Schattengeister - Frances Hardinge - E-Book

Schattengeister E-Book

Frances Hardinge

4,0

Beschreibung

Makepiece schreit oft in ihren Albträumen. Etwas – jemand – ergreift dann Besitz von ihr. Und auch wenn sie am Tag ihre Gedankensoldaten zum Schutz aufstellt – Sterbende begehren Einlass in ihren Kopf und Körper. Nur, wie viele verschiedene Wesen vertragen sich in einem Körper? Und dazu noch ein so großes, wildes: ein geschundener Tanzbär.

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FRANCES HARDINGE

SCHATTENGEISTER

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Für meine Patentochter Harriet,die meinen Hunger nach Büchern undaußergewöhnlichen Abenteuern teilt.

INHALT

TEIL 1: GEISTERKIND

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

TEIL 2: GOTELYS KATZE

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

TEIL 3: MAUD

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

TEIL 4: JUDITH

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

TEIL 5: NIEMANDSLAND

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

TEIL 6: WHITEHOLLOW

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

TEIL 7: DAS ENDE DER WELT

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

DANKSAGUNG

Leseprobe

PROLOG

GESICHTSLOS

KAPITEL 1

Als Makepeace zum dritten Mal schreiend aus einem Albtraum erwachte, wurde ihre Mutter wütend.

«Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht so träumen sollst!», zischte sie leise, um den Rest des Hauses nicht zu wecken. «Und wenn du es doch tust, darfst du nicht schreien!»

«Ich konnte mich nicht beherrschen», flüsterte Makepeace, eingeschüchtert durch den strengen Ton ihrer Mutter.

Mutter nahm Makepeaces Hände. Ihre Miene war angespannt und ernst im ersten Licht des Morgens.

«Dir gefällt dein Zuhause nicht. Du lebst nicht gern mit deiner Mutter zusammen.»

«Doch! Doch!», rief Makepeace. Sie hatte das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen.

«Dann musst du lernen, dich zu beherrschen. Wenn du jede Nacht schreist, werden schreckliche Dinge geschehen. Vielleicht wirft man uns aus dem Haus!»

Auf der anderen Seite der Wand schliefen Makepeaces Tante und Onkel, denen die Pastetenbäckerei unten im Erdgeschoss gehörte. Die Tante war laut und ehrlich, aber der Onkel schaute immer griesgrämig drein und war niemals zufrieden. Seit sie sechs Jahre alt war, musste Makepeace auf ihre vier kleinen Kusinen und Vettern aufpassen, die ständig gefüttert, gesäubert, verarztet, umgezogen oder von den Bäumen der Nachbarn heruntergeholt werden mussten. In der wenigen freien Zeit, die ihr noch blieb, erledigte sie Botengänge und half in der Küche. Trotzdem schliefen Mutter und Makepeace auf einer Matratze in einer zugigen kleinen Kammer abseits der anderen Schlafzimmer. Ihr Platz in dieser Familie kam ihnen nur geliehen vor, als ob man ihnen jederzeit fristlos kündigen konnte.

«Und schlimmer noch – jemand könnte den Pastor rufen», fuhr Mutter fort. «Oder … andere könnten davon erfahren.»

Makepeace wusste nicht, wer diese anderen sein sollten, aber «andere» waren immer eine Bedrohung. Zehn Jahre mit ihrer Mutter hatten sie gelehrt, dass man niemandem vertrauen durfte.

«Ich versuch’s ja!» Nacht für Nacht betete Makepeace inbrünstig und legte sich dann in die Dunkelheit, in der festen Absicht, nicht zu träumen. Aber der Albtraum suchte sie trotzdem heim, voller Mondlicht, Geflüster und unfertiger Formen und Gestalten. «Was soll ich tun? Ich will ja aufhören!»

Mutter schwieg lange Zeit, dann drückte sie Makepeaces Hand.

«Ich erzähle dir eine Geschichte», sagte sie, was sie manchmal tat, wenn es eine ernste Angelegenheit zu besprechen gab. «Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte sich im Wald verlaufen, wo es von einem Wolf gejagt wurde. Das Mädchen rannte und rannte, bis seine Füße blutig waren, und immer noch rannte es weiter, denn es wusste, dass der Wolf Witterung aufgenommen hatte und der Spur immer noch folgte. Das Mädchen hatte zwei Möglichkeiten: Entweder es rannte und versteckte sich bis in alle Ewigkeit, oder aber es blieb stehen und schnitt sich einen spitzen Stock, um sich zu verteidigen. Was hättest du getan, Makepeace?»

Makepeace wusste, dass diese Geschichte nicht bloß eine Geschichte war und dass viel von ihrer Antwort abhing.

«Kann man einen Wolf mit einem Stock bekämpfen?», fragte sie zweifelnd.

«Mit einem Stock hat man eine Chance.» Ihre Mutter schenkte ihr ein kleines, trauriges Lächeln. «Eine geringe Chance. Aber es ist gefährlich, stehen zu bleiben.»

Makepeace dachte lange nach.

«Wölfe können schneller rennen als Menschen», sagte sie schließlich. «Selbst wenn sie immer weiterrennt, wird der Wolf sie eines Tages erwischen und auffressen. Sie braucht einen spitzen Stock.»

Mutter nickte langsam. Sie sagte nichts mehr und erzählte auch nicht, wie die Geschichte ausging. Makepeace gefror das Blut in den Adern. So war Mutter manchmal. Aus Gesprächen wurden Rätsel mit Fallstricken, und die Antworten blieben nie ohne Folgen.

Solange sich Makepeace erinnern konnte, hatten sie und ihre Mutter in der kleinen, geschäftigen Beinahe-Stadt Poplar gelebt. Eine Welt ohne den Gestank nach Kohlenfeuerrauch und Teer, der von den großen, ratternden Werften geweht kam, ohne die rasselnden Pappeln, die dem Ort seinen Namen gegeben hatten, und ohne die saftig grünen Marschen, wo das Vieh graste, war für sie nicht vorstellbar. London lag ein paar Meilen entfernt, eine dunstige Masse voller Bedrohung und Verlockung. Das alles war ihr so vertraut, gehörte zu ihr wie ihr Atem. Und doch hatte Makepeace nicht das Gefühl, hierher zu gehören.

Mutter sagte niemals: Dies ist nicht unser Zuhause. Aber ihre Augen sagten es unentwegt.

Als sie nach Poplar gekommen war, hatte Mutter ihrer kleinen Tochter einen neuen Namen gegeben und sie fortan Makepeace gerufen, damit man sie hier beide leichter annehmen würde. Makepeace kannte ihren ursprünglichen Namen nicht, und dieser weiße Fleck in ihrem Leben sorgte dafür, dass sie sich ein bisschen unwirklich fühlte. Makepeace kam ihr auch nicht wie ein richtiger Name vor. Es war ein Friedensangebot – denn genau das bedeutete ihr Name: Frieden stiften –, ein Angebot an Gott und alle gottesfürchtigen Leute von Poplar. Es war eine Entschuldigung für die Lücke, wo Makepeaces Vater hätte sein sollen.

Alle, die sie kannten, waren gottesfürchtig. Die Gemeinde hatte sich dieses Attribut selbst verliehen, nicht aus Stolz, sondern um sich von all jenen abzugrenzen, die auf der dunklen Straße zur Hölle unterwegs waren. Makepeace war nicht die Einzige mit einem merkwürdigen, fromm klingenden Namen. Da gab es noch Verity, What-God-Will, Forsaken, Deliverance, Kill-Sin und so weiter.

Jeden zweiten Abend fanden im Salon der Tante Gebetsstunden und Bibellesungen statt, und sonntags gingen alle in die hoch aufragende Kirche aus grauem Kalkstein.

Der Pastor war ein freundlicher Mann, wenn man ihm auf der Straße begegnete, aber oben auf der Kanzel war er furchterregend. Wenn Makepeace in die gebannten Gesichter der Gläubigen schaute, dann wusste sie, dass aus ihm eine große Wahrheit leuchten musste – und Liebe, wie aus einem kalten, weißen Kometen. Er predigte ihnen, sich gegen die teuflischen Versuchungen zur Wehr zu setzen, zu denen der Alkohol, das Glücksspiel, der Tanz, die Theater und alle unnützen Vergnügungen am Sabbath zählten, alles Fallstricke, die Satan ausgelegt hatte. Er erzählte ihnen, was in London und der großen weiten Welt vor sich ging, erzählte von den jüngsten Intrigen am Hof, den Machenschaften der tückischen Katholiken. Seine Predigten waren beängstigend und gleichzeitig erregend. Manchmal hatte Makepeace beim Verlassen der Kirche das prickelnde Gefühl, dass die Gemeindemitglieder Soldaten in glänzenden Rüstungen waren, die gegen die Mächte der Finsternis zu Felde zogen. Dann konnte sie eine kleine Weile glauben, dass Mutter und sie selbst Teil von etwas Größerem waren, von etwas Wunderbarem, das sie mit all ihren Nachbarn gemein hatten. Doch dieses Gefühl war nie von Dauer. Nach kurzer Zeit standen sie wieder zu zweit auf einsamem Posten.

Mutter sagte niemals: Das sind nicht unsere Freunde. Aber jedes Mal, wenn sie die Kirche betraten oder auf den Markt gingen oder stehen blieben, um jemanden zu begrüßen, packte sie Makepeace fester an der Hand. Es war, als ob eine unsichtbare Umzäunung Mutter und Makepeace von allem anderen trennte. Und so schenkte Makepeace den anderen Kindern das gleiche halbe Lächeln, das ihre Mutter für deren Mütter übrig hatte. Den anderen Kindern, die einen Vater hatten.

Kinder sind wie kleine Pastoren, die ihre Eltern genau beobachten und in jeder Geste und jedem Ausdruck nach Zeichen ihres göttlichen Willens suchen. Von ihrer frühesten Kindheit an war sich Makepeace darüber im Klaren, dass sie und Mutter niemals sicher waren und dass sich die anderen gegen sie wenden konnten.

Und so hatte Makepeace Trost und Gesellschaft bei sprachlosen Wesen gesucht. Sie kannte die geschäftige Hinterlist von Bremsen, die ängstliche Aggressivität von Hunden und den schweren Gleichmut der Kühe.

Manchmal geriet sie daher in Schwierigkeiten. Einmal kam sie mit einer gespaltenen Lippe und einer blutigen Nase nach Hause, nachdem sie ein paar Jungen angeschrien hatte, die Steine auf ein Vogelnest warfen. Vögel für den Suppentopf zu töten oder Eier für das Frühstück zu stehlen, ging völlig in Ordnung, aber sinnlose, dumme Grausamkeit erweckte in Makepeace einen Zorn, den sie nicht genau erklären konnte. Die Jungen hatten sie verblüfft angestarrt und dann mit Steinen nach ihr geworfen. Natürlich, warum auch nicht? Grausamkeit war normal, sie gehörte genauso zu ihrem Leben wie die Blumen und der Regen. Sie waren an den Rohrstock in der Schule gewöhnt, an die Schreie der Schweine beim Schlachter und das Blut in den Sägespänen der Hahnengrube. Kleine gefiederte Lebewesen totzuschlagen, war für sie genauso natürlich und befriedigend wie in Regenpfützen zu springen.

Wenn man auffiel, bekam man eine blutige Nase. Um zu überleben, mussten sich Mutter und Makepeace einfügen. Was ihnen aber nie richtig gelang.

In der Nacht nach der Wolfsgeschichte brachte Mutter Makepeace auf den alten Friedhof, ohne einen Grund dafür zu nennen.

Nachts wirkte die Kirche hundertmal größer, und ihr Turm sah aus wie ein unerbittlicher Klotz aus abgrundtiefem Schwarz. Das Gras unter ihren Füßen war holprig und grau im Sternenlicht. In einer Ecke des Friedhofs stand eine kleine Kapelle aus Backstein, die schon lange nicht mehr benutzt wurde. In diese Kapelle gingen sie, und Mutter warf ein paar Decken in eine Nische des düsteren Gebäudes.

«Können wir jetzt heimgehen?» Makepeace hatte eine Gänsehaut. Etwas war in der Nähe; Dinge lauerten überall ringsum, verursachten ein Kribbeln in ihrem Geist wie zarte Spinnenfüße.

«Nein», sagte Mutter.

«Hier ist etwas!» Makepeace kämpfte gegen ihre aufsteigende Panik an. «Ich fühle es!» Entsetzen überkam sie, als sie erkannte, was es war: Genauso fingen ihre Albträume immer an, mit dieser unguten Vorahnung, diesem Gefühl einer heranschleichenden Bedrohung. «Die Dämonen aus meinem Traum …»

«Ich weiß.»

«Was sind sie?», flüsterte Makepeace. «Sind sie … tot?» In ihrem Herzen kannte sie die Antwort bereits.

«Ja», sagte Mutter mit ihrer gelassenen, kühlen Stimme. «Hör mir zu. Die Toten sind wie Ertrinkende. Sie treiben in der Dunkelheit und greifen nach allem, was sie kriegen können. Sie wollen dir vielleicht nichts tun, aber sie tun es trotzdem, wenn du es zulässt.

Du wirst heute Nacht hier schlafen. Sie werden versuchen, sich in deinem Kopf festzusetzen. Was auch immer geschieht: Du darfst sie nicht hereinlassen.»

«Was?», schrie Makepeace auf, die in diesem Augenblick vergaß, dass sie leise sein musste. «Nein! Ich kann nicht hierbleiben.»

«Du musst», sagte Mutter. Ihr Gesicht war wie in Stein gemeißelt und silbern überzogen vom Licht der Sterne, und in ihrer Miene lag keine Freundlichkeit, keine Nachsicht. «Du musst hierbleiben und deinen Stock anspitzen.»

Mutter benahm sich immer dann seltsam und unergründlich, wenn es um etwas Wichtiges ging. Es war, als ob sie dieses andere Ich, diese eigenwillige, unbegreifliche, andersweltliche Version ihrer selbst in der Kleidertruhe unter ihrem Sonntagsstaat aufbewahrte und nur im Notfall hervorholte. Wenn das geschah, war sie nicht mehr Mutter, sie war Margaret. Ihre Augen waren tiefer, ihr Haar unter der Haube dicker und hexenhaft unbändig, und ihr Geist war auf etwas gerichtet, das Makepeace nicht sehen konnte.

Wenn Mutter sich so benahm, zog Makepeace normalerweise den Kopf ein und widersprach nicht. Aber diesmal schlug die Angst über ihr zusammen. Sie flehte, wie sie noch nie in ihrem Leben gefleht hatte. Sie protestierte, weinte, argumentierte und klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an Mutters Arm. Mutter durfte sie nicht hierlassen, das durfte sie nicht, das durfte sie nicht …

Mutter befreite sich aus dem Griff und versetzte Makepeace einen heftigen Stoß, der sie nach hinten taumeln ließ. Mit ein paar schnellen Schritten war sie draußen und schlug die Tür zu, woraufhin es pechschwarz in der Kapelle wurde. Ein schwerer Riegel wurde vorgeschoben.

«Mutter!», schrie Makepeace, der es mittlerweile egal war, ob irgendjemand sie hörte. Sie rüttelte an der Tür, die aber nicht nachgab. «Ma!»

Sie erhielt keine Antwort. Zu hören war nur das leise Schaben von Mutters Schritten, die sich entfernten. Makepeace war allein mit den Toten, der Dunkelheit und den Winterschreien der Eulen.

Stundenlang kauerte sich Makepeace in das Nest aus Decken, zitterte vor Kälte und lauschte dem entfernten Bellen der Füchse. Sie fühlte die Wesen am Rand ihres Geistes lauern, sie warteten auf eine Gelegenheit, warteten darauf, dass sie einschlafen würde.

«Bitte», flüsterte sie und hielt sich die Ohren zu, um die Stimmen nicht mehr zu hören. «Bitte nicht. Bitte …»

Aber schließlich entzog sich ihr erschöpftes Gehirn ihrem Willen. Sie schlief ein, und prompt brach der Albtraum über sie herein.

Wie die Male zuvor träumte Makepeace von einem dunklen, engen Raum. Der Boden bestand aus festgetrampelter Erde, und die Wände waren aus rußig schwarzem Stein gebaut. Sie wollte die Läden schließen, damit kein Mondlicht hereinkam – sie musste es aussperren, es trug Flüstern in sich. Aber die Läden standen in der Mitte einen Spalt auseinander und der Riegel war kaputt. Hinter der Lücke gähnte die tückische Nacht, wo Sterne schwankten und funkelten wie lose Knöpfe.

Makepeace stemmte sich mit aller Kraft gegen die Fensterläden, aber die Nacht atmete die toten Wesen zu Dutzenden in den Raum. Sie griffen nach ihr und heulten mit diesen nebelhaften, geschmolzenen Gesichtern. Makepeace hielt sich die Ohren zu und kniff Augen und Mund zusammen; sie wusste, dass sie einen Weg in sie hinein suchten, in ihren Kopf.

Sie surrten und winselten, aber Makepeace wollte nicht zuhören, wollte nicht, dass aus den weichen, abscheulichen Klängen Worte wurden. Das bleiche Licht zupfte an ihren Lidern, und das Flüstern leckte und kitzelte ihre Ohren, und die Luft war zum Schneiden dick von all dem, aber sie konnte nicht anders, sie musste atmen …

Mit einem Ruck erwachte Makepeace. Ihr Herz hämmerte so laut, dass ihr davon übel wurde. Instinktiv streckte sie die Hand nach dem warmen und beruhigenden Körper ihrer Mutter aus.

Aber Mutter war nicht da. Makepeace brach der Angstschweiß aus, als ihr einfiel, wo sie sich befand. Sie war nicht zu Hause in Sicherheit. Sie war eingesperrt, lebendig begraben, umgeben von den Toten.

Ein plötzliches Geräusch ließ sie erstarren. Ein raues Rascheln auf dem Boden, erschreckend laut in der kalten, klaren Nacht.

Unvermittelt lief etwas Kleines, Leichtes über Makepeaces Fuß. Sie schrie auf, aber im nächsten Moment beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Sie hatte das weiche Fell gespürt, das Kitzeln von winzigen Krallen.

Eine Maus. Von irgendwo in diesem Raum beobachtete die Maus sie mit ihren hellen Augen. Sie war nicht allein mit den Toten. Die Maus war zwar nicht ihr Freund, es wäre ihr egal, ob die toten Wesen sie umbrachten oder in den Wahnsinn trieben. Aber es war ein tröstlicher Gedanke, dass die Maus hier vor den Eulen und den anderen Jägern der Nacht Schutz suchte. Sie schrie nicht und flehte auch nicht, man möge sie verschonen. Es kümmerte sie nicht, ob sie geliebt wurde oder nicht. Sie wusste, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Irgendwo in dieser Kapelle schlug ein rosinengroßes Herz mit dem eisernen Willen zu leben.

Und es dauerte nicht lange, da tat Makepeaces Herz genau das Gleiche.

Sie konnte die Toten weder hören noch fühlen, aber sie konnte spüren, wie sie an ihrem Geist kratzten. Sie warteten darauf, dass sie müde werden oder in Panik geraten würde, dass ihre Wachsamkeit nachließ, damit sie zuschlagen konnten. Aber Makepeace hatte in sich einen kleinen Knoten aus Sturheit gefunden.

Es war nicht leicht, wach zu bleiben, aber Makepeace zwickte sich unentwegt und marschierte auf und ab, bis die langen, dunklen Stunden der Nacht dem grauen Morgenlicht wichen. Sie fühlte sich zittrig und schwach, und ihr Geist war wund und aufgeschrammt, aber sie hatte überlebt.

Mutter kam kurz vor dem Morgendämmern, um sie abzuholen. Schweigend und mit gesenktem Kopf folgte ihr Makepeace nach Hause. Sie wusste, dass Mutter für alles, was sie tat, ihre Gründe hatte. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Makepeace, dass sie ihr nicht vergeben konnte, und danach war nichts mehr wie früher.

Von da an brachte Mutter Makepeace ungefähr einmal im Monat auf den Friedhof. Manchmal vergingen fünf oder sechs Wochen, und Makepeace hegte die Hoffnung, dass Mutter die Sache aufgegeben hätte. Doch dann bemerkte Mutter, dass es wohl eine warme Nacht werden würde, und Makepeace wurde das Herz schwer, weil sie wusste, was auf sie zukam.

Makepeace wehrte sich nicht länger. Die Erinnerung daran, wie sie in jener ersten Nacht gejammert und gefleht hatte, bereitete ihr Übelkeit.

Wenn ein Mensch seinen Stolz über Bord wirft und aus ganzem Herzen um etwas bittet und diese Bitte abgeschlagen wird, ist er nie mehr derselbe. Etwas in ihm stirbt, und etwas anderes erwacht zum Leben. Es war, als ob Makepeace mit einem Mal die Welt begriffen hätte, als wäre etwas in ihre Seele gesickert wie Wintertau. Sie wusste, dass sie sich nie wieder so geborgen oder geliebt fühlen würde wie früher. Und sie wusste, dass sie nie, nie im Leben wieder so flehentlich betteln würde.

Und so folgte sie ihrer Mutter jedes Mal widerspruchslos und mit leerem Gesicht auf den Friedhof. Sie hatte etwas von der kleinen Maus in der Kapelle gelernt. Die Geister waren keine grausamen Halbwüchsigen, die es zu überzeugen galt. Es waren Raubtiere, und sie war die Beute, und sie musste stur, stark und hellwach bleiben, um zu überleben. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen.

Millimeter für Millimeter errichtete sie einen Schutzwall um sich herum. Der Regen prasselte, und ihr Atem zischte in der kalten Luft; Makepeace sprach selbst ausgedachte Gebete und erfand Bannsprüche. Sie lernte, sich dem Kratzen und Knuffen der Geister entgegenzustemmen und zurückzuschlagen, obwohl der Kontakt mit den Toten ihr den Magen umdrehte. Sie sah sich als Judith aus der Bibel, die mit ihrem geborgten Schwert, an dem das Blut des Generals klebte, im feindlichen Lager stand. Wenn ihr mir zu nahe kommt, drohte sie den flüsternden Stimmen, dann haue ich euch in Stücke.

Die lebendigen Wesen, die in der Nacht auf dem Friedhof unterwegs waren, halfen ihr, Ruhe und ihren Verstand zu bewahren. Das Rascheln im Gebüsch, unheimliche, flötende Vogelschreie, die Schatten von Fledermäusen – all das war ihr ein Trost. Sogar ihre Klauen und Zähne waren offen und ehrlich. Lebende und tote Menschen mochten sich unversehens auf einen stürzen, aber diese Wesen lebten einfach ihr grausames, wildes Leben, ohne sich um einen zu scheren. Wenn sie starben, hinterließen sie keine Geister. Wenn eine Maus von einer Katze getötet wurde, wenn einem Huhn der Hals umgedreht oder ein Fisch aus dem Fluss gezogen wurde, dann sah Makepeace, wie die hauchzarten Fäden ihrer Lebensgeister davongeweht wurden wie Morgennebel.

Der Groll, der in Makepeace brodelte, brauchte ein Ventil. Statt sich über die nächtlichen Ausflüge zu beklagen, stritt Makepeace mit ihrer Mutter über andere Dinge, widersetzte sich ihr und stellte verbotene Fragen, wie sie es nie zuvor getan hatte.

Insbesondere fragte sie nach ihrem Vater. Bislang hatte Mutter ein solches Ansinnen stets mit einem Blick abgeschmettert und Makepeace hatte sich stets mit den kleinen Details zufriedengegeben, die ihre Mutter unabsichtlich preisgab. Er lebte weit weg in einem alten Haus. Er wollte Mutter und Makepeace nicht bei sich haben. Plötzlich reichte ihr das nicht mehr, und sie war wütend auf sich, dass sie früher zu viel Angst gehabt hatte, um auf Antworten zu bestehen.

«Warum willst du mir seinen Namen nicht sagen? Wo lebt er? Weiß er, wo wir sind? Woher weißt du, dass er uns nicht haben will? Kennt er mich überhaupt?»

Mutter beantwortete diese Fragen nicht, aber ihre wilden Blicke schüchterten Makepeace nicht länger ein. Keine von beiden wusste, was sie mit der anderen anfangen sollte. Seit Makepeaces Geburt hatte Mutter immer alle Entscheidungen getroffen und Makepeace war ihr in allem gefolgt. Makepeace wusste selbst nicht, warum sie nicht länger stillhalten konnte. Margaret dagegen hatte nie lernen müssen, Kompromisse zu schließen, und sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Wenn sie Makepeace mit der Wucht ihrer Persönlichkeit in die Knie zwang, würde doch gewiss wieder alles so werden wie früher, nicht wahr? Nein, würde es nicht. Alles hatte sich verändert.

Und dann, zwei Jahre nach ihrem ersten «Stockspitzen», kehrte Makepeace von einer besonders schlimmen, schlaflosen Nacht in der Kapelle heim. Sie zitterte am ganzen Leib. Ein paar Tage danach brannte sich das Fieber durch ihren Körper, und jeder Muskel in ihrem Leib tat ihr weh. Zwei Wochen später war ihre Zunge fleckig und Pockenpusteln blühten auf ihrem Gesicht.

Die Welt war heiß und schrecklich, und Makepeace ertrank in einer erstickenden, abgrundtiefen Angst. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich sterben würde, und sie wusste, was aus toten Wesen wurde. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, und manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht schon tot war. Aber die schwarze Flut der Krankheit zog sich allmählich zurück und ließ sie am Leben. Übrig blieben nur ein, zwei kleine Pockennarben auf einer Wange. Jedes Mal, wenn sie ihr Spiegelbild im Wassereimer sah, spürte sie einen kleinen, angstvollen Stich im Magen und stellte sich vor, wie der Tod mit zwei Knochenfingern nach ihrem Gesicht gegriffen und dann langsam die Hand wieder weggezogen hatte.

Nachdem sie sich erholt hatte, vergingen drei Monate, ohne dass Mutter den Friedhof erwähnte. Makepeace nahm an, dass die Pocken ihre Mutter schließlich zu der Einsicht gebracht hatten, dieses Projekt aufzugeben.

Unglücklicherweise irrte sie sich.

KAPITEL 2

An einem angenehmen, sonnigen Tag im Mai machten sich Makepeace und Mutter auf den Weg in die Stadt, um Mutters Klöppelarbeiten zu verkaufen. Der Frühling war mild, aber in London brodelte und knisterte es wie bei einem Gewitter. Makepeace wünschte sich weit weg.

Nicht nur Makepeace hatte sich verändert und war zorniger geworden, das Gleiche galt auch für Poplar und London. Und wenn man dem Geschwätz der jungen Lehrburschen glauben wollte, war es überall im ganzen Land so.

In den Gebetsstunden hatte Nanny Susan mit ihrer roten Nase schon immer Visionen vom Ende der Welt zum Besten gegeben – ein Meer, rot von Blut, und das mit der Sonne bekleidete Weib aus der Bibel, das durch die High Street von Poplar ging. Aber jetzt redeten auch andere auf die gleiche Art und Weise. Es wurde gesagt, dass vor ein paar Jahren während eines Sommersturms die Wolkenberge die Gestalt von zwei mächtigen Armeen angenommen hatten. Und jetzt herrschte die düstere Vorahnung, dass tatsächlich zwei feindliche Armeen aufgestellt wurden.

Die Leute von Poplar waren seit jeher inbrünstig dem Gebet zugetan gewesen, aber jetzt beteten sie wie ein belagertes Volk. Alle hatten das Gefühl von einer Bedrohung, die das ganze Land zu überrollen drohte.

Makepeace konnte sich nicht alle Einzelheiten merken, aber sie begriff das Wesentliche. Die intriganten, teuflischen Katholiken wollten König Charles verführen und ihn zur Abkehr von seinem Volk bewegen. Die braven Männer des Parlaments versuchten, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er hörte nicht länger auf sie.

Niemand wollte dem König direkt die Schuld geben. Das war Hochverrat und man lief Gefahr, dass einem die Ohren abgeschnitten wurden oder man ein Brandeisen ins Gesicht gedrückt bekam. Nein, alle waren sich darüber einig, dass der Ratgeber des Königs, Erzbischof Laud, «Black Tom Tyrant» genannt (auch bekannt als der Earl of Stafford), der wahre Schuldige war – und natürlich die üble Königin Mary, die den Geist des Königs mit ihrer französischen Tücke vernebelte.

Wenn niemand sie aufhielt, dann würden sie aus dem König einen blutigen Tyrannen machen. Er würde sich dem falschen Glauben zuwenden und seine Soldaten ausschicken, um alle loyalen, gottesfürchtigen Protestanten im Land zu töten. Der Teufel selbst war aus der Hölle gekommen, flüsterte in Ohren, verwirrte Gemüter und leitete die Taten der Menschen mit Hinterlist und Tücke. Es war ein Wunder, dass man nirgends versengte Spuren seiner Bocksfüße auf der Straße sah.

Die Angst und der Zorn in Poplar waren unübersehbar, aber Makepeace spürte darunter auch eine heftige Erregung. Wenn die Welt auseinanderbrach, wenn den Menschen harte Prüfungen bevorstanden, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts nahte, dann waren die Gläubigen von Poplar dafür gerüstet. Sie waren Soldaten des Herrn; sie würden widerstehen, predigen und marschieren.

Und als sie jetzt durch die Straßen von London ging, empfand Makepeace wieder dieses erregte Kribbeln in der Luft, die gleiche Bedrohung.

«Hier riecht es komisch», sagte sie. Mutter war wieder Mutter, also konnte sie es wagen, ihre unfertigen Gedanken zu äußern.

«Das ist nur der Rauch», sagte Mutter kurz angebunden.

«Nein, das stimmt nicht», sagte Makepeace. Es war nicht direkt ein Geruch, und sie wusste, dass Mutter genau verstand, was sie meinte. Es war eine Warnung, eine Vorahnung, wie die Ruhe vor dem Sturm. «Es riecht nach Metall. Können wir heimgehen?»

«Ja», sagte Mutter trocken. «Wir können heimgehen und Steine essen, weil du ja nicht willst, dass wir uns unser Brot verdienen.» Unbeirrt ging sie weiter.

Makepeace fand London bedrückend. Hier gab es zu viele Menschen, zu viele Gebäude, zu viele Gerüche. Aber heute lag ein neues Brausen und Brodeln in der Luft. Warum war sie noch nervöser als sonst? Was war anders? Sie schaute von einer Seite zur anderen und bemerkte die vielen neuen Plakate an den Türen und Pfosten.

«Was ist das?», fragte sie flüsternd, aber es war eine müßige Frage. Mutter konnte genauso wenig lesen wie Makepeace. Die breiten schwarzen Buchstaben sahen aus, als würden sie schreien.

«Brüllende Tintentiger», sagte Mutter. London wurde überschwemmt von aufrührerischen Pamphleten, gedruckten Predigten, Prophezeiungen und Beschuldigungen, von denen einige an den König und andere an das Parlament gerichtet waren. Mutter nannte sie immer scherzhaft «Tintentiger», die brüllten, aber nicht zubissen.

In den vergangenen zwei Tagen war mehr stumm gebrüllt worden als sonst. Vor zwei Wochen hatte der König zum ersten Mal seit Jahren das Parlament zusammengerufen, und alle, die Makepeace kannte, waren freudig erregt und erleichtert gewesen. Aber vor zwei Tagen hatte er das Parlament in einem Anfall königlicher Rage wieder entlassen. Jetzt lag ein drohendes Grollen in dem Murmeln der Leute, die bleiche Sonne im Himmel schien zu erzittern, und alle warteten darauf, dass etwas geschehen würde. Jedes Mal, wenn irgendwo ein lauter Schlag oder ein Schrei ertönte, sahen alle auf. Hat es angefangen?, fragten ihre Augen. Niemand wusste so recht, was es war, aber es stand unzweifelhaft kurz bevor.

«Ma … warum sind so viele Lehrburschen unterwegs?», fragte Makepeace leise.

Zu Dutzenden waren sie auf der Straße, standen zu zweit oder zu dritt in Türrahmen oder Gassen, mit kurz geschnittenen Haaren, ruhelos, die Hände schwielig von Webstuhl und Drechselbank. Die Jüngsten waren etwa vierzehn, die Ältesten Anfang zwanzig. Sie hätten eigentlich alle bei der Arbeit sein und die Anweisungen ihrer Meister befolgen sollen, und doch standen sie draußen im Freien.

Die Lehrburschen waren die Wetterhähne für die Stimmung in der Stadt. Wenn London mit sich selbst im Reinen war, waren sie nichts weiter als Jungen, die herumbummelten, flirteten und die Welt mit geschmacklosen und gewitzten Sprüchen spickten. Aber wenn es in London stürmisch zuging, wandelten sie sich. Ein dunkles und feuriges Wetter wütete in ihren Reihen, und manchmal wurden sie wild und schlossen sich zu zügellosen Mobs zusammen, die Türen und Schädel mit ihren Stiefeln und Knüppeln zerbrachen.

Mutter betrachtete die kleinen, müßigen Grüppchen und machte ein besorgtes Gesicht.

«Es sind ziemlich viele», stimmte sie Makepeace zu. «Wir gehen nach Hause. Die Sonne steht ohnehin schon tief. Und … du wirst deine Kraft brauchen. Es ist eine warme Nacht heute.»

Einen Augenblick lang empfand Makepeace Erleichterung, dann sank Mutters letzter Satz in ihren Geist. Makepeace blieb wie angewurzelt stehen, überwältigt von Fassungslosigkeit und Wut.

«Nein!», fuhr sie auf, überrascht von ihrer eigenen Entschlossenheit. «Ich werde nicht gehen! Ich gehe nie wieder auf diesen Friedhof.»

Mutter schaute sich scheu um, packte dann Makepeace am Arm und zerrte sie in die nächstbeste Gasse.

«Du musst!» Mutter nahm Makepeace bei den Schultern und schaute ihr fest in die Augen.

«Beim letzten Mal wäre ich beinahe gestorben!», protestierte Makepeace.

«Du hast dich bei der Archers-Tochter mit den Pocken angesteckt», versetzte Mutter. «Der Friedhof hatte nichts damit zu tun. Eines Tages wirst du mir danken. Ich habe es dir doch gesagt – ich sorge dafür, dass du deinen Stock spitzt.»

«Ja, ich weiß!», rief Makepeace, die ihre Verzweiflung nicht verbergen konnte. «Die ‹Wölfe› sind die Geister, und du willst, dass ich lerne, stark zu sein, damit ich sie abwehren kann. Aber warum kann ich mich nicht einfach von Friedhöfen fernhalten? Wenn ich nicht in der Nähe von Geistern bin, dann droht mir keine Gefahr! Du selbst wirfst mich doch den Wölfen vor, wieder und wieder!»

«Du irrst dich», sagte Mutter leise. «Diese Geister sind nicht die Wölfe. Diese Geister sind nichts weiter als hungrige Schemen – nichts im Vergleich zu den Wölfen. Und die Wölfe sind da draußen, Makepeace. Sie suchen nach dir, und eines Tages werden sie dich finden. Bete, dass du dann erwachsen und stark genug bist, um dich zu wehren.»

«Du versuchst doch nur, mir Angst einzujagen», sagte Makepeace. Ihre Stimme zitterte, aber nicht vor Angst, sondern vor Zorn.

«Richtig! Hältst du dich etwa für eine bedauernswerte Märtyrerin, die sich nachts zitternd zusammenkauert, während diese kleinen Irrlichter an ihren Wangen lecken? Das ist gar nichts. Da draußen gibt es viel Schlimmeres. Du solltest Angst haben!»

«Warum können wir nicht meinen Vater bitten, uns zu beschützen?» Makepeace wusste, dass sie sich auf ein gefährliches Terrain begab, aber sie war zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren. «Ich wette, er würde mich nicht auf irgendwelche Friedhöfe schicken!»

«Er ist der Letzte, den wir um Hilfe bitten können», sagte Mutter mit einer Bitterkeit, die Makepeace noch nie bei ihr gehört hatte. «Vergiss ihn.»

«Warum?» Plötzlich ertrug Makepeace das ganze Schweigen in ihrem Leben nicht mehr, all das, wonach sie nicht fragen und was sie nicht aussprechen durfte. «Warum erzählst du mir nie etwas? Ich glaube dir nicht mehr! Du willst nur, dass ich auf ewig bei dir bleibe! Du willst mich für dich allein haben! Du willst mich nicht zu meinem Vater lassen, weil du weißt, dass er mich haben will!»

«Du hast ja keine Ahnung, wovor ich dich bewahrt habe!», fuhr ihre Mutter auf. «Wenn wir in Grizehayes geblieben wären …»

«Grizehayes», wiederholte Makepeace und sah, wie ihre Mutter bleich wurde. «Lebt mein Vater da? Ist dies das alte Haus, das du erwähnt hast?» Jetzt hatte sie einen Namen. Endlich. Das bedeutete, dass sie danach suchen konnte. Irgendwo würde irgendjemand diesen Namen kennen.

Aber der Name klang merkwürdig. Sie konnte sich das Haus, zu dem er gehörte, nicht vorstellen. Es war, als ob ein schwerer, silbriger Nebel zwischen ihr und seinen uralten Zinnen lag.

«Ich werde nicht mehr auf den Friedhof gehen», sagte Makepeace. Ihre Willenskraft stemmte sich fest in die Erde und machte sich auf Widerstand gefasst. «Nie mehr. Wenn du mich zwingst, dann laufe ich weg. Ganz bestimmt. Ich werde nach Grizehayes gehen. Ich werde meinen Vater finden. Und ich werde nie zurückkommen.»

Mutters Augen wurden glasig vor Verblüffung und Wut. Mit dieser neuen, trotzigen Makepeace wusste sie nicht umzugehen. Dann sickerte alle Wärme aus ihrer Miene, und zurück blieb eine kalte, ausdruckslose Maske.

«Dann lauf doch», sagte sie eisig. «Wenn es das ist, was du willst, von mir aus. Ich werde dich nicht aufhalten. Aber wenn du dich in die Hände dieser Leute begibst, dann sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.»

Mutter gab niemals nach, wurde niemals weich. Wenn Makepeace sie herausforderte, verdoppelte Mutter einfach den Einsatz, deckte Makepeaces Bluff auf und ließ sie dann im Regen stehen. Und die Drohung, wegzulaufen, war tatsächlich nur ein Bluff gewesen. Aber als sie jetzt in Mutters kalte Augen starrte, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass sie es vielleicht tatsächlich tun würde. Die Vorstellung raubte ihr den Atem; sie hatte ein Gefühl von Schwerelosigkeit.

Und dann schaute Mutter über Makepeaces Schulter hinweg auf etwas hinter ihr auf der Straße, und mit einem ungläubigen Ausdruck erstarrte sie. Ihre Lippen formten Worte, die sie so leise aussprach, dass Makepeace sie kaum verstehen konnte.

… Wenn man vom Teufel spricht …

Makepeace schaute hinter sich und sah gerade noch einen groß gewachsenen Mann in einem Mantel aus kostbarer dunkelblauer Wolle vorbeigehen. Er war etwa vierzig Jahre alt, aber sein Haar war schneeweiß.

Sie kannte das Sprichwort: Wenn man vom Teufel spricht, kommt er herein. Mutter hatte von «diesen Leuten» gesprochen, von den Leuten aus Grizehayes, und dann hatte sie diesen Mann gesehen. War das jemand aus Grizehayes? Vielleicht sogar ihr Vater?

Makepeace fing den Blick ihrer Mutter auf. Ihre eigenen Augen waren wild vor Erregung und Triumph. Dann drehte sie sich um und wollte in Richtung der Straße laufen.

«Nein!», zischte Mutter und packte mit beiden Händen ihren Arm. «Makepeace!»

Aber ihr Name war nur ein leises Schaben an Makepeaces Ohr. Sie hatte es satt, Frieden zu machen mit all den Problemen, für die sie nie eine Erklärung bekam. Sie entwand sich dem Griff ihrer Mutter und rannte zu der Straße hin.

«Du bringst mich noch ins Grab!», rief ihre Mutter ihr nach. «Makepeace, bleib stehen!»

Makepeace blieb nicht stehen. Sie sah den blauen Mantel und das weiße Haar des Fremden weit voraus, als er um eine Ecke bog und verschwand. Ihre Vergangenheit drohte ihr zu entgleiten.

Als sie die Ecke erreichte, wurde er gerade von der Menschenmenge verschluckt, und sie rannte ihm hinterher. Makepeace hörte hinter sich, wie Mutter ihren Namen rief, doch sie schaute sich nicht um. Stattdessen folgte sie dem Unbekannten durch eine Straße, dann durch eine zweite und eine dritte. Oft dachte sie, sie hätte ihn verloren, doch dann erhaschte sie wieder einen Blick auf den schneeweißen Haarschopf.

Makepeace konnte nicht aufgeben, auch nicht, als sie über die große Brücke von London nach Southwark lief. Die Gebäude entlang der Straße wurden schäbiger und die Gerüche übler. Gelächter wehte aus den Hafenkneipen, und vom Fluss drangen Flüche und das Knarren der Riemen. Es war dunkler geworden. Die Sonne sank und verschwand aus dem Blickfeld, und der Himmel hatte sich zu einem schmutzigen Bleigrau eingetrübt. Dennoch ging es auf den Straßen ungewöhnlich lebhaft zu. Ständig traten ihr Leute in den Weg und versperrten den Blick auf den weißhaarigen Mann.

Erst als die Straße sie auf einen weitläufigen, offenen Platz ausspuckte, blieb sie plötzlich verzagt stehen. Das Pflaster unter ihren Füßen war Gras gewichen, und sie erkannte, dass sie am Rand von St. George’s Fields stand. Ringsum brodelte eine schattenhafte, ruhelose, aufgewühlte Menge, deren Köpfe wie Scherenschnitte vor dem dunkler werdenden Himmel standen. Sie sah nicht, wie weit sich diese Menge erstreckte, aber es schienen Hunderte Stimmen zu sein, allesamt Männerstimmen. Von dem Weißhaarigen war keine Spur mehr zu sehen.

Makepeace blickte sich keuchend um. Neugierige, harte Blicke zuckten zu ihr hin. Sie trug Kleidung aus Wolle und Leinen, einfache und billige Stoffe, aber ihr Schultertuch und ihre Haube waren sauber und adrett, und an diesem Ort genügte das, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Außerdem war sie das einzige weibliche Wesen weit und breit und noch dazu keine dreizehn Jahre alt.

«Hallo Herzchen!», rief eine der dunklen Gestalten. «Willst du unsere Courage anstacheln?»

«Nee», sagte eine andere, «du bist bestimmt hier, um mit uns zu marschieren. Nicht wahr, Missy, du kannst Schemel auf diese Mistkerle werfen, wie die schottischen Damen! Zeig uns mal deinen Wurfarm!» Ein halbes Dutzend Männer lachten brüllend auf, und Makepeace spürte eine Grausamkeit in der scheinbar harmlosen Neckerei.

«Bist du nicht Margaret Lightfoots Mädchen?», fragte da eine jüngere Stimme. Als Makepeace in die Dunkelheit spähte, erkannte sie ein vertrautes Gesicht. Es war der vierzehnjährige Junge, der bei dem Weber nebenan in die Lehre ging. «Was machst du denn hier?»

«Ich habe mich verlaufen», sagte Makepeace hastig. «Was ist hier los?»

«Wir sind auf der Jagd.» In den Augen des Lehrlings stand ein wildes, grausames Leuchten. «Wir jagen den alten Fuchs, den Erzbischof Laud.» Makepeace hatte den Namen des königlichen Ratgebers schon hundertmal gehört, meistens von einem Fluch begleitet. «Wir gehen einfach hin und klopfen an, wie gute Nachbarn es zu tun pflegen.» Er schlug den Knüppel, den er bei sich trug, klatschend auf seine Handfläche. Seine ganze Haltung zeigte, dass er vor Erregung förmlich überkochte.

Zu spät verstand Makepeace die Bedeutung der Plakate, die ihr aufgefallen waren. Sie riefen die Menschen zu einer großen, wütenden Versammlung auf dem St. George’s Field zusammen. Die Menge bestand hauptsächlich aus Lehrburschen, erkannte Makepeace, als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Und alle von ihnen hatten behelfsmäßige Waffen dabei – Hämmer, Besenstiele, Schürhaken und einfache Vierkanthölzer –, die sie mit einer grimmigen Fröhlichkeit schwangen, in der wilde Entschlossenheit lag. Sie hatten sich vorgenommen, das Böse aus seinem Palast zu zerren und ihm die Krone vom Kopf zu schlagen. Aber in ihren strahlenden Augen sah Makepeace, dass es nicht nur bitterer Ernst war – es war auch ein Spiel, ein Blutsport, wie eine Bärenhatz.

«Ich muss jetzt nach Hause.» Die Worte schmeckten bitter, noch während Makepeace sie aussprach. Sie hatte die Chance vertan, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden, aber was, wenn sie dabei auch ihr Zuhause verloren hatte? Ihre Mutter hatte ihr nicht geglaubt, als Makepeace sagte, sie würde davonlaufen, und jetzt hatte sie ihre Drohung wahr gemacht.

Der Lehrling des Webers runzelte die Stirn und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Versammelten hinwegsehen zu können. Makepeace tat es ihm nach, und sie erkannte, dass die Straße, durch die sie gekommen war, nun vor Menschen überquoll, die dicht gedrängt zu St. George’s Fields strömten.

«Bleib in meiner Nähe», sagte der Lehrling besorgt, als die Menge vorwärtsdrängte und die beiden mitzureißen begann. «Bei mir bist du sicher.»

Es war kaum möglich, an den zahlreichen größer gewachsenen Lehrburschen vorbei etwas zu sehen, aber Makepeace hörte, wie immer mehr Stimmen sich zu dem hitzigen Geschrei gesellten und über die groben Witze lachten, während sie mit der Flut weitergedrängt wurde. Die Armee der Lehrlinge schien jetzt ins Unermessliche gewachsen zu sein. Kein Wunder, dass sie so selbstbewusst und so entschlossen waren.

«Makepeace! Wo bist du?»

Der Ruf wurde fast völlig von dem Crescendo aus Schreien und Brüllen verschluckt, aber Makepeace hörte ihn trotzdem. Es war Mutters Stimme. Mutter war ihr gefolgt und steckte nun ein Stück weit hinter ihr in der Menge fest.

«Ma!», schrie Makepeace, während die Menge sie weiter ihrem Ziel entgegenschob.

«Da vorne ist Lambeth Palace!», schrie jemand vor ihr. «In den Fenstern ist Licht!» Makepeace konnte wieder den Fluss riechen und sah ein mächtiges Gebäude am Ufer, mit hohen, quadratischen Türmen, deren Zinnen wie eckige Zähne Stücke aus dem Abendhimmel bissen.

Von der Spitze des Mobs ertönten Geräusche eines heftigen Streits, und die Menge wurde von einer fiebrigen, wallenden Spannung ergriffen.

«Kehrt um!», brüllte jemand. «Geht nach Hause!»

«Wer ist da vorne?», verlangten Dutzende Stimmen aus der Menge zu wissen, und von vorne erklangen ein Dutzend unterschiedliche Antworten. Einige behaupteten, es sei die Armee, andere, dass sich die Leibgarde des Königs dort postiert hätte, und wieder andere, dass es der Erzbischof persönlich sei.

«Ach, haltet die Klappe!», schrie endlich einer der Lehrlinge. «Schafft uns William, den Fuchs, heraus, oder wir brechen die Tür auf und schlagen dem ganzen Haufen die Köpfe ein!»

Daraufhin stimmten die anderen Lehrlinge ein ohrenbetäubendes Gebrüll an und schoben und stießen mit aller Macht vorwärts. Der Flecken Himmel über Makepeace schrumpfte zusammen, als sie von den Leibern ringsum fast zerquetscht wurde. Vor ihr gab es eine Art Kriegsgeschrei und dann war das Grunzen und Schnauben kämpfender Männer zu hören.

«Brecht die Tür auf!», schrie jemand. «Nehmt die Stemmeisen!»

«Zerschlagt die Lampen!», kam ein anderer Ruf.

Als der erste Schuss fiel, dachte Makepeace, jemand hätte etwas Schweres auf das Pflaster geworfen. Dann kam ein zweiter Schuss und ein dritter. Die Menge wogte, einige wichen zurück, andere schoben vorwärts. Makepeace bekam ein Knie in den Magen und ein Knüppelende gegen das Auge.

«Makepeace!» Da war wieder Mutters Stimme, schrill und verzweifelt und näher als zuvor.

«Ma!» Die Menschen rings um Makepeace schlugen jetzt um sich, aber sie kämpfte sich durch in die Richtung, aus der Mutters Stimme gekommen war. «Ich bin hier!»

Irgendwo vor ihr ertönte ein Schrei.

Es war ein rauer, kurzer Ton, und am Anfang wusste Makepeace nicht, was es war. Sie hatte Mutter noch nie schreien gehört. Aber als sie sich mit den Ellbogen ihren Weg bahnte, sah sie eine Frau an einer Hauswand liegen. Die blinde, blindwütige Menge trampelte über sie hinweg.

«Ma!»

Mit Makepeaces Hilfe kam Mutter taumelnd auf die Füße. Ihr Gesicht war aschfahl, und trotz der Dunkelheit erkannte Makepeace tintige Spuren aus Blut, die ihr über die linke Gesichtshälfte liefen. Sie bewegte sich auch falsch, ein Augenlid hing herab, und ihr rechter Arm zuckte unkontrolliert.

«Ich bringe dich nach Hause», flüsterte Makepeace mit trockenem Mund. «Es tut mir leid, Ma. Es tut mir leid …»

Mit glasigem Blick starrte Mutter Makepeace an, als ob sie ihre Tochter nicht erkennen würde. Dann verkrampfte sich ihre Miene.

«Nein!», schrie sie rau und schlug zu. Sie traf Makepeace im Gesicht, dann schob sie sie von sich. «Bleib weg von mir! Geh weg! Geh weg!»

Makepeace verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Sie erhaschte einen letzten Blick auf Mutters Antlitz, auf dem immer noch dieser wilde und verzweifelte Ausdruck lag. Ein Stiefelabsatz traf sie im Gesicht und ihr kamen die Tränen. Jemand anderes trat ihr auf die Wade.

«Macht euch bereit!», hörte sie jemanden schreien. «Da kommen sie!» Schüsse hallten durch die Nacht, als ob die Sterne explodieren würden.

Dann schoben sich starke Hände unter Makepeaces Achseln und sie wurde auf die Füße gestellt. Ein großer Lehrbursche warf sie wie einen Kartoffelsack über seine Schulter und trug sie aus der Schusslinie, während sie sich nach Kräften wehrte und nach Mutter rief. Am Eingang zu einer Gasse setzte er sie ab.

«Lauf nach Hause!», schrie er Makepeace mit hochrotem Gesicht an und stürzte sich dann wieder mit erhobenem Hammer in das Getümmel.

Sie fand nie heraus, wer er war und was mit ihm geschah.

Und sie sah Mutter nicht mehr lebend wieder.

Nachdem der Kampf vorbei war und alle verhaftet worden waren, derer man habhaft werden konnte, und nachdem die Aufrührer zum Rückzug gezwungen worden waren, fand man den Leichnam von Makepeaces Mutter. Niemand konnte sagen, was sie am Kopf getroffen und getötet hatte. Vielleicht ein wild geschwungener Schürhaken, vielleicht war es auch eine verirrte Kugel, die den Schädel zerschmettert hatte und weitergeflogen war.

Makepeace erfuhr es nie und es war ihr auch egal. Der Aufstand hatte den Tod ihrer Mutter verursacht, und sie war es gewesen, die sie dorthin geführt hatte. Es war alles Makepeaces Schuld.

Und die Leute in der Gemeinde, die Mutters Spitze und Klöppelarbeiten gekauft hatten, wenn sie welche brauchten, befanden, dass ihr kostbarer Friedhof nicht der Ort war, wo eine Frau, die ein uneheliches Kind geboren hatte, zur letzten Ruhe gebettet werden durfte. Der Pastor, der stets freundlich gewesen war, wenn sie ihm auf der Straße begegnet waren, stieg nun in die Kanzel und behauptete, Margaret Lightfood sei keine gerettete Seele gewesen.

Stattdessen wurde Mutter in ungeweihter Erde am Rand der Sümpfe begraben. Es war Land, das mit Brombeerranken überwuchert war und nur dem Wind und den Vögeln eine Heimstatt gab, so verschwiegen und geheimnisvoll wie Margaret Lightfood selbst.

KAPITEL 3

Du bringst mich noch ins Grab.

Mutters Worte gingen Makepeace nicht aus dem Kopf. Sie leisteten ihr in jedem wachen Moment Gesellschaft und zu jeder nächtlichen Stunde. Sie kamen aus dem Mund ihrer Mutter, doch jetzt mit einer ausdruckslosen und kalten Stimme.

Ich habe sie getötet, dachte Makepeace. Ich bin weggelaufen, und sie ist mir gefolgt, direkt in die Gefahr hinein. Es war meine Schuld, und sie hat mich zum Schluss deswegen gehasst.

Makepeace hatte geglaubt, dass man sie nun in demselben Bett wie ihre kleinen Kusinen schlafen lassen würde, aber sie musste immer noch mit der Matratze vorliebnehmen, die sie mit Mutter geteilt hatte. Vielleicht spürten die anderen, dass sie eine Mörderin war. Oder vielleicht wussten Tante und Onkel nicht, was sie nun mit ihr anfangen sollten, da die Klöppelarbeiten ihrer Mutter nicht mehr für ihren Unterhalt sorgten.

Sie war allein. Der kleine Zaun, der Makepeace und Mutter umgeben hatte, verlief nun nur noch um Makepeace und sperrte sie vom Rest der Welt aus.

Die Bewohner des Hauses beteten wie gewöhnlich, nur dass sie jetzt ein zusätzliches Gebet für Mutter sprachen. Makepeace erkannte, dass sie nicht länger so beten konnte, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie konnte dem Herrn ihre Seele nicht mehr offenlegen. Sie versuchte es, aber ihr Inneres sah so wild und leer aus wie ein weißer Oktoberhimmel; nichts, was sie in Worte fassen konnte. Es war, als wäre ihre Seele verschwunden.

In der zweiten Nacht allein in ihrem Zimmer wollte Makepeace den Deckel von ihren Gefühlen anheben. Sie zwang sich, um Vergebung zu beten, für Mutters Seele und für ihre eigene. Der Versuch ließ sie erzittern, aber nicht vor Kälte. Sie hatte Angst, dass Gott ihr mit eisigem, unversöhnlichem Zorn lauschte und bis tief in den verfaulten Kern ihrer Seele blickte. Gleichzeitig überkam sie die Furcht, dass er überhaupt nicht zuhörte, dass er ihr nie zugehört hatte und nie zuhören würde.

Die Anstrengung laugte sie aus, und danach konnte sie einschlafen.

Tapp, tapp, tapp.

Makepeace schlug die Augen auf. Ihr war kalt, so ganz allein im Bett, ohne die Wölbung von Mutters Rücken neben sich. Der Verlust wog in der Schwärze der Nacht noch schwerer.

Tapp, tapp, tapp.

Das Geräusch kam vom Fenster; vielleicht hatten sich die Läden gelockert. Wenn das der Fall war, würden sie die ganze Nacht lang klappern und sie wach halten. Widerstrebend stand sie auf und tastete sich zum Fenster vor; sie fand sich auch ohne Licht in dem Zimmer zurecht. Sie strich über den Riegel und spürte, dass er fest verschlossen war. Und dann erzitterte etwas unter ihren Fingerspitzen, als von draußen wieder gegen den Fensterladen geklopft wurde.

Jenseits der hölzernen Latten hörte sie noch etwas anderes. Es war so leise und gedämpft, dass es kaum das Ohr kitzelte. Aber es klang wie eine menschliche Stimme. Und diese Stimme war entsetzlich vertraut. Makepeaces Nackenhaare stellten sich auf.

Da war es wieder, ein unterdrücktes Schluchzen, ganz dicht an den Fensterläden. Ein einzelnes Wort.

Makepeace.

In hundert Albträumen hatte Makepeace vergeblich darum gekämpft, die Läden in ihrem Geist geschlossen zu halten und die Schreckgespenster auszusperren. Ihre Hände zitterten bei dem Gedanken daran, doch noch immer lagen ihre Finger auf dem Riegel.

Die Toten sind wie Ertrinkende, hatte Mutter gesagt.

Makepeace stellte sich vor, wie ihre Mutter in der Nachtluft ertrank, wie sie langsam nach unten sank, mit weit ausgebreiteten Haaren. Sie stellte sich vor, wie hilflos, allein und verzweifelt sie nach Halt griff.

«Ich bin hier», flüsterte sie. «Ich bin es – Makepeace.» Sie drückte ihr Ohr an den Fensterladen, und sie glaubte, eine erstickte Antwort auf ihre Worte zu hören.

Lass mich ein.

Makepeace gefror das Blut in den Adern, aber sie ermahnte sich, keine Angst zu haben. Mutter würde nicht so sein wie die anderen toten Wesen. Das hier war anders. Was immer da draußen war, war immer noch Mutter. Makepeace konnte sie nicht im Stich lassen. Nicht noch einmal.

Sie löste den Riegel und öffnete den Fensterladen.

An einem kohlschwarzen Himmel glommen ein paar trübe Sterne. Eine klamme Brise sickerte ins Zimmer und verursachte ihr eine Gänsehaut. Makepeace wurde die Brust eng in der Gewissheit, dass noch etwas anderes außer dem Wind hereingekommen war. Die Dunkelheit war mit einem Mal anders beschaffen, und sie war nicht länger allein.

Makepeace überkam das schreckliche Gefühl, dass sie womöglich etwas Unwiderrufliches getan hatte. Ihre Haut kribbelte. Wieder fühlte sie es, dieses Kitzeln von Spinnenfüßen an ihrem Geist. Die verlangende, zögerliche Berührung des Todes.

Sie wich vom Fenster zurück und versuchte, ihre geistigen Abwehrkräfte zu mobilisieren. Aber wenn sie an Mutter dachte, wurden ihre selbst erfundenen Bannsprüche so nutzlos wie ein altes Kinderlied. Makepeace kniff die Augen zu, aber sie sah trotzdem Mutters Gesicht vor sich, wie es im Kerzenlicht an jenem ersten Abend in der Kapelle ausgesehen hatte. Ein fremdes Wesen mit einem unergründlichen Ausdruck, dem jede Wärme fehlte.

An ihrem Nacken spürte sie einen eisigen Hauch, den Atem von etwas Atemlosen. Ein Kitzeln an ihrem Gesicht und an ihrem Ohr – eine Haarsträhne, nichts weiter, das musste es sein. Sie erstarrte und atmete flach.

«Ma?», flüsterte sie so leise, dass ihre Stimme kaum die Luft aufwirbelte.

Eine Stimme antwortete ihr. Eine Beinah-Stimme. Ein geschmolzenes Etwas aus Klang, wie das Lallen eines Schwachkopfs, mit zerbrochenen und ausfasernden Konsonanten. Es war ihrem Ohr so nah, dass es in ihrem Kopf summte.

Makepeace riss die Augen auf. Da – da! – direkt vor ihr war ein wirbelndes, mottengraues, verzerrtes Gesicht. Die Augen waren nur Höhlen, der Mund ein klaffender, heulender Abgrund. Sie taumelte rückwärts, weg von diesem Gesicht, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Sie starrte und starrte und wollte nicht, dass es so war, auch als dieses Etwas schon mit Rauchfingern gierig nach ihren Augen krallte.

Gerade noch rechtzeitig kniff Makepeace die Augen zu und fühlte, wie sich eine Kälte auf ihren Lidern niederließ. Es war wie der Albtraum, es war wie alle Albträume, nur ohne die Hoffnung, aufwachen zu können. Sie hielt sich die Ohren zu, aber es war zu spät. Sie hatte sie gehört, diese weichen, schrecklichen Töne.

Lass mich ein … Lass mich ein … Makepeace, lass mich ein …

Das Etwas tastete sich an ihrem Geist entlang, fand die Ritzen von Kummer, Liebe und Erinnerung in ihrer Verteidigungsmauer und riss an ihnen mit brutalen, gierigen Fingern. Es riss Stücke aus ihrem Herzen und ihrem Geist, während es sich seinen Weg hineinkämpfte. Es wusste, wie es ihre Abwehr umgehen konnte, kannte den Pfad zu ihrem weichen Kern.

Und mit einer Wildheit, die schierer Todesangst entsprang, wehrte sich Makepeace.

Mit ihrem Geist hieb sie um sich, zielte auf die rauchige Weichheit des Dings, fühlte es schreien, als sie es zu packen bekam und zerriss. Die Fetzen zappelten hilf- und sinnlos herum wie zerschnittene Würmer und versuchten, sich in ihre Seele zu graben. Es grabschte und krallte und klammerte sich an sie. Es konnte keine Worte bilden, nur winseln und heulen.

Makepeace wollte die Augen nicht mehr öffnen. Aber sie tat es trotzdem, ganz zum Schluss. Um zu sehen, ob es weg war.

Und sie sah, was aus dem Gesicht geworden war, was sie mit ihm gemacht hatte. Sie sah Angst und einen Schlund von Hass in den verdrehten, verschwindenden Zügen.

Es war kaum noch als Gesicht zu erkennen. Aber trotzdem war es irgendwie immer noch Mutter.

Makepeace wusste nicht mehr, dass sie geschrien hatte. Geschrien und geschrien. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie auf dem Boden saß und in das Licht der Kerze ihrer Tante blinzelte und von der ganzen Familie mit Fragen überschüttet wurde. Die Läden waren fest verschlossen und klapperten leicht im Nachtwind. Tapp, tapp, tapp.

Die Tante erklärte Makepeace, dass sie vermutlich während eines Albtraums von der Matratze gerollt war. Makepeace musste ihr glauben. Die Vorstellung beruhigte sie nicht ganz und gar, denn schließlich wusste sie, dass die Geister, gegen die sie in Träumen kämpfte, manchmal wirklich waren. Aber bitte, lieber Gott, nicht dieser Geist. Dieser Geist durfte sie nicht angegriffen haben, und Makepeace durfte ihn nicht in Fetzen gerissen haben. Allein der Gedanke war unerträglich.

Es musste ein Traum gewesen sein. Voller Verzweiflung klammerte sich Makepeace an diesen Glauben.

Nur eine Woche nach diesem Vorfall ging das Gerücht um, ein Geist treibe in den Sümpfen sein Unwesen. Man sagte, er suche einen einsamen Streifen Land heim, der zu feucht war, als dass Vieh darauf hätte weiden können, und nur von einzelnen Trampelpfaden durchgezogen wurde, die nicht zu jeder Zeit begehbar waren.

Ein unsichtbares Etwas erschreckte einen Hausierer, indem es durch das Schilf brach und eine Bresche hinterließ. Die Hähne kehrten den Rebhühnern den Rücken und die Wasservögel flohen in einen anderen Teil des Moors. Und dann beherbergte mit einem Mal das Angel Inn, das zwischen dem Stadtrand und den Schilfgebieten lag, nicht nur Matrosen.

«Ein rachsüchtiger Geist», befand die Tante. «Man sagt, er sei bei Sonnenuntergang gekommen. Er hat eine Tür aus den Angeln gerissen, einen Haufen Geschirr zerschlagen und ein paar kräftige Männer grün und blau geprügelt.»

Makepeace war die einzige Person, die bei diesen Gerüchten nicht nur einen Anflug von Angst empfand, sondern auch Hoffnung. Mutters Grab befand sich am Rand des Sumpfes, nicht weit vom Angel Inn entfernt. Es war eine schreckliche Vorstellung, dass Mutters Geist in einem Anfall von Wahnsinn ein Haus verwüstet hatte, aber wenn er in einem Stück war, dann bedeutete das, dass Makepeace ihn nicht in Fetzen gerissen hatte. Dass sie Mutter nicht ein zweites Mal getötet hatte.

Ich muss sie finden, sagte sich Makepeace, obwohl ihr bei dem Gedanken übel wurde. Ich muss mit ihr reden. Ich muss sie retten.

Niemand aus Makepeaces Kirchengemeinde ließ sich im Angel Inn blicken außer dem alten William in seinen schwachen Momenten. Jedes Mal, wenn er wieder besoffen nach Hause gewankt war, stellte ihn der Pfarrer in seiner Predigt als schlechtes Beispiel dar und verlangte von den anderen, ihm Kraft zu geben und für ihn zu beten. Als sie über den aufgeweichten Feldweg zu dem Gasthaus ging, machte sich Makepeace Sorgen, dass nun sie am kommenden Sonntag der Trunkenheit bezichtigt werden würde.

Das Angel Inn war über Eck gebaut und umfasste wie ein angewinkelter Arm einen kleinen Innenhof. Eine Frau mit kantigem Kiefer und einer fleckigen Baumwollhaube fegte die Stufen und blickte auf, als Makepeace herbeikam.

«Hallo Püppchen», sagte sie. «Kommst du deinen Vater holen? Welcher ist es denn?»

«Nein, ich … ich will etwas über den Geist erfahren.»

Die Frau schien nicht überrascht zu sein, sie nickte knapp und geschäftsmäßig.

«Du musst ein Getränk bestellen, wenn du einen Blick hineinwerfen willst.»

Makepeace folgte ihr in den dunklen Schankraum, legte mit einem leisen Schuldgefühl eine Münze vom Wirtschaftsgeld ihrer Tante auf den Tresen und bekam einen Becher mit Dünnbier dafür. Dann brachte die Frau sie zur Hintertür hinaus.

Hinter dem Gasthaus befand sich ein Areal, das mit Sägespänen ausgelegt war. Makepeace vermutete, dass hier die Vergnügungen stattfanden, wenn genug Gäste da waren, damit sich die Sache rentierte: kahlrasierte Pugilisten, die sich mit bloßen Fäusten gegenseitig zu Brei schlugen, Hahnenkämpfe und Dachshatzen oder weniger blutige Spiele wie Wurfringe, Kegeln oder Bowls. Hier und da waren die Sägespäne dunkel verfärbt, entweder von verschüttetem Schwarzbier oder von Blut. Hinter diesem Bereich lag eine niedrige Mauer mit einem Übertritt und dahinter wiederum das scheinbar endlose Marschland mit dem im Wind wogenden Wald aus Schilf, das im Licht des späten Nachmittags leicht glänzte.

«Komm her, schau dir das an.» Die Frau schien fast stolz auf die Sensation zu sein, die sie Makepeace vorweisen konnte. Der Riegel der Hintertür war zerbrochen und ein Paneel zersplittert. Ein Fenster war eingeschlagen, der Bleirahmen verbogen, und etliche der kleinen Scheiben waren blind von unzähligen feinen Rissen. Ein Stoffbanner hing in Fetzen und das Motiv war nur noch mit Mühe zu erkennen – ein Dudelsack, ein paar Trommeln, irgendein dunkles Tier. Ein Tisch lag umgeworfen auf dem Boden und zwei Stühle hatten zerbrochene Rückenlehnen.

Während Makepeace sich umschaute, wurde ihr das Herz schwer. Erst jetzt wurde ihr klar, dass keines der toten Wesen, denen sie bisher begegnet war, einen echten, greifbaren Schaden hinterlassen hatte. Die Toten hatten ihren Geist angegriffen, aber nie auch nur eine Tasse zerbrochen.

Vielleicht war das nur eine gewöhnliche Wirtshausschlägerei, dachte Makepeace. Scheu betrachtete sie das abgehärmte, verschlagene Gesicht der Wirtin. Vielleicht will sie Kapital aus dem Schaden schlagen und tut so, als ob ein Geist dafür verantwortlich ist, damit die Leute herkommen und etwas trinken.

Die Wirtin führte Makepeace zu zwei Männern, die mit grimmigen Gesichtern im Freien ihre Humpen stemmten. Beide waren hager und wettergegerbt. Es waren keine Dörfler, und Makepeace vermutete anhand der Bündel, die neben ihren Füßen lagen, dass sie zum fahrenden Volk gehörten.

«Die Kleine ist wegen dem Geist hier», sagte die Frau und wies mit einer Kopfbewegung auf Makepeace. «Ihr könnt doch ein Lied davon singen, nicht wahr?»

Die beiden Männer wechselten einen Blick und runzelten die Stirn. Offensichtlich war das eine Geschichte, die sie nicht gern erzählten.

«Spendiert sie uns ein Bier?», fragte der größere der beiden.

Die Wirtin blickte Makepeace mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mit einem üblen Gefühl in der Magengrube und der fast sicheren Gewissheit, dass sie hereingelegt wurde, trennte sich Makepeace von einer weiteren Münze, und die Wirtin ging, um noch mehr Bier zu holen.

«Es kam aus der Dunkelheit. Siehst du das hier?» Der größere Mann hob die Hand, die mit einem schmutzigen Taschentuch verbunden war, das hier und da dunkle Flecken getrockneten Bluts aufwies. «Hat den Mantel meines Kameraden zerfetzt und mich dermaßen gegen die Wand geschleudert, dass mir beinahe das Hirn aus dem Schädel gefallen wäre. Unsere Fiedel ist auch nur noch ein Haufen Splitter.» Das Instrument sah in der Tat so aus, als ob jemand darauf herumgetrampelt wäre. «Mistress Bell nennt es einen Geist, aber ich sage, es war der Teufel. Ein unsichtbarer Teufel.»

Sein Zorn schien nicht gespielt zu sein, aber Makepeace wusste trotzdem nicht, ob sie ihm glauben sollte. Alles ist unsichtbar, wenn man im Suff nicht mehr klar sehen kann, dachte sie.

«Hat es etwas gesagt?» Makepeace erschauerte unwillkürlich, als sie an die geschmolzene Stimme aus ihrem Vielleicht-Traum dachte.

«Nicht zu uns», sagte der kleinere der beiden. Er streckte die Hand mit dem Becher aus, als die Wirtin mit dem Krug zurückkehrte, und ließ sich nachschenken. «Nachdem es uns wie zwei Sandsäcke gebeutelt hatte, ist es da lang.» Er deutete in Richtung der Sümpfe. «Hat unterwegs noch einen Pfosten umgehauen.»

Makepeace trank aus und fasste sich ein Herz.

«Pass auf, wo du hintrittst, Püppchen!», rief ihr die Wirtin nach, als sie sah, dass Makepeace über den Tritt stieg, der zu den Sümpfen führte. «Einige der Wege sehen trocken aus, rutschen dir aber unter den Füßen weg. Wir haben keine Lust, dass uns dein Geist auch noch heimsucht!»

Das Rascheln und Knirschen von Makepeaces Schritten klang überlaut, als sie hinaus auf das Marschland ging, und sie merkte, dass hier kein einziger Vogel sang. Nur die dürre Musik der Schilfstängel, die aneinanderrieben, und das papierartige Rauschen der vereinzelt stehenden jungen Pappeln, deren Blätter in der Brise graugrün und silbrig schimmerten, begleiteten ihren Weg. Die Stille sickerte bis in ihre Knochen und mit ihr die Angst, dass sie – wieder einmal – einen schrecklichen Fehler machte.

Sie schaute sich nervös um und erkannte mit einem leichten Schaudern, dass sie sich bereits ein gutes Stück vom Gasthaus entfernt hatte. Sie kam sich wie ein kleines Boot vor, das sich aus der Vertäuung gelöst hatte und hilflos von der Küste wegtrieb.

Und als sie so dastand, schlug mit einem Mal eine unsichtbare Welle über Makepeace zusammen.

Ein Gefühl. Nein, ein Geruch. Ein Gestank nach Blut, Herbstwald und alter, feuchter Wolle. Es war ein heißer Geruch. Er juckte und kratzte an ihrem Geist wie ein Atemhauch. Er erfüllte Makepeaces Sinne, vernebelte ihr den Blick und verursachte ihr Übelkeit.

Geist, das war alles, was sie in ihrer Hilflosigkeit denken konnte. Ein Geist.

Aber das war ganz anders als jener kalte, tückische Ansturm, den sie bisher von Geistern erlebt hatte. Dieses Wesen hier versuchte nicht, in sie hineinzugelangen – es wusste gar nicht, dass sie da war. Es prallte einfach nur gegen sie, heiß, schrecklich und blind.

Die Welt verschwamm, und sie wusste kaum noch, wo sie war, wer sie war. Sie wurde von einer Erinnerung verschluckt, die nicht ihr gehörte.

Die Sonne stach. Der Gestank der Sägespäne ließ sie würgen. Ihre Lippe tat entsetzlich weh, und sie konnte keine Worte formen. In ihren Ohren dröhnte es, und gleichzeitig hörte sie ein grausames, rhythmisches Hämmern. Mit jedem Hammer-schlag riss etwas schmerzhaft an ihrem Mund. Als sie versuchte zurückzuweichen, schoss ihr ein rot glühender Schmerz in die Schultern. Makepeace brannte vor Zorn, der aus Schmerzen und Pein entsprang.