Schattenmuster - Peter Schwendele - E-Book

Schattenmuster E-Book

Peter Schwendele

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Beschreibung

Der Ulmer Remo Lokinger, dessen Familie eine traditionsreiche Textilfirma betreibt, ist spurlos verschwunden. Die junge Kommissarin Zita Gehring übernimmt den Fall und taucht bei den Ermittlungen in die Welt skrupelloser Geschäftemacher und globalisierungskritischer Aktivisten ein. Je mehr Einblicke die Kommissarin in die erschreckenden Verhältnisse der Textilindustrie gewinnt, umso klarer wird ihr, dass auch die Weste des erfolgreichen Ulmer Modeunternehmens Lokinger alles andere als blütenweiß ist.

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Peter Schwendele

Schattenmuster

Ulm-Krimi

Zum Buch

Schmutzige Deals Die junge Ulmer Kommissarin Zita Gehring untersucht das mysteriöse Verschwinden von Remo Lokinger. Dessen Familie betreibt in Ulm eine traditionsreiche, aber auf dem umkämpften Modemarkt ins Schlingern geratene Textilfirma. Während Zita auf ihre oft ungestüme, emotionale Art versucht, hinter die Kulissen des Unternehmens zu blicken und die Beziehungen innerhalb der gut situierten Familie zu durchleuchten, knüpft sie gleichzeitig Kontakte zu einer globalisierungskritischen Gruppierung. Diese verschafft ihr Einblicke in die brutale Wirklichkeit der Textilindustrie. Als sich die Situation zuspitzt und die Suche nach dem Verschwundenen Opfer fordert, muss Zita feststellen, dass manche Fäden auf unerwartete Art und Weise miteinander verknüpft und einige alte Rechnungen offenbar noch lange nicht beglichen sind.

Peter Schwendele wurde 1965 in Ehingen an der Donau geboren und ist in Munderkingen aufgewachsen. Nach dem Abitur in Ulm studierte er in Freiburg im Breisgau Politik, Geschichte und Soziologie. Er lebt im südbadischen Schopfheim und arbeitet dort hauptberuflich als Journalist bei der Tageszeitung »Markgräfler Tagblatt«. Seit mehr als zehn Jahren widmet er sich in seinen freien Stunden dem literarischen Schreiben. Eine Vielzahl seiner Kurzgeschichten und Erzählungen sind in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen. 2018 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Mehr über den Autor unter: www.peterschwendele.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Efraimstochter / pixabay

ISBN 978-3-8392-7164-3

1.

Die Gerüche holten ihn zurück in die Wirklichkeit. Sie schienen von weit her zu kommen, und doch schoben sie sich nach vorne in sein langsam wiederkehrendes Bewusstsein. Es roch wie in den Sweatshops in Dhaka, in denen die Akkordarbeit Berge von neuen Kleidungsstücken in die Höhe wachsen ließ, die das spezielle chemiegeschwängerte Gemisch aus Farbstoffen und Weichmachern verströmten. In die Dunkelheit hinter seinen Augenlidern drängten sich verschwommene Bilder von den jungen Frauen, die mit gebeugten Rücken und erschöpften Gesichtern an den Nähmaschinen saßen, deren endlos scheinende Reihen sich Schlucht um Schlucht durch die niedrigen, schlecht beleuchteten Fabrikhallen zogen.

Dann dämmerte ihm, dass das, was seinen Geruchssinn zum Leben erweckt hatte, auf eine viel tiefer liegende Erinnerung zurückging. Eine Erinnerung, die ihn in seine Kindheit führte, an Momente, die er jahrzehntelang verdrängt hatte, an Besuche in den heiligen Hallen, in denen damals noch all die Kleidungsstücke mit dem geschwungenen L produziert wurden, an den typischen strengen Textilmief, der durch die Shedbauten im Ulmer Gewerbegebiet Donautal wehte und der sich im Lauf der Jahre in die Mauern gefressen hatte.

Er erinnerte sich an das Antreten bei Vater und Mutter, die mitten unter ihren Arbeitern waren, die Stoffbahnen und Muster kritisch beäugten, und die ihm in die Augen sahen und mit ernstem Gesicht und weit ausholenden Bewegungen erklärten, dass sie all das mit nimmermüdem Einsatz und unerschöpflicher Energie aufgebaut hatten.

Diese unerwartete Reminiszenz zwang ihn förmlich dazu, die Augen zu öffnen, so viel Kraft es ihn auch kostete. Seine Lider flatterten, und deutlich zu erkennen war in dem fast unbeleuchteten Raum ohnehin nichts. Doch schon der erste, noch nebeldurchzogene Blick machte ihm klar: Er kannte diesen Ort tatsächlich. Er war ihm einst als eine Art Heimat versprochen worden.

Aber wie war er hierhergekommen?

Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Kopf funktionierte nicht, er fühlte sich an wie ein im Ausguss eines Spülbeckens steckender Gummipfropfen. Er tastete seinen Körper ab, fingerte an der Schaumstoffmatte entlang, auf der er lag; sein Smartphone war weg. Jetzt nahm er den stechenden Geruch wahr, der an ihm selbst klebte. Getrockneter Schweiß. Er richtete sich halb auf, blickte an sich hinunter: der Jogginganzug, die Laufschuhe.

Dann brach die Erinnerung über ihn herein, und mit ihr flutete Adrenalin seinen Körper. Plötzlich sah er wieder vor sich, wie die beiden Männer im Morgennebel aus dem Gebüsch am Ufer der Donau auf ihn zustürzten. Sie trugen merkwürdige Masken, und bevor er reagieren konnte, packten sie ihn, rissen ihn zu Boden, und während der eine ihn mit kräftigen Händen festhielt, drückte ihm der andere grob ein feuchtes Tuch ins Gesicht. Die Flüssigkeit, mit der der Stoff getränkt war, raubte ihm den Atem und ließ alles ins Dunkel fließen. Der Schock, als die Szene erneut an ihm vorbeizog, klang nur langsam wieder ab.

Er fröstelte. Doch das Zittern seines Körpers kam von der Angst, die mit ihm hier in diesem Raum war. Und da war noch etwas, das ihm zu schaffen machte: Es gab etwas, das er tun musste, etwas Wichtiges, das er sich vorgenommen hatte, aber er kam nicht drauf, was es war. Diese verdammte Watte im Gehirn. Sicher war nur: Solange er hier drinnen gefangen war, hatte er keine Chance, was auch immer zu erledigen.

War er gefangen? Der unvermutete Gedanke, dass womöglich alles nur ein schlechter Scherz war, brachte ihn auf die Füße. Er sah sich um, versuchte sich zu orientieren. Der Raum war vielleicht zehn auf zehn Meter groß, von weit oben tröpfelte aus einer einzigen, mit Fliegendreck verschmierten Leuchtstoffröhre diffuses Licht herunter. An drei Wänden zogen sich schwere, zerfurchte Werkbänke aus schwarzbraunem Holz entlang, auf denen jahrzehntelang Material geschnitten worden war. In den Ecken lagen Haufen bunter Stoffreste; offenbar hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie wegzuräumen, als die Produktion eingestellt wurde.

Hastig stolperte er zu der einzigen Tür des Zimmers. Natürlich verschlossen und so massiv, dass es vollkommen illusorisch war, sie mit reiner Körperkraft aufzudrücken. Rechts und links davon befanden sich auf Brusthöhe schwere Plexiglasscheiben, tausendfach zerkratzt, fast blind. Er hämmerte mit den Fäusten dagegen, zwei, drei Minuten lang, bis sein dumpfes, ansonsten völlig wirkungsloses Getrommel seinen eigenen Kopf wieder zurück in den schwindeltreibenden Zustand gehetzt hatte, der klares Denken unmöglich machte. Er lehnte die Stirn gegen das Plastik, bis sich sein Atem wieder beruhigt hatte. Dann spähte er durch die von wirren, grauweißen Linien durchzogene Scheibe, hinter der sich eine verlassene, lang gestreckte Fabrikhalle in die Ferne zog, wo sie wie in einem künstlichen Dunst zerfloss. Aus den versetzt eingebauten Luken des Sheddachs fielen unregelmäßige, kleine Lichtpunkte, die es kaum bis zum schmutzig-grauen Betonboden schafften. Alles schien unwirklich, aber zumindest konnte er ahnen, dass draußen heller Tag sein musste.

Er schloss die Augen, dachte an den Bussard, den er beobachtet hatte, bevor er am frühen Morgen losgelaufen war, bevor dieser Albtraum begonnen hatte. Unter einem weißen, wolkenbedeckten Himmel zog der Vogel majestätisch seine Kreise. Immer schon hatte er diese Tiere beneidet um ihre Freiheit – und weiß Gott darum gekämpft, sich selbst freizumachen von den Zwängen, die ihn umgaben. Er war den harten Weg gegangen, er hatte sich gewehrt. Gegen das privilegierte Leben seiner Familie, gegen die Unternehmer-Aura, gegen das Reichen-Getue, gegen die Arroganz, das Erfolgsdenken, die Lieblosigkeit. Er hatte gekämpft und oft genug blind um sich geschlagen. Aber jetzt war ihm klar geworden, was wirklich wichtig war, welchen Weg er gehen musste. Oder? Er versuchte, den Gedanken festzuhalten. Ja, jetzt lichtete sich der Nebel in seinem Kopf. Er wusste wieder, was er zu tun hatte: alles neu aufbauen, die Auswüchse stoppen. Er musste raus hier.

Welche Ironie des Schicksals! Ausgerechnet jetzt, wo er endlich seinen Weg gefunden hatte, wo er erkannt hatte, was für ihn richtig und was falsch war, saß er in diesem Loch fest. In diesem vergessenen alten Bau. In dieser verfluchten Stille, die einen wahnsinnig machen konnte. Er ballte die Fäuste und drückte sie gegen die Stirn, stieß einen lang gezogenen Schrei aus.

Minutenlang spürte er der Leere nach, die alles war, was seine Verzweiflung hervorgebracht hatte. Dann ließ er sich wieder auf die Matte fallen, kauerte sich zusammen und begann zu schluchzen. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt. Abgesehen natürlich von den Zeiten in der Drogenhölle, die er mehr als einmal in alle Richtungen durchstreift hatte. Aber daran wollte er jetzt nicht denken, daran wollte er nie mehr denken. Zu sehr fürchtete er sich davor, dass dann wieder der kleine Junge aus einer dunklen Ecke hervorkommen würde, der Junge, der im Schrank gesessen hatte, zitternd. Der den Mund halten musste. Der alles tat, was man von ihm verlangte, weil er dazugehören wollte.

Die Angst kroch tiefer in ihn hinein. Was sollte das hier bloß werden, was hatten diese Typen mit ihm vor? Er hoffte, dass es keine Verrückten waren, dass sie einfach nur Lösegeld fordern würden. Es ging doch immer ums Geld in dieser Welt. Die Lokingers waren eine große Nummer in Ulm, jeder wusste das. Besaßen einen der größten Betriebe der ganzen Stadt. Politiklenker. Kulturförderer. Zahlen würden sie ganz sicher, da hatte er keine Zweifel. Mutter sorgte sich neuerdings so sehr um ihn, machte regelmäßig einen Aufstand, wenn er sich länger nicht meldete, so als fühlte sie sich am Ende doch noch für ihn verantwortlich, nachdem sie jahrzehntelang dem Unternehmen, dem Lebenswerk des Vaters, den Vorzug eingeräumt hatte.

Er kam wieder hoch, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er musste sich zusammenreißen. Dass ihn jemand hier finden würde, konnte er wohl ausschließen. Vermutlich würde ihn so schnell nicht einmal jemand suchen. Zu sehr lebte er sein eigenes, von Regeln befreites Leben.

Er fing an, die Stoffreste zu durchwühlen, in der vergeblichen Hoffnung, irgendetwas zu finden, das er als Werkzeug, im Notfall vielleicht sogar als Waffe gebrauchen konnte, falls sich die Männer, die ihn entführt hatten, jemals hier blicken lassen sollten.

Plötzlich stutzte er, registrierte das niedrige Tischchen in der hintersten Ecke. Lag dort ein Buch? Tatsächlich. Er nahm es in die Hand, kniff die Augen zusammen, las: »Grabgesang für den Globalkapitalismus« von Sibylle Reinhardt. Was war das für ein Spiel? Wollte ihn hier jemand in Grund und Boden verarschen? Er drehte den Wälzer um, ernst blickte ihm Sibylle vom Einband her entgegen, kaum gealtert, anziehend wie eh und je, aber die Schönheit wie immer ganz in den Dienst der Sache stellend. Er atmete schwer, fast hätte er das Buch an seine Brust gedrückt, weil es ihm für eine Sekunde als ein kleines Stück Vertrautheit in seiner verloren gegangenen Existenz erschien. Ach, Sibylle. Auch sie hatte er vertrieben aus seinem Leben, wie so viele andere.

Remo Lokinger runzelte die Stirn, als er sah, dass auf dem Tischchen auch ein paar Blätter liniertes Papier und ein Bleistift lagen. Was wollten diese Leute von ihm? Um was ging es hier? Wollten sie ihn belehren? Bekehren? Wenn ja, dann waren sie zu spät dran.

Wut stieg in ihm hoch. Denn es gab andere, die in diesem Loch sitzen, die Bücher wie dieses lesen, die endlich umdenken sollten.

Sie hatten definitiv den Falschen erwischt.

2.

Halb Ulm schien sich verabschieden zu wollen. Vom oberen Teil des Hangs wirkten die zusammengedrängten Regenschirme, gehalten von den klammen Händen der Trauergäste aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Justiz, Medien und Polizeiwesen, wie eine riesige Patchworkdecke, die um das frisch ausgehobene Grab gelegt worden war. Die Weiden ließen ihre Arme noch tiefer und trauriger hängen als sonst. Irgendwo in der Nähe sang ein Vogel unverdrossen gegen den nieselnden Oktoberregen an.

Zita Gehring hob die Kapuze ihrer Regenjacke ein wenig und blickte in den diesigen Himmel, der den Hauptfriedhof am Michelsberg unablässig besprühte. Verdammt ungemütlich. Andererseits: Auf Sonnenschein konnte sie an einem solchen Tag gut verzichten.

Die Kommissarin stand am Rand der Menschenmenge und konnte mit Mühe gerade noch verstehen, was der greise Pfarrer, offenbar mit angemessenem Timbre in der Stimme, lobend über ihren verstorbenen Chef zusammentrug. Wie uneigennützig er sich in den Dienst der Gesellschaft gestellt habe, wie vorbildlich sein Leben als Polizist gewesen sei, wie zuverlässig und loyal er gearbeitet und wie motivierend er als Vorgesetzter gewirkt habe. Zita nickte kaum sichtbar. Im Kern stimmte all das vermutlich.

Sie spürte, dass der Verlust von Konrad Vorberg sie stärker mitnahm, als sie bisher zugeben wollte. Zwar hatte sie den Leiter des Dezernats 1 der Ulmer Kripo nicht lange und nicht besonders gut gekannt; die Zusammenarbeit bei ihrem ersten Fall war nicht sehr eng gewesen, da Vorberg bereits im Sommer mit seiner schweren Krebserkrankung gekämpft und sich weitgehend aus dem Alltagsgeschäft zurückgezogen hatte. Doch dass er zuletzt derart rapide an Lebenskraft verloren hatte und ihm nicht einmal mehr die Pensionierung, die zum Jahresende angestanden wäre, vergönnt gewesen war, schockierte sie genauso wie viele andere, die mit dem Mittsechziger zu tun gehabt hatten. Zita empfand das Ganze als Fußtritt des Lebens mitten ins Gesicht dieses Mannes, der ihr sympathisch gewesen war, den sie als eine Art Mentor hatte sehen wollen, den sie gern auch im Ruhestand das eine oder andere Mal um Rat gebeten hätte. Er hatte sie ins Team des Dezernats für Tötungsdelikte geholt, im Frühsommer, als Ersatz für Jenny Nies, trotz ihrer erst 28 Jahre, und ja, sie hatte ihm vertraut. Denn bei Vorberg hatte sie gespürt, dass Erfahrung etwas wert war.

»Konrad Vorberg hatte noch viel vor, aber der Mensch kann sein Leben nicht planen«, sagte der Priester, und Zita stimmte ihm insgeheim zu, ignorierte allerdings den Zusatz, dass das Schicksal aller Sterblichen in Gottes Händen liege. Anstatt langsam unter Vorbergs Anleitung in ihre neue Rolle hineinwachsen zu können, hatte sie es mit Horst Hektor zu tun bekommen, der ihr von Anfang an zu verstehen gab, dass sie im Dezernat 1, das er ganz offensichtlich für das seine hielt, nicht willkommen war. Und an dieser Einstellung hielt er in den vergangenen Wochen und Monaten stur wie ein Maultier fest.

Zita ging naiverweise davon aus, dass sich das nach dem ersten Fall, den sie gemeinsam bearbeiteten, ändern würde, zumal sie, zumindest in ihren eigenen Augen, einen beträchtlichen Anteil daran hatte, dass die verzwickte Geschichte aufgeklärt werden konnte. Hektor dagegen, der ihr als Erster Kriminalhauptkommissar und mit seinem viel größeren Päckchen an Dienstjahren zumindest auf dem Papier übergeordnet war, schien weiterhin nichts anderes zu tun zu haben, als sich permanent über ihre angeblichen Eigenmächtigkeiten aufzuregen. Sicher schwor er sich jeden Morgen, wenn er vor dem Spiegel stand und seinen Henriquatre trimmte, damit der in exakter Passform seinen Mund umspielen konnte, dass er ihr all ihre Eigenheiten, die ihm nicht passten, schon noch austreiben würde. Es war ein offenes Geheimnis, dass er sich schon längst als Vorbergs Nachfolger sah.

Zita spürte, wie die Wut in ihr hochstieg, als sie ihn da vorne stehen sah, hochaufgeschossen, kerzengerade, der Blick eher kalt als ernst oder mitfühlend. Was hatte er denn so direkt beim Grab zu suchen? Er hätte die Hand um die Schulter von Vorbergs Witwe oder auf die Köpfe ihrer Enkel legen können. Dort sollten nur die engsten Freunde des Verstorbenen stehen, dachte Zita, und zu denen hatte er ganz gewiss nicht gehört.

Der Priester schien zum Ende seiner Darlegungen zu kommen. Mit salbungsvollen Worten versuchte er, ein tröstendes Bild über den Regenschleier zu legen. Gott, der Herr, habe seinen Sohn Konrad Vorberg nun aufgenommen ins Himmelreich, wo alle Trauer, alle Schmerzen und alles Leid von ihm genommen werden und er unter der sanft und vertrauensvoll wirkenden Hand des Allmächtigen Ruhe, Frieden, Erlösung und das ewige Leben finde. Wer’s glaubt, dachte Zita, und nicht zum ersten Mal überfiel sie die Erinnerung an den indischen Mystiker Osho, mit dessen Anhängern sie es bei ihrem ersten Fall im Sommer zu tun bekommen hatte. Eine Zeit lang hatte sie östlichen Diesseits- und Jenseitsphilosophien noch nachgespürt, ab und zu sogar zu meditieren versucht. Aber es funktionierte einfach nicht, sie schaffte es so gut wie nie, zur Ruhe zu kommen. Das Ganze passte schlichtweg nicht in ihr Leben.

Schließlich hatte sie das Kapitel endgültig beendet, nach einem spätsommerlichen Abendausflug ins Lautertal. Weiß der Himmel, was sie sich davon versprochen hatte, noch einmal den abgelegenen Schindler-Hof zu besuchen, auf dem die Sannyasins gehaust hatten. Natürlich lag alles vollkommen verlassen da. Den Rest gab ihr eine anschließende Stippvisite im »Adler« in Lauterach, die sie aus unerfindlichen Gründen unternommen hatte. In dem urigen Gasthaus stand tatsächlich Prem Pantha, der junge Sannyasin, der ihr eine Weile schöne Augen gemacht hatte, hinter dem Tresen, zapfte Bier und stellte die Gläser auf das Tablett, das Rosi Dom an ihr ausladendes Dekolleté drückte. Exakt das Bild, das sie auf keinen Fall sehen wollte. Sie machte auf dem Absatz wieder kehrt – und verbrachte einen weiteren unglaublich erheiternden Abend allein in ihrer Bude.

»Was schaust du so verkniffen?«

Zita schob die unschöne Erinnerung abrupt zur Seite. Sie fühlte sich ertappt, obwohl ihr Kollege Claus Benz, der auf sie zugetreten war, ganz sicher nicht die Fähigkeit besaß, in ihren Kopf hineinzuschauen.

»Naja, ist halt kein Freudentag, oder?«, antwortete sie halblaut.

In die Versammlung der Trauergäste kam Bewegung. Die Sargträger traten nach vorne und ließen die sicher sündhaft teure Holzkiste, in der Vorbergs leere Hülle lag, in das dunkle, nasse Loch hinunter. Das Nieseln hatte aufgehört, die Umstehenden klappten ihre Schirme zusammen und machten sich bereit, einer nach dem anderen mit gesenktem Kopf vor das Grab zu treten und eine Schippe Erde auf den Sarg zu werfen. Ein Ritual, auf das Zita keinen Wert legte.

Benz, den alle Welt Daimler nannte, nickte. »Ich kann’s immer noch nicht fassen, wie schnell das alles ging zum Schluss. Ein Scheißleben ist das.«

»Ach, Daimler, wenn selbst du jetzt deinen Optimismus verlierst, kann ich endgültig einpacken. Im Moment würd ich mich sowieso am liebsten ins Bett legen und mir die Decke über den Kopf ziehen.«

»Kann ich verstehen. Aber irgendwie muss es weitergehen. Das ist immer mein nächster Impuls. Wir müssen aus der Sache das Beste machen. So bin ich nun mal gestrickt.«

»Beneidenswert.«

In mancher Hinsicht beneidete sie ihren Kollegen wirklich, vorzugsweise dann, wenn sie selbst einen schlechten Tag und keine Ahnung hatte, wo ihr Platz im Leben war. Um seine Normalität, um seine Bodenständigkeit, um seine unerschütterliche Frohnatur, um sein von vielen Menschen bevölkertes Leben.

»Du, übrigens, ich wollte schon länger mal mit dir über was reden«, sagte Daimler vorsichtig. Er straffte sich, zog den Bauch ein, der Zitas Beobachtung nach in den letzten Wochen noch etwas mehr angewachsen war, und strich sich die dünnen dunkelblonden Haare zurecht. Die Pausbacken waren geröteter als sonst.

»Wahrscheinlich ist jetzt nicht der richtige Moment, aber was soll’s: Es gibt einfach Probleme bei mir in der Familie.«

Zita horchte auf. Das war ja ganz was Neues. Daimler erzählte gern und viel von seiner weit verzweigten Verwandtschaft, die sein eigentlicher Lebensinhalt und sein Anker war, den er offenbar immer auswerfen konnte, wenn es irgendwie stürmisch zu werden drohte. Seine Frau und seine drei Kinder galten ihm alles. Und die ganze große Benz-Sippe kam permanent zusammen, um irgendetwas zu feiern. Von Problemen war in den ganzen Monaten, seit sie ihn kannte, noch nie die Rede gewesen. Sicher gab es manchmal Reibereien, vor allem mit Daimlers vier Geschwistern, aber das ein oder andere, das er Zita erzählt hatte, war von ihr eher als eine Art neckisches Grenzentesten denn als Konflikt verbucht worden. Allermeistens gluckten sie alle aufeinander und erleichterten sich gegenseitig ihre Existenz.

»Tatsächlich. Um was geht’s denn?«

Daimler seufzte. »Ach, Julian macht uns Sorgen, unser Ältester. Er zieht sich total zurück, spricht kaum noch mit uns, außer in den kurzen Momenten, in denen er uns unseren Lebensstil vorwirft, weil wir angeblich den ganzen Planeten zerstören mit unserem Konsumverhalten, unserer ganzen Einstellung, unserer – ich zitiere mal kurz – ›dekadenten westlichen Lebensführung‹. Iris und ich haben natürlich versucht, mit ihm drüber zu reden, aber irgendwie kommt da gar nichts an im Moment.«

»Wie alt ist er noch mal?«, fragte Zita.

»Fast Siebzehneinhalb. Das heißt, wie er mir neulich im Vorbeigehen erklärt hat, dass es nur noch wenige Monate sind, bis ich ihm unwiderruflich und unumkehrbar absolut gar nichts mehr zu sagen habe.«

»Okay, und jetzt willst du, dass ich mal mit ihm rede, weil du keinen Plan hast, was bei ihm abgeht, und zwischen ihm und mir nur in etwa ein mickriges Lebensjahrzehnt liegt, oder wie seh ich das?«

Sie war genervt. Was dachte sich Daimler eigentlich? Dass er und seine Frau die einzigen Eltern auf der Welt waren, bei denen immer alles rundlaufen würde? Hatten sie nie damit gerechnet, dass ihre Kinder auch irgendwann mal pubertieren könnten?

»Nein, natürlich nicht, es ist …« Daimler kniff den Mund zusammen und trippelte nervös auf der Stelle, während die ersten Trauergäste an ihnen vorbei den Ausgang des Friedhofs ansteuerten.

Zita gab ihm die Sekunden, die er brauchte. Sie blickte den Abhang hinunter über Vorbergs frisches Grab, vor dem immer noch eine lange Schlange von Trauernden darauf wartete, der Witwe, dem Sohn und den beiden Enkeln des Verstorbenen ihr Beileid auszusprechen. Ihr Blick blieb an dem kleinen, idyllisch mit Schilfrohr bewachsenen Weiher hängen, der in der Talsenke des weithin gespannten Friedhofsgeländes lag. Drei moosgrün gestrichene Bänke waren um das Gewässer platziert, und auf einer von ihnen saß Hektor, zusammen mit einer älteren, gebeugt wirkenden, aber elegant gekleideten Frau, die auf ihn einredete. Hektor nickte beständig und legte eine für seine Verhältnisse ungewöhnlich geduldige Haltung an den Tag, obwohl er ständig in Gefahr schwebte, von der brennenden Zigarette, die die Dame immer wieder fahrig in seine Richtung schwenkte, angesengt zu werden. Neben den beiden standen ein breitschultriger, etwas fülliger Mann in feinem Zwirn und eine schlanke Frau in schwarzem Kostüm, beide vielleicht Mitte 40. Der Mann wirkte ungeduldig, die Frau legte immer wieder beschwichtigend die Hand auf die Schulter der älteren Dame auf der Bank. Merkwürdige Szene, dachte Zita, was sie wohl von Hektor wollten?

Sie stieß Daimler an und wies nach unten, aber ihr Kollege achtete nicht weiter auf das Grüppchen am Weiher. Er war in seiner Welt und hatte jetzt offensichtlich die Worte gefunden, um sein Anliegen vorzubringen.

»Hör zu, ganz so simpel ist es natürlich nicht. Weißt du, das wirkliche Problem ist, dass Julian seit Neuestem viel Zeit in dieser Antiglobalisierungsszene verbringt. Es gibt da ja diese OzarG-Gruppe in Ulm, da mischt er jetzt mit. Und er lässt sich voll drauf ein, soweit wir das erkennen können.«

»OzarG, klar, hab ich schon mal gehört. Diese Globalisierungskritiker. Wofür steht das noch mal genau?«

»Organisation gegen zerstörerische, ausbeuterische und raubtierkapitalistische Globalisierung.« Daimler seufzte schwer. »Hab ich auswendig gelernt.«

»Ja und?« Zita verstand die Aufregung nicht.

Mit einem Auge verfolgte sie, wie sich Hektor von der eleganten Seniorin verabschiedete. Fast devot reichte er ihr die Hand.

»Das ist doch keine schlechte Sache. Die machen auf die Missstände aufmerksam, die sich in unser System eingeschlichen haben. Sind in den letzten 20 Jahren ziemlich groß geworden. Die sind doch bundesweit organisiert, oder?«

»Stimmt«, meinte Daimler, »aber die einzelnen Gruppen in den Städten agieren meist eigenständig. Sie sind stolz auf ihre dezentrale Struktur und ihre Freiheit. Und über die Ulmer Gruppe ist nicht allzu viel bekannt.«

Zita dämmerte langsam, auf was ihr Kollege zusteuerte. »Daimler, was genau willst du von mir?«

»Na ja, ich hab mich gefragt, ob du dir die Gruppe nicht mal anschauen könntest. Einfach mal reinschnuppern, wie die so drauf sind. Undercover sozusagen. Heute Abend haben sie ihre wöchentliche Plenumssitzung. Ich weiß, es ist kurzfristig …«

»Ich hab heute um sechs Jiu-Jitsu-Stunde.« Zita wendete sich dem Ausgang zu. »Komm, lass uns gehen.«

»Das Plenum fängt erst um halb acht an.« Daimler wirkte fast ein wenig verzweifelt. »Weißt du, Iris liegt mir auch ständig mit dieser Sache in den Ohren. Mütter sind da ja noch ein bisschen extremer als Väter. Sie macht sich einfach Sorgen, wo das hinführen soll. In der Schule ist Julian auch abgesackt.«

Zita musste an sich halten. Klassischer Fall von Elternhysterie, dachte sie. Das Junge wird flügge, verlässt das Nest, und die Alten kriegen Panik. Scheiß Besitzergreifungsmuster! Plötzlich sah sie überhaupt keinen Reiz mehr darin, Daimler um irgendetwas zu beneiden. Dann doch lieber auf eigene Faust die Tage totschlagen. Aber wenn sie ehrlich war, fand sie die abendliche Alternative, nach dem Jiu-Jitsu-Kurs wieder einmal allein nach Hause zu fahren, nicht sonderlich prickelnd.

»Warum soll gerade ich das machen?«, fragte sie und passierte das Drehkreuz am Friedhofstor.

»Zwei Gründe«, sagte Daimler hoffnungsfroh und hob Daumen und Zeigefinger. »Erstens kennt Julian dich nicht. Ganz wichtig. Zweitens, na ja, fällst du vielleicht einfach nicht auf. Ich meine, du bist doch immer so kritisch, beschwerst dich über den ständigen Druck in unserer Gesellschaft, die ewige Profitgier, dieses immer mehr, mehr, mehr.«

»Tu ich das?«

»Immer wieder mal.«

»Es stimmt ja auch. Dieses System ist kaputt. Wir gründen unseren Wohlstand auf das Elend von anderen.«

Sie waren bei ihrem Dienstwagen angekommen, und Daimler fingerte die Autoschlüssel aus seiner Jackentasche. »Das ist jetzt hart gesagt und ein bisschen simpel analysiert. Aber selbst wenn? Was kann man dagegen tun? Ich spende doch jedes Mal, wenn in Äthiopien ’ne Hungersnot ist oder irgendwo ein Tsunami alles in Schutt und Asche legt.«

»Das ändert nichts am System.«

»Ja und, was soll ich denn machen?« Daimler echauffierte sich, die Backen wurden immer dunkler. Vielleicht hörte er das nicht zum ersten Mal. »Jeden Monat zwei Drittel meines Lohns abgeben? Mein Haus verkaufen und mit der Familie im Zelt leben?«

»Gute Idee, dann könnt ihr abends am Lagerfeuer sitzen und du könntest mal wieder in Ruhe mit deinem Sohn reden.«

»Würde ich ja gern, an mir soll’s nicht liegen. Aber er spricht seit Wochen kaum noch mit uns. Ist verschlossen wie eine Auster.« Er blickte Zita treuherzig an. »Komm schon.«

»Na gut.« Sie seufzte übertrieben tief, als würde sie eine tonnenschwere Last schultern. »Ich schau mir die Truppe mal an, damit ihr wieder ruhig schlafen könnt, du und dein Weib. Aber versprich dir nicht zu viel davon.«

Daimler machte einen Schritt auf sie zu. »Du bist ein Schatz.«

Zita hob die Hände. »Vorsicht, mit so was kann man sich heutzutage ruckzuck ein Disziplinarverfahren wegen Belästigung einhandeln«, sagte sie schnell, bevor er sie umarmen konnte.

3.

Kein Schmuckstück, aber eine klare Struktur, und drinnen viel mehr Platz als zuvor im Neuen Bau im Herzen der Stadt. Ein Ort, an dem es sich gut arbeiten ließ. Und das allein war wichtig.

Horst Hektor blickte auf das lang gezogene weiße Gebäude in der Lindenstraße, in das die Ulmer Kriminalpolizeidirektion umgesiedelt worden war. Das alte Röhrenwerk, heute ein großer Gewerbepark, lag in der Weststadt, gut verborgen zwischen Hindenburgring und Blaubeurer Straße, und trotzdem war man bei normalem Verkehr in knapp fünf Minuten im Zentrum und in zehn Minuten auf der A8 und der A7. Jetzt, am frühen Abend, vom beginnenden Feierabendverkehr heruntergebremst, hatte Hektor fast 30 Minuten gebraucht, um sich vom Friedhof am anderen Ende der Stadt bis hierher durchzuarbeiten. Seinen Dienstwagen hatte er in dem vierstöckigen Parkdeck nebenan abgestellt. Noch ein Vorteil im Vergleich zu früher: Die lästige Parkplatzsuche war kein Thema mehr.

Hektor war passabel gelaunt, mehr noch: Er war guter Dinge. Ein klein wenig schämte er sich dafür, schließlich kam er von einer Beerdigung, und das mit Vorberg war ja nun wirklich eine scheußliche Sache. Aber Jammern und Wehklagen hatte noch nie bei irgendetwas geholfen. Und Gottes Wege waren nun mal unergründlich. Das war zwar manchmal etwas unbefriedigend, wie er gern einräumte, aber er würde weiterhin jeden Sonntag in die Kirche gehen, fleißig beten – und sich ansonsten selbst helfen, wie er es immer getan hatte.

Der unerschütterliche Glaube an die eigenen Fähigkeiten zahlte sich seiner Erfahrung nach früher oder später immer aus. Das hatte sich heute wieder einmal erwiesen. Der Hauptgrund für seine anhaltend gute Laune war der morgendliche Termin beim Polizeipräsidenten. Hans Gnädinger hatte ihn in den Neuen Bau gebeten, wo das Polizeipräsidium nach wie vor beheimatet war. Hektor war ein paar Minuten vor dem imposanten Backsteingebäude am Münsterplatz gestanden und hatte sich einen kurzen, romantisch angehauchten Rückblick auf seine Karriere gegönnt, die er annähernd 20 Jahre lang in diesem Gebäude vorangetrieben hatte. Er ahnte, was kommen würde.

Der Polizeipräsident, ein bärtiger Hüne mit unpassend sanftem Sprachduktus, entschuldigte sich als Erstes bei Hektor dafür, dass er an diesem speziellen Tag, an dem es gelte, Abschied von Konrad Vorberg zu nehmen, das Thema anschnitt, wer künftig die Leitung des Dezernats für Tötungsdelikte übernehmen solle. Aber er wolle unter allen Umständen vermeiden, dass die Gerüchteküche die Beerdigungsfeier störe. Noch sei zwar keine endgültige Entscheidung gefallen, aber so viel könne er heute sagen: Hektor habe die allerbesten Chancen. Er leiste seit Jahren tadellose Arbeit bei der Kripo, Vorberg sei stets voll des Lobes über ihn gewesen, und Führungsqualitäten seien ihm ja nun wirklich nicht abzusprechen, meinte der Polizeipräsident väterlich. Soviel er gehört habe, sei das Team bereits in den vergangenen Wochen und Monaten, angesichts Vorbergs zunehmender Ausfallzeiten, von Hektor gut zusammengehalten worden. Kurzum: Man habe beschlossen, ein Zeichen zu setzen und Hektor ab sofort offiziell zum kommissarischen Leiter des Dezernats zu ernennen. Die Stelle selbst müsse man natürlich öffentlich ausschreiben.

»Nägel mit Köpfen werden wir wahrscheinlich erst im neuen Jahr machen, der Papierkram bremst uns wieder mal aus. Und das Innenministerium will jetzt plötzlich auch noch ein Wörtchen mitreden, warum auch immer.« Gnädinger schüttelte milde den Kopf. Das sei nun mal der Zeitgeist, Bürokratie first.

Hektor lachte pflichtschuldig über den kleinen Scherz, bedankte sich herzlich und verabschiedete sich von Gnädinger mit einem festen Händedruck.

Seither hatte er Mühe, sich das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Auch jetzt wieder, als er mit forschem Schritt durch die Glastür ins Kripogebäude trat. Ein bisschen lästig war das zweitägige Seminar für Führungskräfte, das ab morgen im Landeskriminalamt in Stuttgart stattfinden sollte: »Mitarbeiterverträgliche Strategien und koordinierte Einsatzpläne«. Kurzfristig war da wegen der Erkrankung eines Kollegen ein Platz frei geworden, und Gnädinger war ganz stolz gewesen, dass er gleich an Hektor gedacht hatte. Nun gut, wenn’s denn der Sache dienlich war, sagte Hektor sich.

Auf jeden Fall würde er diese Chance, nach der er sich so gesehnt hatte, mit fester Hand ergreifen. Die Zeit war ohnehin reif. Er war 48, und allzu viel Spielraum blieb ihm nicht mehr, den nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu machen. Er hatte ja schon die ganzen letzten Jahre auf Vorbergs Abgang hingearbeitet, seine komplette Karrierestrategie auf diesen Zeitpunkt ausgerichtet. Und bei Gott: Er hätte es auch lieber gesehen, wenn man Vorberg hätte anders verabschieden können, mit einem Weinpräsent, einer wunderschönen Urkunde und einem Haufen warmer Worte. Nicht so wie heute. Der Posten musste dennoch ausgefüllt werden, und Hektor kannte niemanden, der dafür besser geeignet war als er selbst.

Er steuerte auf die Treppe zu und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Diese Lokinger-Sache kam ihm gerade äußerst zupass – falls an der Geschichte tatsächlich etwas dran war. Dann aber könnte ihm der Prominentheitsgrad der Familie durchaus zusätzlich nützen, überlegte er. Das hieß, wenn es ihm gelänge, das Ganze zu einem guten Ende zu bringen. Erst einmal galt es, die Geschichte ganz vorsichtig auszuloten.

Hektor stieß die Tür zum Eingangsbereich des Dezernats 1 auf und bedachte Elke Mendel, die mit verweinten Augen auf ihrem Schreibtischstuhl saß, mit einem kritischen Blick. Die Sekretärin hatte Vorberg ein halbes Berufsleben lang den Rücken freigehalten.

»Ach, Frau Mendel«, sagte er, »Sie hätten doch heute nicht mehr herzukommen brauchen. Gehen Sie nach Hause.«

Dann sah er, dass ihr Schreibtisch von mehreren mit Aktenmappen gefüllten Kartons umstellt war.

»Das sind sicher die Vorberg-Sachen. Die sind ja ganz schön auf Zack im Neuen Bau.«

Konrad Vorberg hatte darauf bestanden, bis zuletzt sein altes Büro zu behalten. Einen Umzug tue er sich nicht auch noch an, hatte er verkündet. Angesichts seiner Lage war die Führungsebene des Präsidiums diesem Starrsinn mit Milde begegnet.

»Die Kartons können Sie ja gleich noch ins hintere Zimmer stellen. Ich schau mir das alles in den nächsten Tagen mal an«, meinte Hektor.

Mendel nickte kaum merklich und schob den braunen Pony aus der Stirn. »Ja, und die Mail vom Polizeipräsidenten ist auch bereits rumgegangen. Glückwunsch schon mal.«

Es klang ein wenig bemüht, fand Hektor; aber gut, angesichts der Umstände.

»Danke, aber noch ist nichts sicher«, antwortete er, drückte die Glastür auf und marschierte in die weitläufigen Büroräume des Dezernats.

Seine Kollegen saßen an ihren Schreibtischen. Das passte bestens, dann konnte er sie umstandslos heute noch ins Bild setzen und für den morgigen Tag instruieren. Er hätte sie nur ungern noch mal von zu Hause hierher zitiert.

Die Gehring hatte die Arme aufgestützt und glotzte Löcher in die Luft. Wie so oft trug sie Stiefel, Jeans und ein reichlich verwaschen wirkendes Sweatshirt. Die junge Kollegin sah ja ganz gut aus, nettes Gesicht, lockige braune Haare, hübsche Proportiönchen, aber ein wenig weiblicher könnte sie sich ruhig kleiden, fand er. Und vor allem auf diesen kritischen Blick öfter mal verzichten.

Daimler ließ gerade einen Dartpfeil fliegen und fluchte über den misslungenen Wurf. Nur gut, dass die neuen Räume so großzügig bemessen waren; wenigstens musste so keiner hier drin mehr um sein Leben fürchten, wenn der Kollege seinem kindischen Hobby nachging, dachte Hektor. Vielleicht sollte er dieses Treiben aber grundsätzlich unterbinden, sobald seine Beförderung endgültig in trockenen Tüchern war.

Dann fiel sein Blick auf die schmale Gestalt, die auf dem Heizkörper am Fenster saß und in den Innenhof des Alten Röhrenwerks starrte.

»Jenny, was machst du denn hier?«

Jenny Nies blickte auf. »Hallo, Horst. Ich hab mir die Beerdigung gegeben, und dann dachte ich, ich schau mal rein. War neugierig, wie der Laden so läuft.«

Hektor fand, dass Jenny immer noch gezeichnet aussah. Sie war nach wie vor hübsch, auf ihre burschikose, kühle Art, trug die blonden glatten Haare jetzt wieder etwas länger, aber sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, wirkte müde und eingefallen. Im Frühjahr war sie bei einem Einsatz angeschossen worden. Diejenigen, die dabei gewesen waren, konnten sich bis heute nicht einigen, ob sie sich, vollgepumpt mit Adrenalin, bei der Aktion zu weit vorgewagt hatte oder ob es einfach nur Pech war, dass die Kugel ihr Becken zertrümmert hatte. Hektor empfand es bis heute als dunklen Fleck in seiner Biografie, dass er zu dieser Zeit im Urlaub gewesen war. Zwischen ihm und Jenny hatte die Chemie immer gestimmt, sie waren jahrelang ein gut aufeinander eingespieltes Team gewesen. Vielleicht wäre die Sache anders gelaufen, wenn er dabei gewesen wäre.

Sein Blick fiel auf den Gehstock, der neben ihr an dem Heizkörper lehnte. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie noch an Krücken gegangen.

»Wie geht’s dir denn? Schon wieder komplett fit?«

Jenny lächelte gequält. »Na ja, fast. Und ›schon‹ ist gut. Ich fühl mich wie bei einem Schneckenrennen.«

Sie erzählte Hektor, dass ihr Arzt der Ansicht war, sie sollte sich noch einige Zeit schonen, dass der Polizeiarzt, den sie in regelmäßigen Abständen konsultieren musste, dieselbe Meinung vertrat und dass sie mit dem Psychologen, zu dem man sie geschickt hatte, um das Geschehene aufzuarbeiten, überhaupt nicht klarkam. Ein Trio infernale, das ihr genau das vorenthalten wolle, was am schnellsten und besten zu ihrer endgültigen Gesundung beitragen würde: eine sinnvolle Aufgabe, eine Arbeit, die erledigt werden musste. Das ewige Rumsitzen treibe sie noch in den Wahnsinn, meinte Jenny Nies schnaubend.

»Also, ich find’s klasse, dass du da bist«, sagte Daimler aufmunternd. »Langsam wieder reinschnuppern macht doch Sinn. Mal ein bisschen miteinander quatschen.«

Er stand auf, um seine Pfeile aus der Dartscheibe zu ziehen.

»Ich denke sowieso, dass wir mehr füreinander tun sollten. Das ist zumindest das, was mich dieser Tag gelehrt hat. Wir sollten uns mehr umeinander kümmern, findet ihr nicht?«

Er drehte sich um und blickte ernst in die Runde.

»Ich meine, schaut euch doch die ganze Sache mit Vorberg noch mal an: Der Mann ist sterbenskrank, traut sich aber nichts zu sagen. Und wir? Wisst ihr noch, wie wir uns über ihn geärgert haben? Dass wir gedacht haben, er hätte sich schon in den Ruhestand zurückgezogen. Dass ihn aus reiner Bequemlichkeit nichts mehr von dem interessieren würde, was wir tun. Wie wir gelästert haben in den letzten Monaten, über den Chef, der nie da ist? Ich fühl mich richtig mies, wenn ich daran zurückdenke.«

Die Gehring nickte. »Ja, stimmt schon, so im Nachhinein. Das war total daneben. Aber wir wussten ja nicht, was mit ihm los war.«

»Genau das mein ich ja. Wir arbeiten jeden Tag zusammen und wissen nichts voneinander. Das ist doch traurig. Wir sollten enger zusammenrücken, finde ich. Das ist das, was wir mitnehmen können von diesem Scheißtag.«

Keiner sagte etwas, alle starrten Daimler an.

»Meine Güte, jetzt guckt nicht so schockiert. Ihr seid vielleicht ein paar Stoffel. Wir müssen ja nicht gleich zusammen in den Urlaub fahren. Aber mal ein bisschen zusammensitzen. Ein Bier trinken. Reden. Über Gott und die Welt.«

Hektor versuchte, seinen Mangel an Begeisterung nicht zu offensichtlich zu zeigen. Daimlers Kumpelhaftigkeit war manchmal wirklich anstrengend. »Also, ich weiß nicht …«

»Ich bin dabei.« Klar, Jenny Nies suchte den Anschluss, war für jeden Strohhalm dankbar. Die Gehring schien weniger begeistert; meinte, heute Abend habe sie leider keine Zeit.

»Natürlich nicht heute Abend, eher morgen«, warf Daimler schnell ein.

Draußen wurde es langsam dunkel. Hektor fand, es war Zeit, die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken. Umso besser, meinte er und begann auf und ab zu marschieren. Er habe nämlich auch zu tun. Dann berichtete er von Gnädingers Entscheidung, von der Mail aus dem Präsidium, die sicher jeder schon gelesen habe, und ließ sich anschließend darüber aus, wie er gedachte, die verantwortungsvolle Aufgabe, das Dezernat kommissarisch zu leiten, auszufüllen. »Ich bitte euch in den nächsten Monaten um bestmögliche Kooperation und Unterstützung«, schloss er seinen Vortrag.

»Und dann gibt es noch eine neue Sache, die wir uns anschauen sollten. Mir ist da heute Nachmittag etwas zugetragen worden.«

»Geheimes Treffen am Friedhofsweiher«, sagte die Gehring.

»Aha, die Kollegin und ihre Adleraugen.« Hektor bemühte sich um Lässigkeit. »So geheim war das nicht. Agnes Lokinger hat mich angesprochen, die Industriellenwitwe. Ich muss ja sicher niemandem hier sagen, wer die Firma Lokinger-Textilien ist. Aber was vielleicht nicht alle wissen: Der Firmengründer Wilhelm Lokinger, jetzt auch schon etliche Jahre verstorben, saß früher Seite an Seite mit Vorberg für die CDU im Ulmer Gemeinderat. Es hatte sich wohl schon herumgesprochen, dass ich Vorbergs Nachfolger werden könnte, und so ist Frau Lokinger auf mich zugekommen, als sie mich bei der Beerdigung gesehen hat. Sie macht sich Sorgen, weil sie schon seit ein paar Tagen nichts mehr von ihrem jüngsten Sohn Remo gehört hat. Ihre beiden anderen Kinder meinten zwar, das sei nichts Ungewöhnliches, ihr Bruder habe schon immer getan, was er wollte, ohne groß Rücksicht auf andere zu nehmen, aber die alte Dame ist trotzdem verunsichert. Sie hat mich gebeten, dass wir uns ein bisschen umschauen und ihren Sprössling wieder ausfindig machen – aber so diskret wie möglich, das ist mehrmals betont worden. Diese Leute wollen auf gar keinen Fall Aufsehen erregen.«

»Ist ja interessant«, sagte die Gehring gedehnt und inspizierte ihre Fingernägel, »und wir tun natürlich immer genau das, was solche Leute wollen.«

Hektor spürte, wie wieder einmal der Ärger über seine junge Kollegin in ihm hochkroch. So eine Reaktion war von ihr ja zu erwarten gewesen. Die Gehring war eine wandelnde Insubordination. Doch er beherrschte sich, antwortete ruhig: »In diesem Fall gebietet uns dies der ganz normale Anstand. Wir kümmern uns um das Anliegen der Frau, und zwar erst mal defensiv und diskret. Wenn irgendwas zu dieser Sache in den nächsten Tagen in irgendeiner Zeitung stehen sollte, haben wir ein Riesenproblem.«

Vor allem habe ich dann ein Riesenproblem, dachte er.

»Also, das heißt konkret, du, Daimler, und Sie, Frau Gehring, ihr forscht mal ein wenig nach, was dieser Remo Lokinger so treibt und wo er stecken könnte. Ich muss die nächsten beiden Tage dummerweise auf so ein Führungskräfteseminar nach Stuttgart. Hat mir der Polizeipräsident heute aufgebrummt«, sagte Hektor angemessen zerknirscht. Den Blick, den Daimler und die Gehring tauschten, bemerkte er durchaus.

»Ich galt ja zu meiner Zeit als die personifizierte Diskretion.« Jenny Nies grinste ihn an.

Hektor spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Ihm fiel keine angemessene Antwort ein, keine witzige Erwiderung, überhaupt keine Reaktion, die anders als verletzend bei seiner alten Kollegin ankommen musste. Sein Unwohlsein nahm zu, als Jenny sich mühsam hochstemmte, sich auf ihren Gehstock stützte und mit alles andere als sicheren Schritten auf ihn zukam.

»Komm schon, Horst, ich kann doch ein bisschen mitmischen bei der Sache. Ich bin Polizistin, schon vergessen? Wir müssen es ja nicht an die große Glocke hängen. Ich hab’s satt, immer nur zu Hause rumzuhängen.«

Hektor schluckte schwer, schüttelte mit bedauerndem Blick den Kopf.

»Mann, gib dir ’nen Ruck. Schau dich mal um, ihr seid doch sowieso viel zu wenig Leute hier.«

Er reagierte nicht, schaute an ihr vorbei.

»Sag bloß, du machst dir wegen so was jetzt ins Hemd?«

Sie hatte sich vor ihm aufgebaut, wirkte plötzlich gar nicht mehr so schmächtig. Hektor spürte, dass sie eine Mordswut auf ihn hatte, weil sie seine Antwort bereits kannte.

»Jenny, tut mir echt leid, ich habe jetzt die Verantwortung hier, und das würde gegen sämtliche Vorschriften verstoßen. Das weißt du. Ich kann mich nicht über die Regeln hinwegsetzen. Wenn irgendetwas passiert …«

Die Worte gingen ihm aus. Das kannte er sonst gar nicht von sich. Normalerweise gelang es ihm ohne große Mühe, sein Gegenüber zu überzeugen. Aber der flammende Blick, mit dem Jenny ihn ansah, brannte das Sprachzentrum in seinem Gehirn nieder. Verdammt, sie tat ihm tatsächlich leid. Hektor hätte ihr gern etwas anderes gesagt, aber er musste auf sich selbst schauen. Er konnte dieses Risiko nicht eingehen, nicht jetzt, wo sich die Dinge für ihn so günstig entwickelten.

»Bis dann«, knurrte er und rauschte an ihr vorbei zur Tür hinaus.

15 Minuten später versuchte Jenny Nies immer noch, ihren Zorn auf Horst Hektor in den Griff zu bekommen. Sie saß an dem ungenutzten Schreibtisch im hinteren Teil des Büros und hatte große Mühe, sich daran zu erinnern, worauf die gute Zusammenarbeit mit ihm einst beruht hatte. Er hat sich verändert, dachte sie, und dann: Nein, das stimmt nicht, er ist im Grunde derselbe Mensch geblieben, hat einfach die nächste Stufe erklommen, ist noch arroganter, noch ichbezogener geworden. Seine Karriere geht ihm über alles. Jenny war nicht blöd. Sie konnte sich an fünf Fingern abzählen, was der Hauptgrund dafür war, dass er sie draußen halten wollte.

Daimler und Zita waren ziemlich schnell nach Hektors abruptem Abgang ebenfalls verschwunden. Zita hatte ihr bedauernd in die Augen gesehen und ihr im Vorbeigehen flüchtig die Schulter gedrückt. Daimler hatte etwas gemurmelt, das wie »lass dich nicht unterkriegen« klang. Nur Elke Mendel war noch da und schleppte Kartons aus ihrem Bereich in das aktuell noch ungenutzte Zimmer, das sich an das Großraumbüro anschloss.

Jenny wusste nicht genau, warum sie immer noch in diesen Räumen herumsaß, in denen sie im Moment rein gar nichts verloren hatte. Sicher, die Aussicht auf ihre leere Drei-Zimmer-Wohnung in Thalfingen war nicht übermäßig verlockend. Aber wenn sie ehrlich war, wartete sie eigentlich darauf, dass Hektor noch mal auftauchen würde, ein entschuldigendes Grinsen auf den Lippen. Er würde sagen, dass er ein Idiot sei und dass er sich unbändig darüber freue, sie wieder mit im Boot zu haben. Verdammt, Jenny, das wird in 100 Jahren nicht passieren, also schwing endlich deinen attraktiven Gehstock und trab nach Hause.

Sie blieb sitzen. Warum zum Geier hatte sie so gern mit ihm gearbeitet? Eigentlich kannte sie sonst niemanden bei der Ulmer Polizei, der ihn wirklich mochte. Vielen war er zu eigenwillig, zu speziell. Aber ihr hatte an Hektor von Anfang an gefallen, dass er immer geradeaus war. Keiner kam zügiger auf den Punkt. Und er ließ sich von nichts und niemandem ins Bockshorn jagen. Jenny blickte aus dem Fenster in den dunklen Abendhimmel und dachte: Vielleicht haben wir uns manchmal gegenseitig hochgeschaukelt, wenn es darum ging, unsere harte und toughe Seite zu polieren und zum Glänzen zu bringen.

Ihre Begegnungen hatten immer auf Augenhöhe stattgefunden, bisweilen hatte sie eine enge Verbundenheit gespürt, sich ein paarmal sogar gefragt, ob da bei ihm mehr war als Sympathie. Auf jeden Fall war Hektor immer absolut verlässlich und loyal gewesen. Und jetzt? Jenny sah wieder seinen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck vor sich, als er Hans Gnädingers Einschätzungen über sich zitierte. Sie hatte Lust, einen gut platzierten Faustschlag in diesem Gesicht zu landen, vielleicht sogar zwei.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich würde Ihnen gern helfen, Frau Mendel, aber ich glaube, ich wäre nur im Weg.«

»Das ist sowieso der letzte«, sagte die Sekretärin und schnaufte, als sie den aktengefüllten Karton abstellte. »Mir reicht’s jetzt aber wirklich für heute. Dabei hätte ich noch so viel aufzuarbeiten. Ich bin einfach zu nichts gekommen. Aber die Beerdigung und das alles …« Sie strich sich das schwarze Kostüm glatt, das durch die Schlepperei in Unordnung geraten war.

»Es geht Ihnen sehr nahe, stimmt’s?«

»Merkt man das? Er war so ein guter Mann, und ich finde es einfach unglaublich schade, dass er gar nichts von seinem verdienten Ruhestand gehabt hat.«

Jenny nickte. Ja, Vorberg war wirklich ein Guter gewesen – und trotzdem war sie während der Beerdigung im Geist mehr um ihr eigenes kleines Leben gekreist. Vor allem ein Gedanke hatte sie nicht losgelassen: Da, wo Vorberg jetzt liegt, könntest du auch schon längst liegen, wenn diese Kugel weiter oben eingeschlagen wäre. Was sagte ihr das? Die Antwort war eigentlich sonnenklar: dass sie das zweite Leben, das sie geschenkt bekommen hatte, verdammt noch mal genießen sollte. Aber das war nicht so leicht, wie sie es sich selbst einzureden versuchte. Sie war im Grunde noch nie der große Genießertyp gewesen.

»Sind Sie denn jetzt wieder fest im Einsatz hier, Frau Nies?«, fragte Mendel.

»Fast«, antwortete Jenny, »wenn’s nach mir ginge, würde ich morgen in aller Herrgottsfrühe antanzen. Die nächsten zwei Wochen bin ich aber mal noch krankgeschrieben.«

»Wir würden uns so freuen, wenn wir Sie bald wieder dabeihätten«, sagte die Sekretärin und kam trotz ihrer Abgespanntheit für ein paar Minuten ins Plaudern.

Sie erzählte vom Umzug, von der Atmosphäre im neuen Domizil der Kripo, von ihrer Doppelbelastung, weil sie hier alles organisieren musste und Vorberg ja unbedingt im Neuen Bau bleiben wollte für seine letzten Tage. Mit der Erwähnung des verstorbenen Chefs brach die Trauer wieder durch. Elke Mendel hatte noch nicht alle Tränen verbraucht. Schnell verabschiedete sie sich. Sie wollte nicht einmal wissen, wie lange Jenny gedachte, hier noch herumzusitzen.

Als sie allein war, stellte Jenny sich endlich die Frage, ob sie der Arbeit bei der Kripo tatsächlich wieder gewachsen war. Wenn sie ehrlich war, wusste sie es selbst nicht sicher. Noch hatte sie niemandem offenbart, dass sie dieses merkwürdige Gefühl mit sich herumschleppte. Dessen Name war Angst, das gestand sich Jenny inzwischen ein. Sie war da, seit sich die Zeitlupensituation des Zugriffs auf den in der Falle sitzenden Raubmörder in ihre Existenz gebrannt hatte. Zwar hatte sie sich während der Reha fest vorgenommen, ihr Leben zu ändern, offener zu werden, aber diese Sache ging doch nun wirklich niemanden was an, oder? Das war etwas, mit dem sie allein klarkommen musste. Der Punkt war ohnehin: Die Angst saß ihr im Nacken, egal ob sie jetzt daheim auf dem Sofa lag und sich eine Serie nach der anderen reinzog oder ob sie das machte, worin sie bisher immer gut gewesen war, nämlich ihre Arbeit bei der Polizei. Mehr noch: Wenn sie endlich wieder etwas zu tun bekäme, würde sicher bald alles wieder ganz normal sein. Das hoffte sie zumindest.

Sie griff nach dem Stock und hievte sich seufzend in die Höhe. Der Drang nach der nächsten Zigarette machte sich bemerkbar. Auch das Vorhaben, die Raucherei endlich aufzugeben, hatte nicht allzu weit über die Reha hinaus Bestand gehabt. Doch trotz der lockenden Aussicht auf eine Kippe auf dem Weg zum Auto schwenkte Jenny in den Raum ein, in dem Elke Mendel die Akten, Ausdrucke und Notizen auf einem großen, ansonsten unbeleckten Schreibtisch zu einer Papierhügellandschaft zusammengeschoben hatte. Sie wusste, dass es nicht ganz in Ordnung war, was sie tat, trotzdem fing sie an, in den Papieren zu blättern. Unausrottbare Polizisten-Neugier, sagte sie sich.