Prost Wahlzeit! Satirischer Roman aus dem Südwesten - Peter Schwendele - E-Book

Prost Wahlzeit! Satirischer Roman aus dem Südwesten E-Book

Peter Schwendele

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Beschreibung

Ein herrlich satirischer Roman über den Filz in einer badischen Kleinstadt nahe Freiburg. Beim Wahlkampf um den Bürgermeisterposten findet sich der Lokaljournalist Jochen Wehlmeier urplötzlich zwischen allen Fronten wieder. Er fällt im eigenen Haus in Ungnade, der amtierende Bürgermeister ist unzufrieden mit ihm, ebenso der Kandidat der zweiten großen Partei. Doch dann entdeckt Wehlmeier, dass beide im Begriff stehen, einen Deal mit Scientology einzugehen ...

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Peter Schwendele wurde 1965 in Munderkingen geboren. Nach Abitur, Zivildienst und einem längeren Auslandsaufenthalt studierte er Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie in Freiburg im Breisgau. Er ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder und lebt in Schopfheim, wo er als Redakteur für die Tageszeitung Markgräfler Tagblatt arbeitet. Sein erstes Buch, der Kriminalroman »Verkaufte Erleuchtung«, ist 2018 im Silberburg-Verlag erschienen.

www.peterschwendele.de.

PETER SCHWENDELE

Prost Wahlzeit!

ROMAN

Die Handlung und alle Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich lebenden Personen wären rein zufällig.

Der Ort Dickkirchen ist eine fiktive Kleinstadt im badischen Hinterland. Auch die in diesem Buch vorkommenden Tageszeitungen sind der Fantasie des Autors entsprungen.

Sollte dieses Werk Links auf Webseiten Dritter enthalten, so machen wir uns die Inhalte nicht zu eigen und übernehmen für die Inhalte keine Haftung.

1. Auflage 2020

© 2020 by Silberburg-Verlag GmbH, Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Andrea Longerich, César Grafik GmbH, Köln.

Innenlayout und Satz: Sabine Düde, César Grafik GmbH, Köln.

Coverfoto: © RomanYa – Shutterstock.

Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

Druck: CPI Books, Leck.

Printed in Germany.

eISBN 978-3-8425-2285-5

ISBN 978-3-8425-2189-6

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Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms: www.silberburg.de.

Eine freie Presse kann gut oder schlecht sein,aber eine Presse ohne Freiheit kann nur schlecht sein.

Albert Camus

INHALT

DER HERR REDAKTÖR

VOM UNHEILIGEN GRAL

HOME, SWEET HOME

DIE KANDIDATENSCHAU

IN LECKENBURGS SCHÄDEL

TELEFONTIRADEN, TAUSENDUNDEINE

ABTÖRNEN UND AUFBAUEN

ZUCKOS KALENDER

ZEITGEMÄSSES SCHREIBEN

»WIR MACHEN WAS SCHÖNES FÜR SIE«

RECHERCHEARBEIT

DIE SACKTHEORIE

IM ADLERNEST

PROST WAHLZEIT!

DER HERR REDAKTÖR

»Wehlmeier, Dickkircher Nachrichten.«

»Ja, guten Tag, hier spricht Georg Schnitzler vom Schützenverein. Hören Sie, wir haben morgen Nachmittag eine Vorstandssitzung im ›Hirschen‹, können Sie das noch in die Zeitung bringen?«

Orkkacke! Ich musste mich schwer beherrschen, um nicht wie ein angeschossenes Wild in den Hörer zu röhren. Jeden Freitagabend die gleiche Pampe: Kaum hatte man sämtliche Seiten endlich irgendwie zugenagelt und war dabei, eine nach der anderen auf die Reise ins Druckzentrum zu schicken, rief irgendein Wichtigtuer an und beanspruchte noch ein Plätzchen in der Samstagsausgabe. Mein Gehirn war nach den vielen Stunden in der Redaktion schon ziemlich matschig, aber meine Instinkte funktionierten noch leidlich, und so ahnte ich, dass für den guten Herrn Schnitzler sein Schießbrudertreff eine Wertigkeit von geradezu biblischen Ausmaßen besaß.

»Das tut mir leid, Herr Schnitzler.« Es fiel mir schwer, in meiner Stimme nach einem Rest von Freundlichkeit zu kramen. »Aber die Seiten für morgen sind alle schon fertig, da sind Sie ein bisschen zu spät dran.«

»Wie – zu spät? Die Sitzung ist aber wichtig, es geht um unser Jubiläum«, nölte er, einen Tick zu laut für meine angeschlagenen Nerven.

»Na, es ist gleich sieben Uhr, schon mal was von Redaktionsschluss gehört?«, fragte ich ihn gereizt. »Was glauben Sie denn, was wäre, wenn jeder so auf den letzten Drücker kommen würde, dann würde das Blatt ja nie fertig.«

Ich fegte die letzten Reste in meinem rostig gewordenen Energiespeicher zusammen und hob zu einer umfassenden Erläuterung an. Ich erklärte ihm, dass nur in wichtigen Ausnahmefällen die Möglichkeit bestünde, so spät noch etwas in der nächsten Ausgabe zu lancieren, dass es aber absolut sinnfrei sei, wegen der simplen Vorstandssitzung eines Vereins das Blatt nochmals aufzureißen, selbst wenn es sich dabei um den zweifellos mit vielen Verdiensten behafteten Dickkircher Schützenverein handle. Denn zum einen, erläuterte ich, habe doch sicher bereits jedes der mutmaßlich sechs oder sieben Mitglieder des hoch geschätzten Vorstands eine von ihm, Schnitzler, verfasste Einladung zu der Sitzung bekommen und wisse somit ohnehin Bescheid, dass es morgen Nachmittag anzutanzen habe. Zum anderen interessiere es die zeitungslesende Öffentlichkeit nicht einmal am Rande, dass, geschweige denn, wann er und seine Handvoll Kumpels tagen würden. Er möge also ruhig bleiben, riet ich dem immer mehr in eine keuchende Nervosität verfallenden Anrufer, sich das Schießpulver sparen, für diesmal auf die Meldung in unserem Blatt verzichten und sich künftig zwei, drei Tage vor der Sitzung melden; dann könne man meinetwegen über eine zeitnahe Veröffentlichung reden, auch wenn es meiner bescheidenen Ansicht nach grundsätzlich weiterhin ohne tieferen Sinn bleibe, arglose Zeitungsleser mit der Meldung über eine bevorstehende Vorstandssitzung zu traktieren.

Er schnaufte jetzt wie eine Lokomotive; offenbar war ihm der Sarkasmus in meiner Stimme nicht entgangen. Beim Dickkircher Kurier – unserer Konkurrenzzeitung – sei man deutlich kooperativer gewesen, meinte er schnippisch. Dort habe er gerade eben angerufen, und man habe ihm unverzüglich – und außerdem auf freundlichste Art und Weise – versichert, dass die gewünschte Meldung selbstverständlich morgen erscheinen werde. Das verstehe er unter Leserservice, meinte der Herr Schnitzler kurzatmig. Und als ich nicht reagierte (manchmal konnte man den Kurier einfach nicht ernst nehmen!), spielte er seinen letzten Trumpf aus.

»Der Herr Nakovic hat aber mal zu mir gesagt, ich könne jederzeit anrufen. Ist der denn nicht da?«

»Ach, tatsächlich, der Herr Nakovic hat das gesagt …«

Plötzlich witterte ich Morgenluft. Ich drehte mich leicht auf meinem altersschwachen Bürostuhl und spähte mit einem Auge hinüber zu dem hufeisenförmig aufgebauten Schreibtisch am anderen Ende des rechteckigen Kabuffs, in dem wir Tag für Tag unser journalistisches Werk verrichteten und – oft genug im Akkord – eine Ausgabe der Dickkircher Nachrichten nach der anderen produzierten.

Nakovic, der mich, da war ich sicher, wie so oft kritisch beäugt hatte, war bereits dabei, seinen Computer herunterzufahren und seine Siebensachen zusammenzupacken. Er war so was von auf dem Sprung, schließlich hatte er heute noch einen mächtig langen Trip vor sich, und jetzt winkte er mit hektischen Bewegungen in meine Richtung, tippte gleichzeitig auf seine Armbanduhr. Es war eindeutig: Er wollte alles, nur nicht, dass ich unseren famosen Schützenboss zu ihm durchstellte; aber ich tat, als verstünde ich nicht, ja, als sähe ich nicht einmal, was er mir signalisierte.

»Wissen Sie was, Herr Schnitzler, das Beste wird sein, ich verbinde Sie mal mit dem Herrn Nakovic, dann können Sie die Sache mit ihm erörtern.« Säuselte ich etwa jetzt? Meine Laune stieg jedenfalls ein wenig, als ich die Verbindungstaste zu Nakovics Apparat drückte. Er hingegen ließ die Schultern hängen und blickte mich finster an.

»Für dich, Eduard, ein Herr Schnitzler vom Schützenverein«, sagte ich leichthin, froh, den Ballermann los zu sein und gleichzeitig Nakovic eins reinwürgen zu können. Sollte der sich ruhig selbst mit der Grütze auseinandersetzen und seine blöden Versprechungen ausbaden. Sonst tat er ja auch gern so, als wäre er hier der Chef. Na ja, de facto war er das leider auch.

Es ist nicht so, dass ich grundsätzlich ein schadenfroher Mensch bin. Aber für Eduard Nakovic, den offiziellen Leiter der Lokalredaktion der Dickkircher Nachrichten, machte ich von Zeit zu Zeit schon mal ohne sonderliche Gewissenbisse eine Ausnahme. Das mochte damit zusammenhängen, dass die Verlagsleitung ihn mir vor eineinhalb Jahren mir nichts, dir nichts vor die Nase gesetzt hatte; es lag aber mehr noch daran, dass Nakovic meiner Einschätzung nach einfach ein unausstehlicher Zeitgenosse war.

Ich hörte, wie sein PC zu rattern anfing. Er fuhr das Ding tatsächlich nochmal hoch, offenbar, um auf der dritten oder vierten Seite eine Meldung, die noch ein paar Tage Zeit hatte, runterzuschmeißen und so Platz zu schaffen für die morgige, offenbar historische Sitzung der Gewehrträger. Gleichzeitig übte er sich diesem Schnitzler gegenüber im verbalen Bücklingmachen.

Ich rieb mir die Augen, die von der uferlosen Bildschirmarbeit schmerzten. Dann streckte ich mich und versuchte, meinen beständig nörgelnden Rücken zu massieren. Als das ohne Erfolg blieb, machte ich mich auf den Weg zur Kaffeemaschine, die im Vorraum eingeklemmt zwischen Fax und Drucker stand und tapfer gegen die fortschreitende Verkalkung ankämpfte. Ich fragte mich, womit ich das alles eigentlich verdient hatte.

Selbst schuld! Dieses Urteil hatte ich schon unzählige Male gefällt, praktisch immer, wenn meine Stimmung die Grenze zur Depression überschritt. Ich hätte diesen verflixten Kommentar nicht schreiben sollen damals. Und ich hätte Tolsdörfer Junior, den Sohn des Ex-Bürgermeisters, nicht unterschätzen dürfen, hätte überhaupt die Rachegelüste der ganzen Tolsdörfer-Clique einkalkulieren müssen. Ich war zu naiv gewesen, und das nach so vielen Jahren an der Redakteursfront. So gesehen geschah es mir tatsächlich recht, ins zweite Glied versetzt zu werden.

Okay, ich war nie offiziell zum Redaktionsleiter bestimmt worden, aber ich führte die Dickkircher Nachrichten, das wusste jeder im Verlag und in der Stadt, mit Katharina Dunn, der guten Katie, als Redakteurin an meiner Seite und regelmäßig wechselnden Volontären unter meinen Fittichen. Und es war eine ganz normale Jahreshauptversammlung des Dickkircher Gewerbevereins gewesen. Normal in dem Sinne, dass wie eh und je die eigenen unvergleichlichen Leistungen beklatscht wurden. Wie gut der Einzelhandel, das Gewerbe und das Dienstleistungswesen in der Stadt doch aufgestellt seien, tönte es durch den Saal, was man nicht alles tue für die Bürger, und dass vor der Zukunft niemandem bange sein müsse, lebe man auch in unsicheren Zeiten, in denen Kleinstädte zum Aussterben neigten, weil der Puls der Zeit in den Ballungszentren vermeintlich lauter und heftiger schlage. Wer am lautesten dieses Lied sang, war der Vorsitzende des Gewerbevereins, Franz Tolsdörfer jr., den ganz Dickkirchen immer dann, wenn er nicht hinhörte, schlicht Junior nannte, weil er es nie, selbst wenn er hundert Jahre alt werden sollte, aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters herausschaffen würde.

Ich kannte diese Leier aus vielen vorangegangenen Sitzungen, und ich hatte sie gründlich satt. Tatsache war, und jedermann wusste es, dass Dickkirchen hart zu kämpfen hatte, und Tatsache war, dass der Gewerbeverein zwar große Töne spuckte, aber null Konzept hatte, um die Stadt dabei zu unterstützen. Also griff ich am nächsten Tag zur Feder und schrieb diese Fakten der selbstzufriedenen Runde ins Stammbuch.

Mit heißem Herz, aber kühlem Kopf, wohlgemerkt. Ich schlug nicht grob dazwischen, ich polemisierte auch nicht, ich analysierte nur gnadenlos und zählte die Tatsachen auf, die glasklar, für jeden sichtbar, auf den Straßen lagen. Ich bezeichnete es als Armutszeugnis, dass die Geschäfte in der Innenstadt immer noch keine einheitlichen Öffnungszeiten zustande gebracht hatten. Ich geißelte die Weigerung der führenden Geschäftsleute, die Blechlawine, die sich Tag für Tag durch die Hauptstraße wälzte, als Problem zu erkennen und ein alternatives Verkehrskonzept zu diskutieren. Und ich kritisierte die Neigung des Gewerbevereins, immer mehr verkaufsoffene Sonntage zu fordern, bei deren Ausgestaltung dann allerdings regelmäßig in kreative Armut zu verfallen.

Die Folge war, dass fast die ganze Truppe in den Tagen, nachdem dieser Kommentar bei uns erschienen war, unter der Führung von Tolsdörfer jr. Amok lief. Mit dem Verweis darauf, dass die Konkurrenz vom Dickkircher Kurier die optimistische Sichtweise des Gewerbevereins gelobt habe, verwahrten sie sich gegen die »negative Stimmungsmache« in unserem Blatt und drohten dem Verlag mit Anzeigenentzug auf unbestimmte Zeit.

Oliver Puls, der damals recht neue Geschäftsführer der Südwest Nachrichten – und der jüngste überhaupt in der Geschichte des Blattes –, bat mich zum Einzelgespräch in die Zentralredaktion in Freiburg. Er musterte mich ausgiebig mit seinen Knopfaugen hinter der schwarzen Designerbrille, die wohl den Blick von der bereits beginnenden Glatze ablenken sollte, klopfte mir dann aber jovial auf die Schulter. Wie nebenbei wollte er wissen, welcher Teufel mich denn geritten hätte; ich sei doch all die Jahre so gut mit den Dickkirchern zurechtgekommen; das habe er sich zumindest von verschiedenen Seiten versichern lassen. Meine Antwort, ein leidenschaftliches Plädoyer für mündigen Journalismus, schien ihn jedoch nicht wirklich zu interessieren. Ich hatte damals schon den Eindruck, dass Puls statt Zeitungen genauso gut Klopapier hätte verkaufen können. Er war der reine Buchhalter, der substanzielle Gehalt seines Geschäfts war ihm völlig gleichgültig. Ihm ging’s nur darum, was er vorne an Kohle reinschob und was am Schluss hinten rauskam. Letzteres hatte gefälligst mehr zu sein.

Man einigte sich über meinen Kopf hinweg, dem Gewerbeverein in einer der nächsten Ausgaben vier Anzeigenseiten kostenlos zur Verfügung zu stellen, in denen er »sein Tätigkeitsfeld und sein Leistungsvermögen« adäquat darstellen könne. Dieses kaum kaschierte Einknicken wurmte mich zwar maßlos, aber immerhin konnte ich davon ausgehen, dass damit die leidige Geschichte ohne weitere Verwerfungen erledigt war.

Doch dann stand eines Morgens, zwei Wochen nach der ganzen Misere, plötzlich Puls in unserer kleinen Redaktionsstube, wie immer wieselartig das Terrain sondierend. Statt des vorgesehenen neuen Volontärs hatte er Eduard Nakovic im Schlepptau. Katie und ich sahen uns nur mit großen Augen an. Es war unfassbar, aber Puls meinte es ernst. Weitschweifig erklärte er, dass die Verlagsführung zu dem Schluss gekommen sei, die Dickkircher Redaktion »behutsam umzustrukturieren« und Nakovic zum neuen Redaktionsleiter zu ernennen, um mich, wie er es euphemistisch nannte, »ein wenig aus der Schusslinie zu nehmen«. Ausgerechnet Nakovic, der bisher in der Zentralredaktion nicht mehr als ein Stiefkind-Dasein geführt hatte (einige Tage später steckte uns einer der dortigen Kollegen, dass Puls und Nakovic im gleichen Tennisclub den Schläger schwangen). Es verstand sich von selbst, dass wir Puls’ abschließende Aufforderung, »den neuen Kollegen doch bitte unvoreingenommen in die Dickkircher Redaktionsfamilie aufzunehmen«, lediglich mit einem gequälten Quetschen unserer Gesichtsmuskeln quittierten.

Ich schenkte mir lauwarmen Kaffee in eine Tasse, auf der in hellblauen Buchstaben »650 Jahre Dickkirchen« stand. Es kam mir vor, als würde ich schon mindestens genauso lange in diesem Nest festsitzen, dabei waren es in Wirklichkeit erst fünfzehn oder sechzehn Jahre. Und seit Nakovic hier das Zepter schwang, war meine Motivation in irgendeinem dunklen, feuchten Kellerloch in Ketten gelegt worden. Ich tat in der Regel gerade so viel, wie nötig war, damit am nächsten Tag eine neue Ausgabe ausgeliefert werden konnte. Einen Kommentar hatte ich seit dem Gewerbevereinsdesaster nie wieder verfasst.

Als ich um die Ecke bog, legte Nakovic gerade mit einem überschwänglichen »einen recht schönen Abend noch« den Hörer auf und zurrte dann sein schütteres, braunes Haar rechts und links von seinem chaotisch verlaufenden Seitenscheitel fest, wie er es immer tat, wenn er ein Telefonat beendete, der Himmel weiß, warum. Er hob seine buschigen Augenbrauen und sah mich vorwurfsvoll an.

»Musste das denn jetzt wirklich so kompliziert sein, Jochen? Du weißt doch, dass ich total unter Zeitdruck bin.« Er sah auf die Uhr und hackte dann hektisch auf seine Tastatur ein. »Herrgott, schon so spät, Ines wird mir die Hölle heiß machen.«

»Hättste den Typen halt abgewimmelt, oder glaubst du etwa wirklich, die Zukunft des Abendlandes hängt von dieser Vorstandssitzung ab?«

»Jochen, vielleicht ist dir das nicht bewusst, aber der Herr Schnitzler ist ein potenzieller Anzeigenkunde, der hat neulich das Schreibwarengeschäft inklusive Copyshop in der Schulstraße übernommen. Mit solchen Leuten müssen wir uns gut stellen; die brauchen das Gefühl, dass man sich um sie kümmert. Jede Anzeige hilft auch, unsere Arbeitsplätze zu sichern, vergiss das nicht.«

»Ich glaube nicht, dass er sehr viele Anzeigen schalten wird«, antwortete ich seufzend und ließ mich wieder auf meinen Stuhl fallen. »Wie ich die Lage einschätze, ist die Hochzeit der Copyshops vorbei.«

»Dass du immer alles negativ sehen musst; jedenfalls haben wir jetzt beim Schützenverein einen Punkt auf der Habenseite unseres Kontos.«

Eduard Nakovic war ein Pedant und ein unerträglicher Besserwisser. Außerdem, als wäre das noch nicht genug, hatte er die Neigung, die Redaktion wie der Oberaufseher eines Strafgefangenenlagers zu führen. Ich war mir sicher, dass er uns alle – mich, Katie, unsere Sekretärin Heidi Albrecht und die Riege von freien Mitarbeitern, die uns regelmäßig Material zulieferte – vor seinem geistigen Auge als an Kanonenkugeln gekettete, steineklopfende Sträflinge sah. Manchmal hatte er so einen verschwommenen, an der Decke klebenden Blick, der gar keine andere Deutung zuließ. Bei den Freien gelang es ihm in der Regel tatsächlich, dass sie sich wie Sklaven fühlten. Er scheuchte sie von Termin zu Termin, forderte ständig, dass sie ihre Berichte schneller lieferten, und hatte gleichzeitig die Chuzpe, bei von ihm ausgemachten »Qualitätslücken«, wie er es nannte, den einen oder anderen Euro von ihrem Honorar abzuzwacken. Mit dieser Tour machte er sich gleichzeitig bei Puls lieb Kind, weil er jeden Monat den Redaktionsetat einhielt, etwas, das mir zugegebenermaßen nie gelungen war, als ich in diesem Laden noch etwas zu sagen gehabt hatte.

Auch bei Katie und mir probierte es Nakovic regelmäßig mit Knechterei, allerdings mit bescheidenerem Erfolg. Jede noch so hinterfragenswürdige neue Richtlinie, die die Verlagsleitung entwickelte, zoomte er gnadenlos in den Alltag unserer Redaktion herunter. Bald war es völlig egal, ob wir einen inhaltlich relevanten, geschweige denn kritischen Journalismus betrieben, Hauptsache, die internen Regeln, wie eine Zeitungsseite korrekterweise auszusehen hat, wurden ohne lästiges Hinterfragen befolgt. Darauf achtete unser Herr Redaktionsleiter mit einer Genauigkeit, als hinge sein Leben davon ab.

Dazu passte, dass Nakovics Kommentare mit vernünftigen redaktionellen Meinungsbeiträgen wenig bis nichts gemein hatten. Es waren eigentlich keine Kommentare, die er abließ, er bezeichnete sie nur so. Im Grunde handelte es sich bei seinen Ergüssen um Huldigungen und Lobpreisungen. Nakovic setzte sich nie in die Nesseln, er zeigte nie Flagge, er beließ es schlicht bei Danksagungen. Er dankte allen und jedem in seinen Kommentaren. Mochte es vertretbar sein, der Feuerwehr nach der Bekämpfung eines Brandes Dank für den Einsatz auszusprechen, so war es bereits reichlich fragwürdig, dem Schulzentrum, das Derartiges ja auch mit einer gehörigen Portion Eigeninteresse tat, für das Angebot eines Berufsorientierungstags zu danken. Nakovic schreckte aber nicht einmal davor zurück, dem Kaninchenzuchtverein in einer mit »Der Kommentar« titulierten Randnotiz für die Ausrichtung einer »in ihrer Vielfalt und Lebendigkeit sowohl Kindern als auch Erwachsenen das Herz wärmenden Jungtierschau« zu danken.

Bei all dem Gewürge, das er Tag für Tag abließ, hielt sich Eduard Nakovic auch noch allen Ernstes für unverzichtbar, und so passte es ihm überhaupt nicht in den Kram, dass er dieses Wochenende nicht den Redaktionsdienst übernehmen konnte.

»Ausgerechnet dieses vorentscheidende Wochenende bin ich nicht da … Ja, es geht nicht anders … Meine einzige Schwester … Und wir hoffen ja alle, dass sie nur einmal in ihrem Leben heiratet … Lange genug gedauert hat’s ja, bis sie ein passendes Exemplar gefunden hat … Aber sicher, am Wahlsonntag bin ich wieder im Dienst.«

X-mal hatte ich ihn diesen Sermon in den letzten Tagen und Wochen am Telefon erzählen hören, bevorzugt, wenn Oliver Puls am anderen Ende der Leitung war.

Die Dickkircher Bürgermeisterwahl, die am übernächsten Sonntag anstand, lag Nakovic im Magen. Und nicht nur ihm. In der ganzen Stadt machte sich eine stetig wachsende Anspannung bemerkbar, weil es immer mehr nach einer knappen Angelegenheit roch. Die feindlichen Lager hatten sich formiert, und manch einer befürchtete, dass es morgen Abend bei der Kandidatenvorstellung in der Stadthalle zum großen Knall kommen könnte.

Wie auch immer, ich würde mir das Ganze reinziehen müssen, Nakovic jedoch würde zu diesem Zeitpunkt bereits in Braunschweig sein, wo er am Sonntag den Trauzeugen zu spielen hatte. Aber anstatt es kurz zu machen, da er doch offenbar so sehr in Eile war, baute er sich nochmals vor meinem Schreibtisch auf und walkte seinen Oberkörper hin und her, wie es in Stresssituationen seine Art war. Es schien, als würde es ihm geradezu körperliche Schmerzen bereiten, mir in dieser speziellen Situation die Gesamtverantwortung für die Dickkircher Nachrichten zu überlassen.

»Jochen …«, begann er.

»Musst du nicht los, Eduard?«, unterbrach ich ihn. »Ich dachte, Ines sitzt bereits auf gepackten Koffern.«

Ich verzichtete darauf, ihm mitzuteilen, dass seine werte Gattin auf mich wie eine moderne Version von Frankensteins Braut wirkte und der Rabatz, den sie machen würde, sich mir entsprechend unliebsam vor das innere Auge stellte.

»Wie lange fährt man eigentlich nach Braunschweig?«

»Sechs bis sieben Stunden, je nachdem«, antwortete er brav, »aber hör mal, ich wollte das nur noch kurz ansprechen …, ich meine, kommst du klar morgen Abend mit dieser Kandidatenvorstellung? Du hattest bisher ja mit der Wahl nicht viel zu tun. Hab ja alles ich gemacht.«

Mit dieser Eigenbauchpinselei erzählte er mir nichts Neues; ich wusste nur zu gut, dass er die Wahl diskussionslos von Anfang an zur Chefsache erklärt hatte.

»Wir haben doch bereits darüber gesprochen, Eduard, mehrmals, erinnerst du dich?«

»Ja, schon, ich meine nur, ich kann mich doch auf dich verlassen? Du weißt, dass es Oliver, ich meine Herr Puls, nicht so recht behagt, dass ich ausgerechnet dieses Wochenende nicht da bin.«

Ich spielte ein bisschen den Entrüsteten. »Ich bitte dich, ich mach das doch nicht zum ersten Mal, ich bin seit mehr als fünfzehn Jahren dabei. Du tust, als ob das mein erster Wahlkampf wäre. Sehe ich aus wie ein Volontär mit Feuchtgebieten hinter den Ohren?«

»Natürlich nicht, Jochen. Dann geht das also klar. Keine Experimente, okay, ganz die alte Schule.«

Was immer er damit genau meinte, es war definitiv etwas anderes als das, was ich darunter verstand. Ich hatte zwar noch keinen Schimmer, was ich mit dieser Kandidatenvorstellung morgen Abend anfangen sollte, eines wusste ich aber mit absoluter Sicherheit jetzt schon: Ich würde den Burschen, die sich am Samstagabend in der Halle aufs Podium setzten, in der Montagsausgabe auf gar keinen Fall und unter keinen Umständen dafür danken, dass sie ihre Kandidatur erklärt hatten.

Also blickte ich mit möglichst unschuldig wirkenden Hamsteraugen zu ihm auf. »Hab ich dich schon jemals enttäuscht, Eduard?«

Er schnappte sich seine Aktentasche und machte sich endlich vom Acker, nicht ohne mir zuzurufen: »Also dann, bis Dienstagmorgen …«

»Gehab dich wohl«, murmelte ich.

» … und vergiss nicht, im Druckzentrum anzurufen, und zu sagen, dass wir die Seite drei noch mal neu geschickt haben.«

Von wegen wir! Aber der Anruf in der Drucktechnik in Freiburg, wo jeden Abend die einzelnen, weitverzweigten Lokalausgaben der Südwest Nachrichten eingingen, war Pflicht. Zum Glück hatte Helmut Pauly Dienst, er war der Netteste in der ganzen Abteilung. Unsere Seiten seien alle tipptopp, versicherte er mir gut gelaunt. Wir plauderten noch ein wenig.

»Na, wie geht’s denn so in Dickerchen?«, fragte Pauly schelmisch. Der alte Gag, den fast nie irgendeiner in der Zentrale ausließ. Sie sprachen Dickkirchen immer so schnell aus, dass es sich wie Dickerchen anhörte, und dann kicherten sie, als hätten sie diesen Wahnsinnswitz gerade eben erst erfunden. Bei Pauly kam es noch einigermaßen sympathisch rüber; einige andere hätte ich bisweilen gern wegen der mitschwingenden Big-City-Attitüde erwürgt.

»Eigentlich okay, nur diese Bürgermeisterwahl nervt ein bisschen. Morgen muss ich noch die Kandidatenvorstellung absitzen. Wird ’n langer Abend.«

Pauly berichtete mir von Puls’ neuesten Ideen, mit denen die Druckkosten gesenkt werden sollten, aber ich hörte nur halbherzig zu. Überrascht stellte ich fest, dass meine Gedanken bereits voraus in die Stadthalle wanderten.

Ich hatte kaum den Hörer aufgelegt, als es erneut klingelte, ungefähr zum siebenundachtzigsten Mal heute. Ich überlegte kurz, ob ich nicht lieber schon weg war, aber dann raffte ich mich doch auf und hob ab. Vielleicht war es ja was Wichtiges. So denkt man immer in einer Redaktion.

»Wehlmeier, Dickkircher Nachrichten.«

»Guten Abend, mein Name ist Weinbrecher. Bei uns hat vor drei Wochen eine Theateraufführung stattgefunden. Ist da bei Ihnen ein Artikel drüber erschienen?«

Offenbar war der Mann der Ansicht, mit einem Hellseher zu sprechen.

»Was meinen Sie mit ›bei uns‹? Und um was für ein Stück handelt es sich denn?«

»Na, bei uns, im Kleinen Atelier. Das Stück war doch ›Warten auf Godot‹, haben Sie das etwa nicht mitgekriegt? Sie sind doch Redakteur, oder?«

Trotz meiner Müdigkeit fing es an, in mir zu brodeln. Ein solcher Klugscheißer hatte mir gerade noch gefehlt. Immerhin war ich seit gut zehn Stunden hier am Rotieren, hatte vier Artikel über die Gemeinderatssitzung gestern Abend geschrieben, ungefähr fünfundzwanzig mittel- bis unterklassige Texte redigiert und fünf Seiten gebaut.

»Wer hat das nicht mitgekriegt auf dieser wunderbaren weiten Welt?«, fragte ich zurück. »Und ja, wir hatten eine Rezension im Blatt, soweit ich mich erinnere.«

»Schön, schön«, meinte der Typ, »ich hoffe nur, sie war auch positiv. Wann war das denn genau?«

Ich beherrschte mich nur mühsam.

»Also tut mir leid, dass ich Sie jetzt enttäuschen muss, aber ich bin kein wandelndes Archiv. Wir berichten über so viele Veranstaltungen, da kann ich beim besten Willen nicht die Erscheinungstermine aller Artikel im Kopf haben.«

»Na ja, verstehe«, meinte dieser Herr Weinbrecher etwas pikiert. »Suchen Sie mir einfach den Artikel raus, ich hole ihn dann morgen ab.«

»Bitte! Was ist denn das für ein Kasernenhofton!« Ich war kurz vorm Platzen. »Ich bin doch nicht Ihr Privatsekretär.«

»Ach ja, der Herr Redaktör, der Herr Redaktör«, ööhte der Typ völlig übermotiviert in die Leitung, »glaubt wohl, er sei was Besseres. Dabei wollen Sie doch nur schnell in den Feierabend, geben Sie’s zu. So gewinnen Sie jedenfalls keine neuen Leser.«

Ja, ich wollte in den Feierabend, da hatte er recht, und zwar in den verdienten. Aber der Leserschwund war tatsächlich unser wunder Punkt. So wie die Dinge lagen, mussten wir mittlerweile für jeden einzelnen dankbar sein. In der digitalisierten, mit sozialen Medien vollgestopften Welt war das Überleben für die Tageszeitungen schwierig geworden. Also öffnete ich zähneknirschend unser digitales Archivierungssystem, durchpflügte es auf der Suche nach dem Weltklassetheater dieses Herrn Weinbrecher, fand den betreffenden Artikel, druckte ihn aus und erklärte ihm, er könne ihn morgen früh bei unserer Sekretärin abholen.

»Na also, geht doch«, meinte der Kunstschaffende.

»Ein klitzekleines Danke wäre nett gewesen. Schönen Abend noch!«

Ich knallte den Hörer auf. Jetzt brauchte ich dringend ein Feierabendbier. Nur schnell raus hier, bevor noch so eine Nervensäge anruft, dachte ich und fuhr den Computer herunter.

Aber dann fiel mein Blick auf John, Tom, Matt und Bud, unsere vier Redaktionspflanzen. Katies Lieblinge. Deshalb nannten wir sie auch so, nach den vier Söhnen der Katie Elder. Mit wir meine ich Katie und mich; Nakovic verweigerte sich solchen Spielereien beharrlich, denn er war neben allem anderen auch eine komplett humorfreie Zone.

Ich hatte Katie, bevor sie in den Urlaub nach Sylt entschwunden war, hoch und heilig versprochen, die vier Jungs mindestens einmal pro Woche zu gießen. Wenn man genau hinsah, ließen sie die Köpfe schon ein bisschen hängen, musste ich mir eingestehen. Also griff ich zur Gießkanne und verschaffte ihnen Erleichterung.

Als ich damit fertig war, überlegte ich kurz. Dann nahm ich mein Smartphone und schickte Katie eine Nachricht: »Deine Söhne leben. Wyatt Earp.«

VOM UNHEILIGEN GRAL

Es heißt, dass jeder Journalist zeit seines Berufslebens auf der Suche nach der einen großen Story ist. Dass jeder, der Tag für Tag im Schweiße seines Angesichts und gleichzeitig so virtuos wie möglich mit Wörtern jongliert, darauf hofft, einmal eine Sache aufzudecken, die mindestens der Kategorie Watergate entspricht. Ich schätze, das gilt vom Grundsatz her auch für jeden Lokaljournalisten.

Selbst der biederste Buchstabendrechsler in der verqualmtesten Dorfklitsche wünscht sich insgeheim mehr, als jahrein, jahraus die vertraute Abfolge der gleichförmig dahinplätschernden Veranstaltungen auszusitzen: Neujahrsempfänge (in denen stets das gute Miteinander beklatscht wird), Generalversammlungen (in denen wie auf Knopfdruck eine positive Bilanz gezogen wird), Fasnachtsumzüge (die nichts anderes sind als Konfettitriumphmärsche), Konzerte von Musikkapellen (die immer Begeisterungsstürme hervorrufen), Sommerfeste (bei denen selbstredend der Zusammenhalt der Bevölkerung gefestigt wird, auch wenn es nur darum geht, Bratwürste und Fassbier zu konsumieren) oder Nikolausfeiern (bei denen, Überraschung!, alte kostümierte Männer die Hauptrolle spielen).

Wer journalistisch ambitionierter ist, schätzt die kleinen Perlen, die immer mal wieder unvermutet durch den drögen Wust des Kleinstadtlebens schimmern: Die spannende Verhandlung vor dem Arbeitsgericht, wenn geschasste Firmenangestellte gegen ihre ungerechtfertigte Kündigung klagen, die Reportage über den Goldschmied in der Altstadt, der die Ausbeutungspraxis der globalen Schmuckindustrie anprangert, oder die zeitintensive Recherche, die der Frage nachgeht, ob nicht selbstherrliche Bürgermeister (ich sage nur: Tolsdörfer!) durch ihre undurchsichtige, möglicherweise rechtswidrige Amtsführung ihre Pensionsansprüche verwirkt haben könnten. Wobei Typen wie Puls und deren Erfüllungsgehilfen einem den für so etwas nötigen Spielraum immer mehr bis zur Unbeweglichkeit eingrenzen, mit der Begründung: Kostet a) viel zu viel Zeit und könnte b), man weiß ja nie, Anzeigenverluste mit sich bringen.

Was soll’s, ich bin mir jedenfalls in einem ziemlich sicher: Auch der nicht Nakovic- oder Pulsgeschädigte Redakteur, der es berufsbedingt genießen kann, als Berichterstatter eine emotionsgeladene Gemeinderatsdebatte zu verfolgen, in der die Wellen hochschlagen und sich sämtliche Fraktionen gegenseitig der Lüge bezichtigen, lechzt insgeheim nach der noch größeren, nach der ganz großen Story. Nicht nach Mord und Totschlag, nicht nach einem Amoklauf, bei dem ein Wahnsinniger eine neue Rekordtotenzahl aufhäuft; nein, im Gegenteil, der wahre journalistische Geist wünscht sich etwas Erhebendes, etwas Inspirierendes, das er entdecken und mit seinen eigenen Worten in die Welt hinaustragen kann.

Das klassische Beispiel sieht in etwa so aus: Nach einem anfänglich nebulösen Tipp eines undurchsichtigen Fremden, der unvermittelt in der Kleinstadt auftaucht, beginnt der Lokalredakteur, den greisen Pfarrer, der seit Jahren vergeblich auf seine Ablösung als Seelsorger wartet, genauer unter die Lupe zu nehmen. Nie zuvor hat sich jemand darum gekümmert, auf welchen verschlungenen Pfaden der Geistliche in seinen jungen Jahren gewandelt ist, doch das beharrliche Graben des Redakteurs in dessen geheimnisumwitterter Geschichte fördert zu guter Letzt zutage, dass der Kelch, den der Priester, liturgisch korrekt und voller Inbrunst, Sonntag für Sonntag vor dem Altar in die Höhe streckt, bevor er sich einen tiefen Schluck daraus gönnt, dass dieser Kelch nichts anderes ist als der heilige Gral. Also genau das Teil, das seit Jahrhunderten von allen möglichen Gläubigen, Fanatikern, Sinnsuchern, Weltenrettern und neuerdings New-Agedas-ist-das-große-Ding-Jüngern verzweifelt überall auf der ganzen Welt gesucht wird und das durch eine Reihe unerklärlicher Zufälle und nach einer wahren Odyssee ausgerechnet in der Sakristei von sagen wir: Dickkirchen gelandet ist. Der fleißige Redakteur muss dann nur noch alles aufschreiben und kann sich als Entdecker sämtlicher Zusammenhänge, Enthüller des großen Geheimnisses, Chronist des Mysteriums und Gewinner mindestens des Theodor-Wolff-Preises feiern lassen.

Na schön, ein paar Bier muss man schon intus haben, um sich solchen Hollywood-Fantasien hinzugeben, aber passiert ist das sicher jedem Schreiberling schon mal.

Was ich an diesem Freitagabend, als ich die Redaktionsräume abschloss, noch nicht ahnen konnte, war, dass ausgerechnet diese Bürgermeisterwahl für meine Karriere zu einer Art Gral werden sollte, allerdings zu einem von der eher unheiligen Sorte, das heißt, falls diese Kombination überhaupt denkbar ist. Allerdings erinnere ich mich, dass mich bereits ein komisches Gefühl beschlich, als ich auf der Hauptstraße stand, die erstaunlich milde Oktoberluft einsog und noch mal einen Blick zurück auf das alte Gebäude warf, in dem die Dickkircher Nachrichten seit Jahrzehnten untergebracht waren.

Ich überlegte kurz, ob ich mein Feierabendbier zu Hause zu mir nehmen sollte, aber Daniel, mein halbwüchsiger Sohn, war ohnehin traditionell freitags »on the road«, wie er es zu nennen pflegte. Außerdem hatte ich den ganzen Tag nichts gegessen, was man auch nur entfernt als vollwertige Mahlzeit bezeichnen könnte, meine Lust, selbst die Küchenschürze zu schnüren, tendierte jedoch gegen null. Also überquerte ich die Straße, und während ich Kurs auf den »Ochsen« nahm, um meine menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, fing ich, ohne es bewusst zu wollen, an, über die ganze Wahl-Sache nachzudenken.

»’n Abend, Herr Wehlmeier«, sagte Bertha Müller, die Wirtin, der ich häufiger meine Aufwartung machte, freundlich, als ich eintrat. »’n Bierchen?«

»Sind Sie Hellseherin, Frau Müller?«

Ich grüßte die Herrenrunde am Stammtisch, die fleißig und wortstark über den bisherigen Verlauf des Wahlkampfs debattierte, und suchte mir dann ein abgeschiedenes Plätzchen.

»Ach ja, schlimm mit dieser Wahl«, klagte die Wirtin mit einer Kopfbewegung zum Stammtisch hin, als sie mir mein Bier brachte, »man weiß ja gar nicht, wen man wählen soll, jeden Tag steht irgendwas in der Zeitung, und beide, der Wock und der Santzer, versprechen einem das Blaue vom Himmel herunter. Hinterher ist’s dann wieder Essig, ich seh’s schon kommen.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht, Frau Müller, da muss man schon aufpassen. Na, ich werd mir mal ’n Bild machen morgen Abend bei der Kandidatenvorstellung.«

»Würd ich auch gern«, meinte sie; allerdings gehe das nicht, weil ihre fürs Wochenende eingeteilte Bedienung sich kurzfristig krank gemeldet habe. Und ihr Mann, der Hansjörg, müsse schließlich in der Küche alles vorbereiten, denn wenn die Sache in der Stadthalle vorbei sei, hätten sie hier bestimmt die Hütte voll.

»Da kommen dann alle und wollen drüber diskutieren, was die hohen Herren so erzählt haben«, informierte sie mich, nicht ohne anzufügen: »Und können’s kaum erwarten zu lesen, was am Montag in der Zeitung steht.«

Ich konnte es zwar durchaus erwarten, doch während in der Küche mein Schnitzel zubereitet wurde, versuchte ich, mir darüber klar zu werden, was ich von diesen Bürgermeisterkandidaten halten sollte. Da war zum einen Matthias Wock, der Amtsinhaber, der vor fast acht Jahren die Nachfolge von Tolsdörfer senior angetreten hatte, als der in den politischen Ruhestand getreten war. Der Mann war alles andere als ein Überflieger, hatte aber angesichts der schwierigen Bedingungen, unter denen Dickkirchen versuchte, einen Weg in die globalisierte Zukunft zu finden, einen brauchbaren Job gemacht. Immerhin schaffte er es, die Scherben, die Tolsdörfer hinterlassen hatte, einigermaßen ordentlich wegzuräumen; zumindest sah ich die Sache so. Die Dickkircher Bürger schwärmten nicht gerade von ihm, und mit seiner Arbeitsbienen-Ausstrahlung war er auch nicht unbedingt der Kracher als Identifikationsfigur. Außerdem neigte er dazu, bei Stress in Hektik zu verfallen, und dann schaffte er es nicht immer, seine Nerven im Zaum zu halten, was im bisherigen Wahlkampf schon zur einen oder anderen unklugen Äußerung seinerseits geführt hatte. Ein-, zweimal war ich in seiner ersten Amtszeit leicht mit ihm kollidiert, im Großen und Ganzen kam ich aber klar mit ihm.

Problematisch für Wock war, dass er ein rotes Parteibuch unter dem Kopfkissen liegen hatte, und mehr noch, dass er auf reichlich kuriose Weise zu diesem gekommen war. Denn in seinen politischen Anfangsjahren hatte Wock eher den Schwarzen nahegestanden, und als es um die Tolsdörfer-Nachfolge ging, hatte er zunächst bei der CDU angeklopft und um Unterstützung nachgefragt. Die Dickkircher Union war sich seinerzeit aber uneins gewesen: Tolsdörfer selbst wollte seinen Junior auf die Schiene bringen, gleichzeitig hatte man angeblich einen dicken Fisch von außerhalb an der Angel, und im Ortsverein ging es damals mächtig zur Sache – natürlich alles hinter den Kulissen, aber ich kriegte doch das eine oder andere mit. Letztendlich wurde aus beiden Varianten nichts: Der dicke Brummer ging vom Haken, weil sich ihm etwas Lukrativeres bot, und Junior manövrierte sich selbst ins Abseits, weil er eines Morgens im Suff mit seiner Karre einen Zeitungsausträger krankenhausreif fuhr; eine Story, die ich mir natürlich nicht entgehen ließ.

Als die CDU aufgrund der Verkettung derart unglücklicher Umstände plötzlich mit heruntergelassenen Hosen, sprich: ohne eigenen Bürgermeisterkandidaten, dastand, wäre sie dem Vernehmen nach doch bereit gewesen, Wock zu unterstützen. Schließlich hatte die CDU, wie vielerorts im Süden, auch in Dickkirchen stets den Bürgermeister gestellt, seit diese Demokratie aus den Trümmern des Nazi-Wahnsinns gebastelt worden war. Aber wie’s der Teufel wollte, hatte Wock in der Zwischenzeit bei der SPD angefragt, und die Genossen schalteten schnell, pinselten den angeschwärzten Kandidaten rot an und freuten sich diebisch, erstmals einen SPD-Bürgermeister im Dickkircher Rathaus installieren zu können.

Das allein hätte schon gereicht, um die örtliche CDU in Rachegelüsten schwelgen zu lassen. Aber Matthias Wock tat ein Übriges, um die Dickkircher Schwarzen gegen sich aufzubringen. Er räumte im Rathaus ein wenig auf, nachdem Tolsdörfer sich in den offiziellen kommunalpolitischen Ruhestand verabschiedet hatte. Und es gab einiges zu bereinigen, auch wenn mancher in Dickkirchen dies unter dem Motto »Wo gehobelt wird, fallen Späne« verbuchen wollte. Immerhin: Das Unerquickliche, das zutage gefördert wurde, kostete Tolsdörfer zwei Jahre später einen Teil seiner Pension.

Das alles war zwar nun schon geraume Zeit her, aber wer Tolsdörfer kannte, der wusste, dass die Zeichen für immer auf Rache stehen würden. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, und der auserkorene Racheengel hieß Thomas Santzer. Zwei Wochen nach Beginn der Bewerbungsfrist hatte er als offizieller CDU-Kandidat seinen Hut in den Ring geworfen. Keine schlechte Wahl, das musste man zugeben. Santzer war ein junger Dynamiker, eloquent, wortgewandt, mit einem charmanten Lächeln gesegnet; ein gebürtiger Dickkircher, der nach seinem Jurastudium ein paar Jährchen in einer Kanzlei in Freiburg gearbeitet hatte und somit gleichermaßen den Duft der großen weiten Welt wie den etwas herberen Geruch der Bodenständigkeit versprühte. Mit all diesen Attributen war er zweifellos ein befähigterer Kandidat als Junior, der seit einigen Jahren als CDU-Fraktionschef im Gemeinderat das große Wort führte und dem die Union eine Zeit lang eine zweite Chance in Aussicht gestellt hatte, nachdem zunächst Gras über seine fatale Promillefahrt gewachsen war. Allerdings gönnte er sich nach wie vor gewisse alkoholinspirierte Eskapaden, und nachdem ihn jüngst seine Frau zu Hause rausgeschmissen hatte, war er als kommender Bürgermeister im überwiegend katholisch tickenden Dickkirchen nicht mehr vermittelbar. Meiner Ansicht nach ließ das die Chancen der CDU eher steigen, denn Santzer schien im Gegensatz zu Junior durchaus fähig, den Job im Rathaus zu meistern. Mal davon abgesehen, dass er in meinen Augen das eine, schwerwiegende Problem einfach nicht loswerden konnte: Er war ein Kandidat von Tolsdörfers Gnaden, und zu befürchten war, dass er im Falle seines Sieges auch ein Bürgermeister von Tolsdörfers Gnaden sein würde.

Endlich brachte Bertha Müller mein Schnitzel. Ich haute kräftig rein, und beim Essen kam mir Zucko in den Sinn, der dritte Kandidat. Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, ob er tatsächlich morgen Abend aufkreuzen würde: Dirk Zuckowsky, den ganz Dickkirchen nur Zucko nannte, manchmal auch »die Leberwurst mit Locken« – wegen seiner Kurzbeinigkeit und Leibesfülle und seiner sämtliche Haarmoden dieser Welt unbeirrt ignorierenden Vokuhila. Was ihn bewogen hatte zu kandidieren, war bis dato unbekannt; er hatte sich nicht tiefergehend geäußert, lediglich vor ein oder zwei Wochen aus dem Nichts heraus seine Bewerbung im Rathaus abgegeben und seither nur ein paar Flugblätter mit seinen berühmt-berüchtigten Dichtereien in Umlauf gebracht. Meiner Ansicht nach konnte es jedoch nichts anderes sein als der blanke Wahnsinn, der ihn antrieb. Er war praktisch chancenlos.