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Auguste Fledermeyer ist Jahrgang 1517 und verbrachte ihre Jugend als autodidaktisches Kräuterweib. Nach erfolgreichem Ablegen des Schierlingsdiploms kehrte sie als praktizierende Hexe in ihre Heimat zurück, wo sie mit der lokalen Inquisition in Konflikt geriet. Insgesamt brachte es Auguste dabei auf 37 Verbrennungen, bevor sie eines Frühsommertages plötzlich verschwand. Kürzlich tauchte Frau Fledermeyer, auch zu ihrer eigenen Verwunderung, am Waldrand des harmlosen Städtchens Schinkelstedt wieder auf. Und mit ihr eine ganze Reihe anderer Gestalten, die wir eigentlich nur aus Märchenbüchern kennen. Sie verursachen natürlich ein Chaos. Aber die Katastrophe ist beabsichtigt und wird von den selben Mächten gesteuert, die Auguste einst hinterhältig aus dem Verkehr zogen. „Wenn ich also zusammenfassen darf: Ihr habt mich gefangen genommen, für Jahrhunderte in eine Höhle gesperrt, um mich dann wieder freizusetzen, damit ich die Leute erschrecke. Und anschließend wolltet ihr dann Helden spielen und damit Eindruck schinden, richtig?“ Auguste Fledermeyer Dieses DRM-geschützte eBook ist eine ungekürzte, digitale Version der Printausgabe (ISBN 978-3-940767-08-0) mit ca. 200 Normseiten.
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2012
André Ziegenmeyer Schatten über Schinkelstedt - Fabelwesen reloaded
© Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Edition Drachenfliege, Dezember 2011
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com - hq@periplaneta.com
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E-Book-Version 1.3 , ISBN 978-3-943876-02-4
Ungekürzte, digitale Ausgabe der Printausgabe, August 2008 (ISBN: 978-3-940767-08-0).
Cast & Crew: Chief Executive Officer: Marion A. Müller Screenplay and Novel: André Ziegenmeyer Editorial Office Chief Inspector: Jasmin Bär Editorial Office Chief Inspector Assistence: Marion A. Müller First Executive Photographer: Jasmin Bär First Executive Graphic & Art Director: Thomas Manegold, First Graphic and Art Director´s Assistent: Jasmin Bär Second Graphic and Art Director´s Assistent: André Ziegenmeyer Additional Broom and Hat Paintings: Marion A. Müller Auguste Fledermeyer: Equinox Auguste Fledermeyer Chief Assistent: Ralf Henke Rasputin: Jackalope Frank Wolpertinger Model Agency: Bamberger Trachtenstadl, Obere Sandstraße 5, 96049 Bamberg
Satz, Konvertierung: Thomas Manegold
André Ziegenmeyer
Fabelwesen Reloaded
periplaneta
Widmung
Für Christian, durch den diese Geschichte ihren Anfang nahm. Und für Ines, ohne die sie nie an ihr Ende gelangt wäre.
in wolper veritas
Wissen
„Fabelwesen, das; Sammelbegriff für eine Vielzahl Wesensformen, die teilweise magisch begabt und meist ausgesprochen reizbar sind. Bekannte Vertreter: der Kobold, der niederschlesische Hutnager und die transsilvanische Gewitterschnepfe. Ein Großteil der Wirren des Mittelalters ging auf die Umtriebe dieser quirligen Wesen zurück. Seit mehreren Jahrhunderten gelten Fabelwesen allerdings als verschollen. Die Ursache dafür konnte nie geklärt werden. Allgemein hat es sich jedoch eingebürgert, in diesem Zusammenhang von einem Glücksfall zu sprechen.“
aus: Der Druden. Handwörterbuch für Hexen und andere fabulare Existenzen; Bad Schauringen 1868.
Dampfwolken zischten aus verborgenen Ventilen hervor, als sich die Hochsicherheitsschleuse vor Bischof Korkenbaum öffnete. Unwillkürlich zuckte der alte Geistliche zusammen, während seine Finger weiterhin den großen, roten Knopf zu seiner Linken gedrückt hielten. Das Knirschen der Mechanik hallte hinter ihm durch das spärlich beleuchtete Tunnellabyrinth.
Mit vernehmlichem Quietschen hob sich ein schweres Stahlschott, gelb-schwarze Markierungen glitten durch sein Blickfeld, das rote Licht der Warnlampen huschte über sein Gewand – und all das war nicht dazu angetan, die Stimmung des Bischofs zu heben. Auch der rote Widerschein, der sich in dem bronzenen Kruzifix auf seiner Brust fing und an die wildromantischen Zeiten der katholischen Kirche gemahnte, half da nicht weiter.
Stattdessen brummte Korkenbaum grollend vor sich. Und es war gewiss kein ‚Ave Maria’, was ihm dabei über die Lippen kam. Auf seinem Gesicht, das mit den ernsten Zügen an einen griesgrämigen Dachs gemahnte, zeigten sich deutliche Anzeichen fortgeschrittenen Unwillens.
Sobald der Lärm verhallt war, setzte der Bischof seinen Weg fort. Dabei bewegten sich seine Füße schleppend, als koste ihn jeder Schritt eine gewisse Überwindung. Nach wenigen Metern betrat er eine große Halle. Riesige Regale ragten an ihren Seiten empor und verloren sich irgendwo unter der hohen Felsendecke. Dazwischen hasteten mehrere Dutzend Menschen umher. Etwa die Hälfte trug geistliche Gewänder, der Rest neonfarbene Signalwesten. In ihrer Weite wirkte die Höhle wie der in Stein gehauene Hangar eines Flugzeugträgers.
Der Bischof blieb stehen und blinzelte im gleißenden Scheinwerferlicht.
Als er sich ehedem für ein geistliches Leben entschieden hatte, da hatte die Aussicht auf Ruhe und Betulichkeit fernab weltlicher Wirren durchaus ihre Rolle gespielt. Auch die Perspektive auf eine geregelte Altersversorgung war nicht ganz reizlos. Und als er schließlich sogar den Bischofssitz von Bad Klöpplingen bekam, da war er vollauf zufrieden. Ein gemütliches Städtchen, das wie alle verschlafenen Orte vor allem auf seine Vergangenheit pochte, war ganz nach seinem Geschmack.
Doch seit vor zwei Monaten dieser Brief aus Rom eingetroffen war, hatte sich die Lage entschieden verschlimmert. Zwar hatte Zacharias Korkenbaum nichts gegen ein wenig päpstliche Aufmerksamkeit einzuwenden, doch bisher hatte er sich diese in Form einer Seligsprechung gewünscht – und damit nach seinem Tode.
Widerstrebend ging er weiter und hielt direkt auf das Durcheinander zu. Gabelstapler brummten, Schweißgeräte ließen ihre Funkenregen aufsprühen, und über allem lag ein monotoner Klangteppich aus Hämmern und Klopfen.
Der Bischof mochte diesen Ort nicht. Die emsige Betriebsamkeit, all der neumoderne Firlefanz – nach Korkenbaums Dafürhalten sollte ein geistliches Leben beschaulich sein. Ein paar ordentliche Vaterunser mit einer Messe zwischendrin, auch ein paar Rosenkränze konnten nicht schaden. Dies hier jedoch schmeckte ihm viel zu sehr nach Aufregung. Und Aufregung, das sagten ihm die Erfahrungen eines langen und enthaltsamen Lebens, war früher oder später mit Ärger verbunden. Außerdem setzte sie seinem Magen zu, und irgendjemand würde ihm für diese zwei Monate Bauchgrimmen büßen.
Am hinteren Ende der Halle erblickte der Bischof eine gewaltige Sammlung eiserner Container. Es war der einzige Bereich, in dem nicht mehr gearbeitet wurde.
Mit den technischen Einzelheiten, dem genauen Wie und Warum kannte er sich nicht aus. Aber er war sicher, dass man von ihm erwartete, sich die dortigen Behälter zu besehen und verständig mit dem Kopf zu nicken.
Ein weiteres Mal ließ Korkenbaum ein unterdrücktes Fluchen hören. Er hatte in jüngster Zeit einsehen müssen, dass es weit mehr Dinge auf der Welt gab, als er es sich zuvor hätte träumen lassen. Die meisten von ihnen legten die Vermutung nahe, dass man besser nicht mit ihnen herumspielte. Wahrscheinlich, so dachte er grimmig, geschähe es ihnen ganz recht, wenn ihnen der Berg einfach auf die Köpfe fiele.
Diese Höhle war das Herzstück eines weitläufigen, unterirdischen Komplexes, in dem sie alle seit mehreren Wochen lebten. Bei den Arbeitern wurde sie „die Arche“ genannt – ein Name, den Korkenbaum für eine Bergwerkskammer reichlich unpassend fand. Auf der anderen Seite musste er zugeben, dass die Form der Höhle tatsächlich vage an einen Schiffsrumpf erinnerte. Vor allem jedoch war es der Inhalt jener Kisten gewesen, der die Bezeichnung hervorbrachte.
In diesem Moment fand sich Bruder Nikodemus an der Seite des Bischofs ein. Auch er gehörte zu den Angelegenheiten, die Korkenbaums Groll ständig wachsen ließen.
Nikodemus von Schlupp, ins Geistliche ausrangierter Zweitsohn eines traditionsbewussten Adelshauses, trug ein Klemmbrett unter dem Arm und gehörte zur neuen Generation Kleriker, denen Eilfertigkeit und Diensteifer zur zweiten Natur geworden waren. Seine Familie hatte der Kirche einige Stiftungen vermacht und offenbar waren diese zu bedeutend, um ihren Sprössling in irgendeinem namenlosen Kloster endzulagern.
Für die Dauer des Projektes war er dem Bischof als persönlicher Sekretär zugeteilt worden. Nur allzu gut konnte sich Korkenbaum vorstellen, wie sich der vormalige Besitzer vergnügt die Hände rieb. Soweit er wusste, handelte es sich bei dem jungen Mann um eine Art Wanderpokal.
„Der Pilotversuch unserer ersten Testreihe hat vor exakt 2 Stunden und 23 Minuten begonnen, Hochwürden.“
Mürrisch nickend betrachtete Bischof Korkenbaum die vor ihm stehende Kiste. So ziemlich jeder ihm bekannte Kulturkreis hatte auf ihr seine Spuren hinterlassen. In die von Rost zernagte Oberfläche waren Runen, Hieroglyphen und Keilschriftzeichen gegraben – sowie einige andere Dinge, die noch sehr viel abenteuerlicher wirkten. Auf der Vorderseite war eine Bleiglasplatte eingelassen, durch die man ins Innere des Behälters blicken konnte.
„Ärger“, dachte er, während er hindurchschaute und eine Gänsehaut über seinen Rücken schlich, „großer, großer Ärger.“
Auguste Fledermeyer blickte an sich herab und verspürte ein mulmiges Gefühl. Die Hexe stand fest verschnürt an einem hölzernen Pfahl, während aus dem Holzstoß zu ihren Füßen die ersten Flammen hervorzüngelten. Die umstehende Menge verwandelte sich in ein Kabinett aus flirrenden Hitzeschemen, und an ihr Ohr drang ein heimtückisches Knistern und Knacken, das von höchst unerquicklichen Aussichten sprach.
Mit aller Kraft warf sich die Hexe gegen ihre Fesseln, doch ohne Erfolg. Das Seil schnitt sich nur tiefer in ihre Haut. Zaghaft begann das Feuer an ihr zu lecken, und der Qualm stieg beißend in ihre Lungen. Kurz darauf umfingen die Flammen sie ganz. Außerdem erinnerte sich Auguste später noch an einen sinistren Landsknecht, der ihren Allerwertesten während der gesamten Prozedur mit einer Mistgabel malträtierte.
Das aber war nicht das Schlimmste. Weit schwerer waren die Schreie zu ertragen, die von den anderen Scheiterhaufen herübergellten. Jeder einzelne von ihnen schnitt sich tief in Augustes Seele. Sie selbst verspürte keine Angst. Nur das ohnmächtige Verlangen, die Hände an jemandes Hals zu legen. Dann wurde es dunkel.
Heribert Müßiggang saß in einem prachtvollen barocken Arbeitszimmer. Die goldenen Strahlen der späten Abendsonne fielen durch hohe Bogenfenster hinein und spielten über die Gesichter kleiner Engelsputten. Pater Müßiggang liebte altmodisches Brimborium. Normalerweise vermochten die pausbäckigen Gesichter ihn stets aufzuheitern, doch an diesem Tag lag selbst auf ihnen ein Schatten.
Sorgsam presste er das päpstliche Siegel auf ein bereitliegendes Dokument. Mit leisem Zischen senkte es sich in das heiße Wachs hinein. Heribert Müßiggang war der Vorsteher der päpstlichen Kanzlei, und als solcher fiel ihm die Ausfertigung zahllosen Papierkrams zu. Das vor ihm liegende Schriftstück jedoch stellte in seiner Karriere eine Ausnahme dar. Nachdenklich blickte er auf den geprägten Wachsfleck, der leiste knisternd abkühlte.
Pater Müßiggang konnte sich nicht erinnern, wann jemand zum letzten Mal eine derart weitreichende päpstliche Vollmacht erhalten hatte. Vermutlich war dies seit Jahrhunderten überhaupt nicht mehr geschehen. Skeptisch musterte er das blasse, abweisende Gesicht seines Gegenübers, während er ihm die Urkunde aushändigte. Hoffentlich blieb ihm dieser Augenblick nicht als großer Fehler in Erinnerung.
Als Auguste Fledermeyer wieder erwachte, brauchte sie ein ganzes Weilchen, um die Baumwipfel vor ihren Augen davon abzubringen, beständig durcheinander zu tanzen. Ihr Kopf dröhnte. Es hatte nichts mit dem wohlverdienten Schmerz eines ausgedehnten Zechgelages zu tun. Vielmehr fühlte es sich nach dem Werk eines Gletschers an, der ungerufen und voll grimmer Felsbrocken aus düsterer Mitternacht erschienen war und ihr nun gemächlich von einem Ohr zum anderen rutschte.
Ursprünglich hatte sie die Augen nur geöffnet, um nicht mit diesem Gefühl allein zu sein. Dann kam die Übelkeit und sie hatte sie wieder geschlossen. Mittlerweile fühlte sich die Hexe einigermaßen in der Lage, ihre Umgebung zu ertragen – sie wusste nur nicht, an welchem Ort sich diese befand. Einer oberflächlichen Inventur zufolge beinhaltete ihr direktes Umfeld einen Fichtenwald, einen käsigen Vollmond und jede Menge Nebel – wogegen es kaum etwas einzuwenden gab. Nur leider konnte Auguste nicht sagen, wie sie an diesen Ort gelangt war.
Unter leisen, aber handverlesenen Verwünschungen setzte sich die Hexe auf – und klammerte sich sogleich am moosigen Untergrund fest, als der Gletscher gefährlich zu knirschen begann. Verschiedene Gedanken kämpften um ihre Aufmerksamkeit, blieben jedoch immer wieder in einem stumpfen Wust aus Schmerz und Verwirrung hängen.
Abwesend versuchte die Hexe, ihr langes, braunes Haar zu ordnen, von dem es insgesamt eine ganze Menge gab. Eigentlich zählte Auguste Fledermeyer durchaus zu den attraktiven Geschöpfen. Doch aus irgendeinem Grund wirkte die obere Region ihres Kopfes immer, als wäre sie das letzte überlebende Opfer eines Wirbelsturms. Außerdem machte die Hexe recht häufig von einer speziellen Eigenart Gebrauch.
Auguste Fledermeyer war in der Lage, ihre Augenbrauen so weit in die Höhe zu ziehen, dass sie jeweils einen perfekten rechten Winkel bildeten. Das förderte nicht unbedingt den natürlichen Liebreiz, war im Umgang mit anderen Personen jedoch von großem Vorteil. Bisweilen brachte es selbst Bäume und Steine in Verlegenheit.
Nun zeigte sich auf ihrem Gesicht ein ähnlicher Ausdruck, als sie argwöhnisch zum Himmel empor blinzelte. War der Mond auch letzte Nacht schon so voll gewesen? Diese Unsicherheit versetzte ihrem Berufsethos als Hexe einen empfindlichen Stich. Ebenso gut konnte man vergessen, wie viel Finsterwurz in einen Liebestrank gehörte! Doch allgemein schien ihr Gedächtnis derzeit einem Berg von Dingen zu gleichen, die jemand mit Hingabe aus ihren angestammten Regalen herausgeschüttelt und verquirlt hatte.
Je tiefer und angestrengter Auguste in sich hineinhorchte, umso stärker wurde das Gefühl, dass unter diesem Berg noch etwas anderes auf sie wartete. Und aus einem unbestimmten Grund war sie sicher, dass sie dieses Etwas nicht mögen würde. Mit der majestätischen Würde und Unaufhaltsamkeit einer Kontinentaldrift schob sich der Verdacht durch ihr Bewusstsein, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Nun“, dachte sie, während sie mühsam aufstand und einige Stücke Waldboden von ihrem Rock klopfte, „was immer es ist: es wird noch ein wenig warten müssen.“
Zunächst hielt sie es für ihre Pflicht, einigen Herren eine nachdrückliche Lektion in punkto guter Manieren zu verabreichen. Auch wenn ihre Erinnerung gegenwärtig ein paar Lücken aufwies, trug sich Auguste mit dem sehr eindringlichen Gefühl, nicht gut behandelt worden zu sein.
Schnaufend krempelte die Hexe ihre Ärmel hoch und stapfte los. Sie hatte nie ein besonderes Talent zur Untätigkeit besessen. Bisweilen brachte dieses Temperament gewisse Schwierigkeiten mit sich – allerdings vorrangig für andere Personen. Einigen Herrschaften stünde es daher besser an, wenn sie sich bereits ein paar überzeugende Antworten zurechtgelegt hätten.
Ihre drohend erhobenen Augenbrauen sorgten dafür, dass viele Tiere in dieser Nacht einen weiten Bogen um Auguste Fledermeyer machten und ein großer Teil des Waldes in ängstlich geduckter Stille verharrte. Zwei Schemen ließen sich davon jedoch nicht aufhalten, lösten sich aus dem Unterholz und hängten sich an ihre Fersen. Freilich fühlten sie sich bei dieser Aufgabe nicht sonderlich wohl – und es sollte nicht lange dauern, bis ihre schlechte Vorahnung um ein paar inhaltsschwere Gewissheiten ergänzt wurde.
Etwa eine Stunde später stand die Hexe auf einer Straße. Der Mond hing hoch über dem Rand der Welt und ließ sein silbriges Licht über die Blätter der Bäume schimmern. Vor wenigen Augenblicken hatte Auguste Fledermeyer ein paar Zweige zur Seite geschoben. Dahinter erspähte sie das flache Band, das sich tief aus dem Tal herauszuwinden schien und zwischen den Kuppen zweier Hügel verschwand. Energisch beschleunigte sie ihren Schritt und zerteilte den Nebel vor den äußeren Schichten ihres Rockes wie vor dem Rammsporn einer Galeere. Dann stand sie plötzlich still, und auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Falte.
Nachdenkliches Unbehagen stieg in ihr auf. Es lag nicht daran, dass sie eine Straße nicht gebrauchen konnte. Auch mit deren Zustand schien soweit alles in Ordnung. Keine Auswaschungen, keine überwucherten Stellen.
Das Problem war ein anderes: Auguste hatte davon gehört, dass anderswo im Gebirge sonderbare Leute lebten. Ganz zu schweigen von denen in der Ebene. Aber noch nie hatte sie von einer Straße aus sonderbarem schwarzem Zeug gehört. Es schillerte unter der Feuchtigkeit und schien eigentümlich glatt. Nicht so, wie es ein Stück Eis gewesen wäre. Aber doch auf fremdartige und damit beunruhigende Weise platt.
Auf der gegenüberliegenden Seite erblickte die Hexe ein Schild aus gelb-orangem Blech. Schwarze Lettern malten sich darauf zu kurzen Worten, dahinter standen ein paar Zahlen. Auguste war mit dem Konzept „Wegweiser“ vertraut, hielt allerdings nicht allzu viel davon. Wer sich selbst in den Bergen seiner Heimat nicht auskannte, hatte es auch nicht besser verdient, als sich zu verlaufen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben jedoch kam ihr dieses Argument nicht ganz stichhaltig vor. Angestrengt blinzelte sie auf das Schild und ließ dabei ihre Zungenspitze an einem hohlen Zahn herumspielen.
Sie hatte Buchstaben nie sonderlich getraut. Pater Blumentritt und die anderen Mönche des kleinen Bergklosters bei Bad Brommlingen schienen große Stücke auf sie zu halten. Das Einzige jedoch, von dem Auguste wirklich überzeugt war, war, dass der langfristige Umgang mit ihnen zu schlechten Augen und fahler Haut führte. Kaum einen der Novizen hatte sie beim Fröhlichsein ertappt, wenn diese auf dem Weg zu ihrem Unterricht waren.
Mühsam wanderte der Blick der Hexe die Reihe der Buchstaben entlang, während ihr Mund die Silben halblaut vor sich hin murmelte. Die meisten Namen sagten ihr überhaupt nichts. Doch langsam glomm im hinteren Teil ihres noch immer schmerzgeplagten Kopfes eine Erkenntnis auf. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis diese konkrete Form annahm. Doch schon ein ganzes Weilchen vorher schickte sie eine Schwadron düsterer Vorahnungen aus.
Dies war nicht irgendein abgelegenes Tal. Das dort drüben war der Bärenstein, und damit handelte es sich um genau jenen Teil der Berge, den sie üblicherweise als ihre Heimat bezeichnete. Daraus folgten zwei Dinge: Erstens wurde der verbleibende Heimweg drastisch verkürzt, und zweitens bildete sich in Augustes Magen ein dicker, kalter Klumpen.
Noch einmal ließ sie ihren Blick über die sonderbare Straße gleiten, und diesmal sprach ihre schimmernde Oberfläche die deutliche Sprache von wirklich großen Problemen.
Eine einsame, schwarze Düsenmaschine fraß sich durch den Nachthimmel. Das Donnern ihrer Triebwerke hallte klar durch die eisige Luft, während die formlose Landschaft unter ihr dahinzog. Nur aus unmittelbarer Nähe konnte man das vatikanische Emblem auf den Tragflächen erkennen.
Im Inneren des Flugzeugs saß ein knappes Dutzend Männer. Die meisten wirkten, als wären sie durchaus mit beiden Seiten eines Beichtstuhls vertraut. Ein Klingelbeutel, der ihnen in die Hände geriet, konnte von seiner Zukunft einige Abenteuer erwarten.
Etwa die Hälfte der Männer schlief. Die anderen studierten im gedämpften Licht der Bordbeleuchtung geheimnisvolle Unterlagen, zu denen auch eine Reihe von Konstruktionsplänen gehörte. Einer saß regungslos ein wenig abseits. Mit zusammengelegten Fingerspitzen und fest geschlossenen Augen wirkte der Kardinal wie das transportfertige Abbild eines Säulenheiligen. Kaum etwas deutete auf die abgründigen Pläne hin, die sich hinter seinen blassen Zügen entsponnen.
Man hatte angeordnet, dass sein Kommen so spät wie möglich bekannt wurde – was ihm nur recht war. Lange Jahre hatte er mit der Vorbereitung dieser Mission verbracht. Ein Schauer durchlief ihn bei dem Gedanken, nun endlich unterwegs zu sein. Noch lag die Welt unter ihm in friedlichem Schlummer, doch schon sehr bald würde er für ihr nachdrückliches Erwachen sorgen.
Gegen Ende der Nacht gelangte Auguste bei ihrer Hütte an. Genau genommen handelte es sich um jenen Ort, an dem sich die Hütte im Allgemeinen befinden sollte. Und offen gestanden rechnete die Hexe bereits mit gewissen Schwierigkeiten.
Was sie dann aber sah, verblüffte sie dennoch. Auf ihrem Weg hatte Auguste viel Zeit gehabt, verschiedene Heimkehrszenarien durchzuspielen. Namentlich die Version, bei der sie mutterseelenallein vor einem Berg rauchender Trümmer stand, war ihrer Erfahrung nach nicht ganz unwahrscheinlich.
Schließlich jedoch musste sie einsehen, dass sie sich getäuscht hatte.
Vor ihr erstreckte sich das friedliche Idyll einer mondbeschienenen Lichtung mit einigen Abfallkörben, Sitzbänken und einem Aussichtspunkt. Dahinter erhellte die mittlerweile tief hängende Mondscheibe ein atemberaubendes Panorama des angrenzenden Tales. Und das war im Großen und Ganzen alles.
Eine kleine, eiskalte Hand lief ihr auf Fingerspitzen durch den Magen und tippte immer wieder gegen besonders sensible Nerven. Erst ausgesprochen langsam entfaltete der Schreck seine volle Wirkung.
Auguste Fledermeyer hatte ein recht umfangreiches Vorstellungsvermögen. Ihre magische Veranlagung sorgte dafür, dass ihr Bewusstsein mit der Zeit gewisse Auswölbungen bekam und nun über einige zusätzliche Dimensionen verfügte. Man sprach in diesem Zusammenhang von post-magikalen Dellen. Aus einer davon, einem dunklen, muffigen Kellerloch, kroch in diesem Augenblick ein ausgesprochen böser Verdacht auf sie zu.
Vor einigen Kilometern war auf der Straße ein großes, metallenes Etwas mit enormem Getöse an ihr vorbeigerauscht. Etwas, das sich hinter zwei fahlen Lichtkegeln verbarg und, sobald sie wieder aus dem Graben geklettert war, einen großen Vorrat an Beschimpfungen auf sich zog.
Auf der einen Seite beschloss die Hexe, ab diesem Zeitpunkt die Straße zu meiden. Auf der anderen Seite erhielt einer der allerältesten Instinkte durch diesen Vorfall weiteren, dringenden Vorschub. Jener Instinkt, der einen sofort ins traute Heim zurückkehren und sich mit einer Wärmflasche ins Bett legen ließ, wann immer die Welt plötzlich kopfstand.
Im Falle von Auguste Fledermeyer war diese Regung jedoch von zweischneidiger Natur. Denn sollten weder Heim noch Wärmflasche mehr da sein, so konnte auch das jemand anderem mit glühendem Ingrimm heimgezahlt werden.
Selbst darauf hatte sie sich noch ein bisschen gefreut.
Als sie nun jedoch den säuberlich geharkten Kies unter ihren Stiefeln knirschen hörte, beschlich sie das Gefühl, dass die Dinge diesmal ein wenig komplizierter waren.
Der kühle Nachtwind zupfte an ihren Kleidern, in der Ferne krächzte irgendein schlafloser Vogel, und Auguste spürte, wie etwas in ihr zu bröckeln begann. Sie war in ihrem Leben schon in manchen Schlamassel geraten, aber nie waren die Dinge einfach so über sie hinweggewalzt. Man hatte ihr wenigstens die Chance gelassen, sich zu wehren. Zumindest eine kleine. Das hier war… respektlos!
Schwer atmend ließ sie sich auf eine der Bänke fallen. Man hatte ihre Hütte nicht einfach niedergebrannt, man hatte sie durch einen verdammten Rastplatz ersetzt!
Niedergeschlagen ließ die Hexe ihre Beine baumeln und malte mit den Stiefelspitzen Muster in den Kies. Dann blickte sie zum Himmel empor. Irgendwo in ihrem Hals steckte ein tiefer Seufzer fest. Langsam glitten ihre Hände über das abgewetzte Holz der Sitzbretter. Wie lange war sie fort gewesen? Wie lange war letzte Nacht schon her? Der böse Verdacht richtete sich zu voller Größe auf und winkte ihr hämisch zu.
Dann kehrten die Bilder zurück. Vom Scheiterhaufen, vom Entsetzen der Anderen und vom feinen Lächeln auf dem Gesicht des Inquisitors. Auguste konnte in ihrer Erinnerung sehen, wie das Wechselspiel von Licht und Schatten über seine Miene huschte, konnte jede einzelne Falte seines hageren Gesichtes erkennen.
Entschlossen wischte sie diesen Gedanken beiseite und fegte zugleich einige alte Blätter von der Bank herab. Dann streckte sie sich mit mühsamen Bewegungen darauf aus. Es war eine lange Nacht gewesen. Der nächste Tag schien ihr ein paar Antworten schuldig, doch zuvor brauchte sie ein wenig Ruhe.
Auguste spürte, wie ihr Zorn allmählich abkühlte und sich zu zähem, klebrigem Sirup verdickte. Sie wusste noch nicht, auf wessen Brot er landen würde. Aber solange sie ein wenig gerechte Wut ihr Eigen nannte, blieb ihr die Welt hinreichend vertraut. Einerlei, was geschah.
Sollte es den werten Herrn Inquisitor noch geben, hatte er mittlerweile jedenfalls eine ganze Menge zu erklären. Auf eigentümliche Weise lag in dieser Vorstellung ein wenig Trost. Mit Hingabe malte sie sich aus, wie sein zufriedenes Lächeln bei nächster Gelegenheit von Verlegenheit und Pein überlagert wurde – und mit einem zufriedenen Lächeln grollte sie sich in den Schlaf.
Ein einsamer, träger Gedanke schwebte durch die Dunkelheit. Gemächlich trieb er dahin wie ein loses Stück Schnur, entfaltete sich und verging. Daraufhin entstand ein zweiter. Ein uraltes Bewusstsein erwachte. Jahrhunderte lang hatte es nichts als vage Traumgebilde gekannt, von denen die meisten um anderer Leute Schmerzen kreisten. Doch nun kehrte es zurück. Etwas hatte sich verändert.
Verschlafen schüttelte das Bewusstsein seine Synapsen aus und gähnte. In einem jähen Anfall von Erkenntnis stolperte es über sich selbst. Und verzog hämisch die Mundwinkel. Es musterte sich in stiller Bewunderung, dann sprang aus seinen Gedanken eine weißglühende Stichflamme auf. Mit großem Wohlbehagen sonnte sich das Wesen im inspirierenden Licht der Bosheit.
Der nächste Morgen fand Auguste Fledermeyer noch immer ein wenig zerschlagen. Wie lange sie letztlich geschlafen hatte, wusste sie nicht. Aber zumindest hatte sie einiges über den Komfort von Rastbänken gelernt. Als das zunehmende Licht sie weckte, zögerte sie noch lange Zeit, die Augenlider zu heben. Der Tau hatte sich tief in ihre Kleider gesogen, und alles in allem fühlte sie sich genauso nass und genauso glücklich wie ein ausgewrungener Waschlappen.
Die Hexe hörte singende Vögel in den Bäumen ringsumher, dazu rauschende Blätter. Hin und wieder knackte etwas im Unterholz. Sie versuchte, nicht zu denken. Eine schöne, ungebrochene Stille mit einem Minimum an Bewusstsein schien ihr derzeit das Beste zu sein. Doch leider hielten sich ihre Gedanken nicht daran.
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