Schattenmord - Fran Dorricott - E-Book

Schattenmord E-Book

Fran Dorricott

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Beschreibung

Immer wenn der Mond die Sonne verdunkelt, sucht der Killer sein nächstes Opfer …

Cassie und ihre kleine Schwester Olive verbringen den Sommer bei ihrer Großmutter im englischen Bishop’s Green. Am Tag einer großen Sonnenfinsternis ist der ganze Ort auf den Beinen, um das Naturschauspiel zu beobachten. Auch Cassie und Olive. Doch dann verschwindet Olive in der Menge und wird nie wieder gesehen. 16 Jahre später kehrt Cassie nach Bishop's Green zurück. Olives ungewisses Schicksal hat sie nie losgelassen. Als kurz vor einer Sonnenfinsternis erneut ein Mädchen verschwindet, ist Cassie sicher, dass es ebenso Olives Entführer zum Opfer gefallen ist. Und sie hofft, nun endlich herauszufinden, was mit ihrer Schwester passiert ist …

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Buch

England 1999: Teenager Cassie und ihre kleine Schwester Olive verbringen den Sommer bei ihrer Großmutter im beschaulichen Städtchen Bishop’s Green. Am Tag einer großen Sonnenfinsternis ist der ganze Ort auf den Beinen, um das Naturschauspiel zu beobachten. Auch Cassie und Olive. Doch dann verschwindet Olive in der Menge und wird nie wieder gesehen …

Sechzehn Jahre später kehrt Journalistin Cassie Warren nach Bishop’s Green zurück. Olives ungewisses Schicksal hat sie nie losgelassen. Als kurz vor einer Sonnenfinsternis erneut ein Mädchen verschwindet, ist Cassie sicher, dass es ebenso Olives Entführer zum Opfer gefallen ist. Und sie hofft, nun endlich herauszufinden, was mit ihrer Schwester passiert ist …

Autorin

Fran Dorricott studierte Literatur und Kreatives Schreiben und arbeitet als Buchhändlerin im englischen Derby, wo sie mit ihrer Familie sowie einer Katze und drei Hunden lebt. »Schattenmord« ist ihr Debütroman. Weitere Informationen zur Autorin unter: www.frandorricott.com.

Fran Dorricott

Schattenmord

Thriller

Aus dem Englischen

von Claudia Franz

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »After the Eclipse« bei Titan Books, a division of Titan Publishing Group Ltd, London.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2019

Copyright © Fran Dorricott 2019

The moral right of the author has been asserted

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Ilse Wagner

KS · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22153-9V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Shadow, ohne den dieser Roman zwei Jahre

früher geschrieben worden wäre.

Die Sonne ist am Himmel erloschen,

und rings herrscht schreckliches Dunkel.

Homer, Odyssee, XX 356/7

Prolog

11. August 1999

An dem Tag, an dem sie zur lokalen Legende wurde, tat Olive Warren nicht das, was man von ihr verlangte.

Normalerweise war sie ein braves Kind. Ganz anders als ihre Schwester, hasste sie es, ausgeschimpft zu werden. Sie mochte ruhige Dinge: Büchereien, Museen mit Dinosaurierknochen, ihr Modell des Sonnensystems. Die Leute fanden das eigenartig, aber Olive dachte, wenn sie Kuratorin werden wollte oder sogar Astronautin, dann konnte es nicht schaden, sich an die Regeln zu halten und die Stille zu lieben.

Aber wenn sie den Sommer bei ihrer Großmutter verbrachten, war alles anders als zu Hause in Derby, vor allem wenn ihre ältere Schwester das Kommando führte. Regeln waren dehnbar, Strafen nicht vorgesehen. Trotzdem war dies noch einmal ein besonderer Tag.

Seit Wochen freute sie sich nun schon auf die Sonnenfinsternis, und sie würde sie bestimmt nicht verpassen, nur weil ihre große Schwester mit ihrer neuen »Freundin« beschäftigt war. In ihrem Kalender hatte sie die Tage bis zu dem großen Ereignis abgehakt, obwohl sich Cassie darüber lustig gemacht hatte. Als der Tag kam, gingen sie zum Chestnut Circle, dem Zentrum des Universums von Bishop’s Green.

Es gab ein großes Fest. Die Stadt wirkte lebendiger denn je, und alle waren vom Fieber ungeahnter Möglichkeiten erfasst. Die Vorstellung, dass die Bewohner der Stadt zusammenkommen würden, um gemeinsam die Sonnenfinsternis anzuschauen, hatte Olive begeistert – aber die Realität war eher ein Schock. Die Menschen standen zu dicht gedrängt, und obwohl es eine Bühne und ein Spielprogramm für Kinder gab, bekam man vom eigentlichen Geschehen nichts mit. Ein Kind gewann ein riesiges Plüscheinhorn, und Olive sah nur noch die regenbogenfarbene Mähne und ein dünnes goldenes Horn.

Die Musik war zu laut. Olive sehnte sich danach, zu Hause bei ihren Großeltern zu sein und vielleicht auf dem Dach vor dem Zimmer zu sitzen, das sie sich mit Cassie teilte. Wenn es nach ihr ginge, sollten die Menschen einfach still sein und warten. Sie selbst blickte unentwegt auf den Minutenzeiger ihrer Uhr. Die wichtigste Phase der Sonnenfinsternis sollte um zehn nach elf beginnen, aber was, wenn sie dann gar nichts sehen konnte?

Cassie und ihre Freundin Marion standen ein Stück weiter in der schmalen Gasse am Eckladen, steckten die Köpfe zusammen und bekamen nichts mit von dem, was um sie herum passierte. Ihre Nasen berührten sich fast, während sie tuschelten. Olive ließen sie links liegen. Seit Tagen ging das schon so, aber heute war es noch schlimmer. Marion würde bald in den Urlaub fahren, und das fanden die beiden gar nicht gut. Olive hatte nichts dagegen. Dann würde sie Cassie wenigstens nicht mehr mit dieser Freundin teilen müssen.

In Olives Bauch brodelte die Wut, als sie die beiden beobachtete. Sie konnte sich nicht durchringen, es wirklich zu tun – Cassies einzige Regel zu brechen. Immer in Sichtweite bleiben. Ihr Körper spannte sich an bei der Vorstellung, dass sie eigentlich nicht immer nach Cassies Pfeife tanzen musste.

»Olive, bleib doch mal stehen. Gran hat gesagt, du sollst immer in meiner Nähe bleiben«, rief Cassie.

Olive seufzte. Sie hatte nur versucht, eine Stelle zu finden, von der aus man besser sehen konnte. Sie sah gar nichts, vor allem nicht den Himmel, da die Ladenmarkise den Blick versperrte. Dabei waren sie ja nicht hier, damit Cassie mit der Tochter des Polizisten tuscheln konnte. Cassie war sogar sauer geworden, als Olive in den Laden gegangen war, um sich eine Dose Cola zu kaufen. Dabei war sie nur eine Minute fort gewesen, und Gran hatte ihr extra das Geld dafür gegeben. Das war nicht gerecht.

In diesem Moment fasste Olive einen Beschluss. Sie würde die Regel brechen, nicht nur dehnen. Es wäre nur ein einmaliger Verstoß, und das auch nicht für lang. Die Menschen rückten ihr auf die Pelle, und ihre Handflächen wurden bereits schweißnass. Obwohl niemand sie berührte, bekam sie keine Luft mehr. Sie musste einfach den Himmel sehen können. Sie brauchte das, was ihre Großmutter eine »hohe Warte« nannte.

Den Folly Hill kannte Olive von einem Picknick mit ihren Großeltern im vergangenen Sommer. Bis dorthin war es nicht weit, vielleicht eine Meile, und Olive war eine begeisterte Spaziergängerin. Von dem Hügel aus würde sie auf jeden Fall eine überwältigende Sicht auf das Spektakel haben, wenn die Sonne von der Dunkelheit verschluckt wurde. In der Senke zwischen den grünen Hügeln würde man auch Bishop’s Green erkennen können und die Schatten durch die Straßen im Viertel ihrer Großeltern huschen sehen. Wenn sie wieder in der Schule war, könnte sie ihren Ferienaufsatz darüber schreiben.

Bevor Cassie bemerkte, dass sie fort war, würde sie vermutlich längst wieder zurück sein.

Also wartete sie, bis Cassie und Marion wieder flüsterten, in der Mündung der Gasse verborgen. Die Markise mit den bonbonfarbenen Streifen zog sich um den ganzen Laden herum und warf ihren Schatten auf die beiden. Sie waren beschäftigt, erfüllt von der Anwesenheit der jeweils anderen. Olive wünschte, sie hätte auch eine Freundin wie Marion – jemanden, der alles Schlimme und jeden Streit vergessen machte. Cassie bekam gar nicht mit, wie ihre Großeltern über Mum und Dad sprachen, über deren Probleme. Ständig telefonierte ihre Schwester mit Marion, dachte an Marion, redete über Marion.

Olive wagte es. Sie stahl sich aus der Gasse, schlich am Rand der Menge entlang und erreichte die Straße. Vor dem Eckladen parkten nur wenige Autos. Ein paar Spätankömmlinge trafen noch ein, aber niemand schenkte Olive Beachtung. Der Lärm der Menschen, die sich um den Springbrunnen in der Mitte des Platzes herum drängten, schwoll an, da der DJ nun einen Countdown anstimmte. Nur noch eine halbe Stunde bis zum Einbruch der Dunkelheit. Bis zur Sonnenfinsternis. Olive formte das Wort mit den Lippen und spürte in Erwartung dieses Wunders eine überwältigende Begeisterung.

Sie war sich nicht sicher, ob es hier wirklich dunkel genug sein würde – ihre Großmutter hatte gesagt, dass die Sonnenfinsternis in Cornwall am besten zu sehen sein würde –, aber immerhin war es nicht bewölkt. Eigentlich war Bishop’s Green der perfekte Ort für das Ereignis, wirklich, ein Städtchen, das von einem ganz eigenen Zauber umgeben war. Oben auf einem Hügel gab es sogar die Triplet Stones, eine Art Druidensteine, die Olive liebte. Die Sommer bei ihren Großeltern waren so, als würde man in der Zeit zurückreisen in eine Welt, in der die Menschen noch an Omen, Zaubersprüche und Amulette glaubten.

Die Sonnenfinsternis war das Ereignis des Jahres. Des Jahrzehnts. Olive spürte bereits den Mond auf der Haut, als die Schatten länger wurden. Gran hatte ihr erzählt, dass der zunehmende Mond als der mächtigste Glücksbringer galt, aber Olive dachte, dass eine Sonnenfinsternis ihn vermutlich noch übertraf. Immerhin geschah so etwas bedeutend seltener. Bis zur nächsten würden viele Jahre vergehen.

Als sie den Lärm hinter sich ließ, bekamen die verblassenden Geräusche etwas Unheimliches, als würden sie bei lebendigem Leib aufgefressen. Ihr schien die Zeit davonzulaufen. Die Willow Lane, die Straße zum Folly Hill, war staubig und holprig. Außerdem lag sie wie ausgestorben da, wie Olive auffiel, da alle, die die Sonnenfinsternis von dem Hügel aus beobachten wollten, sicher schon dort waren. Die Straße zog sich auch länger hin als in ihrer Erinnerung. Die Luft war trocken, und Olive spürte ein Engegefühl in der Brust, als sie die Schritte beschleunigte.

Mittlerweile musste es bereits nach elf Uhr sein. Die Dunkelheit breitete sich aus. Olive hätte früher gehen, hätte mutiger sein sollen. Cassie wäre ihr ohnehin nicht gefolgt. Wovor hatte sie Angst gehabt?

Sie setzte sich in Trab. Zunächst langsam wie beim Joggen, aber bald rannte sie so schnell, dass sie ins Keuchen geriet und ihre Beine sich wie Pudding anfühlten. Ihr Fuß blieb in einem Schlagloch hängen, und sie stürzte und schürfte mit dem Knie über den Boden. Ihrem Mund entwich kein Laut. Sie hasste es zu weinen.

Ihr Knie brannte, als habe sie tausend winzige Kratzer daran, und ihre Hände taten ebenfalls weh. Grober weißer Sand klebte daran, zumal sie auch noch Cola an den Fingern hatte und den Saft von der Orange, die sie zuvor im Laden gegessen hatte. Am liebsten würde sie die Hände an der Jeans abwischen, aber dann würden sie nur noch stärker brennen. Unwillkürlich entfuhr ihr ein Zischen.

Als sie sich aufrichtete, beschwerten sich ihre Knöchel; die Haut an den Knien spannte und bildete an den falschen Stellen Falten. Sie wischte sich mit dem Arm über die Stirn und schaute in den Himmel. Noch nicht, dachte sie. Noch nicht, bitte. Ich möchte es nicht verpassen.

In diesem Moment hörte sie ein Rumpeln hinter sich. Die Willow Lane wirkte nicht wie eine Straße, die von vielen Autos frequentiert wurde. Oder von vielen Menschen, dachte Olive, außer vielleicht von Hundebesitzern.

Sie drehte sich um und sah einen Lieferwagen durch die lange, steile Gasse kommen. Die Hecke zu ihrer Linken ragte hoch über ihr auf und ließ das Geräusch klingen, als komme es direkt auf sie zu. Sie blieb stehen und blinzelte, um den Fahrer erkennen zu können.

Es gelang ihr nicht. Zunächst jedenfalls.

Der Lieferwagen drosselte das Tempo und kam in Schrittgeschwindigkeit auf sie zu. Der Fahrer winkte. In diesem Moment erkannte sie ihn. Er hielt an, kurbelte das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und beugte sich herüber, um mit ihr zu reden.

»Ich habe gesehen, dass du das Fest verlassen hast«, erklärte er. »Bist du auf dem Weg zum Folly Hill?« Er hatte eine Sonnenbrille in den Hemdausschnitt gesteckt und trug eine Baseballkappe, wie auch ihr Vater eine besaß.

Sie nickte. Die Dunkelheit schwoll an, als würde sie sie verfolgen. Sie hätte gern nach oben geschaut, um zu sehen, ob sich der Mond bereits vor die Sonne schob, aber sie wollte nicht, dass ihre Augäpfel verbrannten. Die Spezialbrille steckte aber noch in ihrer Tasche, und es wäre ihr unhöflich vorgekommen, sie jetzt herauszuholen. Die Schatten wurden immer länger, und Olive wünschte, sie hätte eine Jacke mitgenommen. Die Vögel waren verstummt, und man hörte nur noch das Brummen des Lieferwagens und die fernen Festgeräusche vom Chestnut Circle.

»Du wirst sie verpassen, wenn du nicht einen Zahn zulegst«, sagte er.

»Ich weiß.«

»Ich kann dich mitnehmen, wenn du magst. Nur bis zum Hügel hinauf.«

Olive dachte nach, aber nur kurz. Sie wusste natürlich, dass sie niemals bei Fremden einsteigen durfte, aber in Bishop’s Green kannte jeder jeden. So war das hier eben. Ihre Großeltern ließen Cassie und Olive immer allein in der Stadt herumlaufen, wenn sie zu Besuch waren. Bishop’s Green war wie ein Ferienort an der Küste; alle lächelten und waren freundlich. Außerdem kannte sie den Mann mittlerweile gut genug, oder? Es war ja nicht wie zu Hause, wo Mum ihnen immer in den Ohren lag, sie sollten vorsichtig sein und nicht mit Fremden reden.

Also nickte sie wieder.

Er öffnete die Tür, und sie stieg ein. Es war erstaunlich kühl im Innern. Durch die offenen Fenster wehte frischer Wind herein. Sie fröstelte. Der Schweiß in ihrem Nacken wurde schnell kalt. Sie hatte Durst, trotz der Cola, die sie zuvor getrunken hatte und die in der Hitze des Tages nur einen pelzigen Geschmack auf der Zunge hinterließ.

Der Mann bemerkte es und reichte ihr eine Flasche Wasser. Sie nahm sie dankbar entgegen. Das kühle Glas linderte den Schmerz an ihren aufgeschürften Händen, obgleich es auch ein wenig brannte. Gierig trank sie aus der Flasche.

»Warum hast du das Fest verlassen?«, erkundigte er sich, als sie weiterfuhren. Es fühlte sich an, als würde der Lieferwagen den Hügel hinaufkriechen; ein leichter Geruch von Desinfektionsmitteln hing im Innern. »Ich hatte den Eindruck, als würdest du dich gut amüsieren.«

»Es war ganz nett«, sagte Olive zögernd.

»Aber Cassie hat alles kaputtgemacht. Sie ist nicht sehr nett zu dir, oder?«

Irgendetwas an der Stimme des Mannes machte Olive stutzig. Ihr Herz flatterte, obwohl sie nicht wusste, wieso. Er schaute sie an, als sie den Hügel hinauffuhren. Sein Blick war nicht mehr väterlich.

»Ich …«

Den ganzen Sommer über war er nett zu ihr gewesen, aber plötzlich fühlte es sich nicht mehr so an, als würde er sie beschützen wollen. Der Tonfall, in dem er den Namen ihrer Schwester ausgesprochen hatte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, schlug ihr auf den Magen, zusammen mit dem schalen Wasser, und sie rutschte unbehaglich hin und her. Irgendetwas schien sich verändert zu haben, hier in diesem Wagen. Die Luft war zu kalt und der Himmel draußen zu dunkel. Olive war angeschnallt, und es gefiel ihr gar nicht, dass der Mann viel zu nahe zu sein schien und nach Desinfektionsmitteln und den frisch gewaschenen Kleidern einer anderen Person roch.

Ihr wurde bewusst, dass sie sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnerte.

Plötzlich ertrug sie die Stille nicht mehr, die sie sich so sehnlichst gewünscht hatte. Olive wollte den Lieferwagen zum Halten bringen, wollte hier raus, merkte aber, dass ihr Mund ihr nicht mehr richtig gehorchte. Ihre Zunge war schwer, und sie war furchtbar müde. Panik machte sich in ihr breit. Der Mann hatte die Fenster geschlossen. Der Wagen fuhr weiter. Fort von Cassie, von ihren Großeltern, von allem.

Der Mann behielt sie unentwegt im Blick. Fuhr schneller.

Und während die Straße immer finsterer wurde und der Mond die Sonne verschluckte, wünschte sich Olive Warren, sie hätte einfach getan, was man von ihr verlangt hat.

1

Montag, den 16. März 2015

Die Sonne ging gerade auf, als ich zu meiner Joggingrunde aufbrach, aber ich war schon viele Stunden wach. Meine Augen waren verklebt. Die lange schlaflose Nacht verfolgte mich wie ein Gespenst, und mein ganzer Körper schmerzte. Ich konzentrierte mich auf die Erleichterung statt auf die Müdigkeit und lauschte auf das gleichförmige Stampfen meiner Füße auf dem Straßenpflaster, dann auf dem Feldweg, als ich die Wohnviertel von Bishop’s Green hinter mir ließ und in die Wälder südlich der Stadt eintauchte.

Ich achtete nur auf meine Atmung, meinen Herzschlag und das Brennen in meinen Beinen, schaltete meinen Verstand tunlichst aus. Wenigstens war es nicht meine Arbeit, die mich zurzeit quälte, das war doch schon etwas.

Als ich das Stadtleben und den Kampf um anständige Aufträge als Journalistin gegen ein Leben bei meiner Großmutter in Bishop’s Green eingetauscht hatte, hatten mir traute Abendessen im Familienkreis vorgeschwebt – mit mir in der Rolle der hingebungsvollen Enkeltochter, die mit der Demenz ihrer Großmutter spielend klarkam. Stattdessen fühlte ich mich wie eine Gefängniswärterin, und das auch nur an den Tagen, an denen Gran noch wusste, wer ich war. Wusste sie es nicht, wurde alles nur noch schlimmer, weil ich dann erklären musste, wer ich war und warum ich mir immer wie eine Versagerin vorkam.

Ich verspürte die Verlockung sogar beim Laufen – die Verlockung, alles hinzuschmeißen, die Hände hochzuheben und mich zu ergeben. Als ich beschlossen hatte, London zu verlassen, hatte ich gerade eine sechsmonatige Durststrecke hinter mir. Meinen Job zu verlieren war schon hart genug gewesen, aber das hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Der Verlust meiner dreijährigen Beziehung hingegen und in ihrem Gefolge auch der komfortablen Londoner Wohnung tat immer noch weh. Aber ich schüttelte den Gedanken schnell ab. Egal, warum ich gegangen war, jetzt war ich hier.

Ich ließ mich von meinen Füßen leiten, und das dumpfe Geräusch meiner Turnschuhe vertrieb sämtliche Sorgen. Als ich den Weg verließ, kratzte ich mir die Beine an den Dornenbüschen auf und verfiel in ein unregelmäßiges, hüpfendes Tempo. Meine Atmung hatte ich jetzt nicht mehr unter Kontrolle. Dies war mein erster Lauf nach über einer Woche, und ich genoss die feuchte Luft an den heißen Wangen und sog den süßen Duft von Nadelwäldern im Märzwind ein.

Der Wald wurde lichter, und ich kam an einem knorrigen alten Baum vorbei; an einem der unteren Äste hing eine Schaukel. An solchen Stellen hätten Olive und ich während unserer Sommer hier stundenlang gespielt, obwohl sie vermutlich erst einmal eine gute Viertelstunde lang versucht hätte, die Belastbarkeit zu überprüfen. Ich musste lächeln, als ich daran dachte.

In letzter Zeit habe ich viel an Olive gedacht. Sie war immer da, ein zartes Phantom in meinem Hinterkopf, aber in den letzten Monaten ist es schlimmer geworden. In die Stadt zu ziehen, in der wir unsere letzte gemeinsame Zeit verbracht haben, ist mir bei einem Drink in einem fernen Londoner Pub wie ein Befreiungsschlag vorgekommen. Jetzt empfand ich es als falsch, sogar als morbide. Und es war zu befürchten, dass die bevorstehende Sonnenfinsternis meine Albträume nur noch verschlimmern würde.

An diesem Morgen wollte ich nicht an meine Schwester denken. Ich war zu müde, zu aufgewühlt. In der Nacht ist Gran ausgebüxt und stundenlang über die Felder gewandert, bevor ich sie finden konnte. Ihre mitternächtlichen Ausflüge häuften sich und ließen sich immer schwerer verhindern. Jetzt wollte ich einfach nur laufen und schwitzen und an nichts anderes denken als an meinen schmerzenden Körper.

Stolpernd kehrte ich auf den Weg zurück und folgte ihm aus dem Wald heraus, mittlerweile keuchend vor Anstrengung. Als ich an einem grasbewachsenen Seeufer vorbeikam, lief ich langsamer, plötzlich von gleißendem Licht geblendet. Am Ufer des Sees blieb ich stehen, die Hände auf die Knie gestützt.

Er war noch genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß und dunkel und mit einer straffen Oberfläche wie von geblasenem Glas. Die Sonne, die nun vollständig aufgegangen war, spiegelte sich als verzerrte Scheibe zwischen den Wolken. Noch waren nicht viele Leute unterwegs, aber am Wetter konnte es nicht liegen. Die ganze Stadt war nicht mehr so lebhaft, wie ich sie aus den Sommern meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Im August kamen natürlich immer noch die Touristen nach Bishop’s Green, angelockt vom Ruf der Stadt, ein Zentrum magischer Kräfte zu sein, gesegnet von den drei Menhiren der Druiden, oder mit was für einem Unsinn auch immer man die Leute zu ködern versuchte.

Ich wollte mich schon umdrehen und nach Hause laufen, da zog eine Bewegung am Ufer meine Aufmerksamkeit auf sich. Als ich in die Richtung schaute, sah ich ein paar Menschen, die sich neben einer kleinen Baumgruppe versammelt hatten. Wie gebannt starrten sie auf den See, zwei Frauen mit Kinderwagen, ein Mann mit einem Hund, ein junges Paar. Sie betrachteten etwas, das ich nun auch entdeckte.

Ein Boot im Wasser. Und nach der ernsten Miene der Menschen, die darin waren, zu urteilen, würde ich meine letzte Zigarette darauf verwetten, dass sie nicht hier waren, um Sport zu treiben. Ich ging zu einer der Frauen, von meiner Neugierde wie von einer Sucht getrieben. Das würde ich niemals ablegen können. Das war es, was mich überhaupt erst zum Journalismus gebracht hat – das und die Opfer.

»Was ist denn da los?«, erkundigte ich mich.

Sie wandte sich mir ein Stück zu, hielt aber den Blick auf das Boot gerichtet, das sich nur langsam fortbewegte. Nun hörte ich es brummen, da der Wind das Geräusch zu uns herübertrug.

»Das Kind – dieses Mädchen, das seit Freitag vermisst ist … Freitag, der Dreizehnte, da kann ja nichts Gutes geschehen, oder? O Gott, offenbar sucht man sie im Wasser. Die arme Familie.«

Ich spürte, wie mein Herz ins Stolpern geriet. Sicher, ich hatte mit Gran beide Hände voll zu tun, aber wie konnte es mir entgangen sein, dass ein Kind vermisst wurde? Der Aberglaube der Frau war mir nicht fremd, doch ich schüttelte ihn ab wie all die anderen törichten Dinge, an denen sich Bishop’s Green ergötzte. Mir fiel auf, dass am anderen Seeufer nun auch noch Leute standen. Ein paar Polizisten. Hunde.

»Sie ist doch erst elf.« Die Frau stieß einen kehligen Laut aus. »So etwas sollte hier nicht passieren. So etwas ist hier noch nie passiert.«

Ich hörte nicht mehr zu. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Ein vermisstes Mädchen. Hier in Bishop’s Green. Plötzlich blendete mich die Sonne, eine gleißende weiße Scheibe. Als ich blinzelte, verfinsterten schwarze Punkte mein Blickfeld wie in meinen Träumen. Ein elfjähriges Mädchen – vermisst.

Ich korrigierte die Frau nicht. Brachte kein Wort heraus. Lief einfach fort, zurück in die Stadt, in mein Zuhause. Das Zuhause, von dem ich gehofft hatte, dass es ein Neuanfang werden könnte.

Die Frau am Ufer irrte sich. So etwas war hier bereits passiert. Vor sechzehn Jahren war es meiner Schwester passiert.

Zu Hause stürzte ich mich in die Arbeit. Ich kochte Kaffee, steckte Wäsche in die Waschmaschine und deckte den Frühstückstisch. Die Dinge, um die ich immer einen großen Bogen machte, erledigte ich ebenfalls. Ich ließ mir für meine Großmutter einen Termin bei ihrem Hausarzt geben und harrte sogar bereitwillig zehn Minuten in der Warteschleife der Tagespflege aus, um einen Informationsbesuch zu verschieben. Nach Erledigung der lästigen Pflichten hatte ich mich gerade mit meinem Handy am Esstisch niedergelassen, als der Festnetzapparat klingelte.

»Cassie, mein Schatz. Wie geht es dir?« Meine Nerven beruhigten sich sofort, als ich Henrys vertraute Stimme vernahm. Jahrelanger Zigarettenkonsum hatte sie rau werden lassen, und obwohl er bereits drei Jahrzehnte in London lebte, erkannte man immer noch, dass er aus Cornwall kam. Es war schön, von ihm zu hören. »Wie ist das Leben im hohen Norden?«

»Es handelt sich immer noch um die Midlands«, erwiderte ich. Das habe ich jedes Mal gesagt, wenn er mich seit meinem Umzug vor zwei Monaten angerufen hat. Für Henry war alles nördlich vom Watford Gap schon äußerster Norden. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass ich die Sache wirklich durchgezogen habe.

Bei jedem Telefonat spürte ich seine Erwartung, dass ich aufgeben und in die Anonymität der Großstadt zurückziehen würde. Und sollte ich es nicht aus freien Stücken tun, schien er wild entschlossen, mich dazu zu überreden. Als wäre es besser, ohne Bleibe und ohne Job zurückzugehen, als hier zu sein.

»Du klingst ziemlich fertig«, sagte er. »Schläfst du gut?«

»Das wäre schön.« Ich rieb mir das Gesicht und seufzte. »Heute habe ich mir wieder die ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Mir ist schleierhaft, wie Gran das immer anstellt. Gestern Abend habe ich den Schlüssel versteckt, aber sie hat es trotzdem irgendwie geschafft, aus dem Haus hinauszukommen. Heute Morgen um kurz nach fünf habe ich sie auf den Feldern gefunden, halb erfroren.«

»O Gott.« Henry zögerte. Ein Klopfgeräusch im Hörer deutete darauf hin, dass er etwas sagen wollte, von dem ihm schon klar war, dass ich es sicher nicht hören wollte. »Ich weiß, dass du kein enges Verhältnis zu deinem Vater hast, aber kann er dir nicht helfen? Für eine einzige Person scheint mir das eine ziemliche Zumutung zu sein, selbst wenn tagsüber Pflegekräfte vorbeischauen. Es passiert doch ohnehin eher nachts, oder? Ich weiß schon, dass du gesagt hast, dass sie laut ärztlichem Befund zu Hause besser aufgehoben ist, aber …«

»Dad will sie in ein Heim stecken, Heno. Er ist überhaupt keine Hilfe. Sie ist nicht seine Mutter, daher kann man das vielleicht auch nicht erwarten. Aber ein Heim möchte ich ihr nicht zumuten, noch nicht. Sie war immer so stark, besonders nach Mums Tod. Ich kann sie nicht an einem solchen Ort einsperren, bevor ich nicht alle anderen Möglichkeiten ausprobiert habe.« Ich erwähnte nicht, dass es hier, wo ich mich persönlich als Gefängniswärterin betätigte, nicht viel besser war, aber Henry schien es zu spüren.

»Geht es ihr denn gut? Nach einer solchen Nacht?«

»Ja. Sie schläft schon wieder. Das sollte ich auch tun.«

»Dann geh ins Bett, mein Schatz. Ich rufe später noch einmal an.«

Ich wollte nicht, dass Henry auflegte. Nach diesem Morgen, an dem ich die Polizei am See gesehen habe, war ich aufgewühlt und wollte seine Stimme noch ein bisschen länger hören. Als ich vor zehn Jahren zu Beginn meiner Journalistinnenlaufbahn nach London gezogen bin, hat er sich als ausgezeichneter Mentor erwiesen, aber als Freund ist er mir später noch wichtiger geworden. Letztes Jahr ist er in den Ruhestand gegangen, las jedoch immer noch alle meine Artikel, bevor ich sie abgab.

»Jetzt kann ich nicht schlafen. Zu viel Koffein«, sagte ich. »Und zu wenig Alkohol. Mir ist schleierhaft, warum ich dachte, nach dem Umzug hierher würde ich endlich lernen, mich wie eine Erwachsene zu benehmen.«

Ich lachte, riss mich dann aber zusammen.

»Da spricht ein wahres Kind des Jahrtausends«, sagte Henry.

Angespannte Stille trat ein. Etwas Unausgesprochenes hing in der Luft, ein Satz wie: Immerhin nimmst du keine Schlaftabletten mehr. Henry wusste, dass ich mir gern jede Menge Pillen verordnete, wenn ich unter Druck stand. Allerdings hatte ich ihm verschwiegen, dass das nach meinem Umzug nach Bishop’s Green noch einmal schlimmer geworden war. Dummerweise waren Schlaftabletten, mit denen ich mich immer aus der Welt ausgeklinkt hatte, nicht sehr hilfreich, wenn man auf eine Großmutter aufpassen musste, die gerne ausbüxte. Sie setzten einen schachmatt, wenn man eigentlich wachsam sein sollte. Mittlerweile bewahrte ich lieber keine Schlaftabletten mehr im Haus auf.

Wenn man bedachte, dass ich den Verlust meines Jobs nicht zuletzt den drei doppelten Brandys verdankte, die ich getrunken hatte, bevor ich meinem sexistischen Interviewpartner eine geknallt habe, war es vermutlich besser, keine Witze darüber zu reißen, dass ich mich wieder dem Alkohol zugewandt habe. Letztlich konnte ich von Glück sagen, dass ich nur meinen Job verloren habe. Hätte der Typ mich verklagt, wäre die Sache schlimmer ausgegangen, und ich hätte andere Sorgen als einen Drink hier und da.

»Du musst öfter aus diesem Haus raus, Cass«, erklärte Henry schließlich bewusst munter. »Du klingst, als würde dir die Decke auf den Kopf fallen. Mir war das von vornherein klar. Du bist nicht dazu geschaffen, in einem Käfig zu leben.«

»Ich war den ganzen Morgen draußen.«

»Du weißt schon, was ich meine. Du bist Journalistin, vergiss das nicht. Eine gute Geschichte ist dein Lebenselixier. Wenn du dich in diesem Haus einigelst, hilft dir das mit deiner Großmutter auch nicht weiter. Such dir einen Job, und die Welt erscheint gleich in einem anderen Licht.«

»Mag sein.« Ich schaute aus dem Esszimmerfenster und sah einen Vogelschwarm vorbeifliegen. Die Sonne wirkte viel zu groß am Himmel. Zu hell. Ich musste wieder an die bevorstehende Sonnenfinsternis denken und schüttelte den Kopf.

»Hast du von dem Mädchen gehört, das bei dir da oben vermisst wird?«, fragte Henry, da er offenbar spürte, dass mich seine Worte nicht kaltließen. Es war ein Friedensangebot. »Klingt ganz nach einer Geschichte für dich. Als du noch hier unten warst, hättest du dich sofort darauf gestürzt. Ich weiß, dass du nichts mehr geschrieben hast, seit du aus London fort bist, aber es könnte dir guttun. Ich werde auch alles lesen, was du mir schickst.«

Ich hatte die Nachricht auf meinem Handy geöffnet, noch bevor Henry sie erwähnt hatte. Sie war wie eine Kruste, an der ich zwanghaft herumzupfen musste. Den ganzen Morgen über ist sie mir durch den Kopf gegangen, und je intensiver ich versuchte, nicht daran zu denken, desto schlimmer wurde es. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich schon so weit war, wieder mit dem Schreiben anzufangen, wieder in diese Welt zurückzukehren.

»Kein Interesse«, erklärte ich. Den Artikel ließ ich aber geöffnet, und die Neugierde konnte ich auch nicht aus meiner Stimme verbannen. Das Mädchen – Grace – war so alt wie Olive damals. Dieser Zufall machte mich nervös.

»Lügnerin«, sagte Henry. »Sieht nicht so aus, als hätte schon jemand mit der Familie gesprochen. Du solltest dich reinhängen und versuchen, ein Exklusivinterview mit der Mutter zu bekommen …«

»Nein. Kein Interesse.«

»Du bist so verdammt stur.«

»Nein, bin ich nicht«, sagte ich, musste aber gegen meinen Willen schmunzeln. Henry hatte recht. Es handelte sich exakt um die Art von Geschichte, auf die ich mich früher gestürzt hätte. Nach der Entführung meiner Schwester habe ich die Journalisten gehasst, die meine Familie belagerten, aber später war ich dann wild entschlossen, die Stimme der Opfer zu werden, fern von diesem Sensationsjournalismus. Damit machte ich mir in der Branche Freunde und Feinde. Die meisten Kollegen mochten es nicht, wenn ich sie – uns alle – als Geier bezeichnete. Was ich aber genauso meinte.

Laut Artikel auf meinem Handy hatte das vermisste Mädchen am Freitagnachmittag um halb vier die Schule verlassen und war nicht nach Hause gekommen. Keine Nachricht, kein Hinweis, dass sie woanders hingegangen sein könnte. Keiner ihrer Freunde wusste etwas. Mit der Fingerspitze wischte ich zum Ende des Artikels, weil ich weitere Details lesen wollte, als mich Henrys raues Lachen aufschreckte.

»Gut, du bist nicht stur«, sagte Henry. »Aber ich denke trotzdem, es würde dir guttun. Du hättest mal wieder ein Ziel vor Augen. Außerdem wäre es ein wunderbarer Vorwand, um Kontakt zu …«

»Sprich den Namen gar nicht erst aus«, knurrte ich. »Ich habe sie seit der Beerdigung ihres Vaters nicht mehr gesehen, Henry. Das war vor drei Jahren. Warum sollte sie sich jetzt mit mir treffen wollen? Das wäre doch …«

»Komisch? Nun komm schon, mein Schatz. Ich habe doch gehört, wie ihr am Telefon miteinander gesprochen habt. Sie kann dich doch nicht zum Verstummen bringen. Sie ist deine Julia.«

»O Gott, fang nicht wieder damit an. Nur weil du mit wehenden Fahnen in den Hafen der Homo-Ehe eingelaufen bist, muss ich das nicht auch tun. Außerdem ist die Sache für Romeo nicht gerade gut ausgegangen, oder? Da halte ich mich lieber an Rosalinde.«

Henry stieß ein bellendes Lachen aus, drängte mich aber nicht weiter. Wir plauderten noch ein paar Minuten, in denen ich so tun konnte, als hätte ich alles unter Kontrolle.

Schließlich sagte Henry: »Helen hat sich nach dir erkundigt. Ich habe ihr erzählt, dass alles in Ordnung ist. Darüber schien sie froh zu sein.«

Meine Magengrube weitete sich, und mein Herz schien hineinzufallen. Ich schluckte. Um ehrlich zu sein, war es gar nicht so schmerzhaft, dass sie mich verlassen hat, sondern dass sie der Meinung war, wir könnten nicht befreundet bleiben. Das und der Verlust der Wohnung, als sie es verkündet hat. Nach Bishop’s Green zu ziehen hatte sich angeboten, um einen Neuanfang zu versuchen und etwas ganz anderes zu tun, statt sich die Wunden zu lecken. Leider hatte ich vergessen, wie isoliert man hier war. Wie einsam. Nicht einmal Henry habe ich erzählt, dass mein einziger Freund hier der Kaffeeverkäufer war.

»Danke«, sagte ich sanft. »Ja, bei mir ist alles in Ordnung. Wir können ja später noch einmal telefonieren.«

Ich legte auf und schluckte die Enttäuschung hinunter. Wieder fiel mein Blick auf das Handy, und ich betrachtete das Foto in dem Artikel. Grace Butlers Gesicht war rund und rötlich, frisch gewaschen für ein Schulfoto. Blonde Haare, blaue Augen. Wahrlich ein Engel.

VERMISST. Die elfjährige Grace Butler, die Freitag, den 13. März, auf dem Heimweg von der Schule verschwunden ist.

Wachsendes Unbehagen erfüllte mich, als ich den Artikel zum dritten Mal las. Ihr Stiefvater Roger Upton war ebenfalls abgebildet; er wirkte verzweifelt und mitgenommen.

Zwei Tage war sie vermisst, und man suchte bereits im See. O Gott. Ich schüttelte den Kopf und verdrängte die grausame Erinnerung an die Zeit vor sechzehn Jahren. Männer auf dem Wasser, Boote, eine Menschenmenge, die sich am Ufer versammelt hatte.

Ich hatte es in Grans Fernseher gesehen, zitternd und ungläubig, dass das alles wahr sein sollte. Dass es wirklich geschah. Dass Olive nicht jeden Moment in unser Zimmer kommen würde, um sich zu beschweren, dass ich ihr Buch aus der Bücherei versteckt hatte. Dass unsere Sommerferien bei unseren Großeltern nicht im nächsten Moment einfach nur wieder langweilig sein würden, sterbenslangweilig.

Die Erinnerung hatte mich wieder fest im Griff. Ich sah den gnadenlosen blauen Himmel, an dem sich nicht eine Spur von Regen andeutete. Kein Windhauch in den Bäumen am See. Die Frau auf dem Bildschirm verkündete eine Zahl, die stetig wuchs. Einhundertsechsundvierzig Stunden seit der Sonnenfinsternis. Einhundertsechsundvierzig Stunden seit ihrem Verschwinden. Einhundertsechsundvierzig Stunden, seit ich den größten Fehler meines Lebens begangen habe.

Und nun passierte es wieder.

2

Das Zimmer, das nun mir gehörte, ist früher das Atelier meines Großvaters gewesen. An den Wänden hingen immer noch die vierblättrigen Kleeblätter, die er für Glücksbringer hielt. Manchmal roch ich noch einen Hauch von Acrylfarbe, Terpentin oder staubigen Pinseln, obwohl ich bei meinem Einzug nach Grandads Beerdigung vor zwei Monaten das meiste auf den Dachboden geräumt habe. Es war ein tröstlicher Geruch, der mich an ihn erinnerte, an seine Warmherzigkeit.

Das Gästezimmer war größer, doppelt so groß sogar. Außerdem hatte man eine bessere Sicht auf den Garten. Aber ich habe es nicht betreten. Es war der Raum, den Olive und ich uns immer geteilt haben, und obwohl man ihn irgendwann renoviert hat, sah ich immer noch das doppelstöckige Bett und die Lavalampe vor mir. Insgeheim fürchtete ich auch, dass die Geister von Olive und mir dort herumspuken könnten.

Mit einem frisch gekochten Tee ließ ich mich am Schreibtisch in meiner kargen Kammer nieder. Das vermisste Mädchen, Grace, ging mir nicht aus dem Sinn. Olive auch nicht. Konnte es Zufall sein, dass zwei kleine Mädchen desselben Alters im Abstand von sechzehn Jahren aus derselben Stadt verschwanden? Bishop’s Green war größer, als es auf den ersten Blick schien. Es war ein Labyrinth von Wohnstraßen um einen zentralen Bienenstock herum, und auch wenn es sich immer noch für ein Dorf hielt, war es eine richtige Stadt. Man musste der Tatsache ins Auge schauen, dass es sich sehr wohl um einen Zufall handeln konnte.

Aber wieder stand eine Sonnenfinsternis bevor, und das machte mich nervös. Mein Journalistinnengehirn stellte alle möglichen Phantomverbindungen her. Der Zeitpunkt konnte kein Zufall sein, weniger als alles andere.

Die Fälle haben nichts miteinander zu tun, sagte ich mir. Ausgeschlossen. Ich gab mir Mühe, all meinen Scharfsinn aufzuwenden. Olive wurde während eines öffentlichen Ereignisses aufgegriffen, eine spontane Entführung in den grauen Minuten der Dämmerung, als alle damit beschäftigt waren, böse Omen zu zählen oder auf den ultimativen Neuanfang zu warten. Die kleine Grace hingegen ist einfach aus der Schule gekommen. Vielleicht ist sie auch weggelaufen, obwohl sie mit elf Jahren etwas zu jung dafür sein dürfte. Vielleicht hat sie sich mit ihren Freundinnen oder ihren Eltern gestritten. Vielleicht war sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

Ich biss mir auf die Lippe. Der Karton, der vor mir auf Grandads altem Schreibtisch stand, war verbeult, das Doc-Martens-Logo an der Seite fast verblichen. Die Ecken waren abgenutzt von all den Jahren, in denen er in meinem Kleiderschrank hin und her geschoben wurde, und auf dem Deckel hat sich eine Staubschicht abgelagert.

Bei jedem Umzug kam er mit. Er hat mich von Bishop’s Green nach Derby begleitet, dann nach Sheffield, nach York und schließlich nach London. Jetzt war der Karton wieder hier, womit sich der Kreis schloss. Ich öffnete ihn selten, und wenn ich es tat, dann meist nur, um ein weiteres schmerzvolles, mit Olive verbundenes Erinnerungsstück hineinzulegen.

Jetzt wollte ich allerdings hineinschauen. Musste es sogar. Vielleicht stimmte es ja, was Henry gesagt hat – ich brauchte Ablenkung. Oder Bestätigung. Da war ich mir nicht sicher.

Ich atmete zittrig ein und nahm den Deckel ab. Das Innere war genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: Fotos und Abziehbilder und Notizen auf Servietten und sogar ein paar Zeitungsartikel, die zu vergilbten Quadraten zusammengefaltet waren. Auch eine Geburtstagskarte von Olive lag da. Eine, von der ich ihr gegenüber behauptet hatte, ich hätte sie entsorgt.

Ich stöberte in den Fotos von Mum, Olive und mir herum. Dad, der immer hinter der Kamera stand, hatte uns am Strand festgehalten, im Park, an Weihnachten. Die Fotos kannte ich gut, als Jugendliche habe ich sie oft in den Händen gehalten. Die von Mum waren am stärksten abgegriffen. Alle stammten sie aus den Jahren vor Olives Entführung, aus einer Zeit, als Mum noch stark war und gelegentlich gelächelt hat.

Ich nahm eines, auf dem Olive mit einem Karussell fuhr. Darunter lag eines, das ich an Grandads Pinnwand entdeckt hatte und das meine Schwester und mich hier im Garten zeigte. Es muss in dem Sommer aufgenommen worden sein, in dem sie entführt wurde. Wir standen kurz davor, in ein hysterisches Lachen auszubrechen, weil Olive unvermittelt in die Kamera geflucht hat, als sie Ginger Spice’ Friedenszeichen nachzumachen versuchte. Ich schaute schnell weg. Mein Bild von Olive ist in den Neunzigerjahren eingefroren, mit Buzz-Lightyear-T-Shirt, Freundschaftsbändern und Turnschuhen mit Plateausohle. In meinen Augen brannten Tränen.

Was für eine dumme Idee. Ich würde mich selbst nur unglücklich machen. Als ich alles wieder ordentlich in den Karton packen wollte, streiften meine Finger plötzlich das Tagebuch. Ich verspürte einen Schauder. Gespannte Erwartung? Angst? Mir war selbst nicht klar, warum ich überhaupt in diesen Karton geschaut habe, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Es war mein »Olive-Tagebuch«.

Die Psychiaterin, zu der ich nach Olives Verschwinden gegangen bin, hat mir geraten, Tagebuch zu führen. Ihr war nicht klar, dass ich das schon tat. Wenn sie gewusst hätte, mit was für Dingen ich es füllte, hätte sie ihren Vorschlag vermutlich zurückgezogen. Neben dem verschnörkelten Gekritzel der Vierzehnjährigen war es mit Zeitungsausschnitten und anderen Papieren vollgestopft. Es war zu einer Obsession geworden.

Ich blätterte darin herum, bis meine Finger fast wie von selbst auf einer bestimmten Seite verharrten.

In der Bücherei habe ich gelesen, dass die meisten Kindesentführungen innerhalb der Familie geschehen. In Olives Fall hat die Polizei gar nicht erst nach einem Fremden gesucht. Warum?? Mum war bei der Arbeit. Gran hat sich die Haare machen lassen. Grandad war mit Molly beim Tierarzt. Bleiben Dad und ich.

Eine Frage folgte. Mit Kugelschreiber hingekritzelt, zittrig und an den Rändern verschmiert.

DAD. Wo war er?

Ich lehnte mich zurück. Das Herz klopfte mir in der Kehle, und in meinen Handflächen bildete sich Schweiß. Die feuchte Hitze, die der Niederschrift dieser Worte vorausging, hatte ich noch gut in Erinnerung. Im Haus meiner Großeltern drängten sich zu viele Leute – es wurde zu viel geweint. Ich saß auf dem Boden vor der Küche, die Knie an die Brust gezogen. Mum und Dad sah ich nicht, aber ich konnte sie hören.

»Du musst mir sagen, wo du warst. Das ist das Mindeste, was du mir schuldig bist.«

»Ich bin dir gar nichts schuldig, Kathy.« Die Stimme meines Vaters klang angespannt, müde. Das Geheimnis zerrte an ihm. »Wie kannst du nur glauben, dass ich irgendetwas damit zu tun habe? Wie kannst du glauben, ich hätte ihr etwas angetan?«

»Was soll ich denn sonst denken? Du erzählst mir ja nichts.« Eine Pause. »Hast du ihr etwas angetan?«

»Nein.« Kein empörter Ausruf. Eine erschöpfte Feststellung. Dieselbe Antwort auf dieselbe Frage.

»Dann erzähle es wenigstens der Polizei. Sie wissen, dass du lügst. Cassie weiß es. Ich weiß es. Erzähl es irgendjemandem.«

»So einfach ist das nicht.«

»Also lügst du.«

»Zum Teufel, Kath. Es war nicht mein Fehler. Cassie sollte auf sie aufpassen.«

Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten. Die Küche war überheizt und die Fenster beschlagen, weil Mum, die ständig fror, immer die Heizung hochjagte. Am ganzen Körper zitternd stapfte ich in den Raum.

Bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte, heulte ich los.

»Das war keine Absicht. Das war keine Absicht! Ich hatte ihr gesagt, sie soll bleiben, wo sie ist, aber sie …«

»Mach nicht Cassiedafür verantwortlich. Wage es ja nicht, sie dafür verantwortlich zu machen!« Mum schrie jetzt auch. Sie wollte mir die Hand auf die Schulter legen, aber ich wehrte sie ab. Die Vorstellung, dass mich jemand anfasste, war unerträglich, weil der Schmerz jedes Fleckchen meines Selbst durchbohrt und dabei auch die Haut verletzt zu haben schien.

Dad rührte sich nicht. Er war in seiner Ecke erstarrt. Seine Hände klammerten sich an die Arbeitsplatte, als müsse er sich mühsam zusammenreißen.

»Wo warst du?«, schrie ich ihn an.

Er sagte keinen Ton.

»Es war nicht ihr Fehler«, wiederholte meine Mutter immer und immer wieder. »Nicht ihr Fehler. Sie ist alles, was uns noch bleibt.«

Dad und ich starrten uns an. Mein Atem ging heftig, und bei jeder Bewegung hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Natürlich war es mein Fehler. Selbst Dad dachte das. Und obwohl Mum es nicht laut aussprach, wusste ich, dass es nur einen Grund dafür geben konnte – dass sie dann nämlich Dad hätte zustimmen müssen.

Ich hatte das Gefühl, immer hohler und gleichzeitig immer schwerer zu werden, als ich die Küche verließ und mich in mein Zimmer hinaufschlich, mein Magen in Aufruhr.

Dad hatte die Frage nicht beantwortet. Wo ist er gewesen? Hätte er Olive tatsächlich etwas antun können? Bei der Arbeit, wie behauptet, ist er jedenfalls nicht gewesen. Das hatte die Polizei uns erzählt.

Als ich Dads Namen in mein Tagebuch schrieb, wusste ich, dass die Dinge nie wieder sein würden wie zuvor. Er wusste es auch. Er hat den Zweifel in meinem Gesicht gesehen. Keine Worte konnten wiedergutmachen, was zwischen uns geschehen ist, zerbrochen, zersplittert – nicht einmal nachdem die Polizei ihn später von jedem Verdacht freigesprochen hat. Es ging nicht um Wahrheit, es ging um Schuld. Ich fühlte mich schuldig, weil ich Olive verloren hatte, und er fühlte sich aus demselben Grund schuldig.

Dann zog er aus. Es war das letzte Mal, dass Mum sich für mich eingesetzt hat – oder überhaupt irgendetwas getan hat, das man als warmherzig oder leidenschaftlich oder sonst irgendwie anteilnehmend bezeichnen könnte.

Mein Mund war trocken geworden. Angewidert spülte ich meine Zähne mit kaltem Tee und bemerkte plötzlich, dass ich in dem Karton nach einer Art Bestätigung suchte – einer Bestätigung für das Funktionieren meiner Instinkte. Lange vor Mum hatte ich gewusst, dass bei Dad irgendetwas nicht stimmte. Ich hatte gewusst, dass er nicht die Wahrheit darüber sagte, wo er gewesen war und was er an den Tagen getan hatte, an denen er angeblich arbeitete. Bereits vor Olives Verschwinden war das so, aber ich hatte nie auf mein Bauchgefühl gehört. Tatsächlich hatte ich mir sogar alle Mühe gegeben, so zu tun, als hätte ich nichts bemerkt.

Selbst wenn er Olive nichts angetan hat, war Dad schuldig, weil er gelogen hat. Und die Gefühle, die ich meinem eigenen Vater entgegenbrachte, waren dieselben, die ich empfand, wenn ich das Bild von Grace Butlers Stiefvater betrachtete.

Er hatte ein Geheimnis.

Plötzlich wusste ich, dass Henry recht hatte. Es war zu spät, um so zu tun, als hätte ich an Grace’ Verschwinden kein Interesse. Natürlich war ich interessiert. Eine gute Geschichte konnte ich nicht an mir vorbeiziehen lassen, ohne wenigstens einen Blick darauf zu werfen, besonders in einem solchen Fall. Außerdem konnte ich von dem Geld, das Grandad mir hinterlassen hatte, nicht ewig leben.

Und das hieß, verdammt noch mal, dass ich mit jemandem über einen Auftrag reden musste.

Marions Haus war fast identisch mit dem von Gran, bis hin zu der Trockensteinmauer um den Vorgarten und die Spitzenvorhänge im Fenster. Sie hat es von ihrem Vater geerbt, und es sah nicht so aus, als hätte sie viel verändert.

Ich saß ein paar Minuten im Wagen und versuchte, all meinen Mut zusammenzunehmen, um zu dieser Tür zu gehen und zu klopfen. Den ganzen Tag hatte ich diesen Besuch schon vor mir hergeschoben. Ich fühlte mich wieder wie ein Teenager; meine Hände schwitzten, und mein Herz raste. Es war drei Jahre her, dass ich Marion zum letzten Mal gesehen habe – wirklich physisch gesehen –, und eigentlich war mir selbst nicht klar, warum ich so lange gewartet habe.

Gerade als ich mich aufgerafft hatte, aus dem Wagen zu steigen, ging die Haustür auf. Ein dunkelhäutiger Mann in Anzug und einem schicken weißen Hemd trat heraus. Die rote Krawatte flatterte im Wind. Ich sah, wie sich eine Hand durch die offene Tür streckte – Marions – und seine Schulter drückte. Dann schritt er durch die Einfahrt und kam an meinem Wagen vorbei.

Ich redete mir ein, dass das nichts zu heißen hatte – dass er vermutlich ein Kollege war. Außerdem hatte ich sowieso nicht das Recht, empört zu sein, da ich mich schon seit Jahren nicht mehr gemeldet hatte. Aber der Anblick, wie Marion jemanden so vertraulich berührte, schlug mir doch auf den Magen. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war nicht die Rede von jemandem gewesen. Wollte sie ihn mir verheimlichen? War sie verlegen? Oder hatte sie Angst, dass ich ihr die Sache vermasseln könnte?

Als ich schließlich vor der Haustür stand, war ich so überdreht, dass ich alles vergessen hatte, was ich sagen wollte. Ich hatte auch keine Zeit, mich zu sammeln, denn plötzlich riss sie die Tür weit auf und stand vor mir, ein leises Lächeln im Gesicht.

Gut sah sie aus. Sehr gut. Das schwarze Haar war zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst, und ihr Pony war ein winziges Stück zu lang. Vermutlich war sie erst seit einer Stunde von der Arbeit zurück und hatte mit ihm einen Drink genommen. Sie hatte eine zerknitterte weiße Bluse und eine schwarze Hose an. Mir fiel auf, dass sie immer noch die Kette trug, die ich ihr geschenkt hatte: eine kleine goldene Eichel – ein Amulett, das in der nordischen Folklore für Glück und Schutz stand, da die Eiche gegen Blitze und Thors Zorn immun war. Ich glaubte nicht an einen solchen Unsinn, aber Marion war schon zu lang in Bishop’s Green. Der schwachsinnige Aberglaube der Stadt ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen.

Das letzte Mal habe ich Marion bei der Beerdigung ihres Vaters gesehen, für die ich extra in die Stadt gekommen bin. Wir waren beide hochemotional. Außer ihrem Vater hatte Marion keine Familie, und ich hatte mich gerade heftig mit Helen gestritten und war für niemanden eine große Hilfe, geschweige denn für jemanden in tiefer Trauer.

Wir hatten nicht wirklich eine Auseinandersetzung, aber ich habe im Pub nach dem Trauergottesdienst zu viel getrunken und musste in ihrer Küche schließlich kotzen, was vermutlich der Tiefpunkt jenes Jahres war – obwohl es weder das erste und noch das letzte Mal war, dass ich zu viel getrunken hatte. Danach blieben wir über E-Mail in Kontakt und riefen uns immer noch regelmäßig an, aber ich wurde vorsichtiger. Ich wollte ihr wenigstens den Anblick ersparen, wie ich etwas derart Törichtes tat.

Jetzt registrierte ich überrascht die Fältchen, die sich in ihre Augenwinkel geschlichen hatten. Irgendwie ließen sie sie vornehmer und ernster erscheinen.

»Hallo, Cassie«, sagte sie schlicht.

Eine Welle der Wärme durchdrang mich, dann Scham. Ich war immer noch ein Wrack, wenngleich ein nüchternes, während Marion eine tadellose Erscheinung war. Hohe Wangenknochen, kräftiger Kiefer, perfekt gezupfte Augenbrauen. Sie war von fast katzenhafter Eleganz, und ihre strahlend blauen Augen mit dem Ring aus stählernem Grau blitzten freundlich.

»Dein Pony ist zu lang.«

Das war das Erste, was mir in den Sinn kam. Marion griff sich unsicher in die Haare, lächelte aber weiter.

Drei Jahre. Drei Jahre lang eierten wir schon um das Thema herum, ob ich mal wieder zu Besuch in die Stadt kommen sollte. Ich habe es nie getan. Aber da war ich nun, ohne Vorwarnung, nur ein paar Straßen weiter wohnend, genau wie damals, als wir noch Kinder waren. Marion wirkte nicht überrascht.

»Möchtest du hereinkommen?«, fragte sie.

Auf gar keinen Fall. Mein Herz klopfte wild, und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Gleichzeitig wollte ich nichts lieber als das. Also nickte ich, folgte ihr hinein und versuchte, nicht an den Mann zu denken, den ich aus ihrem Haus hatte kommen sehen. Ich konnte mir Marion nicht mit einem Freund vorstellen. Mir war schon klar, dass sich die Menschen änderten, aber sie hatte sich nie sonderlich für Männer interessiert. Besonders nicht für die geschniegelten. Und mit Kollegen oder Anzugträgern hat sie sich nie abgegeben.

»Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich den Mut aufbringst.« Ihre Lippen zuckten, als sie mich in ihr dunkles Wohnzimmer führte. »Nur sechs Wochen musste ich warten. Letzten Monat habe ich dich mit deiner Großmutter beim Wohltätigkeitsempfang der Polizei gesehen.«

Ich mied ihren Blick. Mir war gar nicht klar, dass sie mich gesehen hat. Ich hatte mir alle Mühe gegeben, mich unauffällig zu verhalten, und mein Herz hatte wie das eines nervösen Teenagers gepocht. Jetzt versuchte ich, nicht allzu albern dreinzuschauen, aber die Hitze in meinen Wangen verriet meine Verlegenheit.

»Tut mir leid«, sagte ich.

Marion zuckte mit den Schultern.

»Mir tut es leid, dass ich nicht zur Beerdigung deines Großvaters kommen konnte«, sagte sie. »Ich weiß, dass er dir viel bedeutet hat. Andererseits hatte ich nicht das Gefühl, dass ich einfach so dort aufkreuzen sollte.«

Nun war es an mir, mit den Schultern zu zucken. Ich hatte auch nicht mit ihr gerechnet. Ich hatte ihr nicht Bescheid gesagt, und obwohl sie das Datum hätte herausfinden können, war ich nicht überrascht, dass sie nicht dort war. Jetzt wusste ich selbst nicht mehr, warum ich sie nicht informiert hatte.

»Ist schon in Ordnung«, sagte ich.

Das Wohnzimmer war überfüllt mit Reiseandenken ihres Vaters. Auf dem Kaminsims stand eine Miniatur-Freiheitsstatue mit einer Fackel, deren Flamme in allen Farben des Regenbogens leuchtete, daneben eine Schneekugel aus Cornwall mit zwei vollbusigen Damen an einem Strand. Und jede freie Fläche wurde von Elefanten eingenommen: Statuen, Kissen mit gestickten Elefanten, künstlerische Fotos von badenden Elefanten und sogar eine kleine Plakette über der Tür. Elefanten. Mehr Elefanten, als man eigentlich in einem einzigen Raum unterbringen konnte. Sie symbolisierten Weisheit, Kraft und Treue – und Unsterblichkeit. Nichts davon traf auf Marions Vater zu.

Marion bemerkte meinen Blick.

»Für den Hindu-Gott Ganesha«, sagte sie. »Den Überwinder von Hindernissen.« Sie zeigte auf das Sofa. »Das Wasser hat gerade eben gekocht. Setz dich, dann bringe ich dir einen Tee.«

Ich ließ mich aufs Sofa sinken und steckte die Hände zwischen die Knie, verärgert über meine Befangenheit. Es war ja nicht so, als würden wir uns nicht kennen. Oft habe ich sogar gedacht, dass ich Marion besser kenne als mich selbst. Aber unsere Freundschaft war so lange aufs Virtuelle beschränkt gewesen: E-Mails, SMS, Telefonate. Das war kein Ersatz für persönliche Treffen.

Ich dachte an jene Sommer in Bishop’s Green zurück, die langen Wochen mit Marion, die wir in den Feldern verbracht haben oder in Earl’s Café, wo wir billige heiße Schokolade oder Sundaes bestellten. Für Olive und mich ist es ein alljährliches Ritual gewesen: der Sommer in Bishop’s Green bei unseren Großeltern, während Mum und Dad zu Hause blieben, um zu arbeiten. Wir liebten das – die Freiheit und das Gefühl, am Meer zu sein, weil dieses von Land umschlossene Städtchen mit seinen Spielautomaten und den Eisläden im Zentrum alle möglichen Vergnügungen bot. Dann diese Obsession mit den Symbolen für Glück und Wohlstand. Außerdem die Tatsache, dass man in weniger als einer Stunde fast alles zu Fuß erreichen konnte.

Und schließlich Marion, die Tochter des Polizisten, die alle Abkürzungen kannte und wusste, wo man billige Bonbons in großen Papiertüten bekam und an welchen Spielautomaten man die besten Gewinnchancen hatte. Sie wusste immer, in welchen Kaufhäusern gerade Schlussverkauf, welche Boutique angesagt war und in welche Filmvorführung wir uns unbemerkt schleichen konnten.

Sie war das hübscheste Mädchen, dem ich je begegnet bin.

Als Marion in den Raum zurückkehrte, fuhr ich zusammen. Sie hatte zwei Tassen in der Hand, von denen sie mir eine reichte. Ich wollte, es wäre keine Zeit vergangen, wollte, wir könnten unbefangen miteinander plaudern, aber es lagen zu viele Jahre dazwischen.

»Ich wusste, dass du kommst, wenn ich nur lang genug warte. Auf meine E-Mails hast du ja nicht reagiert.«

Das stimmte. Seit ich in die Stadt gezogen bin, habe ich alles, was nicht dringend war, aufgeschoben. Ich habe mir eingeredet, dass es an Gran lag und ich zu viel zu tun hatte, aber das war nicht richtig. Tatsächlich hatte ich sogar eine Menge Zeit.

»Ich bin auf dem Selbstverwirklichungstrip«, sagte ich. »Weniger Technik. Mehr … Zen.«

Marion lachte. »Kapiere. Da kann ich natürlich nur ein Störfaktor sein.« Sie kniff die Augen zusammen. »Du siehst müde aus. Hat es mit … Helen zu tun? Ich erinnere mich noch, dass du ein wenig bedrückt warst, als wir zum letzten Mal telefoniert haben.«

Ich zuckte mit den Schultern. Sie meinte es natürlich nicht böse, aber sie wollte mich daran erinnern, dass unser letztes Gespräch schon viele Wochen her war. Und dass ich auf ihre Kontaktversuche nicht reagiert habe, seit ich ihr erzählte, dass ich mich mit dem Gedanken trage, nach Bishop’s Green zu ziehen. Offenbar hat sie auf mich gewartet.

»Nein«, sagte ich bestimmt, »ich habe nicht mehr mit Helen gesprochen, seit ich ausgezogen bin. Das ist vorbei. Mehr als vorbei. Es ist einfach wegen Gran. Ich bemühe mich, die Pflegesituation zu verbessern. Grandad hat so viel für sie getan, aber es ist furchtbar anstrengend.«

Marion stellte ihre Teetasse ab. Mein Herz geriet ins Straucheln, als ich dachte, sie würde vielleicht den Arm ausstrecken und mich berühren. Aber sie rückte nur ein paar Zeitschriften auf dem Couchtisch zurecht. Ich atmete aus.

»Das tut mir leid«, sagte Marion. »Hättest du etwas gesagt, hätte ich dir doch helfen können, wie auch immer. Aber ich bin froh, dass du doch noch gekommen bist.«

»Hast du mich vermisst?«

»Ich habe es vermisst, keinen Vorwand mehr zu haben, bei der Arbeit meine E-Mails zu kontrollieren.« Wieder lächelte sie. »Aber egal, ich habe das Gefühl, dass du nicht nur hier bist, um mich zu sehen. Was hat dich aus deinem Loch gelockt?«

Ich wollte es schon leugnen, aber das war zwecklos. Selbst nach all der Zeit würde sie es durchschauen. Ich bin nie eine überzeugende Lügnerin gewesen.

»Grace Butler«, sagte ich. Marion zuckte nicht wirklich zusammen, aber irgendetwas an ihrer Körpersprache veränderte sich. Trotz ihrer Plänkeleien erkannte ich, dass meine Anwesenheit sie nicht kaltließ. Und jetzt brachte ich auch noch das vermisste Kind ins Spiel. Aber da ich nun einmal davon angefangen hatte, fuhr ich fort: »Sie ist schon ein paar Tage vermisst, nicht wahr? Ich wollte dich nicht damit behelligen … aber dann sah ich, dass sie genauso alt ist wie Olive damals … Egal, mein Interesse war jedenfalls geweckt.«

»Du weißt, dass ich nicht darüber sprechen darf, Cassie, nicht einmal mit dir. Ich könnte mir eine Menge Ärger einhandeln.«

»Ich bin einfach ein bisschen aufgewühlt, keine Ahnung. Mir kam die Idee, dass ich etwas darüber schreiben könnte. Die Sache mit Gran und dann die Sonnenfinsternis in ein paar Tagen … das macht mich einfach nervös. Ich meine, sie suchen im See. Das ist doch eine große Sache.«

Ich dachte an die Eltern des armen Mädchens, die das alles mit ansehen mussten und keine Möglichkeiten hatten, es aufzuhalten oder mitzuhelfen. Ich spürte, wie sich mein Inneres verkrampfte, wie immer wenn ich an die Familien dachte.

»Habt ihr irgendeine Spur?«, fragte ich.

Marion seufzte und schüttelte den Kopf. »Sie ist schon zwei Tage fort, aber wir haben nichts in der Hand. Es gab etliche Spuren, die liefen jedoch alle ins Leere. Viele Menschen wollen helfen und organisieren Suchaktionen, aber wir müssen das Schlimmste fürchten, während wir auf das Beste hoffen. Du hast mit hinreichend vielen betroffenen Familien gesprochen, um zu wissen, wie das läuft.«

Wieder atmete Marion aus. Ihre Knöchel traten weiß hervor, weil sie sich so fest an ihre Tasse klammerte. Ich wollte mich erheben.

»Tut mir leid, ich gehe dann mal. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Mir ist klar, dass es noch zu früh ist.«

»Nein, Cassie, warte.« Marion tat nichts, um mich aufzuhalten, aber ich hörte die Dringlichkeit in ihrer Stimme. Als ich sie anblickte, sah ich eine gewisse Unentschlossenheit in ihrer Miene. »Mir ist schon klar, dass es hart für dich ist. Ich habe in letzter Zeit auch oft an Olive gedacht, besonders wegen der Sonnenfinsternis. Aber hältst du das wirklich für klug? Grace Butler ist nicht deine Schwester. Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn du die beiden Fälle miteinander …«

Ich gab mir Mühe, gegen meine Enttäuschung anzukämpfen.

»Nun komm schon, Marion«, sagte ich. »Du kennst mich doch. Die Menschen brauchen den persönlichen Bezug. Sie wollen sich fühlen, als würden sie die Beteiligten kennen. Die Familie. Die Polizisten. Die Menschen da draußen, die euch bei der Suche helfen, wollen wissen, wem sie helfen. Alles, worum ich dich bitte, sind ein paar Informationen. Und ich bin eine verdammt gute Journalistin.«

Je länger ich auf Marion einredete, desto klarer wurde mir, dass ich es tun wollte. Dass ich mein Leben zurückhaben wollte. Meinen Ruf und meine Lebensgrundlage. Dass ich bei der Suche nach diesem kleinen Mädchen helfen und sie nach Hause bringen wollte.

»Wenn ich dir nicht helfe, wirst du trotzdem an der Sache dranbleiben, oder?«, fragte Marion.

Ich rang mir ein Grinsen ab. »Ja.«

»Hör zu … vielleicht kann ich bei der Familie ein gutes Wort für dich einlegen. Nur ein Vorschlag. Sie reden nicht mit vielen Journalisten, aber ich weiß, dass sie jemanden suchen, der etwas über die Sache schreibt. In diese Seite der Geschichte wollte ich mich eigentlich nicht einmischen, aber vielleicht kann ich für eine verdammt gute Journalistin eine Ausnahme machen.«

Dieses Mal war mein Lächeln echt. Ich bewunderte Marions Zähigkeit und Kraft und gab mir Mühe, sie nicht länger als nötig anzuschauen. Es wäre auch nicht schlecht, einen Vorwand zu haben, um sie wiederzusehen.

»Sei aber vorsichtig, ja? Das ist eine sensible Angelegenheit. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, wie die Dinge hier laufen … Wir sind hier nicht in London. Die Menschen sind zart besaitet. Sie wollen nicht, dass Leute von außen hier herumschnüffeln. Warte einfach, bis ich dir dieses Interview verschafft habe, ja?«

Ich nickte, obwohl ich nicht ihrer Meinung war. Natürlich waren wir hier nicht in London, aber die Menschen waren nicht zart besaitet, so viel hatte ich von Olives Verschwinden noch in Erinnerung. Sie mochten zurückhaltender sein als Stadtmenschen, aber sie würden ihre Angehörigen mit Zähnen und Klauen verteidigen, um ihre Geheimnisse zu bewahren. Selbst wenn das bedeutete, dass noch ein kleines Mädchen nie mehr nach Hause zurückkehrte.

3

Dienstag, den 17. März 2015

Am nächsten Morgen ging ich zu Adys Eckladen am Chestnut Circle. Er lag nicht weit weg vom Haus meiner Großmutter. Die Preise waren etwas höher, aber man musste nie anstehen, und Ady hielt seinen Laden stets makellos sauber. Außerdem musste ich immer an meinen Grandad denken, der geschworen hatte, dass die Zigaretten hinter Adys Schalter besser seien als die sämtlicher Supermärkte im Umkreis von zehn Meilen.

Ady hatte gerade erst geöffnet, als ich eintrat, und wirkte noch ziemlich verschlafen. Seine braunen Locken waren zerzaust, und die Haut an seinen Augen kräuselte sich. Soeben steckte er Flugblätter an die Pinnwand hinter der Kasse, wo seine Tochter mit einem Ausmalbuch saß. Ady erlaubte es ihr noch nicht, ein eigenes Handy zu besitzen. Sie hatte gerade erst die Grundschule verlassen, und ihre altmodische Kreativität hatte etwas Erfrischendes gegenüber dem ewigen geistlosen Scrollen.