Schattenblume - Karin Slaughter - E-Book

Schattenblume E-Book

Karin Slaughter

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Beschreibung

Heartsdale, Georgia: Bei einem Überfall der Polizeiwache erschießen zwei schwer bewaffnete Männer einen Polizisten und verletzen Polizeichef Jeffrey Tolliver schwer. Alle restlichen Anwesenden werden als Geiseln genommen – unter anderem die Kinderärztin und Gerichtsmedizinerin Dr. Sara Linton, Tollivers Ex-Frau, sowie eine Gruppe von Schulkindern. Das FBI umstellt das Gebäude, doch zur großen Überraschung der Einsatzkräfte stellen die Geiselnehmer keinerlei Forderungen. Wie tief müssen Sara und Chief Tolliver in die Vergangenheit eintauchen, um herauszufinden, was die Männer erreichen wollen? Ein atemloser Wettlauf mit der Zeit beginnt …

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Seitenzahl: 590

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Zum Buch:

Ein grausames Geiseldrama hält die Kleinstadt Heartsdale in Georgia in Atem: Die Kinderärztin und Gerichtsmedizinerin Sara Linton will auf der Polizeiwache mit ihrem Ex-Mann, Chief Jeffrey Tolliver, sprechen, doch bewaffnete Männer stürmen das Gebäude. Chief Tolliver wird schwer verletzt und zusammen mit Sara als Geisel gehalten – genau wie eine Gruppe Schulkinder. Während das FBI sie zu befreien versucht, setzt Sara alles daran, ihren Ex-Mann am Leben zu halten, seine Identität den Geiselnehmern gegenüber zu verschleiern und die Kinder zu beruhigen. Währenddessen versucht Detective Lena Adams fieberhaft, Identität und Motiv der Täter aufzudecken. Obwohl sie keinerlei Forderungen stellen, scheinen die Täter nicht willkürlich zu handeln …

Zur Autorin:

Karin Slaughter ist eine der weltweit berühmtesten Autorinnen und Schöpferin von über 20 New-York-Times-Bestseller-Romanen. Dazu zählen Cop Town, der für den Edgar Allan Poe Award nominiert war, sowie die Thriller Die gute Tochter und Pretty Girls. Ihre Bücher erscheinen in 120 Ländern und haben sich über 40 Millionen Mal verkauft. Ihr internationaler Bestseller Ein Teil von ihr ist 2022 als Serie mit Toni Collette auf Platz 1 bei Netflix erschienen. Eine Adaption ihrer Bestseller-Serie um den Ermittler Will Trent ist derzeit eine erfolgreiche Fernsehserie, weitere filmische Projekte werden entwickelt. Slaughter setzt sich als Gründerin der Non-Profit-Organisation »Save the Libraries« für den Erhalt und die Förderung von Bibliotheken ein. Die Autorin stammt aus Georgia und lebt in Atlanta.

Karin Slaughter

Schattenblume

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz

HarperCollins

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel Indelible bei HarperCollins, New York

© 2004 by Karin Slaughter

Ungekürzte Ausgabe im HarperCollins Taschenbuch

by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by Blanvalet Verlag München, in der Verlagsgruppe Randomhouse GmbH

Published by arrangement with William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, US

Covergestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung unter Verwendung von Midjourney

E-Book Produktion von GGP Media Gmbh, Pößneck

ISBN 9783749907823

www.harpercollins.de

Für D. A.River deep, mountain high

Eins

8.55 Uhr

»Wen haben wir denn da!«, rief Marla Simms und sah Sara über den Rand ihrer Brille prüfend an. Die Sekretärin der Polizeiwache hielt eine Zeitschrift in den arthritischen Händen, die sie jetzt sinken ließ, um Sara wissen zu lassen, dass sie reichlich Zeit für einen Plausch hatte.

Sara versuchte fröhlich zu klingen, obwohl sie ihren Besuch extra auf Marlas Pause gelegt hatte. »Morgen, Marla.«

Marla sah sie durchdringend an und zog die Mundwinkel noch weiter runter als sonst. Sara versuchte, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Marla Simms hatte die Kinder in der Sonntagsschule unterrichtet, seit die Baptistenkirche ihre Pforten geöffnet hatte, und sie schaffte es immer noch, jedem Kind der Stadt, das nach 1952 geboren war, mit einem einzigen Blick Gottesfurcht einzuflößen.

Sie musterte Sara unerbittlich. »Dich habe ich ja lange nicht mehr hier gesehen.«

»Hm.« Sara versuchte, über Marlas Kopf hinweg in Jeffreys Büro zu spähen. Die Tür stand offen, doch er saß nicht an seinem Schreibtisch. Der Mannschaftsraum war leer, wahrscheinlich war Jeffrey hinten. Im Grunde konnte sie einfach am Anmeldungstresen vorbeimarschieren und selbst nach ihm suchen – wie sie es schon Hunderte Male zuvor getan hatte –, doch irgendetwas hielt Sara davon ab, die unsichtbare Grenze zu passieren, ohne den Wegezoll zu entrichten.

Marla verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Schöner Tag heute«, sagte sie.

Sara blickte hinaus auf die Main Street, wo der Asphalt in der Hitze flimmerte. Die Luft war so feucht, dass ihr der Schweiß aus allen Poren drang. »Ja, wirklich schön.«

»Du hast dich aber hübsch gemacht«, fuhr Marla mit einem Blick auf das Leinenkleid fort, das Sara ausgesucht hatte, nachdem sie all ihre Kleider aus dem Schrank gerissen hatte. »Gibt es einen Anlass?«

»Ach, nichts Besonderes«, log Sara. Unwillkürlich nestelte sie an ihrer Tasche herum und wippte auf den Füßen, als wäre sie vier und nicht fast vierzig.

Die ältere Frau sah sie triumphierend an. Sie ließ Sara noch ein bisschen zappeln, bevor sie fragte: »Wie geht’s deiner Mutter?«

»Gut«, antwortete Sara und versuchte, leutselig zu klingen. Sie war nicht so naiv zu glauben, ihr Privatleben ginge niemanden etwas an – in einem Nest wie Heartsdale konnte man kaum niesen, ohne dass ein Nachbar anrief und freundlich »Gesundheit« wünschte. Doch Sara würde Marla auch nicht alles auf die Nase binden.

»Und deiner Schwester?«

Bevor Sara antworten konnte, kam ihr Brad Stephens zu Hilfe, der über die Schwelle der Eingangstür stolperte. Der junge Streifenpolizist konnte gerade noch verhindern, dass er der Länge nach zu Boden fiel, doch der Schwung riss ihm die Mütze vom Kopf. Sie segelte Sara vor die Füße. Brads Holster und Gummiknüppel baumelten rechts und links an seiner Hüfte wie ein Paar zusätzliche Gliedmaßen. Hinter ihm prustete eine Schar vorpubertärer Kinder beim Anblick seines uneleganten Auftritts.

»Hoppla«, sagte Brad und blickte von Sara zu den Kindern und wieder zurück. Dann hob er seine Mütze auf und klopfte sie mit übertriebener Sorgfalt ab. Sara fragte sich, vor wem er sich mehr schämte: vor der Handvoll Zehnjähriger, die über seine Tollpatschigkeit lachten, oder vor seiner ehemaligen Kinderärztin, die offensichtlich ihr Grinsen unterdrücken musste.

Anscheinend war das Letztere schlimmer. Er wandte sich wieder an seine Gruppe und versuchte, sich mit sonorer Stimme Respekt zu verschaffen. »Wir befinden uns hier auf der Polizeiwache, wo wir unsere Arbeit machen. Also, die Polizeiarbeit. Und, äh, das hier ist die Eingangshalle.« Er sah Sara an. Den Vorraum, in dem sie sich befanden, als Eingangshalle zu bezeichnen, war ein wenig übertrieben. Er war keine zehn Quadratmeter groß mit einer Betonwand direkt gegenüber der gläsernen Eingangstür. An der Wand rechts von Sara hingen die Fotos aller Einheiten der Grant County Police. Den Ehrenplatz nahm ein großes Porträt von Mac Anders ein, dem einzigen Polizeibeamten, der je im Einsatz getötet worden war.

Gegenüber der Fotogalerie wachte Marla hinter einem hohen hellbraunen Resopaltresen, der den Besucherbereich vom Mannschaftsraum trennte. Sie war keine kleine Frau, doch mit dem Alter hatte sich ihr Körper zu einem Fragezeichen gekrümmt. Die Brille hing ihr auf der Nasenspitze, sodass es Sara, die selbst eine Lesebrille brauchte, immer reizte, sie ihr wieder nach oben zu schieben. Nicht dass Sara den Mut dazu gehabt hätte. Denn so gut wie Marla über alle und alles Bescheid wusste, so wenig ließ sie die Leute an sich heran. Sie war verwitwet und hatte keine Kinder. Ihr Mann war im Zweiten Weltkrieg gefallen. Sie wohnte auf der Hemlock, zwei Straßen von Saras Elternhaus entfernt. Sie strickte, unterrichtete in der Sonntagsschule und arbeitete Vollzeit auf dem Revier, wo sie sich ums Telefon und den Papierkram kümmerte. All das sagte allerdings nicht viel über Marla Simms aus. Und doch hatte Sara das Gefühl, dass es noch mehr gab im Leben dieser Frau von achtzig Jahren, auch wenn Marla die meiste Zeit davon in dem Haus verbracht hatte, in dem sie zur Welt gekommen war.

Brad setzte seine Führung durch die Wache fort und zeigte auf den großen offenen Raum hinter Marla. »Dahinten erledigen die Kriminalbeamten und die Streifenpolizisten ihre Arbeit … Telefonanrufe und so weiter. Zeugen befragen, Berichte schreiben, Sachen in den Computer eingeben und, äh …« Er brach ab, als er merkte, dass ihm keiner zuhörte. Die meisten Kinder konnten kaum über den Tresen sehen. Und selbst wenn – dreißig leere Schreibtische in Fünferreihen, dazwischen verschieden große Aktenschränke, waren nicht unbedingt ein fesselnder Anblick. Sara schätzte, die Kinder bereuten bereits, dass sie nicht in der Schule geblieben waren.

Doch Brad versuchte es weiter. »Ich zeige euch gleich die Gefängniszellen, wo wir die Verbrecher festnehmen … ich meine, nicht wo wir sie festnehmen«, er blickte nervös zu Sara. »Also, hier stecken wir sie rein, nachdem wir sie festgenommen haben. Also, nicht hier, sondern ins Gefängnis.«

Schlagartig wurde es still, dann begann plötzlich jemand hinten in der Gruppe zu kichern. Sara, die die meisten der Kinder aus der Kinderklinik kannte, schaffte es, ein paar von ihnen mit einem strengen Blick zum Schweigen zu bringen. Um die restlichen kümmerte sich Marla. Ihr Drehstuhl ächzte erleichtert, als sie sich aufrichtete und sich über den Tresen beugte. Wie auf Knopfdruck brach das Kichern ab.

Maggie Burgess, ein Mädchen, das von seinen Eltern ernster genommen wurde, als ihm guttat, meldete sich mit Piepsstimme zu Wort: »Hallo, Frau Dr. Linton.«

Sara nickte ihr zu. »Hallo, Maggie.«

»Ähm«, begann Brad wieder. Sein sonst milchweißes Gesicht war tiefrot angelaufen. Sara entging nicht, dass sein Blick ein wenig zu lang an ihren nackten Beinen klebte. »Ihr … äh … ihr kennt ja alle Dr. Linton.«

Maggie verdrehte die Augen. »Natüüürlich«, sagte sie, und ihr respektloser Ton brachte wieder ein paar Kinder zum Lachen.

Doch Brad fuhr unbeirrt fort. »Dr. Linton ist auch die Gerichtsmedizinerin bei uns in der Stadt, neben ihrer Arbeit als Kinderärztin.« Er schlug einen pädagogischen Ton an, obwohl mit Sicherheit alle Kinder von Saras zweitem Standbein wussten. Das Thema wurde an den Wänden der Schultoiletten ausführlich abgehandelt. »Ich nehme an, Sie sind dienstlich hier, Dr. Linton?«

»Ja«, antwortete Sara. Sie versuchte, wie eine Kollegin zu klingen, nicht wie die Ärztin, die sich noch gut daran erinnerte, wie Brad früher in Tränen ausgebrochen war, wenn er nur das Wort Spritze gehört hatte. »Ich bin hier, um mit dem Polizeichef über einen Fall zu sprechen, an dem wir arbeiten.«

Maggie sperrte wieder den Mund auf, wahrscheinlich um zu wiederholen, was ihre Mutter über Saras und Jeffreys Beziehung gesagt hatte, doch Marla quietschte mit dem Stuhl, und das Mädchen blieb still. Sara schwor sich, am nächsten Sonntag in die Kirche zu gehen und für Marla eine Kerze anzuzünden.

Doch Marla klang kaum respektvoller als Maggie, als sie zu Sara sagte: »Ich werde mal nachsehen, ob Chief Tolliver Zeit hat.«

»Danke«, antwortete Sara und strich den Plan mit der Kirche.

»Schön, dann …«, begann Brad und wischte noch einmal über seine Mütze. »Dann lasst uns mal nach hinten gehen.« Er hielt die Schwingtür auf, um die Kinder durchzulassen, und sagte zu Sara: »Ma’am«, und nickte höflich, bevor er seinen Schützlingen folgte.

Sara ging hinüber zu den Fotos an der Wand und betrachtete die vertrauten Gesichter. Bis auf die Zeit am College und am Grady Hospital in Atlanta hatte Sara immer in Grant County gelebt. Die meisten Männer hier an der Wand hatten das ein oder andere Mal mit ihrem Vater gepokert. Von den restlichen war einer Diakon in der Kirche gewesen, als Sara klein war, ein anderer hatte immer bei den Footballspielen aufgepasst, als sie ein Teenager war und hoffnungslos verliebt in Steve Mann, den Leiter des Schachklubs. Bevor Sara nach Atlanta zog, hatte Mac Anders Sara und Steve auf dem Parkplatz hinter dem Hotdog-Laden beim Knutschen erwischt. Ein paar Wochen später hatte sich sein Streifenwagen bei einer Verfolgungsjagd sechsmal überschlagen und Mac Anders war tot.

Sara fröstelte, eine abergläubische Furcht jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie wandte sich dem nächsten Foto zu, auf dem die Truppe zu der Zeit zu sehen war, als Jeffrey den Posten des Polizeichefs übernommen hatte. Er war von Birmingham nach Grant County gekommen, und alle hatten den Fremden mit Skepsis beäugt, vor allem nachdem er Lena Adams einstellte, die erste weibliche Polizistin des Bezirks. Sara sah sich Lena auf dem Gruppenbild genauer an. Sie hatte trotzig das Kinn gereckt und ihre Augen strahlten. Heute waren mehr als ein Dutzend Frauen im Streifendienst, doch damals war Lena wohl eine Art Pionier. Der Druck musste enorm gewesen sein. Allerdings würde Sara in Lena wohl nie ein Vorbild sehen. Dafür hatte sie einfach zu viel an Lenas Charakter auszusetzen.

»Er sagt, du kannst zu ihm nach hinten kommen.« Marla stand an der Schwingtür. »Traurig, nicht wahr?«, sagte sie mit einem Blick auf das Foto von Mac Anders.

»Ich war in der Schule, als es passierte.«

»Ich sage lieber nicht, was sie mit dem Schwein angestellt haben, das ihn von der Straße gejagt hat.« Marla war die Genugtuung anzuhören. Sara wusste, der Verdächtige war in der Zelle so heftig verprügelt worden, dass er ein Auge verloren hatte. Ben Walker, der damalige Polizeichef, hatte ein anderes Regiment geführt als Jeffrey.

Marla hielt ihr die Tür auf. »Er ist im Verhörraum und schreibt Berichte.«

»Danke«, sagte Sara und warf noch einen letzten Blick auf Mac Anders, bevor sie nach hinten ging.

Die Polizeiwache von Grant County war in den Dreißigerjahren gebaut worden, als die Gemeinden Heartsdale, Madison und Avondale ihre Polizeidienststellen und Feuerwachen zusammenlegten. Das alte Haus hatte vorher einen Futtermittelhandel beherbergt, und als die letzten der örtlichen Farmer Bankrott machten, konnte es die Stadt billig kaufen. Mit der Renovierung ging dem Gebäude allerdings jeglicher Charme verloren, und auch in den folgenden Jahrzehnten wurde nie etwas zu seiner Verschönerung getan. Der Mannschaftsraum war ein schmuckloses Großraumbüro, auf einer Seite befand sich Jeffreys Büro, auf der anderen der Waschraum. Die Wandverkleidung aus dunklem Holzimitat dünstete jetzt noch das Nikotin aus den Zeiten vor den Nichtrauchergesetzen aus. Die abgehängte Decke sah schmuddelig aus, ganz gleich, wie oft die Rigipsplatten erneuert wurden. Der Boden war mit Asbestfliesen ausgelegt, und Sara hielt stets die Luft an, wenn sie über das kaputte Stück vor dem Waschraum lief. Und dass der Großteil der Polizisten in Grant County Männer waren, wurde nirgendwo deutlicher als im Gemeinschaftswaschraum.

Sara stemmte sich gegen die schwere Brandschutztür, die den Mannschaftsraum vom Rest des Gebäudes trennte. Vor fünfzehn Jahren war ein Anbau an die Rückseite der Wache gepappt worden, als der Bürgermeister herausfand, dass sich Geld damit verdienen ließ, wenn man aus überlasteten Nachbarbezirken Gefangene übernahm. Der Klotz mit den dreißig Zellen, dem Konferenzzimmer und dem Verhörraum war damals luxuriös gewesen, doch die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, und trotz der relativ frischen Farbe wirkten die neueren Räumlichkeiten genauso heruntergekommen wie die alten.

Saras Absätze klackten, als sie den langen Flur hinunterging. Vor dem Verhörraum blieb sie stehen und strich sich das Kleid glatt, um Zeit zu schinden. Seit Ewigkeiten hatte Jeffrey sie nicht mehr so nervös gemacht, und sie hoffte, er sah es ihr nicht an.

Jeffrey saß an einem langen Tisch, vor sich mehrere Stapel Papier, und schrieb in ein Notizheft. Er hatte das Jackett ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt. Als sie eintrat, blickte er nicht auf, doch er musste sie aus den Augenwinkeln gesehen haben, denn als sie die Tür hinter sich schließen wollte, sagte er: »Nicht.«

Sie stellte ihre Tasche auf den Tisch und wartete, dass er sie ansah. Doch er tat es nicht, und sie war hin- und hergerissen, ob sie ihm die Tasche an den Kopf oder sich ihm zu Füßen werfen sollte. Die fünfzehn Jahre, die sie sich kannten, waren ein Wechselbad der Gefühle gewesen, doch für gewöhnlich war es Jeffrey, der bettelte, nicht sie. Vier Jahre nach ihrer Scheidung hatten sie wieder eine Beziehung angefangen. Vor drei Monaten hatte er sie dann gebeten, ihn noch einmal zu heiraten, und sein Ego hatte ihre Zurückweisung nicht verkraftet, egal, wie oft sie ihm ihre Gründe zu erklären versuchte. Seitdem hatten sie sich nicht mehr privat getroffen, und langsam gingen Sara die Ideen aus.

Sie unterdrückte einen Seufzer. »Jeffrey?«

»Leg den Bericht einfach hin«, sagte er, ohne aufzusehen, und zeigte auf eine leere Ecke des Tisches.

»Ich dachte, du würdest ihn dir vielleicht ansehen wollen.«

»Irgendwas Ungewöhnliches?«, fragte er und ging weiter seinen Papierstapel durch.

»Ich habe was in ihrem Dickdarm gefunden, das aussieht wie eine Schatzkarte.«

Doch er ließ sich nicht ködern. »Hast du es in deinem Bericht vermerkt?«

»Natürlich nicht«, sagte sie spöttisch. »Ich will den Schatz doch nicht mit der Bezirksverwaltung teilen.«

Jetzt sah Jeffrey sie mit einem Blick an, der klarstellte, dass er ihren Witz für unangebracht hielt. »Wo bleibt dein Respekt vor den Toten?«

Sara wurde rot.

»Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«

»Sie ist eines natürlichen Todes gestorben«, erklärte Sara. »Blut und Urin waren sauber. Während der Untersuchung sind keine Besonderheiten zutage getreten. Sie war neunundachtzig Jahre alt. Sie ist friedlich eingeschlafen.«

»Gut.«

Sara sah ihm beim Schreiben zu, bis er merkte, dass sie nicht einfach gehen würde. Seine Handschrift war schön, fließend, ungewöhnlich für einen ehemaligen Footballspieler und erst recht für einen Cop.

Sie trat von einem Fuß auf den anderen.

»Setz dich«, lenkte er schließlich ein und streckte die Hand nach dem Bericht aus. Sara setzte sich und reichte ihm die dünne Akte.

Er überflog ihre Notizen. »Klare Sache.«

»Ich habe schon mit den Kindern gesprochen«, sagte Sara, auch wenn »Kinder« irreführend war. Das jüngste Kind der Verstorbenen war fast dreißig Jahre älter als Sara. »Es war ihnen klar, dass sie sich an einen Strohhalm geklammert haben.«

»Schön«, sagte Jeffrey und unterschrieb auf der letzten Seite. Dann warf er den Bericht auf die Ecke des Tischs und steckte die Kappe auf seinen Stift. »Ist das alles?«

»Meine Mutter lässt dich grüßen.«

Etwas widerwillig fragte er: »Wie geht es Tess?«

Sara zuckte die Achseln, sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Die Beziehung zu ihrer Schwester schien genauso den Bach runterzugehen wie die mit Jeffrey. Stattdessen fragte sie: »Wie lange willst du noch so weitermachen?«

Bemüht, sie misszuverstehen, zeigte er auf die Papiere und erklärte: »Ich muss das durcharbeiten, bevor wir nächsten Monat vor Gericht erscheinen.«

»Das meine ich nicht, und das weißt du genau.«

»Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, in diesem Ton mit mir zu sprechen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sie spürte, dass er müde war, und sein vertrautes charmantes Lächeln war nirgends in Sicht.

Sie fragte: »Bekommst du genug Schlaf?«

»Es ist ein komplizierter Fall«, sagte er, doch sie fragte sich, ob es wirklich nur der Fall war, der ihm nachts den Schlaf raubte. »Was willst du?«

»Können wir nicht einfach miteinander reden?«

»Worüber?« Er wippte mit dem Stuhl. Als sie nicht antwortete, fragte er: »Was?«

»Ich will doch nur …«

»Was?«, unterbrach er sie drohend. »Wir haben das Ganze hundertmal durchgekaut. Es gibt nichts mehr dazu zu sagen.«

»Ich will dich sehen.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich bis zum Hals in diesem Fall stecke.«

»Und danach?«

»Sara!«

»Jeffrey!«, gab sie zurück. »Wenn du mich nicht mehr sehen willst, sag es einfach. Versteck dich nicht hinter einem Fall. Es gab Zeiten, da hat uns der Job viel mehr geschlaucht, und wir haben es trotzdem geschafft, Zeit miteinander zu verbringen. Soweit ich mich erinnere, war es das, was diesen Mist«, sie zeigte auf die Berge von Papieren, »erträglich gemacht hat.«

Er stellte den Stuhl mit einem Knall auf die Beine. »Ich weiß nicht, was das bringen soll.«

Sie versuchte es noch einmal mit einem Scherz. »Sex, zum Beispiel?«

»Den kann ich auch woanders haben.«

Sie zog eine Braue hoch, doch sie verbiss sich den Kommentar, der sich aufdrängte. Die Tatsache, dass Jeffrey Sex woanders gehabt hatte, war der Grund für ihre Scheidung gewesen.

Er wollte weiterschreiben, doch Sara riss ihm den Stift aus der Hand. Sie bemühte sich, nicht verzweifelt zu klingen: »Warum müssen wir erst wieder heiraten, damit es funktioniert?«

Er blickte zur Seite, offensichtlich genervt.

»Wir waren schon einmal verheiratet, und es hat uns fast zugrunde gerichtet«, fügte sie an.

»Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«

Jetzt zog sie ihren Trumpf hervor. »Du könntest deine Wohnung an jemanden vom College vermieten.«

Er zögerte eine Sekunde, bevor er antwortete. »Warum sollte ich so etwas tun?«

»Du könntest bei mir einziehen.«

»In Sünde leben?«

Sie lachte. »Seit wann bist du religiös?«

»Seit dein Vater mich bekehrt hat«, schoss er zurück. Seine Stimme war vollkommen humorlos. »Ich will eine Ehefrau, Sara. Keinen Betthasen.«

Die Schärfe seiner Worte tat ihr weh. »Dafür hältst du mich also?«

»Ich weiß es nicht«, eine Spur von Reue schwang in seinem Ton mit. »Ich habe einfach deine Launen satt, wenn du dich mal wieder einsam fühlst.«

Sie öffnete den Mund, doch sie konnte nicht sprechen.

Jeffrey schüttelte entschuldigend den Kopf. »So habe ich es nicht gemeint.«

»Du denkst, ich stehe hier und mache mich zum Narren, weil ich einsam bin?«

»Im Moment denke ich gar nichts, außer dass ich eine Menge Arbeit habe.« Er streckte die Hand aus. »Kann ich jetzt meinen Stift wiederhaben?«

»Ich will bei dir sein.«

»Du bist hier«, sagte er und versuchte, ihr den Stift abzunehmen.

Sie hielt seine Hand fest. »Ich vermisse dich«, sagte sie. »Ich vermisse es, mit dir zusammen zu sein.«

Er zuckte halbherzig die Achseln, doch er zog die Hand nicht weg.

Sie nahm seine Hand und drückte sie an ihre Lippen. Sie roch Tinte und die Aprikosenhandcreme, die er benutzte, wenn es keiner sah. »Ich vermisse deine Hände.« Sie küsste seinen Daumen. »Vermisst du mich überhaupt nicht?«

Jeffrey legte den Kopf schief und zuckte wieder die Achseln.

»Ich will bei dir sein. Ich will …« Sara sah sich um, um sicherzugehen, dass keiner in der Nähe war. Dann senkte sie die Stimme zu einem Flüstern und versprach ihm etwas, wofür jede Prostituierte mit ein bisschen Selbstachtung ihr Honorar verdoppelte.

Schockiert klappte Jeffrey der Unterkiefer weg. Er presste ihre Hand. »Damit hast du aufgehört, als wir geheiratet haben.«

»Na ja …« Sie lächelte. »Jetzt sind wir ja nicht mehr verheiratet.«

Er schien darüber nachzudenken, als laut an die offene Tür geklopft wurde. Jeffrey zuckte zusammen, als wäre ein Schuss gefallen. Ruckartig zog er die Hand zurück und stand auf.

Frank Wallace, Jeffreys Stellvertreter, sagte: »Entschuldigung.«

Jeffrey war sichtlich verärgert, doch Sara wusste nicht, ob wegen Frank oder ihretwegen. »Was ist?«

Frank warf einen Blick auf das Telefon an der Wand: »Dein Hörer ist nicht aufgelegt.«

Jeffrey wartete.

»Marla sagt, da ist ein Kerl vorn, der nach dir fragt.« Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Hallo, Sara.«

Als Sara ihn ansah, stutzte sie. Er sah aus wie eine lebende Leiche. »Geht es dir nicht gut?«

Frank rieb sich den Bauch und machte ein unglückliches Gesicht. »Falsch gegessen. Chinesisch.«

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Seine Haut war feucht. »Du bist wahrscheinlich dehydriert«, sagte sie und griff nach seinem Handgelenk, um ihm den Puls zu fühlen. »Trinkst du genug?«

Er zuckte die Achseln.

Sie folgte dem Sekundenzeiger ihrer Uhr. »Hast du dich übergeben? Durchfall?«

Bei der letzten Frage wand er sich unbehaglich. »Wird schon wieder«, sagte er, auch wenn er nicht danach aussah. »Du siehst dafür toll aus heute.«

»Schön, dass es wenigstens einer bemerkt«, sagte Sara und warf Jeffrey einen Blick von der Seite zu.

Jeffrey klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch. »Geh nach Hause, Frank. Du siehst beschissen aus.«

Frank war offensichtlich erleichtert.

Sara rief ihm nach: »Wenn es dir morgen nicht besser geht, ruf mich an.«

Er nickte. »Vergiss den Kerl am Tresen nicht.«

»Wer ist es denn?«

»Irgendein Smith. Ich hab’s nicht genau verstanden …« Er hielt sich den Bauch und machte ein würgendes Geräusch. Dann brachte er noch ein genuscheltes »’tschuldigung« heraus und war verschwunden.

Jeffrey wartete, bis Frank außer Hörweite war, dann sagte er: »Anscheinend bleibt wieder alles an mir hängen.«

»Es geht ihm wirklich schlecht.«

»Heute fängt Lena wieder an.« Lena war Franks Expartnerin. »Sie soll um zehn hier sein.«

»Und?«

»Hast du Matt schon gesehen? Er wollte sich auch krankmelden, aber ich habe ihm gesagt, er soll seinen Arsch gefälligst hierherbewegen.«

»Glaubst du etwa, deine beiden ältesten Beamten haben sich freiwillig eine Lebensmittelvergiftung zugezogen, um Lena aus dem Weg zu gehen?«

Jeffrey stand auf und hängte den Hörer des Telefons ein. »Ich bin seit über fünfzehn Jahren hier, und in der ganzen Zeit ist Matt Hogan noch nie chinesisch essen gewesen.«

Irgendwie hatte er recht, doch im Zweifel war Sara für den Angeklagten. Egal was Frank sagte, Lena lag ihm noch am Herzen. Sie hatten fast zehn Jahre zusammengearbeitet. Sara wusste aus eigener Erfahrung, dass man nicht so viel Zeit mit einem Menschen verbringt und ihm dann einfach den Rücken zukehrt.

Jeffrey wählte eine Durchwahl. »Marla?«

Es klickte in der Leitung, dann nahm sie den Hörer ab. »Ja, Sir?«

»Ist Matt schon da?«

»Noch nicht. Ich mache mir Sorgen, wo er doch krank ist.«

»Wenn er kommt, sagen Sie ihm, dass ich ihn sprechen will«, ordnete Jeffrey an. »Und da ist jemand, der auf mich wartet?«

Sie senkte die Stimme. »Ja. Und er ist ziemlich ungeduldig.«

»Ich bin in einer Sekunde da.« Er legte auf und murmelte: »Für so was habe ich wirklich keine Zeit.«

»Jeff …«

»Ich muss nachsehen, wer das ist«, sagte er und verließ den Raum.

Sara folgte ihm auf den Flur, fast musste sie rennen, um mitzuhalten. »Wenn ich mir auf diesen Absätzen die Knöchel breche …«

Er warf einen Blick auf ihre Schuhe. »Hast du etwa gedacht, du kreuzt hier einfach wie die letzte Schlampe auf, und ich würde dich auf Knien anflehen zurückzukommen?«

Die Verlegenheit machte sie erst recht wütend. »Ach, wenn ich mich freiwillig so anziehe, bin ich eine Schlampe, und wenn du mich drum gebeten hast, dann war es sexy?«

Er blieb stehen, die Hand auf der Türklinke. »Das ist nicht fair.«

»Das siehst du also ein, Dr. Freud?«

»Ich spiele hier keine Spielchen, Sara.«

»Glaubst du, ich spiele welche?«

»Ich weiß nicht, was du tust«, sagte er, und in seinem Blick war eine Kälte, die Sara erschauern ließ. »Aber ich kann so nicht weiterleben.«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Warte.« Dann zwang sie sich zu sagen: »Ich liebe dich.«

Flapsig gab er zurück: »Danke.«

»Bitte«, flüsterte sie. »Wir brauchen doch kein Stück Papier, das uns sagt, was wir fühlen.«

»Ich schon«, sagte er und riss die Tür auf, »auch wenn du das nicht zu begreifen scheinst.«

Sie wollte ihm durch den Mannschaftsraum hinterherlaufen, doch auch sie hatte ihren Stolz. Eine Handvoll Streifenpolizisten und Kriminalbeamte hatten gerade ihren Dienst begonnen, sie saßen an ihren Schreibtischen, schrieben Berichte und telefonierten. Brad und seine Kinderchen hatten sich um die Kaffeemaschine versammelt, wo er ihnen wahrscheinlich gerade erklärte, welche Filtersorte sie hier benutzten und wie viel Löffel Kaffee man für eine Kanne brauchte.

An der Anmeldung standen zwei junge Männer, der eine an die Wand gelehnt, der andere hatte sich vor Marla aufgebaut. Sara nahm an, dass dies Jeffreys Besucher war. Smith war jung, vielleicht in Brads Alter, und er trug eine schwarze Steppjacke, deren Reißverschluss trotz der Augusthitze bis oben zugezogen war. Sein Kopf war kahl geschoren, und was sie unter der schweren Jacke von seinem Körper sehen konnte, schien durchtrainiert und muskulös. Er sah sich unruhig im Raum um und ließ den gereizten Blick nie länger auf einer Person ruhen. Alle paar Sekunden drehte er sich nach der Eingangstür um und sah auf die Straße. Seine Haltung hatte etwas Soldatisches, und aus irgendeinem Grund machte er Sara nervös.

Sie blickte sich um, um zu sehen, was er sah. Jeffrey war an einem der Tische stehen geblieben, um einem Polizisten zu helfen. Er schob das Holster zurück, als er sich auf die Tischkante setzte, und tippte etwas in den Computer. Brad stand immer noch bei der Kaffeemaschine, seine Hand ruhte auf dem Pfefferspray in seinem Gürtel. Sara zählte fünf weitere Cops, die mit Berichten und dem Eingeben von Daten beschäftigt waren. Ein Gefühl von Gefahr durchfuhr sie wie ein Stromstoß. Alles, was sie sah, war viel zu scharf umrissen.

Die Eingangstür machte ein schmatzendes Geräusch, als sie sich öffnete und Matt Hogan hereinkam. Marla sagte: »Da sind Sie ja. Wir haben schon auf Sie gewartet.«

Der junge Mann am Tresen griff in seine Jacke und Sara schrie: »Jeffrey!«

Alle drehten sich nach ihr um, doch Sara starrte Smith an. In einer fließenden Bewegung zog er eine abgesägte Schrotflinte heraus, zielte auf Matts Kopf und drückte beide Abzüge.

Blut und Gehirn spritzten gegen die Eingangstür. Matt fiel rückwärts gegen das Glas, Risse durchzogen die Scheibe, aber sie zersprang nicht, von Matts Gesicht war nichts mehr übrig. Die Kinder kreischten, und Brad warf sich auf die ganze Gruppe und riss sie zu Boden. Eine wilde Schießerei war ausgebrochen, und einer der Streifenpolizisten brach vor Sara zusammen, ein großes Loch in der Brust. Seine Pistole ging los, als sie auf den Boden fiel, und schlitterte quer über den Fußboden. Glassplitter flogen durch die Luft, als Familienfotos, Tassen, Gläser von den Schreibtischen gefegt wurden. Computer explodierten, es roch nach verbranntem Plastik. Papier schneite durcheinander, und der Lärm der feuernden Waffen war so laut, dass Sara das Gefühl hatte, ihre Ohren bluteten.

»Raus hier!«, schrie Jeffrey, im gleichen Moment spürte Sara ein scharfes Brennen im Gesicht. Sie berührte ihre Wange, wo ein Querschläger sie gestreift hatte. Plötzlich kniete sie auf dem Boden, doch sie erinnerte sich nicht, wie sie dort hingekommen war. Sie rutschte hinter einen Aktenschrank, ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie Säure verschluckt.

»Geh!« Jeffrey kauerte hinter einem Schreibtisch, die Mündung seiner Pistole loderte immer wieder weiß auf, während er versuchte, ihr Deckung zu geben. Ein lauter Knall erschütterte den vorderen Teil des Gebäudes, dann knallte es noch einmal.

Hinter der Tür schrie Frank: »Hier lang!« Er streckte die Pistole um den Pfosten herum und schoss blind in Richtung Anmeldung. Ein Streifenpolizist riss die Tür auf und setzte Frank dem Feuer aus, während er um sein Leben rannte. Am anderen Ende des Raums wurde ein Polizist niedergeschossen, als er versuchte, die Kinder zu erreichen, mit schmerzverzerrtem Gesicht krachte er gegen einen Aktenschrank. Rauch und der Geruch von Schießpulver erfüllten die Luft, und immer noch wurde von der Anmeldung geschossen. Todesangst ergriff Sara, als sie das Trommelfeuer eines Automatikgewehrs erkannte. Die Killer hatten sich auf eine längere Schießerei vorbereitet.

»Dr. Linton!«, schrie jemand. Sekunden später wurde Sara von zwei kleinen Händen umklammert. Maggie Burgess hatte es geschafft, sich von der Gruppe zu lösen, und instinktiv deckte Sara das Mädchen mit ihrem Körper. Als Jeffrey sie sah, griff er nach seinem Wadenholster und gab ihr ein Zeichen loszurennen, sobald er zu schießen anfing. Sie glitt aus den Stöckelschuhen und wartete eine halbe Ewigkeit, bis Jeffrey den Kopf über den Tisch hob, hinter dem er sich versteckte, und mit beiden Waffen zu schießen begann. Sara rannte auf die Brandschutztür zu und warf Frank das Mädchen zu. Fliesen splitterten und barsten vor ihren Füßen, während die Kugeln flogen, und dann kroch sie auf Händen und Füßen rückwärts, bis sie wieder sicher hinter ihrem Aktenschrank war.

Zittrig suchte Sara ihren Körper nach Wunden ab.

Überall war Blut, doch es war nicht ihr eigenes. Frank öffnete die Tür wieder einen Spalt. Die Kugeln prallten an der dicken Stahltür ab, und er schoss zurück, indem er die Waffe durch den Spalt schob.

»Raus hier!«, wiederholte Jeffrey und wollte ihr wieder Deckung geben, doch Sara sah eins der Kinder hinter einer Reihe von umgefallenen Stühlen kauern. Ron Carver war zu Tode verängstigt, und Sara versuchte, ihm klarzumachen, dass er sich nicht bewegen durfte, bevor Jeffrey das Zeichen gab. Doch der Junge rannte ohne Vorwarnung los, das Kinn gegen die Brust gedrückt, mit um sich schlagenden Armen, während die Luft um ihn herum explodierte. Jeffrey ging auf Schnellfeuer, um den Schützen abzulenken, doch ein Querschläger sauste durch die Luft und zerfetzte dem Kind den Fuß. Aber Ron wurde nicht langsamer, sondern rannte auf dem blutigen Stumpf weiter.

In Saras Armen brach er zusammen. Als sie ihm das T-Shirt herunterzerrte, fühlte sie das kleine Herz in seiner Brust schlagen wie die Flügel eines Vogels. Sie riss den Baumwollstoff in Streifen und benutzte den Ärmel, um die Wunde abzubinden. Mit der anderen Hälfte des T-Shirts band sie die Überreste seines Fußes fest. Sie hoffte, er könnte noch gerettet werden.

»Schicken Sie mich nicht da raus«, winselte das Kind. »Dr. Linton, bitte schicken Sie mich nicht da raus.«

Sara schlug einen ernsten Ton an. »Ronny. Wir müssen gehen.«

»Bitte nicht!«, heulte er.

Jeffrey schrie: »Sara!«

Sara drückte den Jungen an sich und wartete auf Jeffreys Zeichen. Als es so weit war, hielt sie Ron fest an sich gedrückt und rannte gebückt in Richtung Tür.

Auf halbem Weg begann der Junge in Panik zu strampeln und zu treten, er kreischte: »Nein! Nicht!«, so laut er konnte.

Sie hielt ihm den Mund zu und zwang sich weiterzulaufen, ignorierte den Schmerz, als er ihr in die Hand biss. Frank streckte die Arme aus, packte Ron am Hosenbund und riss ihn an sich. Als Nächstes wollte er auch Sara holen, doch sie war schon wieder hinter dem Aktenschrank und suchte nach weiteren Kindern. Wieder flog eine Kugel an ihrem Ohr vorbei. Ohne nachzudenken, robbte sie vorwärts.

Zweimal versuchte sie zu zählen, wie viele Kinder Brad bei sich hatte, doch der Kugelhagel und das Chaos um sie herum brachten sie jedes Mal durcheinander. Verzweifelt suchte sie nach Jeffrey. Er war ungefähr fünf Meter entfernt und lud gerade seine Pistole nach. Ihre Blicke trafen sich, als er plötzlich zurück gegen die Tische geschleudert wurde, als hätte er einen Schlag gegen die Schulter bekommen. Eine Pflanze fiel zu Boden, der Blumentopf zerbarst in tausend Scherben. Jeffreys Körper krümmte sich, die Beine zuckten heftig, dann war er ruhig. Als Jeffrey am Boden lag, schien alles andere stillzustehen. Sara duckte sich unter dem nächsten Tisch, es klingelte in ihren Ohren. Im Raum war es plötzlich ganz ruhig bis auf Marlas Heulen, ihre Stimme hob und senkte sich wie eine Sirene.

»O Gott«, flüsterte Sara und sah verzweifelt unter den Tisch. Vorne am Tresen stand Smith mit einer Waffe in jeder Hand und suchte den Raum ab. Der zweite junge Mann stand neben ihm und zielte mit einem Sturmgewehr auf die Eingangstür. Smith trug eine kugelsichere Weste unter der Jacke, und Sara sah, dass er noch zwei weitere Waffen im Holster hatte. Die Schrotflinte lag auf dem Tresen. Beide Schützen standen ohne Deckung da, doch niemand feuerte auf sie. Sara versuchte sich zu erinnern, wer sonst noch da war, aber sie schaffte es nicht zu zählen.

Etwas regte sich zu ihrer Linken. Wieder fiel ein Schuss, ein Querschläger klirrte und dann stöhnte jemand. Der Schrei eines Kindes wurde erstickt. Sara legte sich flach auf den Boden und versuchte, unter die anderen Tische zu sehen. In der gegenüberliegenden Ecke hatte Brad die Arme ausgebreitet und hielt die Kinder auf dem Boden fest. Schluchzend drängten sie sich aneinander.

Der Polizist, der gegen den Aktenschrank gefallen war, versuchte stöhnend die Waffe hochzuheben. Sara erkannte ihn, es war Barry Fordham, ein Streifenpolizist, mit dem sie auf dem letzten Polizeiball getanzt hatte.

»Waffe weg!«, schrie Smith. »Waffe weg!«

Barry versuchte zu ziehen, doch die Hand gehorchte ihm nicht mehr. Die Pistole zuckte unkontrolliert herum. Der Mann mit dem Sturmgewehr drehte sich langsam um und schoss Barry Fordham mit grauenvoller Präzision in den Kopf. Sein Hinterkopf schlug gegen den Metallschrank und blieb so liegen. Als Sara sich nach dem zweiten Schützen umsah, hatte der sich wieder der Eingangstür zugewandt, als wäre nichts gewesen.

»Wer noch?«, verlangte Smith. »Zeigt euch!«

Sara hörte hinter sich ein Geräusch. Sie sah nur ein verschwommenes Bild, als einer der Detectives in Jeffreys Büro rannte. Ein Kugelhagel folgte ihm. Ein paar Sekunden später wurde ein Fenster eingeschlagen.

»Alle bleiben, wo sie sind!«, befahl Smith. »Alle bleiben, wo sie sind!«

Jetzt schrie ein Kind in Jeffreys Büro, wieder zerbrach eine Scheibe. Erstaunlicherweise war das Fenster zwischen dem Büro und dem Mannschaftsraum nicht zu Bruch gegangen. Jetzt ließ es Smith mit einem gezielten Schuss zerbersten.

Sara duckte sich, als große Glasscherben herunterregneten.

»Wer ist noch hier?«, verlangte Smith. Sie hörte, wie er die Schrotflinte lud. »Zeigt euch, oder ich knall die Alte ab!«

Marlas Schrei wurde mit einem Schlag zum Schweigen gebracht.

Endlich entdeckte Sara Jeffrey in der Mitte des Raums. Sie konnte nur seine rechte Schulter und seinen Arm sehen. Er lag auf dem Rücken und regte sich nicht. Blut sammelte sich in einer Lache, er hielt noch die Pistole, doch seine Hand war entspannt. Er lag fünf Tische von ihr entfernt, doch selbst von hier konnte sie seinen Collegering am Finger erkennen.

Von rechts hörte sie ein geflüstertes: »Sara.« Frank kauerte mit gezogener Waffe hinter der Brandschutztür. Er bedeutete ihr, zu ihm herüberzukommen, doch sie schüttelte den Kopf. Er klang wütend, als er noch einmal zischte: »Sara.«

Wieder sah sie Jeffrey an. Sie wünschte, er würde sich bewegen, ein Lebenszeichen von sich geben. Die übrig gebliebenen Kinder drängten sich immer noch an Brad, ihr Schluchzen wurde nach und nach von der Angst erstickt. Sara konnte sie nicht einfach hier zurücklassen, und das machte sie Frank mit einem entschlossenen Kopfschütteln klar. Sein wütendes Schnauben ignorierte sie.

»Wer ist noch da?«, bellte Smith. »Zeig dich, oder ich erschieße die Alte!« Marla schrie, doch Smith schrie noch lauter. »Wer ist dahinten, verdammt noch mal?«

Ohne weiter nachzudenken, rannte Sara gebückt zum nächsten Tisch, in der Hoffnung, Smith konzentrierte sich auf Brad. Sie hielt den Atem an, wartete auf Schüsse.

»Wo sind die Kinder?«, rief Smith.

Brads Stimme war erstaunlich ruhig. »Wir sind hier. Nicht schießen. Da bin nur noch ich und drei kleine Mädchen. Wir werden nichts unternehmen.«

»Aufstehen.«

»Ich kann nicht, Mann. Ich muss mich um die Kleinen hier kümmern.«

Marla schrie: »Bitte nicht …« Doch wieder wurde sie mit einem Schlag zum Schweigen gebracht.

Sara schloss eine Sekunde die Augen und dachte an ihre Familie und an alles, was zwischen ihnen ungesagt geblieben war. Dann verscheuchte sie diese Gedanken und dachte an die Kinder hier im Raum. Sie starrte auf die Pistole in Jeffreys Hand, setzte ihre ganze Hoffnung auf diese Waffe. Wenn sie Jeffreys Pistole in die Finger bekäme, hätten sie vielleicht eine Chance. Noch vier Tische. Jeffrey war nur noch vier Tische entfernt. Wieder sah sie ihn an. Er rührte sich nicht, seine Hand lag regungslos da.

Smith war weiter mit Brad beschäftigt. »Wo ist deine Kanone?«

»Hier«, sagte Brad, und Sara warf sich unter den nächsten Tisch. Sie hatte zu viel Schwung, doch sie schaffte es gerade noch, hinter einem Aktenschrank abzubremsen. »Ich habe hier drei kleine Mädchen, Mann. Ich werde nicht schießen. Ich habe meine Waffe nicht angerührt.«

»Wirf sie hier rüber.«

Sara hielt die Luft an und wartete, bis sie Brads Waffe über den Boden rutschen hörte, dann rannte sie zum nächsten Tisch.

»Nicht bewegen!«, schrie Smith, als Sara unter den nächsten Tisch schlitterte. Ihre Füße waren feucht, und sie sah die blutigen Fußspuren, die ihren Weg markierten. Sie konnte sich gerade noch halten, bevor sie ins Freie rutschte.

Marla heulte: »Bitte!«

Dann erschallte das laute Klatschen von Fleisch auf Fleisch. Marlas Stuhl knirschte herzerweichend, als wäre er entzweigebrochen. Sara sah von unter dem Tisch, wie Marla auf dem Boden landete. Speichel rann ihr aus dem Mund, und ihr Gebiss schlitterte über die Fliesen.

»Ich hab gesagt, nicht bewegen!«, wiederholte Smith und gab Marlas Stuhl einen Tritt, der ihn quer durch die Anmeldung katapultierte.

Sara versuchte, ruhig zu atmen, als sie sich näher an Jeffrey anpirschte. Nur noch ein Tisch trennte sie von ihm, doch der stand falsch herum und blockierte ihr den Weg. Wenn sie losrannte, wäre sie in Smiths Schusslinie. Sie befand sich genau auf der Höhe der Kinder, drei Tische entfernt. Sie könnte die Pistole nehmen und … Saras Herz setzte aus. Was würde sie damit tun? Wie sollte sie schaffen, was zehn Cops nicht geschafft hatten?

Das Überraschungsmoment, dachte Sara. Sie hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Smith und sein Komplize wussten nicht, dass sie da war. Sie würde sie überrumpeln.

»Wo ist deine zweite Pistole?«, rief Smith.

»Ich bin Streifenpolizist. Ich trage keine zweite …«

»Erzähl keinen Scheiß!« Er schoss in Brads Richtung, und anstatt der Schreie, mit denen Sara gerechnet hatte, herrschte Schweigen. Sie blickte zurück unter die Tische, um zu sehen, ob jemand getroffen worden war. Drei schockgeweitete Augenpaare starrten zurück.

Das Schweigen erfüllte das Zimmer wie giftiges Gas. Sara zählte bis einunddreißig, bevor Smith fragte: »Bist du noch da, Mann?«

Sie legte sich die Hand auf die Brust, voller Angst, dass ihr Herz zu laut schlug. Nach allem, was sie sehen konnte, bewegte sich Brad nicht. Ein Bild tauchte vor ihren Augen auf, Brad, der die Arme um die Kinder gelegt hatte, doch sein Kopf war weggeschossen. Sie schloss die Augen und versuchte das Bild zu verscheuchen.

Sie wagte einen Blick auf Smith, der jetzt an der Stelle stand, wo Marla sie vor weniger als zehn Minuten begrüßt hatte. Er hatte eine Neun-Millimeter in der einen Hand und die Schrotflinte in der anderen. Seine Jacke stand offen, und Sara sah zwei leere Holster mit zusätzlicher Munition für die Schrotflinte. Im Bund seiner Jeans steckte eine weitere Pistole, und zu seinen Füßen lag eine große schwarze Tasche, die wahrscheinlich noch mehr Munition enthielt. Der zweite Schütze stand hinter dem Tresen, das Gewehr immer noch auf die Eingangstür gerichtet. Sein Körper war angespannt, der Finger auf dem Abzug des Gewehrs. Er kaute Kaugummi, und Sara fand sein geräuschloses Kauen fast noch zermürbender als Smiths Drohungen.

Smith wiederholte: »Bist du noch da, Mann?« Er schwieg ein paar Sekunden. »Hey, Mann?«

Endlich sagte Brad: »Ja, ich bin hier.«

Sara atmete leise aus, Erleichterung machte sich in ihrem Körper breit. Sie drückte sich flach auf den Boden. Am besten käme sie zu Jeffrey vor, wenn sie sich hinter einer Reihe von umgestürzten Aktenschränken vorbeirobbte. Langsam bahnte sie sich den Weg über die kalten Fliesen und streckte ihre Hand nach seiner aus. Endlich berührten ihre Fingerspitzen seinen Jackenärmel. Sie schloss die Augen und schob sich vorwärts.

Die Pistole in seiner Hand war leer geschossen. Sara hätte auch von selbst darauf kommen können, wenn sie nachgedacht hätte. Jeffrey wollte sie gerade laden, als er getroffen wurde, das Magazin war zu Boden gefallen und durch den Aufprall waren die Patronen herausgesprungen, sie lagen überall herum – nutzlose, unbenutzte Patronen. Es war im Grunde klar gewesen. Genauso wie die Tatsache, dass sein Handgelenk, als ihre Finger es endlich berührten, kalt war, oder die Tatsache, dass er keinen Puls mehr hatte.

Zwei

9.22 Uhr

»Ethan«, sagte Lena, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während sie die Schnürsenkel ihrer neuen schwarzen Basketballschuhe zuband. »Ich muss los.«

»Warum?«

»Du weißt warum«, gab sie zurück. »Es ist mein erster Tag wieder bei der Truppe, da darf ich nicht zu spät kommen.«

»Ich will nicht, dass du hingehst.«

»Ach, wirklich? Als hättest du das nicht schon achtzehn Millionen Mal gesagt.«

»Weißt du was?« Er klang beherrscht. Anscheinend war er so naiv zu glauben, dass er es ihr noch irgendwie ausreden könnte. »Du kannst eine ganz schöne Zicke sein.«

»Da hast du aber lange gebraucht, um das rauszufinden.«

Jetzt legte er mit einer seiner Standpauken los, doch Lena hörte kaum zu, als sie sich im Spiegel an der Tür betrachtete. Sie sah gut aus heute. Sie hatte sich das Haar hochgesteckt, und der Anzug, den sie letzte Woche im Ausverkauf gefunden hatte, saß genau richtig. Sie schob das Jackett zurück und legte die Hand auf das Holster mit der Neun-Millimeter. Das Metall fühlte sich gut unter ihren Fingern an.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Ethan.

»Nein«, antwortete sie. »Ich bin Cop, Ethan. Kriminalbeamtin. Fertig.«

»Wir wissen doch beide, was du bist«, sagte er, jetzt schärfer. »Und wir wissen beide, wozu du fähig bist.« Er wartete ab. Lena biss sich auf die Zunge. Sie würde darauf nicht antworten. Dann änderte er die Taktik. »Weiß dein Boss, dass du wieder mit mir zusammen bist?«

»Es ist kein Versteckspiel.«

Ethan registrierte den defensiven Ton und schlug in die Kerbe. »Das würde dir die Arbeit richtig versüßen, was? In weniger als einer Woche weiß jeder, dass du dich von einem Exknacki vögeln lässt.«

Sie ließ die Waffe los und fluchte leise vor sich hin.

»Was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass es eh schon jeder weiß, du Idiot. Jeder auf dem Revier weiß Bescheid.«

»Aber sie wissen nicht alles«, erinnerte er sie mit einem drohenden Unterton.

Lena warf einen Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. Sie durfte nicht zu spät kommen an ihrem ersten Tag. Die Lage war schon gespannt genug, ohne dass sie als Letzte hereinschneite. Frank würde das nur als weiteren Beweis dafür ansehen, dass sie noch nicht reif für einen Neuanfang war, und Matt, sein Kumpel, wäre natürlich der gleichen Meinung. Der heutige Tag war für Lena eine schwere Prüfung, schwerer noch als ihr allererster Tag in Uniform. Wie damals würden alle nur darauf warten, dass sie Fehler machte. Der Unterschied war, heute hätten sie Mitleid, wenn Lena es verbockte, während sie sie damals ausgelacht hätten. Und sogar mit Schadenfreude konnte Lena besser umgehen als mit Mitleid. Wenn es heute schiefging, wüsste sie nicht, was sie tun sollte. Fortziehen, wahrscheinlich. Vielleicht war in Alaska noch eine Stelle frei.

Zu Ethan sagte sie: »Ich komme heute Abend wahrscheinlich spät nach Hause.«

»Macht nichts«, sagte er. Die Aussicht, sie später vielleicht noch zu sehen, besänftigte ihn. »Komm einfach bei mir vorbei.«

»Dein Wohnheim stinkt nach Kotze und Pisse.«

»Dann komme ich bei dir vorbei.«

»Super Idee. Mit der lesbischen Geliebten meiner toten Schwester nebenan? Nein, danke.«

»Ach, komm schon, Baby. Ich will dich sehen.«

»Ich weiß aber nicht, wie spät es wird«, sagte sie. »Und dann bin ich wahrscheinlich müde.«

»Wir können einfach schlafen«, schlug er vor. »Ist mir egal. Ich will dich sehen.«

Seine Stimme war jetzt sanft, doch Lena wusste, wenn sie ihn abwies, würde er böse werden. Ethan war erst dreiundzwanzig, fast zehn Jahre jünger als sie, und er hatte noch nicht begriffen, dass eine Nacht in getrennten Betten nicht das Ende der Beziehung bedeutete. Obwohl sich Lena manchmal wünschte, sie könnte sich einfach wieder von ihm trennen. Vielleicht schaffte sie es jetzt, wo sie wieder in ihrem Beruf arbeitete und sich mit anspruchsvolleren Fragen beschäftigte als mit dem täglichen Fernsehprogramm.

»Lena?«, gurrte Ethan, als ahnte er, was ihr durch den Kopf ging. »Ich liebe dich, Baby. Komm heute Abend zu mir. Ich koche was und besorge eine Flasche Wein …«

»Ich habe meine Tage nicht bekommen.«

Er schnappte nach Luft, und sie bedauerte, dass sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

»Das ist nicht lustig.«

»Meinst du, ich mache Witze?«, fragte sie. »Ich bin drei Wochen überfällig.«

Er schwieg, dann sagte er: »Das kann auch vom Stress kommen, oder?«

»Oder vom Sperma.«

Er schwieg, sein Atmen war das einzige Geräusch in der Leitung.

Sie brachte ein künstliches Lachen zustande. »Na, liebst du mich immer noch, Baby?«

Seine Stimme klang kühl und beherrscht. »Hör auf, so zu reden.«

»Pass auf«, sagte sie, sie bereute, dass sie es überhaupt erwähnt hatte. »Keine Sorge, okay? Ich kümmere mich drum.«

»Was soll das heißen?«

»Es heißt, was es heißt, Ethan. Wenn ich …« Sie brachte nicht einmal das Wort über die Lippen. »Wenn was passiert ist, kümmere ich mich drum.«

»Du kannst doch nicht …«

Das Telefon piepte, und Lena war noch nie so dankbar für die Anklopffunktion gewesen. »Ich muss drangehen. Wir sehen uns.« Sie schaltete auf den anderen Anruf um, bevor Ethan noch etwas sagen konnte.

»Lee?«, fragte eine tiefe Stimme. Lena unterdrückte einen Seufzer. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Ethan an der Strippe zu behalten.

»Hallo, Hank.«

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schätzchen!«

Unwillkürlich musste sie lächeln.

»Hast du meinen Brief bekommen?«

»Ja«, sagte sie zu ihrem Onkel. »Vielen Dank.«

»Hast du dir was Hübsches davon gekauft?«

»Ja«, wiederholte Lena und zupfte das Jackett zurecht. Hanks zweihundert Dollar wären besser in Lebensmitteln oder in einer Autoversicherung angelegt gewesen, doch ausnahmsweise hatte Lena sich etwas gegönnt. Heute war ein wichtiger Tag. Sie war wieder Cop.

Jetzt klingelte ihr Handy, und sie sah auf dem Display, dass es Ethan war, der vom Handy aus anrief. Auf dem Festnetz hing er immer noch in der Warteschleife.

Hank fragte: »Musst du da rangehen?«

»Nein«, erklärte sie und drückte auf »Anruf abweisen«. Während Hank ihr die alte Geburtstagsgeschichte erzählte, von dem Tag, als Lena und ihre Zwillingsschwester Sibyl bei ihm einzogen und dass es der glücklichste Tag seines Lebens gewesen sei, verließ Lena ihr Zimmer und lief den Flur hinunter. Im Bad sah sie sich noch einmal im Spiegel an. Sie hatte Ringe unter den Augen, doch das würde sich mit ein wenig Make-up beheben lassen. Nur den violetten Riss in der Unterlippe konnte sie nicht kaschieren, wo sie zu fest draufgebissen hatte.

Am Spiegel hing ein Foto von Sibyl. Es war ungefähr einen Monat vor ihrem Tod aufgenommen worden, und auch wenn Lena das Bild am liebsten abgenommen hätte – dies war nicht ihr Haus. Wie jeden Morgen verglich Lena das Foto ihrer Zwillingsschwester mit ihrem Spiegelbild, und es gefiel ihr nicht, was sie sah. Als Sibyl starb, hatten sie sich zum Verwechseln ähnlich gesehen. Jetzt waren Lenas Wangen eingefallen, und ihr Haar war nicht mehr so dick und glänzend. Sie sah viel älter aus als dreiunddreißig, und mehr als an allem anderen lag das an der Härte in ihren Augen. Ihre Haut schimmerte nicht mehr wie früher, doch Lena gab die Hoffnung nicht auf, wieder zu ihrem alten Selbst zu finden.

Sie ging jeden Tag joggen, und fast jeden Abend verbrachte sie mit Ethan im Fitnessstudio und stemmte Gewichte.

Die Warteschleife machte sich piepend bemerkbar, und Lena knirschte mit den Zähnen. Sie wünschte, sie hätte Ethan nichts von der verspäteten Periode gesagt. Sie hatte ihre Tage ohnehin nie regelmäßig bekommen, aber so spät wie diesmal war sie noch nie dran gewesen. Vielleicht machte sie zu viel Sport – dabei musste sie doch fit sein für die Arbeit. In den vergangenen sechs Wochen hatte sie trainiert wie für einen Marathon. Und Ethan hatte recht mit dem Stress. Sie stand tatsächlich unter enormem Druck in letzter Zeit. Um genau zu sein, seit zwei Jahren.

Lena legte eine Hand vor die Augen. Sie würde jetzt nicht darüber nachdenken. Letztes Jahr hatte ihr eine ziemlich gute Therapeutin gesagt, dass Verdrängen manchmal etwas Gutes war. Heute war eindeutig ein Tag für die Scarlett-O’Hara-Nummer. Sie würde morgen darüber nachdenken. Scheiße, vielleicht auch erst nächste Woche.

Sie unterbrach Hank mit seiner Geschichte, bei der er ein paar Details ausließ, wie zum Beispiel die Tatsache, dass er drogensüchtig und Alkoholiker gewesen war, als das Jugendamt ihm Sibyl und Lena auf den Schoß gesetzt hatte – und das war noch der schönere Teil der Geschichte. »Wie ist es am Wochenende gelaufen?«

»Besser als gedacht«, sagte Hank zufrieden. Am letzten Wochenende hatte er seine heruntergekommene Bar am Rande des miesen Städtchens, in dem Lena aufgewachsen war, als Karaokebar neu aufgezogen. Angesichts von Hanks Stammkundschaft war das ein echtes Wagnis, doch Hanks Erfolg bestätigte Lenas Theorie, dass besoffene Hinterwäldler zu allem fähig waren, sobald das Licht schummerig wurde.

»Schätzchen«, Hank schlug einen ernsten Ton an. »Ich weiß, dass heute ein großer Tag für dich ist …«

»Keine große Sache«, unterbrach sie ihn. »Wirklich.«

»Vor mir musst du nicht die Starke markieren«, brauste er auf. Manchmal war er ihr so ähnlich, dass es Lena kalt den Rücken hinunterlief. »Ich wollte nur wissen, ob du irgendwas brauchst …«

»Alles bestens.« Sie wollte dieses Gespräch nicht schon wieder führen.

»Lass mich wenigstens ausreden, verdammt noch mal«, knurrte er. »Ich wollte dir nur sagen, wenn du irgendwas brauchst, ich bin für dich da. Nicht nur Geld und so. Ich bin da für dich.«

»Mir geht es gut«, wiederholte sie. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass Lena Hank um irgendetwas bat.

Das Telefon piepte, doch Lena ignorierte es tapfer. Sie ging in die Küche und hätte sich auf dem Absatz umgedreht, wenn Nan sie nicht am Arm gepackt hätte.

»Alles Gute zum Geburtstag!«, rief sie und klatschte überschwänglich in die Hände. Sie nahm ein Streichholz, und Lena sah zu, wie sie die einzelne Kerze auf einem Napfkuchen mit weißem Zuckerguss anzündete. Auf der Arbeitsplatte stand noch ein ähnlicher Kuchen mit einer Kerze, den Nan jedoch nicht beachtete.

»Happy birthday to you«, stimmte sie an.

Lena sagte zu Hank: »Ich muss aufhören.«

In dem Moment, als sie auflegte, klingelte das Telefon auch schon wieder. Lena drückte fast gleichzeitig auf Annehmen und Auflegen, gerade als Nan fertig gesungen hatte.

»Danke.« Lena blies die Kerze aus. Sie hoffte nur, Nan erwartete nicht, dass sie jetzt ein Stück Kuchen aß. Sie hatte das Gefühl, ihr läge ein Backstein im Magen.

»Hast du dir was gewünscht?«

»Ja«, sagte Lena, doch was, sagte sie besser nicht laut.

»Ich weiß, dass du zu aufgeregt zum Essen bist.« Nan schälte den Napfkuchen aus seinem Papier. Lächelnd schnitt sie sich ein Stück ab. Manchmal war Nans Intuition richtig unheimlich; als wären sie ein altes Ehepaar. Nan fragte: »Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Nein, danke«, sagte Lena und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Die Kaffeemaschine war eins von Lenas wenigen Besitztümern in den gemeinsamen Räumen des Häuschens. Meistens blieb sie in ihrem Zimmer, las oder sah fern auf dem kleinen Schwarz-Weiß-Gerät, das sie bei der Kontoeröffnung von der Bank geschenkt bekommen hatte.

Lena war aus schierer Not bei Nan eingezogen, und wie sehr sich Nan auch bemühte, es ihr gemütlich zu machen, Lena fühlte sich fehl am Platz. Nan war die perfekte Mitbewohnerin, wenn man Perfektion ertrug, doch Lena war an einem Punkt angelangt, an dem sie sich wieder nach einer eigenen Wohnung sehnte. Sie wollte einen Spiegel, der ihr nicht jeden Morgen die Ereignisse der letzten zwei Jahre ins Gesicht schleuderte. Sie wollte Ethan aus ihrem Leben verbannen. Sie wollte den Backstein in ihrem Magen loswerden. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich ihre Periode.

Wieder klingelte das Telefon. Lena würgte den Anruf ab.

Nan nahm noch einen Bissen Kuchen und beobachtete Lena über den Zuckerguss hinweg. Sie kaute langsam, dann schluckte sie runter. »Wie schade, dass du jetzt Make-up trägst. Du hast so schöne Haut.«

Wieder klingelte das Telefon, wieder drückte Lena die beiden Tasten. »Danke.«

»Weißt du«, begann Nan und setzte sich an den Küchentisch, »ich habe nichts dagegen, wenn Ethan ab und zu hier übernachtet. Es ist schließlich auch deine Wohnung.«

Lena versuchte zurückzulächeln. »Du hast Zuckerguss an der Lippe.«

Nan tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. Sie hätte sich den Krümel niemals mit der Hand abgewischt oder abgeleckt. Nan Thomas war der einzige Mensch, den Lena kannte, bei dem zu Hause ein Serviettenspender auf dem Tisch stand. Auch Lena war eine reinliche Person und schätzte Ordnung, aber die Art, wie Nan Dinge nicht einfach wegräumen konnte, nervte sie. Für alles hatte sie ein Häkeldeckchen, am besten mit Troddeln oder Teddybären verziert.

Nan hatte den Kuchen aufgegessen und wischte mit der Serviette die Krümel vom Tisch. Schweigend sah sie Lena an. Wieder klingelte das Telefon.

»Also«, sagte Nan. »Großer Tag heute. Ein neuer Anfang.«

Lena drückte die beiden Tasten. »Ja.«

»Glaubst du, sie geben eine Party für dich?«

Lena lachte schnaubend. Frank und Matt ließen keinen Zweifel daran, dass Lena nicht mehr dazugehörte. Und in letzter Zeit hatte sie immer häufiger überlegt, ob die beiden nicht sogar recht hatten. Aber heute Morgen, als sie sich das Holster umlegte und die Handschellen am Gürtel befestigte, hatte Lena das Gefühl, dass ihr Leben endlich wieder in geordnete Bahnen geriet.

Das Telefon klingelte, Lena drückte die Tasten. Sie versuchte Nans Reaktion zu sehen, doch Nan war damit beschäftigt, das Papier des Napfkuchens zu einem winzigen ordentlichen Quadrat zu falten, als hätte sie nichts bemerkt. Falls Nan Thomas sich je entschloss, Cop zu werden, würden die Verbrecher bei ihr Schlange stehen, um ein Geständnis abzulegen. Sollte sie sich dagegen für die kriminelle Laufbahn entscheiden, würde ihr nie jemand auf die Schliche kommen.

»Jedenfalls«, fuhr Nan fort, »gibt es keinen Grund, dass du ausziehst. Ich habe dich gerne hier.«

Lena betrachtete den einsamen Napfkuchen auf der Küchentheke. Nan hatte zwei gekauft: einen für Lena und einen für Sibyl.

»Im Doppelpack waren sie billiger«, sagte Nan, doch dann gestand sie: »Nein, das war gelogen. Sibyl hat Napfkuchen geliebt. Die einzige Süßigkeit, der sie verfallen war. Ich habe für beide den vollen Preis bezahlt.«

»Hab ich mir gedacht.«

»Tut mir leid.«

»Du musst dich nicht entschuldigen.«

»Jaja, ich weiß.« Nan ging zum Mülleimer, der mit grünen und gelben Häschen dekoriert war, passend zu ihrer Schürze. »Ich war trotzdem deinetwegen bei der Bäckerei. Ich wollte mit dir feiern. Nur weil sie tot ist …«

»Ich weiß, Nan. Danke. Das ist wirklich lieb von dir.«

»Da bin ich ja froh.«

»Gut«, sagte Lena und zwang sich, Nans ruhigem Blick standzuhalten. Obwohl sie eine solche Sauberkeitsfanatikerin war, ihre Brille putzte sie nie. Lena sah die Fingerabdrücke aus drei Meter Entfernung. Und doch war ihr eulenhafter Blick hinter den Gläsern durchdringend. Lena biss sich auf die Lippen und kämpfte gegen das Bedürfnis, ein Geständnis abzulegen.

Nan sagte: »Es ist einfach schwer ohne sie. Das weißt du ja. Du weißt, wie es ist.«

Lena nickte. Sie versuchte den Kloß im Hals mit Kaffee hinunterzuspülen, doch der Erfolg war, dass sie sich den Gaumen verbrühte.

»Ich habe dich gerne hier, das ist alles.«

»Ich bin dir dankbar, dass ich so lange bei dir sein durfte.«

»Ehrlich, Lee, du kannst so lange bleiben, wie du willst. Mir ist es recht.«

»Ja«, brachte Lena heraus. Sie sah in ihren Kaffee. Was würde Nan zu einem Baby sagen? Lena stöhnte innerlich. Nan würde das Baby wahrscheinlich lieben, ihm Schühchen häkeln und es an Halloween in ein albernes Kostüm stecken. Sie würde nur noch Teilzeit in der Bibliothek arbeiten und dabei helfen, das Kind großzuziehen, und sie wären ein glückliches Ehepaar, bis Lena die Zähne ausfielen und sie am Stock ging.

Wie um sie an Ethans Rolle bei dem Ganzen zu erinnern, klingelte das Telefon. Lena brachte es zum Schweigen.

Nan fuhr fort. »Sibyl hätte auch gewollt, dass du hier wohnst. Sie hat dich immer beschützen wollen.«

Lena räusperte sich. Ihr brach der Schweiß aus. Hatte Nan einen Verdacht?

»Beschützen vor Dingen, die du nicht im Griff hast.«

Das Telefon klingelte. Lena drückte die Tasten, ohne auf das Display zu sehen.

»Und mir tut es gut, jemanden um mich zu haben, der Sibyl kannte«, fuhr Nan fort. »Jemand, der sie mochte und«, sie wartete ab, bis Lena das nächste Klingeln abgestellt hatte, »dem etwas an ihr gelegen hat. Jemand, der weiß, wie schwer es ist ohne sie.« Wieder verstummte sie, doch diesmal nicht wegen des Telefons. »Du siehst ihr nicht einmal mehr ähnlich.«

Lena sah ihre Hände an. »Ich weiß.«

»Das hätte ihr nicht gefallen, Lee. Das hätte sie am allerschlimmsten gefunden.«

Beiden traten aus verschiedenen Gründen die Tränen in die Augen, und als das Telefon zum hundertsten Mal klingelte, nahm Lena ab, nur um den Bann zu brechen.

»Lena«, schrie Frank Wallace. »Wo zum Teufel warst du?«

Sie sah auf die Uhr am Herd. Sie sollte erst in einer halben Stunde auf dem Revier erscheinen.

Frank wartete ihre Antwort nicht ab. »Wir haben eine Geiselnahme auf dem Revier. Beweg deinen Arsch sofort hierher.«

Dann knallte er den Hörer auf.

Nan fragte: »Was ist?«

»Eine Geiselnahme«, sagte Lena und legte das Telefon auf den Tisch. Sie kämpfte gegen den Impuls, sich an die Brust zu greifen, wo ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Auf dem Revier.«

»O Gott«, stöhnte Nan. »Das gibt es doch gar nicht. Wurde jemand verletzt?«

»Er hat nichts gesagt.« Lena trank den Kaffee aus, obwohl ihr Adrenalinpegel keinen weiteren Schub brauchte. Sie suchte auf der Küchentheke nach ihrem Schlüssel. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Nan sagte: »Weißt du noch, was in Ludowici passiert ist?«

»Lieber nicht.« Lenas Herz flatterte. Vor sechs Jahren waren im Nachbarbezirk sechs Gefangene aus ihren Zellen ausgebrochen und hatten einen Wärter in ihre Gewalt gebracht. Es war zur Belagerung gekommen. Nach drei Tagen waren fünfzehn Gefangene tot oder verletzt. Vier Polizeibeamte waren gestorben. Im Geist ging Lena alle Cops durch, die sie auf dem Revier kannte, und fragte sich, ob einer von ihnen verletzt worden war.

Sie durchsuchte ihre Taschen nach den Schlüsseln.

Wieder klingelte das Telefon.

Lena rief: »Wo sind meine …«

Nan deutete auf den Haken in Form einer Ente an der Wand. Beim zweiten Klingeln nahm sie das Telefon in die Hand. »Was soll ich ihm sagen?«

Lena pflückte die Schlüssel vom Schnabel der Ente. Sie wich Nans Blick aus, als sie die Tür öffnete. »Sag ihm, ich bin schon bei der Arbeit.«