Verkaufte Erleuchtung - Peter Schwendele - E-Book

Verkaufte Erleuchtung E-Book

Peter Schwendele

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Beschreibung

Im Lautertal bei Ulm wird eine junge Frau tot aufgefunden. Sie war Mitglied einer Kommune von Sannyasins, die dort nach den Lehren Oshos – ehemals Bhagwan – leben. Die Ulmer Kommissarin Zita Gehring taucht tief in die scheinbar heile Welt ein und trifft auf Eifersucht, Desillusionierung und Verwicklungen, die bis zu den dramatischen Ereignissen in der Hochphase des Bhagwan-Kults in den 1980er-Jahren zurückreichen.

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Peter Schwendele wurde 1965 in Munderkingen geboren. Nach Abitur, Zivildienst und einem längeren Auslandsaufenthalt studierte er Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie in Freiburg im Breisgau. Er lebt mit seiner Familie in Schopfheim, wo er als Redakteur für die Tageszeitung Markgräfler Tagblatt arbeitet.

www.peterschwendele.de

PETER SCHWENDELE

VerkaufteErleuchtung

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Alle handelnden Figuren sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind nicht beabsichtigt.

Hinsichtlich der historischen Figuren und der realen Schauplätze hat sich der Autor einige kreative Freiheiten gestattet.

Dieses Werk wurde vermittelt

durch Schoneburg. Literaturagentur

und Autorenberatung, Berlin.

1. Auflage 2018

© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Juanmonino– iStockphoto.

Druck: Gulde-Druck, Tübingen.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-8425-2086-8

eISBN 978-3-8425-1794-3

Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:

www.silberburg.de

Life is not a problem to be solved,it’s a mystery to be lived.Osho

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1.

Nie hätte Alfons Schindler gedacht, dass er die Aussicht von dem verlotterten Dachboden des Hofs einmal so genießen würde, trotz der Spinnweben im Genick, trotz des Modergeruchs in der Nase. Nie hätte er gedacht, dass ihm das alte Fernglas nochmal so gute Dienste leisten würde. Unter Gerümpel und leeren Flaschen hatte er das Glas gestern Nacht ausgegraben, in den Tiefen des Brotkastens, und bei aller Freude über den Fund auf sich selbst geflucht, weil ihm die Idee nicht schon früher gekommen war.

Letzten Sommer, als alles neu und frisch gewesen war, hatten sie ihn manchmal zusehen lassen bei ihrem Getue. Anfangs. Doch als sie gemerkt hatten, dass ihn nur auf eine Weise interessierte, was sie da taten, hatten sie ihn weggeschickt. Hör auf mit der Spannerei!, hatte Prem Pantha gemault. Und beim nächsten Mal hatte der Häuptling ihn zum Gespräch zu sich geholt; ganz ernst hatte er gesagt, Alfons solle nicht respektlos sein.

Das würde er sich jetzt nicht mehr trauen, dachte Schindler, jetzt, wo er kaum noch was hat. Aber das war egal. Er konnte Namito leiden, weil er immer freundlich war, nie herablassend wie so viele andere. Und wozu die guten Beziehungen aufs Spiel setzen? Außerdem hatte das mit dem Fernglas seinen ganz besonderen Reiz, stellte er fest.

Jetzt waren sie gleich zur Hälfte durch mit ihrem Meditationskram, von dem kein normaler Mensch richtig verstand, was er sollte. Die Sonne war schon vor einer halben Stunde über den Hügelkamm gekrochen und hatte die Talsohle und die zur Lauter hin sanft abfallende Wiese zwischen den beiden Höfen aufgewärmt. Es würde ein heißer Tag werden, ganz sicher, und bestimmt sind sie heute gut drauf und wollen danach ein bisschen Spaß haben, dachte der Bauer.

Ungeduldig setzte Schindler das Fernglas ab, nahm einen Schluck aus dem Flachmann und blickte sich um. Das Chaos um ihn herum, in Jahrzehnten gewachsen, in denen immer mehr nutzloses Zeug unter die hölzernen Dachsparren gestopft worden war, störte ihn nicht. Ohnehin fiel das spärliche Licht durch das schmierige Fenster, kaum verstärkt durch eine nackte, fast blinde Glühbirne, nur auf die Mitte des lang gezogenen Dachbodens; die Ränder des riesigen Raums kippten gnädig ins Dunkel. Schindlers Blick forschte vergeblich nach einem Stuhl, und so zog er eine schwere Truhe mit zwei, drei ruckartigen Bewegungen zu sich vors Fenster. Der Mischlingshund mit dem verdreckten Fell, der zu seinen Füßen gelegen hatte, richtete sich auf, dehnte seine altersschwachen Glieder und schaute in der Hoffnung auf eine seltene Streicheleinheit zu seinem Herrn hinauf. Schindler beachtete ihn nicht. Mit einem Grunzen hockte er sich auf die Kiste.

Unter ihm, auf der Wiese, war es ruhig geworden, das Geschrei war abrupt abgebrochen. Ein schneller Blick durch das Glas, das schwer wie ein Ziegelstein in seiner Hand lag, zeigte ihm, dass sie jetzt erstarrt waren. Alfons Schindler konnte, nach 14 Monaten, immer noch nicht recht fassen, dass die ganze Bande jeden Morgen mit Begeisterung diesen Zinnober veranstaltete. Dynamische Meditation nannten sie es, das hatte ihm der Häuptling mehrmals vorgebetet. Angeblich hatte sie der Weißbart selbst erfunden, vor so und so vielen Jahren, in Indien. Das musste erst recht ein Spinner gewesen sein.

Jeden Morgen stellten sich diese Vögel an die Lauter – oder in die Scheune, wenn’s zu kalt war – und fingen an, wie irre durch ihre Riechkolben zu atmen, immer schneller und schneller. Das machten sie zehn Minuten lang, dann drehten sie völlig durch. Sie schüttelten sich, als wären ihre Körper Haselsträucher im Sturmwind, manche hüpften wie ein Gummiball, andere schrien, als steckten sie am Spieß. Die Weiber heulten manchmal sogar. Aber es wurde noch toller. Nach zehn Minuten hörten sie auf mit diesem Durcheinander, und alle sprangen gleichzeitig mit gestreckten Armen in die Höhe und schrien lauthals »Huh Huh Huh«, in einer Tour, als würden sie dafür bezahlt. Rauf und runter, genau zehn Minuten lang. Dann erstarrten sie von jetzt auf nachher zu Salzsäulen, blieben vollkommen still stehen, genauso verrenkt, wie sie beim letzten »Huh« auf dem Boden gelandet waren. Das war das Langweiligste. Es dauerte ewig, bis sie endlich wieder anfingen, sich zu bewegen, und ein bisschen rumtanzten, wobei sie sich wie Schlangen wanden.

Schindler schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Selbstgebrannten. Die meisten von diesen Sannyasins waren gar nicht so übel, und anpacken konnten sie alle, das musste man ihnen lassen, aber gestört waren sie eben auch, und zwar nicht zu knapp. Im Ernst: Was sollte der ganze Quatsch? Der Häuptling hatte rumgeschwafelt, ganz zu Anfang, er hatte Alfons erklärt, dass all das, die verschiedenen Meditationen – oh ja, sie hatten noch mehr Hüpf-, Tanz- und Schreikram im Angebot – dazu diene, besser zu verstehen, wer man selbst ist. Pah, wer man ist! Ein Mensch natürlich, na und? Was gab’s da zu verstehen? Sollte er sich etwa darüber freuen? Was hatte er davon, ein Mensch zu sein? Ständig Ärger und einen krummen Buckel vom Schaffen. Schindler blickte hinunter auf seinen Hund. Wenn man schon auf dieser gottverlassenen Welt herumlaufen musste, dann besser so wie der Wastl. Dem ging’s gut. Er tätschelte dem Hund den Kopf, eine Mühe, die er sich nicht oft machte.

Andererseits konnte so ein Vieh nicht saufen, und das Beste an diesem beschissenen Leben waren eben doch der Schnaps und das Bier. Wobei, dem Hof tat die Sauferei nicht gut, das wusste Alfons Schindler selbst, das brauchte der Alte ihm nicht ständig zu sagen. Er wollte es nur nicht wissen. Scheiß drauf, dachte er, der Hof und der Alte, das war schließlich eins. Der Alte konnte sich zwar kaum noch bewegen, aber scheinbar wollte er trotzdem ewig leben.

Schindler kniff ein Auge zu und spähte nach unten auf die sonnenüberflutete Lichtung. Jetzt tanzten sie. Er hielt das Gestell des alten Fernglases vertikal in der Hand, benutzte das Gerät, das ihm damals, als Bub, aus der Hand gerutscht war, wie ein Fernrohr. Die linke Linse war unbrauchbar seither. Der Alte hatte getobt wie ein Stier.

Alfons hatte gewusst, dass er das Fernglas nicht nehmen durfte, er hatte gewusst, dass es das Heiligtum des Vaters war. Doch da war diese Stelle im Wald, wo man nicht nur langweiliges Rotwild, sondern Wildschweine beobachten konnte. Und was würde mehr Spaß machen, als das mit dem guten, dem teuren Fernglas zu tun? Alfons hüpfte auf dem Rückweg vor Freude, wie Kinder eben hüpfen, und er fiel hin, und schlug sich oben am Hang, wenn man aus dem Wald heraustrat und schon das Elternhaus sah, auf dem steinigen Boden die Knie blutig. Egal, viel schlimmer, richtig schlimm war, dass das Glas, das er stolz um den Hals hängen hatte, auf einen Stein knallte. Zu Tode erschrocken sah er, dass das linke Rohr eine böse Schramme abbekommen hatte, und das Glas … es war nicht gesplittert, aber es hatte einen weißen Stern in der Mitte, schön und nutzlos wie ein Kristall, und die Sprünge zogen sich in alle Richtungen. Wenn man versuchte, hindurchzuschauen, kam man sich blind vor wie ein Maulwurf.

Alfons hatte das ramponierte Ding zitternd zurück in den Brotschrank gelegt – ohne zu beichten. Obwohl er sich ausrechnen konnte, dass der Vater früher oder später den Schaden entdecken und unfehlbar auf ihn als Verursacher tippen würde. Und so kassierte er, mit acht oder neun, doppelt so viel Prügel wie üblich. Der Vater schrie es durch die Scheune: zum einen, weil er das Fernglas kaputt gemacht hatte, und zum anderen, weil er nicht Manns genug gewesen war, für sein Tun geradezustehen. Dabei wusste Alfons von klein auf, was es hieß, für sein Tun geradezustehen, nämlich genau das: verdroschen zu werden. Was nicht bedeutete, dass der verdammte Alte nicht auch sonst Prügel verteilte, ohne dass man eine Ahnung hatte, wofür.

Schindler schüttelte die Erinnerung ab. Der Alte war jetzt nur noch ein Stück Fleisch, das in seiner Kammer lag und vor sich hin faulte. Und er begriff nichts. Es war eine gute Idee gewesen, die Spinner hierherzuholen. Seit sie da waren, stand Alfons nicht mehr ganz so tief mit den Stiefeln in der Gülle. Immerhin hatten sie im Frühjahr gut zwei Drittel seiner Felder übernommen, um ihre Experimente zu veranstalten. Ihm sollte es recht sein, denn die 75 Hektar waren ihm längst über den Kopf gewachsen. Am Anfang hatten sie auch noch regelmäßig gezahlt, und er konnte es zuerst gar nicht fassen, dass plötzlich Geld reinkam, ohne dass er etwas dafür tun musste, nur weil sie auf dem hinteren Hof wohnten und sich da häuslich einrichteten mit ihrem ganzen Krimskrams. Paradiesisch war das gewesen.

Und bei ihrem letzten Treffen hatte der Häuptling zu ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, er, Namito, werde bald wieder flüssig sein. Sorgen machen? Erst mal nicht, hatte Schindler gedacht, und Namito, der wie immer keinen Schnaps wollte, zugeprostet. Kein Problem, du kannst ruhig noch eine Weile in Naturalien zahlen, hatte er gesagt.

Der Bauer hob das lädierte Fernglas ans Auge. Beinahe hätte er verpasst, dass es endlich losging. Der Dürre mit dem Ziegenbärtchen hatte sich schon fast ausgezogen, die meisten anderen hielten sich in den Armen und schnauften, als wären sie froh, die Tortur endlich hinter sich zu haben. Schindler drückte die mit tiefroten, ausfransenden Äderchen übersäten Backen auseinander und schob die gelblichen Zähne nach vorn. Es war seine Art zu grinsen.

Genau wie er vermutet hatte, legten sie los. So wie ein, zwei Mal im letzten Spätsommer, so wie Anfang Juni, als einmal eine Woche schönes Wetter war, schienen sie jetzt wieder Lust zu haben, sich am Fluss auszutoben. Der Dürre fing an. Er hüpfte in die Lauter und spritzte lachend mit dem kalten Wasser um sich. Dass er seinen ledrigen Schniedel um sich rumschlenkerte, war ihm völlig egal. Das komische Volk johlte, und dann zogen sich alle aus, rissen sich förmlich die Kleider vom Leib, sprangen ins Wasser und triezten sich gegenseitig mit immer neuen Spritzattacken. Lachten und kreischten. Wie die Kinder! Dabei waren die meisten mindestens so alt wie er. Ja, spielt, spielt ruhig, dachte Alfons Schindler, Hauptsache, die Titten hüpfen. So wie bei der dicken Hummel, wie hieß sie noch gleich? Wahnsinn! Die eine, die mit ihren Storchenbeinen durchs seichte Wasser watete, Punam, hatte dagegen obenrum fast nichts. Aber auch das war nicht ohne Reiz.

Schindler drehte am Einstellrad des Fernglases, versuchte, das Bild noch schärfer zu bekommen, und schwenkte hinunter auf die Hinterbacken Punams, die jetzt selbstversunken den Blick direkt in die höher und höher steigende Sonne gerichtet hatte. Gleichzeitig griff er sich mit der rechten Hand zwischen die Beine. So viel schönes, weißes Fleisch, serviert im hellen Sonnenlicht wie ein Braten auf dem Sonntagsgeschirr! Was machte es denn, dass es zum Teil schon ziemlich abgehangen war?

Und doch schwenkte das Glas nach einiger Zeit, fast wie von selbst, hinüber in den Schatten, wo die Neue auf der Rundbank unter der großen Buche saß und das langsam abklingende Spektakel gelangweilt betrachtete. Seit gut zwei Wochen war sie da, und irgendwie passte sie nicht recht zu den Spinnern, mit ihren Tätowierungen und dem Blech im Gesicht und den komischen stachligen Haaren. Trotz des ganzen Plunders fand Schindler sie richtig schön. Sie soll mitmachen, dachte er trotzig, warum macht sie nicht mit? Wir sind eine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Sannyasins, aber jeder darf auch sein eigenes Leben leben, hatte Namito ihm erklärt, als sie auf dem Hof eingezogen waren. Doch so ganz stimmte das nicht, wie sich gezeigt hatte.

Und die Kleine gefiel ihm, zehn Mal besser als die alten Hutzeln. Jetzt streckte sie sich gähnend und zündete sich eine Zigarette an. Dieses Gestell unter den schwarzen Sachen. Diese großen, dunklen Augen. Und den spöttischen Blick, den sie immer aufsetzte, den konnte man ihr austreiben. Das würde er schon schaffen. Vor allem war sie jung, und das wäre wirklich mal etwas anderes. Das wäre … Schindler durfte gar nicht daran denken, und doch wurde das Bild vor ihm immer klarer. Er musste unbedingt mit dem Häuptling reden. Gleich heute noch.

Seine Hand verstärkte den Druck und er stöhnte laut. Wastl hob träge ein Augenlid. Hastig knöpfte sich Schindler die speckige Hose auf.

2.

Es gab kaum etwas Unfriedlicheres als das Ulmer Fischerviertel um die Mittagszeit. Man merkte es nur nicht sofort. Die auf den ersten Blick schnuckligen Eckcafés und Bistros mit den sich zum Kanal hin neigenden Zweiertischchen suggerierten, man sei weit weg von der hektischen Innenstadt, die doch nur einen Katzensprung entfernt war, und wenn man sich niederließ, schlich sich einem der Sound des unablässig pressenden Verkehrs ins Ohr, der schräg oben auf der Neuen Straße bis hinüber zur Olgastraße das Zentrum der Stadt im Würgegriff hatte. Das Kopfsteinpflaster der Gassen wollte einem ein Gefühl der beruhigenden Schwere längst vergangener Zeiten aufdrängen, verströmte eine Art Alles-wird-gut-Attitüde, doch die Menschen hetzten mit ihren Einkaufstüten über diesen altertümlichen Quadratsteinteppich wie über jede ordinäre Asphaltdecke auch. Der Kaffee war dünn und überteuert.

Dieses Trügerische, das sie häufig gerade hier an der vermeintlichen Schnittstelle zwischen Alt und Neu latent spürte, kam Zita Gehring heute besonders stark vor. Dabei müsste die voll und protzig vom Himmel strahlende Sommersonne eigentlich alles Wabernde, alle Unruhe vertreiben wie harmlose Nebelschwaden. Aber wenn diese Unruhe in ihr war, wenn sie sie mit hierhergeschleppt hatte, dann konnte die Sonne scheinen, wie sie wollte. Sie kam doch nicht dran.

Verstohlen blickte Zita hinüber zu Lars, der seinen Cappuccino, abwechselnd löffelnd und schlürfend, mit einer Hingabe vernichtete, die ihr angesichts der fragwürdigen Qualität des Getränks wie Verschwendung vorkam. Immerhin kann er im Gegensatz zu mir genießen, dachte sie. Aber womöglich versuchte er auch nur, Zeit zu gewinnen.

Vielleicht wäre es besser gewesen, dies eine Mal weiter ins Herz des Fischerviertels vorzudringen, sich Richtung Donau zu bewegen. Dorthin, wo es ihr besser gefiel, wo sie abends gern spazieren ging. Vielleicht hätte sich dort ihre Zunge gelöst.

Doch sie brauchte in ihrer meist spärlich bemessenen Mittagspause – sofern sie sich überhaupt eine gönnte – diesen Blick in Richtung Neuen Bau. Sie wusste, dass es ungesund war. Von dort, wo sie saß, im Halbschatten vor dem »Kleinen Eck«, konnte sie lediglich die rotzieglige Kante des verwaschenen Backsteinbaus sehen, und dahinter, weit beeindruckender, die gotische Gipfelstürmerei des Münsters. Aber allein das war genug, denn wenn etwas passieren sollte, wenn genau in dem Moment, in dem sie nicht an ihrem Arbeitsplatz saß, eine wichtige Meldung, ein entscheidender Anruf eingehen sollte, dann würde bestimmt exakt über diesem kleinen Ausschnitt des Gebäudes, in dem das Polizeipräsidium Ulm seinen Sitz hatte, eine Fahne gehisst werden, um sie zu rufen. Komplett irrational!

Wenn wirklich etwas sein sollte, während sie hier ihren Kaffee trank, würde ihr Handy bimmeln, das, sorgfältig auf dem Tischchen platziert, geduldig der Tasse mit der grünen Schleife Gesellschaft leistete. Vorberg, ihr neuer Chef, würde sie sicher sofort kontaktieren. Das heißt, wenn er denn zufällig mal da war. Daimler würde sie sehr wahrscheinlich anrufen, es sei denn, er verzettelte sich. Hektor würde sie links liegen lassen. Daran hatte sie keinen Zweifel.

Kriminalkommissarin Zita Gehring war mit ihren 28 Jahren eine der jüngsten Frauen, die je im Dezernat für Tötungsdelikte bei der Ulmer Polizei eine Stelle bekommen hatte. Und das fanden nicht alle gut. Lars zum Beispiel hätte es lieber gesehen, wenn sie im Betrugsdezernat geblieben wäre. Das hatte er deutlich artikuliert. Etwas anderes hatte er nicht so klar gesagt, aber Zita argwöhnte mehr und mehr, dass er es gern sähe, wenn sie demnächst damit beginnen würde, ihre Karriere bei der Polizei langsam ausklingen zu lassen. In diese Richtung schien der Hase zumindest zu hoppeln.

Zita legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zusammen und schaute mitten in die über der Stadt stehende Sonne. Eine Minute an nichts denken.

Sie richtete ihren geblendeten Blick auf Lars. Lässig zurückgelehnt saß er da, markantes Kinn, tiefblaue Augen, die blonden Haare modisch geschnitten und nicht mehr ganz so lang wie vor eineinhalb Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Seinem Anzug sah man nicht an, dass er den ganzen Morgen im Gericht gewesen war. Und wenn er in Jeans und T-Shirt hier sitzen würde, würde er eine genauso gute Figur machen. Hatte sie sich von ihm blenden lassen?

Er war jedenfalls viel zu schön für sie. Nicht, dass sie unansehnlich gewesen wäre. Ihre Figur war mehr als passabel, und sie mochte die Art, wie ihre braunen Locken an ihrem schmalen Gesicht vorbei auf ihre Schultern fielen. Aber Lars war der Typ, nach dem sich die Weiblichkeit, egal welchen Alters, auf der Straße umdrehte. Sie hatte sich auch deswegen auf ihn eingelassen, oder? War geschmeichelt gewesen, weil dieser attraktive Mann sich für sie interessiert hatte. Die Erkenntnis schmeckte ähnlich schal wie der lauwarme Rest ihres Kaffees.

Außerdem wurde Zita klar, dass sie überhaupt keine Lust darauf hatte, ihr Leben lang um ihn zu kämpfen, weil sich eine Tussi nach der anderen an ihn ranschmiss und er selbst sich kaum noch dagegen wehren würde, sollte ihre glorreiche Beziehung erst einmal ein paar Jahre auf dem Buckel haben.

Da würde es nichts mehr zu retten geben; sie sah sich jetzt schon davonrennen. Ja, er war ein sehr schöner Mann – und so glatt. Keine Ecken, keine Kanten, keine Konturen. Wo zum Geier sollte sie sich da festhalten, wenn etwas schiefging? Sicher, Gewissheit gab es nie. Doch wenn sie sich auf etwas wirklich Ernsthaftes einlassen sollte, brauchte sie wenigstens die Hoffnung, im Notfall irgendwo zugreifen und sich vor dem Absturz retten zu können. Bei Lars Prekups glatter Fassade war sie höchstwahrscheinlich verloren. Oder war sie jetzt zu hart zu ihm?

»Zita, träumst du?«

Er ruderte mit dem rechten Arm vor ihrem Gesicht herum.

»Was …«

»Bist du noch da, oder bist du nur körperlich anwesend? Ich frage nur, weil du nicht reagierst, wenn man dich anspricht.«

»Sorry, ich …«

»Woran hast du gedacht, Schatz?«, fragte Lars lächelnd.

»An diese drei nervigen Berichte, die ich noch fertigkriegen muss bis zum Wochenende. Oder waren es vier?«

Zum Kotzen, Zita! Wie unehrlich kann man sein? Wieso sagte sie ihm nicht geradeaus ins Gesicht, was Sache war? Vermutlich, weil sie es selbst nicht wusste, weil sie keinen blassen Schimmer mehr hatte, wo sie eigentlich stand. Knips wenigstens dieses blöde Lächeln aus, ermahnte sie sich.

»Ich glaub, ich muss dann auch mal wieder los.«

»Also ehrlich, ich finde es ja gut, dass sie dich bei den harten Jungs erst mal die Berichte schreiben lassen. Ich hatte mir schon ein bisschen Sorgen gemacht«, sagte er.

»Ich weiß, Lars, und jetzt kannst du wieder aufhören, dir Sorgen zu machen. Ich bin ein gutes Mädchen, praktisch unverwundbar. Und falls es dich interessiert, bei uns müssen alle ihre Berichte abliefern, auch die Schwanzträger. Das ist nicht wie in eurer Kanzlei, wo jeder der großen Anwälte mindestens drei Tippsen hat.«

Lars grinste. »Apropos, ich würde gern wieder mal testen, was für ein gutes Mädchen du bist.«

Zita schaffte es nicht, zurückzugrinsen. Lars lag nicht komplett falsch. Sie argwöhnte selbst, dass man sie auf ihrem neuen Posten kleinhielt.

Gut, der Einstieg war nicht optimal gewesen. Es konnte niemand was dafür, dass sich das so blöd mit »Rock am Ring« überschnitt. Das konnte sie einfach nicht sausen lassen. Wer wusste schon, ob die Kings of Leon überhaupt nochmal nach Deutschland kommen würden? Jedenfalls war sie am ersten Tag total geplättet in die Abteilung 1 des Dezernats für Tötungsdelikte gekrochen gekommen – und seither, seit fast vier Wochen, musste sie ihrem Gefühl nach deutlich mehr für ihr Image tun als andere. Obwohl die es mindestens so nötig hätten, dachte sie genervt; auch wenn sie nicht, wie Zita, eine Abkürzung genommen hatten, als die sich angeboten hatte, auch wenn sie sich nicht, wie Zita, jeden Tag an der überlebensgroßen Statue der unvergleichlichen Jenny Nies abarbeiten mussten.

»Im Ernst, Zita«, sagte Lars, »ich habe wirklich kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Sie stand auf und ließ einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch segeln.

»Wenn du mich in Watte packen willst, hast du schon verloren. Das solltest du mittlerweile wirklich kapiert haben.«

»Nun sei doch nicht gleich sauer.«

»Ich bin nicht sauer, ich muss nur zur Arbeit.« Sie beugte sich hinunter und hauchte ihm einen Alibi-Kuss auf die Wange. »Aber es wäre schön, wenn du diese Arbeit nicht ständig schlechtmachen würdest.«

»Ich ruf dich an.«

Zita ließ die Ankündigung reaktionslos in ihrem Rücken verklingen, während sie zügig zum Präsidium zurückging.

Der Name führte in die Irre. Der Neue Bau war ein Renaissancegebäude, das im 16. Jahrhundert als Lagerhaus errichtet worden war. Unter dem Dach war Getreide ausgebreitet und mittels der zahlreichen Gaubenfenster belüftet worden, unten, in den gewölbten Räumen und Gängen, lagerte man Wein und Salz. Kein Mensch wusste, warum sich die Bezeichnung, die bei der Fertigstellung 1592 sicher gerechtfertigt gewesen war, bis heute erhalten hatte. Neu sah der zweischenklig wirkende Bau, der sich tatsächlich als Fünfeck schützend um einen Innenhof spannte, schon lange nicht mehr aus. Der Sichtbackstein, der dem massigen Gebäude sein charakteristisches Äußeres gab, war nach dem großen Brand im Jahr 1924 frisch aufgezogen worden. Er war nicht ohne Reiz, hatte aber in den letzten Jahrzehnten stark gelitten, sah verwaschen und angegriffen aus. Die alten, schweren Eisengitter, die auf der Kopfseite des Baus die Fenster sicherten, dort, wo man mit ein bisschen Geschick und viel Chuzpe nächtens hätte einsteigen können, kündeten davon, dass die Zeiten früher im Wesentlichen auch nicht besser gewesen waren.

Zita hatte gehofft, dass Horst Hektor nach der Mittagspause unterwegs sein würde. Vielleicht, um bei einem Gerichtstermin auszusagen, um ein Detail eines Falles abzuchecken, das bei der routinemäßigen Altlastenüberprüfung zutage getreten war, oder von ihr aus auch, um in informellen Gesprächen irgendwo im Haus an seiner Karriereplanung zu arbeiten. Die Luft war einfach besser im Dezernat, wenn er nicht da war. Aber gerade in dem Moment, in dem sie um die Ecke bog und ihre graue Lederjacke abstreifen wollte, dröhnte aus dem hinteren Zimmer seine Stimme.

»Ist die Quotenliesel noch nicht da? Ich brauch endlich den Bericht über die tote Türkin.«

Zita blickte zu Claus Benz, mit dem sie sich das vordere Zimmer in ihrem Dezernatsbereich teilte, und verdrehte die Augen. Benz, den alle Welt Daimler nannte, hob hilflos die Hände. Mach dir nichts draus, sagte sein Blick.

Zita hängte die Jacke an den Haken, weckte im Vorbeigehen mit einem schnellen Fingertippen ihren PC aus dem Mittagsschlaf und stellte sich dann in den Türrahmen von Hektors Arbeitszimmer.

»Hier ist die Quotenliesel!«

Hektor blickte vom Bildschirm auf. Er war groß und hager. In seinem schwarzen Haar, das begonnen hatte, von der Stirn zurückzuweichen, zeigten sich ebenso wie in seinem gepflegten Henriquatre erste graue Spuren. Zehn Sekunden lang sah er sie schweigend an.

»War nicht so gemeint«, sagte er dann, in einem Tonfall, als hätte er sie gebeten, sie solle ihm mal die Zuckerdose reichen.

»Doch. Genau so war es gemeint. Und exakt das schätze ich an Ihnen, Herr Hektor: Dass Sie meistens genau das sagen, was Sie meinen. Da weiß man wenigstens, woran man ist.«

Einen Moment lang funkelten sie sich gegenseitig an, dann drehte sich Zita weg. Die Spitze hatte nicht gereicht, um ihren Ärger zu dämpfen, und noch im Türrahmen murmelte sie halblaut: »Das ist aber auch das einzig Schätzenswerte …«

Es war ihr in dem Moment egal, ob er es hörte, ob er es richtig einsortierte. Was er ganz sicher tat, er war ja nicht dumm. Auf jeden Fall würde er ab jetzt nicht mehr auf ihr herumtrampeln, beschloss Zita. Er hatte ihr nie eine Schonfrist eingeräumt, von Anfang an nicht – seine war jetzt endgültig abgelaufen. Und sollte er, wenn Vorberg im Dezember in den Ruhestand ging, tatsächlich ein Zimmer weiter reisen und auf dem Chefsessel des Dezernats landen – was sein innigstes Streben war, wie man im Neuen Bau munkelte –, dann würde sie eben in Gottes Namen wieder zurück ins Betrugsdezernat gehen, wo’s so schlecht ja auch nicht war. Oder gleich ein paar Kinder kriegen mit Lars Prekup, dachte sie säuerlich.

Sie ließ sich gegenüber von Claus Benz auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Und dann vielleicht, nach einer Auszeit, so werden wie Daimler? Zita beobachtete, wie ihr Kollege, entspannt sein Übergewicht ignorierend, in seinem Drehstuhl hing und auf einem seiner Dartpfeile herumkaute. Daimlers rundliches Gesicht wurde von Pausbacken dominiert, ein schief laufender Seitenscheitel trennte seine dünnen, dunkelblonden Haare. Der PC auf seinem Schreibtisch schien nur eine Randrolle zu spielen, die zentrale Position nahm die gerahmte Fotografie seiner Lieben ein.

Er hob einen Daumen. »Gut gefochten, Mädchen.«

Nichts gegen Daimler. Wenn er nicht ab und zu die Spannung rausnehmen würde, wäre sie schon längst davongelaufen – oder Hektor an die Gurgel gegangen.

»Die tote Türkin brauch ich trotzdem!«, nölte es von drüben herüber.

Zita fragte sich zum hundertsten Mal, was Horst Hektor gegen sie hatte. Okay, er galt als konservativ, er glaubte, dass Frauen höchstens hinter Verkaufstheken, im Idealfall jedoch am heimischen Herd zu finden sein sollten, auf keinen Fall aber bei der Polizei. Denn dort waren sie nur im Weg, wenn die von Gott auserkorenen Speerwerfer und Keulenschwinger des Gesetzes im Schweiße ihres Angesichts ihre Arbeit verrichteten. Andererseits hieß es im Neuen Bau, es habe selten so ein gut geöltes Team gegeben wie Hektor und Jenny Nies. Es wurde sogar getuschelt, das Teamwork sei über die reine Arbeit hinausgegangen. Doch das konnte Zita sich nicht recht vorstellen. Hektor war seit Jahrzehnten verheiratet, und die zig erzkatholischen Gelübde, die er im Laufe seines christlich gepolten Lebens abgelegt haben musste, hätten ein außereheliches Arrangement sicher niemals zugelassen. Andererseits: Heuchler brauchte man hierzulande nicht unbedingt mit der Lupe zu suchen. Und wenn sie es sich recht überlegte, fiel es ihr gar nicht so schwer, sich zu Hektors zahlreichen schlechten Eigenschaften – Arroganz, Rechthaberei, Sturheit – eine weitere dazuzudenken.

Womöglich musste sie auch noch Ungerechtigkeit in Rechnung stellen. Sie konnte nun wirklich nichts für das, was Jenny passiert war. Und irgendjemand musste schließlich ihren Posten übernehmen. Zita war zu dem Zeitpunkt schon seit sechs Monaten beim Kommissariat für Todesermittlungen gewesen – wo sich jeder Polizist normalerweise ein Jahr lang Leichenfestigkeit draufschaffen musste, bevor er sich um Mordsachen kümmern durfte –, und als die Stelle im amtlichen PolizeiMitteilungsblatt ausgeschrieben wurde, hatte sie sich einfach beworben. Sie hatte selbst nicht dran geglaubt, dass man ihr die Chance geben würde. Aber sie hatte sie ganz sicher nicht nur deshalb bekommen, weil sie ein Paar Titten mit sich herumschleppte.

Hektor trat ins Zimmer und spähte nach rechts in den angrenzenden Raum. Die Tür war, wie fast immer, nur angelehnt. Vorberg betonte gern die Offenheit seines Führungsstils.

»Schon wieder nicht da«, maulte er, »wo steckt er denn schon wieder?«

Ist doch spitzenmäßig, dachte Zita, da kannst du ja schon mal fleißig üben, wie man am besten die Chefpose raushängen lässt.

»Keine Ahnung, er ist um halb zwölf verschwunden, ohne sich bei mir abzumelden«, antwortete Daimler und griff zum klingelnden Telefon.

Hektor trat nochmal nach. »Der tut gerade so, als hätte sein Ruhestand schon angefangen.« Dann horchte auch er.

»Sieht also aus wie ein unnatürlicher Tod, oder?« Daimler setzte sich aufrecht hin und schmierte etwas auf einen Zettel.

»’ne junge Frau … und der Radler hat sie gefunden? … Wieso haben Sie nicht gefragt, wo genau das ist? … Jaja, schon gut.«

Daimler legte den Hörer auf und sah Zita und Hektor an.

»Wo zum Fuchs ist Unterwilzingen?«, fragte er.

3.

Das Navi wusste genau, wo Unterwilzingen lag. Daimler fluchte trotzdem mehrmals ausgiebig, als er den Wagen durch den Ulmer Mittagsverkehr und dann Richtung Blaubeuren, Ehingen und weiter lenkte, denn alles in allem waren sie fast 50 Minuten unterwegs, bis sie das Nest erreichten. Es lag, wie man in Daimlers Familie zu sagen pflegte, »hinter pfui Teufel«. Und gleichzeitig im Grenzbereich zum Biosphärengebiet Schwäbische Alb, das vor ein paar Jahren mit viel Hallo und Brimborium aus der Taufe gehoben worden war, um die eher ländliche Region rund um den aufgegebenen Münsinger Truppenübungsplatz zu entwickeln – nachhaltig, wie die offizielle Sprachregelung heutzutage zu lauten hatte. Daimler war da skeptisch. Zum einen waren etliche Millionen nur allein dafür geflossen, die Details des Mammutprojekts auszubaldowern und auf Papier zu bannen, wenn er sich recht an seinerzeit erschienene Zeitungsartikel erinnerte. Und zum anderen brauchte er sich nur umzusehen, um eine Gänsehaut zu bekommen. Die kleinen Landstraßen, die hinter Ehingen noch kleiner und schmaler wurden, verloren sich beinahe zwischen endlosen Feldern übermannsgroßer Maispflanzen – und je näher man dem gelobten Land kam, umso eindimensionaler wurde die Szenerie. Nur wenige Felder lagen brach, Grünland war kaum zu sehen.

»Wahnsinn, oder?«, sagte er. »Jedes Schulkind weiß heutzutage, wie fragwürdig Monokulturen sind, und die pflastern hier alles mit ihrem Mais zu, als gäbe es kein Morgen.«

Doch weder Hektor neben ihm noch Zita, die im Fond saß, reagierten. Hektor hatte beide Hände in Kniehöhe auf den langen Beinen liegen und schaute stur geradeaus. Zita kaute auf ihrer Unterlippe, ließ den Blick kreisen, schien aber nichts wahrzunehmen.

»Na endlich«, sagte Daimler, als hinter einer schwerfällig absinkenden Hügelkuppe die Ortschaft erschien.

Die Straße durchschnitt Unterwilzingen ziemlich genau in der Mitte. Rechter und linker Hand standen jeweils etwa zehn Bauernhäuser, umsprenkelt von Viehställen, Schuppen und Misthaufen. Einen Laden oder ein Wirtshaus suchte das Auge vergeblich. Ganz zu schweigen von Menschen.

»Kaum bist du drin, bist du auch schon wieder draußen«, kommentierte Daimler.

»Da vorne bei der Brücke musst du rechts weg.«

Hektor, der während der Fahrt mit dem Polizeihauptmeister vor Ort telefoniert hatte, um ihr verzögertes Eintreffen durchzugeben, winkte mit dem Arm. Nach wenigen Metern auf dem kiesigen Rad- und Wanderweg sahen sie auch schon Polizei- und Rettungsfahrzeuge, wie an einer Schnur bis fast zum Waldrand hin aufgereiht.

Musste dieser Trubel eigentlich immer sein, wenn irgendwo eine Leiche gefunden wurde?, fragte sich Daimler. Das komplette Polizeirevier Ehingen schien sich hierher in die Pampa aufgemacht zu haben, und wahrscheinlich war auch noch der eine oder andere Posten der Umgegend vertreten. Dabei trampelte diese Riesentruppe im besten Fall keine wichtigen Spuren nieder. Etwas Sinnvolles tun konnten die Jungs nicht, solange es noch kein erstes grobes Bild des Falls gab.

Insofern hätte er Hektor eigentlich Recht geben müssen, der vorgeschlagen hatte, dass Zita im Präsidium die Stellung halten sollte. Wozu, hatte er nicht verraten. Sie kommt mit, hatte Daimler denn auch geradeheraus gesagt, sechs Augen sehen vielleicht mehr als vier, und Hektor hatte sich wortlos gefügt. Ein seltenes Vergnügen.

Jetzt marschierte er zackig wie immer auf die furtähnliche Ausbuchtung an der Lauter zu, um die bereits ein rot-weißes Band gespannt worden war. Daimler erkannte, dass der uniformierte Polizist, dem Hektor im Vorbeigehen flüchtig die Hand geschüttelt hatte, Franz Lackmacher war, der Leiter des Polizeireviers Ehingen. Lächelnd setzte er sich in Bewegung.

»Lacki, du alter Schlawiner, hätt ich mir ja denken können, dass du hier im Einsatz bist.«

»Daimler, schön, dich mal wieder zu sehen.«

Vor x Jahren, während ihrer Ausbildungszeit, hatten Daimler und Lackmacher in diversen Fußballteams der Truppe mit- und gegeneinander gekickt, damals noch ohne ihre rundlichen Bäuchlein, die sich jetzt fast begegneten, als sie sich die Hand gaben.

Lackmacher nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war erst Anfang Juli, doch die Sonne schien heute wieder extrem Lust am Brennen zu haben. Er zeigte auf den blau-weißen Transporter, der weiter vorne am Wegrand stand.

»Sogar die Spurensicherung war deutlich schneller als ihr.«

»Die habt ihr wahrscheinlich auch zuerst angerufen, wie ich dich kenne. Außerdem ist es nicht jedermanns Sache, die tiefste Prärie zu durchqueren.«

Lackmacher wollte protestieren, aber Daimler hob die Hand. »Nichts gegen die Weltstadt Ehingen und ihr üppiges Einzugsgebiet. Das nächste Mal buche ich meinen Urlaub hier.«

Lackmacher grinste schief. »Ja, Urlaub, das wär mal wieder was.«

»Du sagst es, Lacki, aber vorerst … um was geht’s denn hier?«

»Ziemliche Sauerei, finde ich. Die Frau ist vielleicht grade mal dreißig und liegt mit dem Gesicht nach unten da im Fluss. Der Sportsfreund hat sie gefunden.«

Lackmacher zeigte mit dem Finger auf einen Mann in Radlerklamotten, der mit gesenktem Kopf neben seinem Bike am Waldrand auf dem Boden saß. Zwei Männer vom Roten Kreuz knieten bei ihm.

»Vielleicht beim Baden ertrunken?«, fragte Daimler.

»Eher nicht. Ich hab jedenfalls noch nie gehört, dass jemand in der braven Lauter ertrunken ist. Außerdem hat sie ’ne ziemliche Wunde am Kopf. Könnte sein, dass sie heute Nacht einfach jemand hier abgelegt hat. Wir denken jedenfalls, die Sache ist was für euch.«

»Papiere?«

»Am Ufer war weiter nichts zu sehen, keine Tasche, kein Rucksack. Vielleicht haben die Kollegen von der Spurensicherung inzwischen noch was gefunden. Glaub ich aber eher nicht.«

»Okay, danke, Lacki, bis nachher.«

Daimler wandte sich Richtung Fluss, drehte sich dann aber nochmal um.

»Kannst du mir einen Gefallen tun, Franz? Ich lass gleich mal ein, zwei Fotos machen. Könntest du ein paar deiner Jungs damit losschicken, rüber ins Dorf. Sehr wahrscheinlich ist es zwar nicht, dass sie von hier ist und einer sie kennt, aber vielleicht haben wir ja Glück.«

Als Daimler das Absperrband hob und sich nicht sehr elegant unter ihm durchwand, zogen gerade zwei Kollegen die Leiche vollends aus dem Wasser. Der dritte aus dem Spurensicherungsteam, Rolf Ottlik, hatte eine Kamera um den Hals hängen und hob mit theatralischer Geste beide Hände in die Höhe, als gälte es, eine Horde wildgewordener Gaffer abzuwehren.

»Noch nicht!«

Daimler legte grüßend einen Finger an die Stirn. Alter Wichtigtuer, dachte er und gesellte sich zu Hektor und Zita, die im Gespräch mit einer weißhaarigen, betulich wirkenden Frau waren, offenbar einer Ärztin. Sie trug zwei Nummern zu große Gummistiefel, in denen aufgekrempelte, feuchte Stoffhosen steckten. Daimler hatte sie noch nie gesehen. Ihre Hände kneteten nervös an einer Brille herum. Er bezweifelte, dass die zarten Bügel die Operation überleben würden.

»Hat sie noch andere Verletzungen?«, fragte Zita gerade.

»Das kann ich so nicht sagen. Die rechte Hand sieht ungewöhnlich verrenkt aus. Aber die Details werden Sie im rechtsmedizinischen Institut erfahren. Die Kollegen in der Ulmer Uniklinik werden Sie dann sicher unterrichten.«

»Und Sie können also nichts darüber sagen, wie lange die Frau im Wasser lag?«, bohrte Zita weiter.

»Das wäre wirklich sehr spekulativ, ich möchte mich auch da nicht zu weit aus dem Fenster lehnen …«

Zita heftete fordernd den Blick auf die ältere Dame.

»… wobei es wohl kaum länger als eine Nacht gewesen sein dürfte. Aber das ist jetzt informell.«

Hektor verzog das Gesicht und schüttelte unwillig den Kopf. Daimler streckte der Frau schnell die Hand hin.

»Guten Tag, Benz mein Name, Kriminalhauptkommissar, Frau Doktor …?«

»Langenegg.«

»Und Ihre Praxis ist in …?«

»In Lauterach, und ausgerechnet heute habe ich Bereitschaft.«

»Es ist sicher das erste Mal, dass Sie zu … zu so einer Sache hinzugerufen werden«, sagte Daimler mitleidig.

Frau Doktor Langenegg nickte heftig.

Auf Daimlers Anraten ging die Ärztin zu ihrem Wagen, um in Ruhe die Todesfeststellungsbescheinigung auszufüllen. Er hätte seine Premium-Dartpfeilkollektion verwettet, dass sie bei Todesursache »unklar« ankreuzen würde. Aber wenigstens das musste sie erledigen, wenn sie denn schon mal hier war.

»Ich verstehe nicht, warum der Rettungsdienst es nicht geschafft hat, sich von einem ordentlichen Notarzt begleiten zu lassen«, ärgerte sich Hektor. »Stattdessen holen sie diese alte Schnepfe her.«

»Sind eben nicht alle so forsch wie du, Horst.«

Zita blickte in die Runde. »Schätze, es ist höchste Zeit, dass wir die Staatsanwaltschaft informieren.«

»Sehr richtig, Frau Kollegin.« Hektor griff zu seinem Handy und drehte sich weg.

»Sag ihnen, sie sollen gleich eine Obduktion anordnen«, rief Daimler ihm hinterher. Dann schaute er Zita an und lächelte.

Das war fast schon eine Art Lob für sie gewesen, wenn auch recht spitz ausgestoßen. Zumindest aber die erste positive Rückmeldung, die sie von Hektor erhalten hatte, seit sie ins Dezernat gekommen war. Zita lächelte nicht zurück. Sie war deutlich blasser im Gesicht als sonst. Zumindest kam es Daimler so vor.

Dennoch folgte sie ihm tapfer, als er sich über die Leiche beugte. Rolf Ottlik war so gnädig gewesen, sie herzuwinken. Daimler war seit fast fünfzehn Jahren mit Tötungsdelikten beschäftigt. Schöne Anblicke: null. Wie vielen Kollegen machte es auch ihm am meisten zu schaffen, wenn die Opfer jung waren. In solchen Fällen empfand er es als besonders bitter, dass irgendjemand genügend Gründe gefunden hatte, das Leben eines anderen Menschen auszulöschen. Dann spürte er Wut, mehr Wut, als seiner beruflichen Souveränität guttat. Hektor war da anders, professioneller, dachte Daimler, fast ein wenig neidisch. Auch Jenny Nies war anders gewesen. Ein Mord ist immer ein Mord, hatte sie gesagt, und ihren typischen grimmigen Blick aufgesetzt, als Daimler einmal bei einer kollegialen Trinkrunde seine Gefühlswelt auf dem Kneipentisch ausgebreitet hatte.

Die zierliche Frau, die im Sand lag, war schätzungsweise zwischen 25 und 30 Jahre alt. Die leicht aufgedunsenen Züge ließen kein klares Urteil zu. Sie wirkte schon allein deshalb jünger, als sie vielleicht war, weil sie nicht nur ein halbes Dutzend Silberringe in den Ohrläppchen hatte, sondern auch zwei an der Unterlippe und einen in der Nase. Der Bauchnabel war ebenfalls gepierct, wie das hochgerutschte schwarze Top verriet. Und weiter unten wird es vielleicht grade so weitergehen, dachte Daimler und betrachtete die enge Stretchhose, gleichfalls schwarz, die bis über die Knie der schlanken Beine reichte. Die Füße waren nackt, die Zehennägel schwarz lackiert, genau wie die Fingernägel. Die rechte Schulter war mit einem dornigen Rosenfeld tätowiert, auf dem linken Sprunggelenk lauerte ein Panther.

»Scheint dem Gothic-Style verfallen gewesen zu sein«, sagte Zita. »Sogar die Haare hat sie sich schwarz gefärbt.«

»Woran siehst du das?«, fragte Daimler.

»Na ja, die Haare sind zwar rabenschwarz, aber die Stoppeln unter den Achseln kommen hell durch. Und auch der leichte Flaum über der Oberlippe sieht eher so aus, als ob er zu einer von Natur aus blonden oder wenigstens brünetten Frau gehört.«

»Möglich … auf jeden Fall sieht sie noch einigermaßen frisch aus. Ich glaube nicht, dass sie länger als seit gestern Nacht im Wasser liegt.«

»Glaub ich auch nicht«, meinte Rolf Ottlik, »man braucht kein Arzt zu sein, um das zu sehen.«

»Was macht die Spurenlage?«

Ottlik kratzte sich am Kopf. »Da will ich erst mal keine Hoffnungen wecken. Ich würde sagen, dass eine gewaltsame Auseinandersetzung hier auf jeden Fall nicht stattgefunden hat. Aber zu mehr wird’s wohl leider nicht reichen. Die Ehinger Kollegen haben vorhin erzählt, dass gestern Nacht ein ordentliches Gewitter hier drübergegangen ist.«

»Shit, das hat sicher nicht viel übrig gelassen, was uns eine Geschichte erzählen könnte«, sagte Zita.

»Wahrscheinlich, aber wir kämmen hier natürlich noch die ganze Umgebung durch, vielleicht finden wir ja was.« Ottlik blickte die beiden Kriminalpolizisten an. »Wenn ihr endlich weg seid …«

»Dankeschön, das heißt, falls das ’ne Aufforderung war, Feierabend zu machen«, antwortete Daimler. »Wir müssen nur noch schnell klären, was der Radler zu sagen hat.«

Hektor gesellte sich wieder zu ihnen, als Daimler und Zita zu dem etwa 50-jährigen Mann in dem weißen Radlertrikot mit den magentafarbenen Ärmeln traten. Überbleibsel aus der Hochzeit des Teams Telekom, dachte Daimler, wer schwingt sich denn heute noch mit so was in den Sattel? Der Radler sah gezeichnet aus. Er stand auf, versuchte sich zu straffen, schwankte aber. Das Trikot spannte bedenklich.

Hektor hatte sich und seine Kollegen kaum vorgestellt, da fiel ihm der Mann schon ins Wort: »Kann ich denn nicht endlich gehen?«

»Gleich«, antwortete Hektor, »wenn Sie uns erzählt haben, wie Sie die Frau gefunden haben, Herr …?«

»Heidolf, aber das hab ich doch schon zehn Mal«, beklagte sich der Radler. »Den anderen Polizisten, den Rettungssanitätern, der Ärztin, dem Typ da drüben.« Er zeigte auf Ottlik, der einige der uniformierten Polizisten verscheuchte, die auf seine Gerätschaften starrten.

»Beruhigen Sie sich, Sie haben vermutlich einen leichten Schock«, meinte Daimler beschwichtigend.

»Das glaube ich auch, deswegen will ich ja nach Hause und mich endlich hinlegen.« Er schnaubte. »Da treibt man einmal im Leben ein bisschen Sport, und dann das.«

Missmutig erzählte Heidolf dem Trio, dass er aus Kirchen, einem etwa zehn Kilometer entfernten Ort, komme. Seine Frau habe ihm noch gesagt, es sei keine gute Idee, ausgerechnet an einem so heißen Sommertag untrainiert aufs Rad zu steigen. Er sei froh gewesen, dass er es bis an die Lauter geschafft habe.

»Und dann hab ich das Rad abgestellt und bin runter zum Fluss, um mir ein bisschen Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ich knie nieder und der Schweiß läuft mir in die Augen und ich will erst mal was trinken, meine Kehle war total ausgedörrt, weil ich meine Trinkflasche blöderweise daheim vergessen habe, und dann guck ich da rüber, und da liegt sie so halb unter dem Gesträuch da rechts im Wasser, und ich bin vor Schreck erst mal rückwärts gefallen, weil ich dachte, die schwimmt auf mich zu.«

Heidolf schloss die Augen und schwankte wieder ein wenig. Einer der Männer vom Roten Kreuz griff ihm unter den Arm und stützte ihn.

»Und dann?«, fragte Hektor nach einer längeren Pause.

»Dann hab ich die Schuhe ausgezogen, und die Socken.« Heidolf stockte wieder. »Und gewartet. Eine Ewigkeit lang. Zumindest kam’s mir so vor. Und ich hab mir immer wieder gesagt, ich muss was tun.« Er rang die Hände. »Irgendwann hab ich mich aufgerafft, bin hin und hab sie umgedreht. Sie hing in dem Gestrüpp, und sie war ganz schwer. In ihren Augen hab ich gleich gesehen, dass sie tot ist.« Heidolf musste sich wieder setzen.

»Und dann hab ich gleich die 110 angerufen. Das war doch richtig, oder?«

»Völlig richtig, das Beste, was Sie tun konnten«, bestätigte Daimler.

»Und der vom Rettungsdienst hat gesagt, dass es auch nichts genützt hätte, wenn ich schneller gewesen wäre. Dass sie trotzdem tot gewesen wäre.«

Der Mann war mit seinen Kräften am Ende. Sinnlos, dachte Daimler. Dennoch fragte er routinemäßig: »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«

Heidolf schüttelte nur den Kopf. Dann sagte er leise: »Bitte …«

»Bringen Sie ihn nach Hause«, forderte Hektor die Rettungssanitäter auf.

Als Daimler sich umdrehte, sah er Franz Lackmacher auf sich zukommen, einen jungen Streifenpolizisten im Schlepptau.

»Ich glaub, ich hab da was für dich und deine Kollegen, Daimler.« Der Stolz in seiner Stimme war kaum zu überhören.

Mit einer Kopfbewegung forderte er den jungen Polizisten auf, Bericht zu erstatten.

»Ich hab das Bild auf dem Handy drüben im Dorf gezeigt.«

»Und?« Daimler bemühte sich, ruhig zu bleiben.

»An den meisten Häusern hat keiner aufgemacht, aber einer glaubt, dass er sie schon mal gesehen hat. Auf so einem alternativen Hof.«

»Wo, bitte?«, fragte Daimler.

»Das hab ich jetzt so formuliert«, meinte der Polizist beflissen. »Der Mann sagte, er kenne sie von den Sektenheinis. Die würden da drüben auf der anderen Seite von Unterwilzingen hausen. Zu denen gehöre sie.«

4.

Das Schild hätte einen frischen Anstrich vertragen können, doch bei der Gestaltung hatte sich irgendjemand einmal viel Mühe gegeben. Aus dem verwitterten Holz wuchsen Schlangen, die ihre Leiber übereinanderschoben und die Mäuler aufrissen, ob um Artgenossen zu verschlingen oder sie auf obskure Weise zu gebären, wurde zumindest beim schnellen Betrachten nicht ganz klar. In die Mitte war mit großen, geschwungenen Buchstaben das Wort »Sarjana« geschnitzt worden; mit weißer Farbe hatte man dahinter, vergleichsweise lieblos, eine 2 gepinselt. Unter dem eigentlichen Schild, das mit zwei schweren Holzpfosten im Boden verankert war, hing kleiner und schmaler eine Art Mitteilungsbrett, an dem ein einziges Blatt Papier klebte. ›Heute kein Ausdrucksmalen‹, las Zita.

Das Schild stand an der Weggabelung. Hinter Zita und ihren Kollegen erhob sich ein gedrungenes, langgezogenes Bauernhaus, von dem sich der Putz an vielen Stellen schon verabschiedet hatte, um käsige Sandsteinmauern freizulegen, die von grauen, tief von Wind und Wetter gezeichneten Holzbalken durchfurcht waren. Es schien, als arbeitete die Zeit langsam, aber beharrlich daran, das Gerippe des Hofs freizulegen. Die schmierigen Fenster waren teilweise noch flankiert von brüchigen Holzläden, teilweise schon schutzlos. »Der Schindler-Hof«, hatte der junge uniformierte Polizist, der die drei Kriminalbeamten begleitete, im Vorbeigehen gemurmelt, als erklärte das alles.

In einem 45-Grad-Winkel schloss sich an das Wohnhaus ein düsterer Stall an, der von seinem dunklen Schieferdach in die staubige Erde gedrückt wurde. Eine Jauchegrube sorgte für würzigen Duft. Zita hörte Kühe muhen. Es ging langsam auf den Abend zu; vermutlich wollten die Tiere gemolken werden. Sie fragte sich, wo es sich wohl besser leben ließ auf diesem Hof: im Wohnhaus oder im Stall?

Vor ihnen teilte sich der Weg. Kiesig und breit öffnete sich der linke Strang zur Lauter hin, wo am Ufer ein junger Mann mit nacktem Oberkörper stand und mit Bällen jonglierte. Geradeaus ging es weiter zum Vorplatz einer mächtigen Scheune, deren Steinfundament auf halber Höhe von einem Holzaufbau abgelöst wurde. Links von ihr stand ein weiteres Bauernhaus, das nicht ganz so heruntergekommen wirkte wie der Hof hinter ihnen. Der Fluss schmiegte sich eng an ihm vorbei und verschwand im Mischwald, der sich zum Horizont hin höher und höher aufwarf und in dessen von der Sonne ausgebleichtes grünes Kleid die typischen Karstfelsen der Schwäbischen Alb graufarbene Tupfer setzten.

Die Gehöfte lagen gut eineinhalb Kilometer außerhalb des Dorfs, von ihm durch eine Streuobstwiese und eines der unvermeidlichen Maisfelder getrennt. Doch Zita kam es vor, als läge weit mehr Distanz zwischen den Häusern und Höfen im Ort und dem merkwürdigen Gebäudeensemble am Waldrand, als das bloße Auge zu erkennen vermochte.

Der Jongleur warf seine Bälle höher in die Luft als zuvor und drehte sich einmal um die eigene Achse, verlor bei dem Manöver allerdings die Kontrolle. Zwei der vier Bälle plumpsten zu Boden. Der Mann bemerkte die Polizisten, ließ die Bälle im Sand liegen und kam langsam auf sie zugeschlendert.

»Dauert noch ein bisschen, bis ich damit auftreten kann«, meinte er achselzuckend und warf im Gehen die beiden restlichen Bälle, die er in einer Hand gehalten hatte, abwechselnd hoch. Er war barfuß, trug nur eine knielange, helle Leinenhose, war braungebrannt und hatte ein offenes Gesicht. Die halblangen blonden Haare fielen ihm in die Stirn. Er konnte höchstens 25 sein. Zita fand, er sah gut aus, und sie fühlte sich bei seinem Anblick erleichtert. Er wirkte irgendwie … normal. Sie wusste nicht, was genau sie erwartet hatte. Eine Truppe von tätowierten Grufties in einer dunklen Höhle, die von umgedrehten Kreuzen bewacht wurde? Irgendwas in der Art.

»Gehören sie zu …?« Hektor ließ seine Frage in ein vages Nicken hinüber zu dem Haus und der Scheune münden.

»Zum Sarjana. Ja.«

»Was bedeutet Sarjana?«, fragte Zita.

»Das ist Hindi, in Englisch würde man Creation sagen, auf Deutsch vielleicht Schöpfung.«

Er verzog das Gesicht zu einem verschmitzten Grinsen, als außer skeptischen Blicken keine Reaktion kam.

»Ja, ich weiß, klingt ein bisschen hochgestochen. Sagen wir, der Begriff steht für lebendige, kreative Gemeinschaft. So würde es wahrscheinlich Namito formulieren.«

»Und Sie sind wer nochmal?«, wollte Daimler wissen.

»Ich bin Prem Pantha. Das bedeutet Weg der Liebe. Ist auch ein bisschen abgehoben.« Er lächelte und sah Zita an. »Jedenfalls suche ich noch.«

»Die Frage geht dahin, wie Sie richtig heißen.«

Zita hörte an Hektors Stimme, dass er ungeduldig wurde. Der junge Mann hatte in seiner zur Schau gestellten Lässigkeit etwas Provozierendes an sich.

»Richtig oder falsch, wer mag das schon beurteilen?«, meinte er und widmete sich wieder seinen Bällen. Abwechselnd ploppten sie in seine rechte Hand und flogen wieder nach oben.

Hektor machte einen Schritt auf ihn zu.

»David Kiemer …«, sagte Prem Pantha, drehte sich einmal um die eigene Achse, fing mit jeder Hand einen Ball und deutete eine leichte Verbeugung an. »Steht in meinem Ausweis. Den wollen Sie bestimmt gleich sehen, oder? Aber vorher wäre ich auch gern darüber aufgeklärt, was Sie eigentlich hier wollen. Dass Sie von der Polizei sind, hätt ich auch gecheckt, wenn Sie nicht Ihren blauen Kollegen im Schlepptau hätten.«

Daimler ließ den Finger im Halbkreis herumwandern. »Gehring, Hektor und Benz von der Kripo Ulm. Und das ist Polizeimeister Tränkle vom Ehinger Revier.«

»Und wer ist Namito?«, fragte Zita.

»Bestimmt Ihr Guru«, sagte Hektor mit gepresster Stimme, bevor der junge Mann antworten konnte.

Er zimmert schon an seinen Vorurteilen herum, dachte Zita.

»So würde ich es nicht nennen«, meinte Prem Pantha. »Aber da vorne ist er. Fragen Sie ihn doch selbst.«

Er zeigte mit dem Finger auf das vielleicht fünfzig Meter entfernt liegende Bauernhaus am Fluss, aus dessen Tür drei Personen getreten waren, offenbar in eine Auseinandersetzung verstrickt. Das Gespräch schien recht lautstark geführt zu werden, doch bis zu Zitas Ohren drangen lediglich ein paar nicht identifizierbare Silbenfetzen. Die Stille im Hintergrund erschien ihr trügerisch. Vom Dorf her hörte man schwach, wie eine Kreissäge sich durch Holz fraß.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Im Gehen beobachtete Zita, wie eine schwarzhaarige Frau in einem weiten Kleid sich umdrehte, ein lautes Nein ausstieß und davonrannte. Der untersetzte, bullige Mann, der sie schützend gehalten hatte, drohte mit dem Finger und ließ den Dritten, der mit bedächtigen Gesten seine Worte unterstrichen hatte, dann ebenfalls stehen.

»Man sieht, es ist hier wie im richtigen Leben, nur viel spiritueller und bewusster«, sagte Prem Pantha mit spöttischer Stimme und schloss zu Zita auf.

»Gut zu wissen.«

Mehr fiel ihr im Moment dazu nicht ein, weil sie sich ganz auf den Mann, der Namito sein musste, konzentrierte. Er war groß, wohl an die 1,90, und hager. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er konnte in seinen frühen Fünfzigern sein, vielleicht aber auch schon knapp an die Sechzig heranreichen. Die langen, dunkelblonden Haare waren sicher in jungen Jahren voller und dichter gewesen, und die hohe Stirn weitete sich zu einer lichter werdenden Fläche. Das rauweiße Leinen, das er trug, unterstrich seine schlanke Gestalt auf eine angenehme Weise, fast so, als wären die locker sitzende Hose und das knapp über den Bund fallende, kragenlose Hemd mit den Dreiviertelärmeln speziell für ihn angefertigt worden.

Zita schien es, als blitzten seine blauen Augen dem Pärchen hinterher, das um die Ecke hinter der Scheune verschwunden war, doch als er den Blick auf die Neuankömmlinge richtete, war er klar und sanft. Für jemanden, der gerade eine ordentliche Meinungsverschiedenheit ausgetragen hatte, schien er erstaunlich schnell zur Ruhe gekommen zu sein. Gelassen wartete er auf die Erklärung, die diesem geballten Anmarsch folgen musste.

Hektor übernahm die Vorstellung und räusperte sich dann. »Sie … tragen hier die Verantwortung?«

»So könnte man es sagen«, antwortete der Hagere. »Wir sind eine Gemeinschaft und treffen die meisten Entscheidungen gemeinsam, aber in gewissen Fragen muss ein Einzelner nach vorne treten. Das bin in der Regel ich, wobei ich gestehe, dass es mich nicht dazu drängt, vor allem, wenn es sich nicht um spirituelle Dinge handelt. Aber manchmal bedingt das eine, das Spirituelle, auch das andere, das Weltliche, und umgekehrt. Vor allem in einer so kleinen Gruppe, wie wir es sind. Mein Name ist Friedrich Thalmann, aber nennen Sie mich Namito, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Er trat von der abgeschabten, schiefen Stufe des Hauseingangs und gab den Polizisten nacheinander die Hand. Genau getimter Druck, dachte Zita, nicht zu fest und nicht zu lasch.

»Wie viele Leute sind Sie hier, sagten Sie?«, fragte Daimler.

»Knapp 25 derzeit«, antwortete Namito. »Warum?«

»Gehört diese Frau dazu?«

Daimler hielt ihm das Handy hin.

Namito starrte auf das Foto, das keinen großen Zweifel daran ließ, dass man es mit dem Gesicht einer Leiche zu tun hatte.

»Oh nein«, sagte er dann, hielt sich eine Hand vor die Augen und drehte sich zur Seite.

Zita registrierte, dass er nicht »Mein Gott« sagte, wie es wahrscheinlich die meisten anderen Menschen in seiner Situation getan hätten.

Namito wandte sich wieder den Polizisten zu.

»Ist sie tot?«

Daimler nickte.

»Ein Unfall, oder?«

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Daimler, »wir wissen noch nicht einmal, wer die Frau ist. Wir hoffen, Sie können uns helfen.«

»Ja, natürlich, aber setzen Sie sich doch«.

Namito wies sie an einen massigen, aus Sandstein gehauenen Tisch, der vor dem Haus halb im Schatten stand und von einfachen, klobigen Holzblöcken umgeben war, die dem Sitzenden wenig Bequemlichkeit versprachen. Die Sonne hatte zu sinken begonnen, und ihre letzten heißen Strahlen brachen sich an der äußersten Nase der Felswand, die auf der anderen Seite der Lauter den Wald teilte. Die Schnelleren, Hektor und Tränkle, schnappten sich die Plätze, die bereits im Schatten lagen. Prem Pantha lehnte sich an die Hauswand und zupfte an seinen Bällen herum, offenbar unschlüssig, wie weit er sich auf das Ganze einlassen sollte.

»Sie heißt Sylvie Wilke«, begann Namito, »und sie lebte erst seit etwa zwei Wochen bei uns im Sarjana. Sie gehörte nicht fest zu unserer Gemeinschaft. Wissen Sie, wir haben hier immer wieder Besucher, die sich, sagen wir, unschlüssig sind, wie sie in Zukunft leben wollen. Sie wollen herausfinden, ob das Leben in einer Gemeinschaft für sie passen könnte, sie wollen direkt und unverfälscht erfahren, ob Osho ihnen etwas zu sagen hat.«

»Osho?«, unterbrach ihn Zita.

»Osho, früher besser bekannt als Bhagwan, ist für uns hier die Richtschnur in dem, was wir tun. Das Sarjana lebt in seinem Geist.«

»Verstehe.« Hektors Gesichtsausdruck ließ das Gegenteil vermuten. »Bhagwan, den Namen hat man ja schon mal gehört. Aber er hat nicht jedem etwas zu sagen?«

Ein feines Lächeln umspielte Namitos Züge. »Natürlich nicht. Schließlich sind ja nicht alle Menschen gleich. Nicht einmal jedes Reiskorn auf der Welt ist gleich. Wer die Individualität des Menschen nicht akzeptieren kann, wer der Gleichmacherei das Wort redet, hat überhaupt nichts begriffen. Und selbst wer die Verbundenheit zu Osho spürt, wird nicht zwingend in einer Gemeinschaft wie der unseren leben wollen oder können. Auch wenn ich persönlich der Meinung bin, dass so der innere Kern seiner Gedanken am besten zum Ausdruck gebracht werden kann.«

»Und Sylvie Wilke wusste noch nicht, was sie wollte«, warf Daimler ein.

»Sie war unentschlossen und unerfahren in diesen Dingen. Ich glaube, sie begann gerade erst, ihre Spiritualität zu entdecken. Und jetzt das …« Namito schüttelte den Kopf.