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Seitenzahl: 160
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Lord Richard stürzte auf Lesly zu. Sie hatte blitzartig die grausame Empfindung, er würde sie im nächsten Moment über die niedrige Mauer hinabstoßen, so wie er es vielleicht einst… Sie konnte den entsetzlichen Gedanken im Augenblick nicht abwehren. »Nein! Nein!« wimmerte sie mit zitternden Lippen. »Ich will nicht sterben, ich will leben!« Aber da war Lord Richard schon bei ihr. Und während sie von Angst geschüttelt auf das Gefühl des Fallens in die unendliche Tiefe wartete, hatte er sie bereits an seine Brust gerissen und in seinen Armen geborgen. »Aber ja, mein Liebling, du sollst ja leben. Keiner tut dir etwas. Hör auf zu schreien, ich bin ja bei dir«, murmelte er und hielt sie dabei so fest, als wollte er sie nie wieder hergeben.
Der Zug war schon längst wieder abgefahren, als sich das mittelgroße, etwa 25 Jahre alte junge Mädchen im Bahnhof von Port William noch immer suchend umsah. Bisher hatte sie niemanden entdeckt, der zu ihrem Empfang gekommen war. Sie wollte eben einem der Gepäckträger winken, daß er ihr behilflich sein möge, die nicht ganz leichten Gepäckstücke in die Bahnhofshalle zu befördern, als plötzlich die große gläserne Flügeltür, die sich hinter der Sperre befand, von einer kräftigen Männerhand energisch aufgestoßen wurde.
Der hochgewachsene, gutaussehende Mann, der lässig eine offene pelzbesetzte Lederjacke trug, schaute sich einen Moment suchend um und kam dann, ohne zu zögern, mit kräftigen Schritten geradewegs auf das Mädchen zu. »Ich nehme an, Sie sind Miß Gillen«, sagte er. Dabei musterte er sie mit einem raschen Blick seiner durchdringenden stahlblauen Augen von Kopf bis Fuß.
Lesly brachte keinen Ton heraus, sondern nickte nur befangen. Sie wußte nicht warum, aber sie hatte sich den Lord ganz anders vorgestellt, irgendwie älter, steifer, würdevoller. Gewiß, er war ganz Herr und sicher streng, wie sein ungeniert musternder Blick bewies. Dennoch wirkte er auf Anhieb offen und jugendlich, obwohl die Sorgenfalten auf der Stirn, die vielen Fältchen um die Augen und auch der graue Ansatz des sonst vollen dunkelblonden Haares an den Schläfen darauf hindeuteten, daß er mindestens Ende Dreißig sein mußte.
Leslie fand, daß der Lord eher wie ein Held aus einem Westernfilm aussah. Und ihr Herz, das im Umgang mit Männern bisher völlig unerfahren war, fing noch eine Spur stürmischer zu klopfen an. Sie war so verwirrt, daß sie fast seine Hand übersehen hätte, die er ihr zur Begrüßung hinhielt.
Lord Rainmoor entging ihre offensichtliche Befangenheit und Verwirrung nicht. Ein leichtes Lächeln überflog sein Gesicht und ließ es vorübergehend entspannter und weniger streng erscheinen.
Die Kleine gefiel ihm auf den ersten Blick. Er war mit gemischten Gefühlen zum Bahnhof gefahren, in der Befürchtung, ein gekünsteltes Großstadtgeschöpf zu treffen. Aber Pambroke hatte ihn nicht enttäuscht. Er schien sorgfältig ausgewählt zu haben. Hoffentlich steckte aber auch genug Energie in diesem zarten Persönchen. Sie würde nicht immer einen leichten Stand mit ihrer Schutzbefohlenen haben.
Ein leiser Schatten huschte über sein Antlitz bei diesem Gedanken. Er gab Miß Gillens Hand frei und griff nach den beiden Koffern.
»Hatten Sie eine angenehme Reise, Miß Gillen?«
»O ja, danke, Sir«, erwiderte sie, während sie hastig versuchte, ihm beim Aufheben des Gepäcks behilflich zu sein.
»Kümmern Sie sich um Ihre Handtasche, Miß Gillen.«
Er hatte es fast schroff gesagt. Es hörte sich wie eine Zurechtweisung an, und Lesly war zusammengezuckt. »Sehr wohl, Mylord«, sagte sie leise.
Er wandte flüchtig den Kopf zu ihr zurück: »Nennen Sie mich nicht Sir und Mylord, Miß Gillen, sondern reden Sie mich ganz einfach mit meinem Namen an. Sie werden mit der Zeit noch merken, daß ich für verstaubte Etikette nicht allzuviel übrig habe, sondern praktisch veranlagt bin und mit beiden Beinen auf dieser Erde stehe. Sie kommen auch nicht auf ein verwunschenes Märchenschloß, falls Sie sich so etwas vorgestellt haben, sondern in einen gutbürgerlich funktionierenden Haushalt.«
Mit diesen Worten hatte er die Halle durchquert, und nun standen sie draußen auf der Straße. Mit einem aufmunternden Lächeln, das wohl seine vorherigen etwas barschen Belehrungen abmildern sollte, zeigte er jetzt mit einer einladenden Gebärde auf eine leichte Pferdekutsche und weidete sich offensichtlich an dem verblüfften Gesichtsausdruck von Lesly.
»Ja, Miß Gillen, obwohl – wie ich Ihnen schon angedeutet habe – bei uns alles einen normalen und nüchternen Tagesablauf nimmt, kommen Sie dennoch gleich zu einer für Sie möglicherweise romantischen Kutschfahrt. Pferde sind für uns dort oben noch das zuverlässigste Beförderungsmittel, ganz abgesehen davon, daß ich diese Tiere liebe und gern weite Ausritte mache.
Ich hoffe, Sie können ebenfalls reiten. Wenn nicht, werde ich es Ihnen beibringen. Im übrigen werden Sie während unserer Fahrt in die Berge jetzt selbst feststellen, daß die steinigen, unebenen, teilweise sehr schmalen Straßen und Wege mit dem Pferdefuhrwerk besser zu nehmen sind. Außerdem haben wir weiter oben oft undurchdringlichen Nebel, der ein Fahren mit dem Auto zum gefährlichen Risiko machen würde. Die Pferde aber finden ihren Weg immer, ohne jemals daneben zu treten. Nicht wahr, Arrow und Devil?«
Zärtlich tätschelte der Lord den beiden feurigen Rappen die schlanken Hälse. Dann verstaute er das Gepäck im Innern des Wagens und war Lesley beim Hinaufsteigen behilflich. Fürsorglich legte er noch einen Wollplaid über ihre Knie.
Er nahm die Zügel auf, schnalzte mit der Zunge, und die Pferde zogen unverzüglich an, ließen sich gehorsam durch die Stadt lenken und fielen, sobald sie außerhalb waren, gleich in einen leichten Trab.
Es dauerte nicht lange, bis sie sich auf den schmalen, kaum befahrbaren Straßen des Hochlandes befanden, die teilweise recht abschüssig verliefen, dann wieder steil nach oben führten und sich an zerklüfteten Felsen vorbeischlängelten. Dann kam wieder streckenweise flacheres Gebiet. Die Pfade führten durch karge Ackerlandschaften hindurch, umrundeten einige kleine Seen und liefen an morastigen Wiesen entlang, um dann erneut in die Felslandschaft einzumünden.
Lord Rainmoor war während der Fahrt auffallend schweigsam, ja, zeitweise erschien es Lesly, als hätte er ihre Gegenwart überhaupt vergessen. Ein paarmal hatte sie ihm einen verstohlenen Biick von der Seite zugeworfen und sich über sein verschlossenes, grüblerisches Aussehen gewundert. Lesly war sich noch immer nicht im klaren, wie sie diesen Mann, ihren zukünftigen Arbeitgeber, einstufen sollte. Hatte sie zuerst sein blendendes Aussehen verwirrt, so hatte sie wenig später sein rauher Befehlston eingeschüchtert. Danach wiederum hatte er sich von unkonventionell natürlicher Art gegeben, die ihr wieder Mut gemacht hatte, während sein augenblicklicher schweigsam verbissener Gesichtsausdruck und die geistesabwesende, fast verzweifelte Leere in seinen Augen ihr fast Furcht einflößten und sie fröstelnd zusammenschauern ließen.
Lesly zog die Decke dichter an sich und bemerkte, daß die Luft diesig und damit kühler und feuchter wurde, wie es der Lord vorausgesagt hatte. Ohne den warmen Plaid hätte sie jetzt sicher jämmerlich gefroren. Es ging auf den Abend zu, und Lesley, die das Hochland bisher nur vom Hörensagen kannte, bekam gleich einen Vorgeschmack seiner sagenumwitterten Beschaffenheit. Die Luft war jetzt nicht mehr mit gleichmäßigem Dunst angereichert, sondern von wallenden Nebelschleiern und tanzenden Nebelfetzen angefüllt, die die bizarrsten Formen annahmen und bald so dicht herankamen, daß die nähere Umgebung hinter ihnen versank und manchmal sogar die dunklen Leiber der Pferde nur noch als Schemen sichtbar waren. Großer Gott, dachte sie, war es möglich, daß die Tiere in dieser Undurchdringlichkeit wirklich unbeirrt ihren Weg fanden und nicht vom Pfad abkamen und an irgendeinem Abhang in die Tiefe stürzten?
Es war, als hätte Lord Rainmoor ihre Angst und Zweifel gespürt. In seine Augen kehrte wieder Leben und die Beziehung zum Augenblick zurück. Für einen Moment legte er seine kräftige Rechte über Leslys Hände.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, Miß Gillen. Es passiert uns nichts. Arrow und Devil kennen sich aus. Sie sind diese Witterungsverhältnisse, die hier oben ganz normal sind, gewohnt und bringen uns heil und unbeschadet ans Ziel. Auch Sie werden sich – hoffentlich – bald an den häufigen Nebel gewöhnen. Wer ihn ständig um sich hat, dem wird er vertraut und für den verliert er seine furchteinflößende Wirkung.«
Die Stimme des Lords klang beruhigend und warm, ja, fast herzlich. Sie löste ein Gefühl vor Geborgenheit bei Lesly aus. Erneut überflutete sie eine Welle impulsiver Zuneigung zu ihm, und für einen winzigen Moment kam ihr der Gedanke, wie schön es sein mußte, den Kopf an seine starke Schulter zu legen und sich in seinem Schutz sicher zu fühlen. Aber schon im nächsten Augenblick schob sie diesen Gedanken, maßlos über sich selbst erschrocken, ganz weit weg. Angestrengt blickte sie nach vorn, um sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Und dann sah sie es. Erst glaubte sie, daß es nur eine weitere, große Nebelfigur sei. Aber dann schälten sich immer deutlicher Umrisse und Konturen heraus, und gleichzeitig hörte sie Lord Rainmoor sagen: »Wir haben es geschafft, Miß Gillen. Was Sie dort vorn, undeutlich noch, sehen, ist Rainmoor-Castle.«
Die Kutsche fuhr jetzt in einer Schleife auf den Innenhof ein, und vor Leslys groß werdenden Augen erhob sich ein imposanter, trutziger Bau, dessen nahe Steinmauern den Nebelschleier zerrissen.
*
Sekundenlang saß Lesly wie erschlagen. Nein, dies war wirklich kein verwunschenes Märchenschloß, verspielt, mit Türmchen und Kuppeln und bewachsen mit Efeu und Rosenranken. Das hatte sie hier oben in der felsigen Einöde auch nicht erwartet, es hätte gar nicht hierher gepaßt. Aber nach der Ankündigung des Lords hatte sie eigentlich damit gerechnet, vielleicht ein zweckmäßig gebautes Gutshaus im Landhausstil vorzufinden. Was da jedoch seine dicken bleigrauen Mauern mit wohnhaften Türmen und Zinnen gen Himmel reckte, war eine regelrechte alte Ritterburg, wie sie zur Zeit König Artus üblich gewesen sein mochte.
Fröstelnd, mitgenommen und übermüdet, konnte sie nicht dagegen ankämpfen, daß die Vision von ihr Besitz ergriff, dieses Schloß würde etwas ihr feindlich Gesinntes, eine Bedrohung, darstellen.
Ihre hübschen graugrünen Augen mußten wohl die ganze Skala ihrer Empfindungen widerspiegeln, denn Lord Rainmoor sah sie fast erschrocken an und nahm ihren Arm.
»Miß Gillen, das Schloß meiner Väter scheint Ihnen einen Schrecken eingejagt zu haben. Nun ja, abends und bei Nebel wirkt es tatsächlich nicht gerade einladend. Bei Tageslicht werden Sie sich eher damit anfreunden. Und jetzt lassen Sie uns hineingehen!«
Lesly warf noch einen bedrückten Blick zu den großen, viereckigen, wie dunkle Löcher anmutenden Fenster hoch. Das Schloß lag in vollkommener Finsternis, kein Lichtschimmer drang von innen nach draußen. Aber, als sie jetzt die geräumige Empfangshalle betrat, bekam sie die Erklärung dafür. Schwere dunkelrote Veloursvorhänge fielen von der Decke bis zum Boden über die Fenster hinab und dichteten sie so vollkommen ab. Die kostbaren Seidentapeten und die kristallenen Kronleuchter verliehen den Räumen eine majestätisch gediegene Atmosphäre.
Während sich Lesly noch beklommen umschaute, öffnete sich eine der Seitentüren, und herein trat eine ältere grauhaarige, etwas füllige Dame mit gütigem Gesicht, auf die Lord Rainmoor in selbstverständlicher Natürlichkeit zuging und ihr ohne großes Zeremoniell seine junge Begleiterin vorstellte.
»Dies, liebe Frau Doyle, ist also Miß Lesly Gillen, die ich Ihrer Obhut übergebe. Zeigen Sie ihr bitte ihr Zimmer und die sonstigen Räume, wo sie sich frisch machen und für den Abend umziehen kann. Sie wird sicher gern den Reisestaub abschütteln wollen.
Und Sie, Miß Gillen, vertrauen sich ruhig unserer guten Norma Doyle an. Sie ist der gute Geist dieses Hauses und sorgt für unser Wohlbefinden. Dank ihrer Umsicht und Fürsorge läuft hier alles wie am Schnürchen. Ich selbst werde inzwischen abspannen und mich um die Pferde kümmern. Wir sehen uns dann zum Abendessen.«
Der Lord nickte den beiden Frauen kurz zu und verließ dann das Haus, während Lesly sich von Frau Doyle auf ihr Zimmer bringen ließ. Es lag im ersten Stock, und das junge Mädchen war überrascht, wie nett und freundlich es eingerichtet war, mit hellen, zweckmäßigen Möbeln und duftigen, leichten Vorhängen vor den Fenstern.
Hätte sie nicht ganz genau gewußt, daß sie sich im Innern eines unheimlich und düster wirkenden Schlosses befand, sie hätte geglaubt, sich in einer netten, ganz normalen Stadtwohnung aufzuhalten.
Genauso erging es ihr wenig später, als Frau Doyle sie abholte, um sie zum Abendessen in den Speisesaal zu führen. Dazu durchquerten sie erst das Wohnzimmer, das allerdings wie alle Räume im Erdgeschoß schwere dunkelrote Vorhänge hatte und wunderschöne alte kristallene Lampengehänge und mit kostbaren Teppichen ausgelegt war. Was aber die Möbel anbetraf, so waren sie weder besonders pomphaft noch übermäßig verschnörkelt, sondern sie waren zweckmäßig, ja, sogar einladend gemütlich, so daß man sich durchaus wohl zwischen ihnen fühlen konnte. Lesly dachte, daß es am Tage, wenn die Vorhänge aufgezogen waren und vielleicht sogar die Sonne von außen hereinschien, ganz wohnlich in diesen Räumen sein mußte. Das beklemmende Gefühl, die Angst, die sie bei ihrer Ankunft hier ergriffen hatte, begann von ihr zu weichen.
Im Speisesaal erwartete sie bereits Lord Rainmoor, an seiner Seite eine junge schwarzhaarige Frau, in welcher Lesly die Schloßherrin vermutete. Sie wollte eben einen ehrerbietigen Knicks andeuten, als sie Lord Rainmoor sagen hörte:
»Hier, Miß Gillen, möchte ich Ihnen Ihre zukünftige Schutzbefohlene, meine Tochter Linda, vorstellen. Ich möchte, daß Sie sie lediglich mit ihrem Vornamen anreden. Sie ist daran gewöhnt und reagiert nur darauf. Die wenigen Angestellten meines Hauses wissen dies und richten sich danach.«
Erstaunt über diese Worte, richtete Lesly ihren Blick voller Aufmerksamkeit auf das junge Mädchen. Die Erkenntnis, die sie dabei machte, fuhr wie ein Keulenschlag auf sie nieder, und sie zuckte zusammen. Zwar hatte sie sich im nächsten Moment sofort wieder in der Gewalt, dennoch konnte Lord Rainmoor ihre Reaktion nicht entgangen sein. Sein Gesicht verschloß sich, und es schien ihn Mühe zu kosten, seine Tochter in ruhigem, unbeteiligtem Ton aufzufordern, Miß Gillen zu begrüßen.
»Gib Miß Gillen die Hand und sei freundlich zu ihr, Linda. Sie wird jetzt jeden Tag mit dir zusammen sein und dir Gesellschaft leisten, damit du nicht mehr so einsam bist.
Ich hoffe jedenfalls, daß Sie – wenigstens vorerst einmal, solange die Probezeit läuft – hierbleiben«, fuhr er dann, zu Lesly gewandt, fort.
Lesly wandte ihm, nachdem sie die feingliedrige Hand des Mädchens für einige Augenblicke in der ihren gehalten hatte, ihr Gesicht zu, das nun wieder völlig beherrscht war.
»Ich bitte um Entschuldigung, Lord Rainmoor, daß ich mich nicht besser unter Kontrolle hatte. Aber man hätte mich vorbereiten sollen. Selbstverständlich ist dies kein Grund für mich, etwa vom Vertrag zurückzutreten. Ich werde ihn nach besten Kräften zu erfüllen versuchen.«
»Das freut mich. Darf ich Sie dann zu Tisch bitten?«
Er wies ihr einen Platz an. Während ein Diener die Speisen auftrug, hatte Lesly Muße, ihr aus den Fugen geratenes Gleichgewicht wieder zu stabilisieren.
Das hier war etwas, womit sie nicht im entferntesten gerechnet hatte. Sicher, auf Grund der Zeitungsannonce, in der nicht nur von einer Gesellschafterin, sondern auch von einer »Pflegerin« die Rede war, hatte sie sich in ihren Vorstellungen damit vertraut gemacht, mit einem körperlichen Gebrechen konfrontiert zu werden. Auch die vagen Äußerungen des Anwalts Pambroke, der ihre Bewerbung in Glasgow entgegengenommen hatte, hatten auf so etwas hingedeutet. Aber niemals wäre ihr der Gedanke an Geistesgestörtheit gekommen.
Es hatte sie getroffen wie ein Blitz, als sich ihre Blicke auf das schöne, ebenmäßige und bleiche Gesicht der jungen Lady geheftet und darin nichts weiter gefunden hatten als das leere, törichte Lächeln einer Idiotin. Wie war es nur möglich, daß in diesem grazilen Körper und dem edlen Kopf mit dem ätherisch schönen Antlitz ein kranker Geist wohnen konnte?
Heißes Mitgefühl mit diesem bedauernswerten Geschöpf ergriff Lesly, nachdem sich ihr erstes Erschrecken über die schwere Aufgabe, die ihr bevorstehen würde, gelegt hatte. Sie fühlte sich befangen und war dem Lord deshalb dankbar, daß er nach einiger Zeit versuchte, ein neutrales, ungezwungenes Gespräch in Gang zu bringen, das sich um ihre Reiseeindrücke drehte.
Lesly taute während der ablenkenden Konversation so auf, daß sie fast ihre alte Fröhlichkeit wiedererlangte. Aber auch Lord Rainmoor ließ sich, so hatte es den Anschein, gern von der bezaubernden Frische und Natürlichkeit der neuen Hausgenossin mitreißen. Ein paarmal machte er sogar scherzhafte Bemerkungen.
Lesly ertappte sich erneut dabei, daß sie diesen Mann mit den durchdringenden stahlblauen Augen, der geraden Nase, den schmalen, gutgeformten Lippen und dem energischen Kinn äußerst attraktiv fand. Um über diese Feststellung nicht wieder verlegen zu werden, schaute sie zu Linda hinüber, die die ganze Zeit über still und wie unbeteiligt – sicher verstand sie ja auch nicht viel von der Unterhaltung – mit Essen beschäftigt war.
Und dann gefror Lesly fast das Blut in den Adern, einen so haßerfüllten, tückischen Blick fing sie aus den vorhin so leblos und auch harmlos anmutenden schwarzen Augen auf, der weiche, feingeschwungene Mund war verzerrt, und die schlanken weißen Hände zerknüllten wie in großer Erregung die Serviette.
Lord Rainmoor, dem die plötzliche Veränderung in Leslys Gesicht aufgefallen war, folgte ihrem Blick. Für einen Moment bemerkte Lesly Bestürzung in seinen Zügen. Dann wurden sie hart, und er herrschte die Geisteskranke mit einem heftigen »Linda!« an.
Augenblicklich erlosch das böse Glitzern in ihren Augen und machte wieder dem vorherigen Stumpfsinn Platz. Kurz darauf erschien Frau Doyle, der Lord Rainmoor Anweisung gab, Linda zu Bett zu bringen.
»Ab morgen wird sich Miß Gillen um alles, was Linda betrifft, kümmern. Heute möchte ich noch einiges mit ihr besprechen, Frau Doyle. Wir gehen jetzt in das Wohnzimmer zum Kamin hinüber. Lassen Sie uns von Jerry eine Flasche Wein servieren.« Und zu Lesly gewandt: »Kommen Sie, Miß Gillen, es ist wohl unerläßlich, daß ich Ihnen noch einige Erklärungen gebe.«
Fürsorglich rückte der Schloßherr einen der schweren, bequemen Sessel vor dem Kamin für Lesly zurecht und wartete dann, nachdem sie Platz genommen hatten, bis der Butler Jeremy mit dem Wein erschien und zwei schön geschliffene Kelche damit füllte.
»Auf Ihre glückliche Ankunft hier oben, Miß Gillen«, sagte der Lord und führte sein Glas zum Mund. Als er es wieder absetzte, glitt sein Blick wie prüfend über ihr feines Gesicht mit dem kleinen, weichen und doch ausdrucksvollen Mund.
»Miß Gillen, bevor ich mit Ihnen über Ihren Aufgabenkreis im Schloß spreche, hätte ich eigentlich gern noch etwas mehr über Sie selbst gewußt. Es ist Ihnen ja bekannt, daß ich mit der Einstellung einer geeigneten Person meinen langjährigen Anwalt, Mr. Pambroke in Glasgow, beauftragt hatte. Ich vertraue seiner Menschenkenntnis durchaus und habe den Eindruck, daß er mit Ihnen keinen Fehlgriff getan hat. Trotzdem möchte ich mir gern noch ein vollständigeres Bild von Ihnen machen. Sie stammen aus Glasgow und haben dort Ihre Familienangehörigen?«
Über Lesly Gillens Gesicht ging ein flüchtiger Schatten, ehe sie antwortete: »Ich wurde sehr früh Waise und bin in einem Heim in Mittelengland aufgewachsen. Die Erzieherinnen waren sehr nett zu mir. Mit 18 Jahren wurde ich Gesellschafterin einer begüterten älteren Dame. Es war eine angenehme Stellung. Leider starb die alte Dame. Ich war gezwungen, mich nach einer anderen Tätigkeit umzusehen. Dabei stieß ich auf Ihr Inserat im Glasgower Tageblatt. Und nun bin ich hier.«
Lesley schaute, während sie sprach, hinunter auf ihre im Schoß zusammengelegten Hände. So bemerkte sie nicht den weichen Blick, mit dem Lord Rainmoor ihre schlanke Gestalt umfing und der schließlich auf ihrem seidigen aschblonden Haar ruhen blieb, das vom Widerschein der flimmernden Kaminglut in einen goldenen Schimmer getaucht wurde.
Richard von Rainmoor war innerlich angerührt. Das Schicksal hatte dieses junge Mädchen offensichtlich nicht auf Rosen gebettet. Ganz allein stand es in dieser Welt, gezwungen, für sich selbst zu sorgen und geradezustehen. Eine Welle von Anteilnahme überflutete ihn und ließ so etwas wie Beschützerinstinkte in ihm wach werden. Sie sah zerbrechlich aus.