien«, hatte er zu Katharina und ihr gesagt, als sie im Kling-Klang auf die Geburt seines Sohnes angestoßen hatten. Eva fragte sich, ob diese Familienplanung immer noch aktuell war.

Sie erreichten die kleine Gruppe, und Eva widmete ihre Aufmerksamkeit den vier Frauen und zwei Männern, die eng beieinanderstanden und sich mit den beiden Streifenpolizisten unterhielten. Alle trugen sie gefütterte Jacken, Mützen und festes Schuhwerk. Camper halt, dachte Eva und sagte in die Runde: »Guten Morgen zusammen.«