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Felix Leibrock

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Beschreibung

Ein Weimar-Krimi mit einem originellen Ermittlerteam, der weit in die deutsche Vergangenheit zurückreicht, vom Krimi-Pfarrer Felix Leibrock. Nach einem heißen Sommertag des Jahres 2016 geht bei der Weimarer Kripo eine Vermisstenanzeige ein: Die 17-jährige Unternehmerstochter Anna Kellermann ist am Abend zuvor nicht nach Hause gekommen. Wie Befragungen in Annas Schule ergeben, ist sie mit dem 20-jährigen Maximilian Stein zusammen, der mit Drogen dealt. Die Polizei startet einen groß angelegten Sucheinsatz. In den Fokus rückt ein Waldstück hinter dem Weimarer Klinikum. Mitschüler erzählen, Anna, die sich stark für Umweltthemen engagiert, habe mit zwei Mitschülerinnen an einer Seminarfacharbeit über Wölfe in Deutschland geschrieben. Ihr Part war es, die Geschichte der Wölfe in der DDR zu erforschen. Dazu hat sie unter anderem Förster befragt. Die Kripo findet heraus, dass Anna offenbar einem Wolfshasser auf die Spur gekommen ist, der in DDR-Zeiten mehrere der seltenen Tiere erschossen hat, und überprüft das Alibi aller Sexualstraftäter in Thüringen. Bei einem von ihnen erhärten sich die Verdachtsmomente ... Ein Weimar-Krimi mit viel Lokalkolorit und einer dunklen Thematik von einem Autor, der sich mit recht "Krimi-Pfarrer" nennen darf!

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Seitenzahl: 383

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Felix Leibrock

Schattenrot

Roman

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Über dieses Buch

Nach einem heißen Sommertag des Jahres 2016 geht bei der Weimarer Kripo eine Vermisstenanzeige ein: Die 17-jährige Unternehmerstochter Anna Kellermann ist am Abend zuvor nicht nach Hause gekommen. Wie Befragungen in Annas Schule ergeben, ist sie mit dem 20-jährigen Maximilian Stein zusammen, der mit Drogen dealt. Die Polizei startet einen groß angelegten Sucheinsatz.

In den Fokus rückt ein Waldstück hinter dem Weimarer Klinikum. Mitschüler erzählen, Anna, die sich stark für Umweltthemen engagiert, habe mit zwei Mitschülerinnen an einer Seminarfacharbeit über Wölfe in Deutschland geschrieben. Ihr Part war es, die Geschichte der Wölfe in der DDR zu erforschen. Dazu hat sie unter anderem Förster befragt.

Die Kripo findet heraus, dass Anna offenbar einem Wolfshasser auf die Spur gekommen ist, der in DDR-Zeiten mehrere der seltenen Tiere erschossen hat. Außerdem überprüft die Kripo das Alibi aller Sexualstraftäter in Thüringen. Bei einem von ihnen erhärten sich die Verdachtsmomente …

 

Ein Weimar-Krimi mit viel Lokalkolorit und einer dunklen Thematik von einem Autor, der sich mit recht »Krimi-Pfarrer« nennen darf!

Inhaltsübersicht

MottoProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. KapitelDank
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Unter der Oberfläche sind wir alle Tiere.

Simon Beckett, Der Hof

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Prolog

Was für ein schöner Sonntag!

Glaub ja nicht, dass ich lockerlasse.

Irgendwann wirst du unvorsichtig. Ich bleibe an dir dran. Ich stöbere dich auf, wo du dich am sichersten fühlst. Ich finde dich.

Du hast mir das Blut aus den Adern gesaugt. Dafür büßt du jetzt. Ich will dein Blut spritzen sehen.

Zappel mal ein bisschen. So ist es schön. Hier, in der Sonne. Der Sonnenstrahl brennt dir dein kleines Hirn weg!

Ach, du willst abhauen? Vergiss es! Du hast keine Chance. Wie du hin und her springst! Du kleines Miststück!

So! Genug! Auch die Katze spielt nicht ewig mit der Maus!

Schön dich positionieren. So, fixieren. Hab ich dich … und jetzt zudrücken! Langsam. Ganz langsam. Der Schmerz muss andauern. Du sollst nicht sterben. Verrecken sollst du! Krepieren!

Wie du anschwillst! Größer, größer, ach, noch größer.

So, jetzt, aaaah, geplatzt. Blut, gesprenkeltes Blut! Wie schön!

Ab ins Grab! Noch Sand drüber – fertig!

Jetzt den Strich in die Wand ritzen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Sehr schön! An meinem besten Sonntag waren es siebzehn. Manchmal gehe ich leer aus. Fünf heute – ist also gar nicht so schlecht.

Mein Leben hat eine Struktur. Deswegen werde ich überleben.

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1

20. Juli 1944, Ostseebad Bansin

Sie bückte sich. Ihre Hand durchkämmte den frisch gefluteten Sand nach Muscheln. Ihren langen, apricotfarbenen Rock schürzte sie zu einem Beutel, in den sie die Muscheln hineinlegte.

Er stand etwas abseits auf dem Steg, der weit ins Meer hineinreichte. Seit Minuten schon beobachtete er sie. An ihren anmutigen, flinken Bewegungen erkannte er ihre Jugend. Ihre schmale Taille, das wehende Haar – er spürte, wie in ihm ein Vulkan zu brodeln begann, der seit Monaten erloschen war.

Als Generalstabsoffizier gehörte er seit langer Zeit einer reinen Männerwelt an. Die 17. Armee der deutschen Wehrmacht sollte die Krim gegen die Sowjets verteidigen. Er beratschlagte sich mit Generaloberst Erwin Jaenecke und dem übrigen Führungsstab, erteilte Befehle an die Frontsoldaten und kontrollierte die nachrückenden Versorgungseinheiten. Überall nur Männer, Männer, Männer.

Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Jetzt ging sie in seine Richtung. Sie musste ihn gesehen haben. Mit der einen Hand hielt sie den Rock zusammen, mit der anderen warf sie das Haar nach hinten und betrat den Steg. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Nur noch etwa zehn Meter war sie von ihm entfernt. Der Strand war menschenleer. Niemand fand in diesen Kriegstagen die Muße, sich hier aufzuhalten. Nur er und diese junge Frau. Friedlich plätscherte die Ostsee ihre kleinen Wellen den Strand rauf und runter. In der Ferne umkreisten aufgeregte Möwen ein Fischerboot. Der leicht würzige Geruch des Meeres stieg ihm in die Nase.

Welcher Kontrast zu den letzten Wochen! Auf dem Schwarzen Meer wütete der Krieg. Die Übermacht der Sowjets war gewaltig. Mit der von ihm befehligten Truppe war er die Küste entlang Richtung Westen geflohen. Auf einer Halbinsel fand er in einem Wäldchen nicht weit vom Ufer Unterschlupf. Hunderte Tote lagen am Strand. Ertrunken, nachdem die deutschen und rumänischen Einheiten unter den Beschuss der russischen Flotte geraten waren. Überall der süßliche Geruch von Leichen. Aus den Wäldern huschten Wölfe in kleinen Rudeln herbei und rissen Fleischstücke aus den leblosen Körpern. Ihr nächtliches Geheul raubte ihm und der Truppe den Schlaf. Es war nur noch eine Frage von Tagen, vielleicht von Stunden, bis die Sowjets sie aufstöberten. Nur ein Wunder konnte sie noch aus ihrer misslichen Lage befreien. Und genau dieses Wunder geschah. Es begegnete ihnen in Form des rostigen Donauschleppers NMS Aurora. Als das rumänische Schiff im Morgengrauen ganz nahe an der Küste vorbeituckerte, handelte Blohm mit dem Instinkt des Kriegers. Purer Überlebenswille trieb ihn an. Auf seinen Befehl hin stießen er und seine Männer mit Ruderbooten leise vom Ufer ab und drehten wenige Minuten später an der NMS Aurora bei. Mit den Rumänen, ihren Verbündeten, verhandelten sie nicht lange. Der Schiffsbesatzung war nicht richtig klar, wie der Krieg stand. Auch die Aurora würde, über kurz oder lang von der sowjetischen Schwarzmeerflotte beschossen, versenkt werden. Oder die Russen nähmen ihre Besatzung gefangen und sicherten sich die Riesenbestände an Granaten auf dem Schiff. Der Krieg hatte sich gewendet, die Niederlage der deutschen Wehrmacht war nur noch eine Frage der Zeit. Einzig in Berlin schien man zu dieser Erkenntnis noch nicht gelangt zu sein. Oder man wollte die Wahrheit nicht sehen. Ratschläge, die deutschen Truppen von der Krim zu evakuieren, stießen bei Hitler auf taube Ohren. Um Sewastopol, den wichtigen Hafen auf der Krim, zu halten, war er gewillt, jeden Preis zu zahlen.

»Sind Sie Generalstabsoffizier Fritz Blohm?«

Sie stand vor ihm. Er blickte auf ihre schlanken Beine, die sie ihm ohne Scham darbot. Sein Blick wanderte nur langsam nach oben. In der Rockschürze rieben die Muscheln aneinander. Dann sah er in ihre funkelnden himmelblauen Augen. Ihm stockte der Atem.

»Ja, der bin ich!« Er stammelte die Worte nur noch. Die Blicke, die sanfte Stimme, die Beine – die Frau war dabei, ihn komplett aus der Bahn zu werfen.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

Sie lächelte ihn an. Er sah einen Ohrring mit einem Rubin durch ihr Haar blinken.

»Man spricht in Bansin über Sie! Sie sind ein Held!«

Als einen Helden stufte ihn wohl auch das Oberkommando des Heeres ein. Immerhin hatte er mit der spektakulären Flucht auf dem heruntergekommenen Donauschlepper einige hundert deutsche Soldaten vor der Gefangenschaft oder gar dem Tod bewahrt. Dafür gewährte man ihm jetzt ein paar Tage Heimaturlaub. Er wohnte in der Ferienvilla seiner Schwiegereltern. Seine Frau und die beiden Töchter saßen in Berlin fest. Sie schafften es nicht, ihn zu besuchen. Trotzdem taten ihm die Tage gut. Schon bald wartete der nächste Einsatz in diesem aussichtslosen Krieg auf ihn.

»Darf ich denn fragen, wer Sie sind?« Er sprach jetzt mit festerer Stimme. Die Erinnerung an seine Rettungstat im Schwarzen Meer machte ihn selbstsicherer.

»Tja, das erzähle ich Ihnen gerne.« Sie schaute ihn kokett an, drehte sich halb weg von ihm und zeigte sich ihm so im Profil. Er bemerkte die Rundung des Busens, die wohlgeformte Taille.

»Besuchen Sie mich morgen Abend in meinem Apartment. Ich habe einen schönen Balkon. Um zwanzig Uhr erwarte ich Sie! Klingeln Sie in der ersten Etage.«

Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf eine gelb-weiße Villa gleich hinter dem Sandstrand, auf deren Balkon ein verblichener Sonnenschirm stand.

»Ich, äh …« Noch während er etwas erwidern wollte, drehte sie sich um und ging mit wiegenden Hüften in Richtung des Ortes.

Blohm dachte an seine brave Frau, die aufgeweckten Töchter. Er konnte doch nicht eine fremde Frau besuchen! Als Offizier mit hohem Dienstgrad musste er auch moralisch ein Vorbild sein. Aber wo war die Moral im Krieg? Er hatte Feinde erschossen, aus dem Hinterhalt. Junge Russen, deren Strümpfe strickende Mütter jetzt mit den dürren Worten eines Telegramms die Nachricht vom Tod ihres vielleicht einzigen Kindes erhielten. Im Krieg war sich jeder selbst der Nächste. Und da war dieses Brodeln in ihm. Der Vulkan, der kurz vor der Eruption stand. Konnte er diese geheimnisvolle Frau wirklich nicht besuchen?

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2

Donnerstag, 23. Juni 2016

»Hallo!« Mandy Hoppe, Polizeihauptkommissarin und stellvertretende Leiterin der Weimarer Kripo, lächelte Sascha Woltmann an. Sie kannten sich seit ihrer Schulzeit und waren mittlerweile auch im Dienst zum Du übergegangen. Das Siezen, nur um dem Kripochef dienstliche Distanz vorzutäuschen, war beiden mit der Zeit zu dumm geworden.

»Hallo, Mandy, komm mal her!« Woltmann stand hinter der Scheibe am Eingang der Polizeiinspektion. »Es gibt einen Vermisstenfall.« Woltmann sah in den Computer. »Heute Nacht war ein Herr Kellermann da. Hagen Kellermann. Sehr aufgebracht. Wir sollen eine Suchaktion starten. Geld spiele keine Rolle.«

»Moment mal, Sascha. Kellermann? Geld spielt keine Rolle? Ist das etwa dieser Unternehmer, der die Zwieback-Fabrik bei Erfurt besitzt?«

»Ja, am Urbicher Kreuz. Der wohnt mit seiner Familie hier in Weimar.«

Die Kommissarin war neben Woltmann getreten und las nun auf dem Bildschirm, was in der Vermisstenanzeige stand. Anna, Hagen Kellermanns Tochter, war siebzehn Jahre alt, Schülerin am Weimarer Goethegymnasium. Die Villa der Familie Kellermann lag in der Südstadt. Im Volksmund hieß das Viertel wegen seiner vielen großzügig gebauten Villen aus der Gründerzeit auch Hypothekenhügel. So manche wohlhabende Familie wohnte dort. Anna hatte sich am Vorabend gegen achtzehn Uhr von ihrer Mutter verabschiedet und war mit dem Fahrrad in die Stadt aufgebrochen. Sie habe noch etwas zu erledigen, sagte sie zu ihrer Mutter. Als sie um zweiundzwanzig Uhr nicht zu Hause war, rief ihre Mutter sie auf ihrem Handy an. Das klingelte zwar, aber Anna ging nicht dran. Annas Vater Hagen Kellermann kam erst kurz vor Mitternacht aus seiner Firma nach Hause. Seine Frau hatte zu dieser Zeit bereits fast zwei Stunden lang alle ihr bekannten Freundinnen Annas abtelefoniert – vergeblich. Kurz nach Mitternacht war Kellermann zur Polizeiinspektion gefahren und hatte eine Vermisstenmeldung zu Protokoll gegeben.

Woltmann sah, wie Mandy einige Haarsträhnen ins Gesicht fielen, während sie vom Computer aufsah und sich wieder aufrichtete. Jugendliche, die nachts nicht nach Hause kommen, dachte er. Manche schliefen zum ersten Mal miteinander und vergaßen die Welt um sich herum. Andere wollten den Eltern einen Denkzettel verpassen, weil diese sie nicht verstanden. Wieder andere lagen alkoholisiert irgendwo in einem Partykeller und schliefen ihren Rausch aus. Jetzt aber war es kurz nach acht Uhr in der Früh.

»In der Schule ist sie auch nicht aufgetaucht?« Hoppe blickte in Woltmanns Augen mit dem leichten Silberblick.

»Nein, deswegen hat Kellermann eben noch mal angerufen. Er war gerade im Goethegymnasium. Wenn wir nicht sofort was unternähmen, werde er sich an den Innenminister wenden, hat er gedroht.«

»Ups, der fährt gleich die ganz großen Kaliber auf!« Die Kommissarin gab die Kontaktdaten der Familie Kellermann in ihr Handy ein.

»Also, Sascha, dann machen wir jetzt Folgendes. Ich berichte Remde von dem Vermisstenfall und fahre dann mit ihm ins Goethegymnasium. Mit wem hast du heute Dienst?«

»Mit Daniela Klein.«

»Gut. Ihr beiden fahrt währenddessen zur Familie und befragt sie noch genauer. Adressen von Freunden, Hobbys, Beschreibung des Fahrrads, das Übliche eben.«

»Aber, ähm, ist die Befragung nicht Sache der Kripo?«

»Normalerweise schon. Aber uniformierte Streifenpolizisten in der Schule sorgen gleich für zu viel Unruhe und heizen die Gerüchteküche an. Bei den Eltern von Anna Kellermann schafft ihr in Uniform dagegen Vertrauen – nach dem Motto: Die Polizei kümmert sich, Blaulicht vor der Tür und so weiter. Außerdem liegt bislang noch kein Verbrechen vor. Also seid erst mal ihr dran!«

Woltmann verspürte ein Unbehagen. Was, wenn Anna Kellermann wirklich etwas zugestoßen war? Verstrichen mit diesen polizeilichen Routinehandlungen dann nicht wertvolle Stunden? Würde man das später nicht bereuen, wenn klar war, dass ein Großeinsatz der Polizei ein schlimmes Verbrechen hätte verhindern können? Aber er hatte hier nichts zu entscheiden.

»Dani, wir haben einen Einsatz!«, rief er in den Raum gleich hinter der Pforte. Hoppe verabschiedete sich von ihm und ging in ihr Büro. Daniela Klein zog sich die Jacke an, band sich die blonden Haare zu einem kurzen Zopf zusammen und verließ gemeinsam mit Woltmann die Inspektion. Woltmann ließ seine Kollegin fahren. Er selbst suchte vom Beifahrersitz aus die Straßengräben und Hofeinfahrten mit konzentriertem Blick ab. Vielleicht entdeckte er irgendwo etwas Verdächtiges am Straßenrand. Es war die Strecke in die Stadt, die viele Schüler gingen und fuhren, die auf dem Hypothekenhügel wohnten. Auch der Weg von Annas Haus in die Stadt führte hier lang. Als sie in die Rainer-Maria-Rilke-Straße einbogen, entdeckte er tatsächlich etwas, das auf die vermisste Schülerin hinweisen könnte.

»Dani, halt mal kurz an.«

Er stieg aus, zückte sein Handy und machte ein Foto. Was er da an der Hauswand sah, elektrisierte ihn. Anna, vergib mir, stand da. Mit seinem Wohnungsschlüssel kratzte er eine winzige Probe Rauhputz von der Wand in einen Asservatenbeutel.

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3

21. Juli 1944, Ostseebad Bansin

Sagen Sie Katharina zu mir!« Sie hauchte die Worte mehr, als dass sie sie sprach.

Blohm fühlte sich schon beim Betreten des Apartments unwohl, obwohl die weiblichen Reize der Schauspielerin sofort bei ihm anschlugen. Sie schloss hinter ihm die Tür, drängte sich ganz dicht an ihm vorbei und ging in Richtung Wohnzimmer. Er ging hinter ihr her. Sie trug ein schwarzes Negligé aus durchsichtigem Chiffon. Darunter waren der Büstenhalter, die Strümpfe, der Hüfthalter zu erkennen, alles in Schwarz. Das lange, goldblonde Haar fiel ihr offen über Schultern und Rücken und verströmte einen aphrodisierenden Duft.

»Darf ich Fritz sagen?«

Er nickte nur leicht. Für einen kurzen Augenblick tauchte das Bild seiner Frau vor seinem inneren Auge auf.

»Ich bin Katharina Lempertz. Eigentlich sollte ich Ihnen verübeln, dass Sie mich nicht kennen.« Sie zog einen leichten Schmollmund. Er blickte sie unsicher an. Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Aus einem Schrank holte sie einen Packen mit Fotos und Zeitungsberichten und verteilte diese auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa. Blohm staunte nicht schlecht. Katharina Lempertz war trotz ihrer jungen Jahre schon eine deutsche Filmgröße. Doch wann war er zuletzt im Kino gewesen? Je länger der Krieg dauerte, desto weniger Ablenkung gab es. Kein Wunder, dass er sie nicht kannte.

»Schauen Sie, gefallen Ihnen die Bilder?« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, blickte ihn mit einem betörenden Augenaufschlag an. »Wer ist Ihrer Meinung nach die größte Filmschauspielerin in Deutschland, Fritz?«

Blohm zog die Stirn in Falten. Es dauerte eine Weile, bis ihm die Namen wieder einfielen.

»Paula Wessely? Oder, äh, Marianne Hoppe? Vielleicht die Flickenschildt?«

Lempertz, die ihm gegenüber auf der anderen Tischseite stand, zeigte keine Regung. Was sie den drei genannten Filmdiven voraushatte, war ihre Jugend. In der Filmwelt, so viel wusste Blohm, spielten Alter, Ausstrahlung und Aussehen, aber auch Beziehungen die entscheidende Rolle. Und so, wie die Lempertz aussah, bekam sie mit den entsprechenden Kontakten wohl jede Rolle.

»Nun, der Führer und der Reichsminister Goebbels wollen in den nächsten Wochen eine Liste herausgeben. Die Liste der Gottbegnadeten. Gott-be-gna-det! Auf diese kommen alle Künstler, die sie für besonders wertvoll und wichtig erachten.«

Sie schnalzte mit der Zunge. Blohm sah ihr an, dass sie auf eine ganz bestimmte Frage wartete.

»Sie werden auf dieser Liste sein?«

Sie funkelte ihn an. Es bedurfte keiner weiteren Worte. Sie war für die Liste vorgesehen.

»Ach, Fritz, haben Sie schon von dem feigen Attentat auf unseren Führer gehört?«

Blohm schwieg eine Weile. Warum fragte sie ihn das? Die Radionachrichten hörte in diesen Kriegszeiten doch jeder. Zudem war er Offizier. Also musste sie sich doch denken können, dass er von dem Anschlag erfahren hatte. Sie stand dem Regime nahe, wenn sie auf die Liste der Gottbegnadeten kam. Sollte er ihr da gegenüber kundtun, was er wirklich von Hitlers Kriegspolitik hielt? Durfte er da den Wahnsinn, den er selbst auf der Krim erlebte, wo Zigtausende Soldaten im Alter von Katharina Lempertz zu sowjetischem Kanonenfutter wurden, auch Wahnsinn nennen?

»Ja, natürlich habe ich vom Attentat gehört. Der Führer hat es mit wenigen Blessuren überlebt.«

»Zum Glück, Fritz, oder?«

»Nun ja, ich glaube, wir steuern mit dem Führer dem Untergang entgegen. Ich weiß, wovon ich rede. Auf der Krim hätte es mich und meine Truppe auch beinahe erwischt. Die Sowjets werden uns niederwalzen.«

»Ach, dann fänden Sie es gut, wenn das Attentat gelungen wäre?«

Er zog es vor zu schweigen. Seine Gastgeberin verschwand in der Küche.

»Kommen Sie, Fritz, lassen wir die große Politik außen vor. Machen wir uns einen schönen Abend!«, rief sie von dort. Ein Korken knallte.

»Rotwein, Fritz?« Sie stand mit der Flasche und zwei Gläsern vor ihm und lächelte ihn verführerisch an. Noch ehe er antworten konnte, war sein Glas gefüllt. Sie ließ sich neben ihm auf dem Sofa nieder. Alkohol, er dachte an die Wodkakisten. Sie hatten mehrere mit jeweils einem Dutzend Flaschen unter dem Deck der NMS Aurora gefunden. Der Wodka half ihnen, ihre Lebensgeister wieder zu wecken. Ihre Erschöpfung wich, die Anspannung legte sich, während sie auf dem Schwarzen Meer dem Feind davonschipperten. Vielleicht rettete ihnen der Wodka sogar das Leben.

»Fritz, du bist ein Held. Ich habe gehört, wie du deine Leute vor dem Zugriff der Sowjets bewahrt hast.«

Blohm registrierte den Übergang zum Du nur beiläufig. Seine Gedanken waren woanders. Er starrte auf die Beine der Schauspielerin. Sie trug Nylonstrümpfe! Bisher kannte er die nur vom Hörensagen. In Amerika waren sie angeblich auf den Markt gekommen und sollten binnen weniger Stunden schon wieder ausverkauft gewesen sein. Die amerikanische Damenwelt war geradezu in eine Hysterie verfallen. Wie war Katharina Lempertz an diese Strümpfe gekommen? Gab es für deutsche Schauspielerinnen besondere Kanäle? Sie streifte ihre Schuhe ab, zog die Beine aufs Sofa und legte ihre Füße in seinen Schoß. Wie in Zeitlupe begann sie, ihren rechten Fuß mit dem leichten Nylon kreisen zu lassen. Blohm setzte sich aufrecht hin, wagte es aber nicht, ihre Füße anzufassen und von seinem Schoß zu entfernen.

»Na, Fritz, komm, warum so schüchtern? Du warst doch auf der Krim auch ganz stürmisch!«

Blohm überkam ein wohliger Schauer, als er den kreisenden Fuß in seinem Schoß spürte. Warum sollte er sich nicht ein Mal, nach alldem, was passiert war, ein Abenteuer gönnen? Zumal mit so einer Frau! Aber auch sein Pflichtgefühl gegenüber der Familie in Berlin meldete sich zu Wort. Sein Gewissen, fußend auf tradierten Werten, sagte ihm: »Geh! Lass das nicht zu!«

»Hallo, Fritz, du schwitzt ja, mein Lieber! Darf ich dir dein Hemd ein bisschen öffnen?« Sie griff an die Knopfleiste seines Hemdes, berührte mit der Zunge leicht sein Ohr. Er spürte, wie ihm der Schweiß die Schläfen herunterlief.

»Schau, Fritz, ich mache mich auch ein bisschen frei!«

Sie erhob sich vom Sofa, stellte sich vor Blohm auf und öffnete mit einem geschickten Griff erst das Negligé, dann den Büstenhalter. Sie beugte sich leicht zu ihm hinab und stützte ihre Hände links und rechts von seinem Kopf auf dem Sofa ab. Zwei große, birnenförmige Brüste reckten sich seinem Gesicht entgegen. Blohm stockte der Atem. Aber nicht die Brüste waren es, die das bewirkten. Jedenfalls nicht sie alleine. Oberhalb des Brustansatzes sah er in der glatten Haut etwas, das ihn schockierte.

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4

Herr Kellermann, bitte beruhigen Sie sich!«

Woltmann überlegte, wie er wohl reagiert hätte, wäre seine Tochter Laura über Nacht nicht nach Hause gekommen. Laura war etwas jünger als Anna Kellermann mit ihren siebzehn Jahren. Er konnte den aufgebrachten Vater verstehen. Sie saßen im Wohnzimmer der Kellermanns. Festnetztelefon und zwei Handys lagen auf dem niedrigen Glastisch vor ihnen. Susanne Kellermann starrte darauf, als könnte sie einen Anruf Annas mit Telepathie herbeizwingen. In ihrer Hand hielt sie ein zerknülltes Papiertaschentuch. Ihre müden Augen verrieten eine schlaflose Nacht. Sie weinte still.

»Was haben Sie die letzten neun Stunden getan?«, wütete Hagen Kellermann. »Sie hätten die ganze Nacht schon etwas unternehmen können. Jetzt kommen zwei armselige Streifenpolizisten daher! Wir brauchen Hunderte! Die ganze Stadt muss systematisch abgesucht werden!«

Woltmann und Daniela Klein schauten zu Boden. Sie fühlten sich nicht wohl in ihrer Haut. Eins der beiden Handys klingelte. Susanne Kellermanns verweinte Augen weiteten sich. Doch dann entdeckte sie den Namen des Anrufers auf dem Display: Norbert Ziegler, ein Abteilungsleiter der Zwieback-Fabrik. Ihr Mann sah in ihm den Hauptschuldigen für eine große Rückrufaktion. Sie reichte das Telefon an ihn weiter.

»Ja? … O Mann, Ziegler, Sie haben mir noch gefehlt. Was gibt es denn? Ich habe momentan ganz andere Sorgen …«

Hagen Kellermann ging in die Küche und zog die Tür hinter sich zu. Woltmann und Klein vernahmen nur noch gedämpft einige empörte Laute, ohne diese jedoch zu verstehen.

»Frau Kellermann, bitte erzählen Sie uns noch mal ganz genau, wie die letzte Begegnung mit Anna ablief.«

»Anna ist gegen sechzehn Uhr aus der Schule gekommen. Sie hat sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank geholt und ist damit in ihr Zimmer. Um achtzehn Uhr ist sie dann wieder los.«

»In die Stadt?« Woltmann erinnerte sich an die wenigen Angaben im Polizeicomputer. »Mit ihrem Fahrrad?«

»Ja. Mit ihrem Fahrrad. Sie hat gesagt, sie müsse noch etwas erledigen.«

Woltmann ließ sich das Fahrrad detailliert beschreiben, um die Angaben gleich nach dem Besuch in den digitalen Ordner zur Vermisstenanzeige bei der Polizei einzutragen.

»Hat sie Ihnen denn gesagt, was genau sie in der Stadt erledigen wollte?«

Susanne Kellermann zuckte hilflos die Schultern.

»Und ihre Tasche hat sie auch mitgenommen?«

Die Mutter nickte stumm.

»Hat sie gesagt, wann sie zurückkommen will?«

»Nein. Wir haben ihr auch nie feste Fristen gesetzt. Jetzt im Sommer ist es ja lange hell. Anna kam oft erst bei Anbruch der Dunkelheit nach Hause oder noch später.«

Woltmann und Klein sahen sich leicht erstaunt an. Susanne Kellermann bemerkte das.

»Sie wird nächstes Jahr achtzehn. Wissen Sie, wir haben in unsere Anna großes Vertrauen. Damit sind wir bisher gut gefahren. Sie weiß doch, dass wir uns irrsinnige Sorgen machen, wenn sie nicht nach Hause kommt. Deswegen muss ihr auch etwas passiert sein, sie hätte sich sonst schon längst bei uns gemeldet!«

Susanne Kellermann beantwortete Fragen nach Annas Hobbys und ihrem Freundeskreis. Woltmann notierte sich die ihm genannten Adressen. Außerdem erfragten sie Annas Handynummer. Sie gaben sie telefonisch ans LKA nach Erfurt weiter, um schnellstmöglich eine Ortung zu veranlassen.

»Frau Kellermann, hat Ihre Tochter einen Freund?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

Woltmann kramte sein Handy hervor.

»Hier, schauen Sie sich das an. Könnte damit Ihre Tochter gemeint sein?«

Susanne Kellermann schaute mit aufgerissenen Augen auf das Foto, das ihr Woltmann entgegenhielt.

»Wo haben Sie das her?«

»Das habe ich vorhin an der Außenwand des Supermarkts in der Rainer-Maria-Rilke-Straße aufgenommen.«

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5

21. Juli 1944, Ostseebad Bansin

Zwei Buchstaben waren knapp unter dem Schulterblatt von Katharina Lempertz tätowiert: Ein J und ein G. Das mussten Initialen sein.

Joseph Goebbels, schoss es Blohm durch den Kopf. Wegen der Liste der Gottbegnadeten, auf die diese Schauspielerin unbedingt hatte gelangen wollen. Für einen Augenblick wusste er nicht, wen er mehr verachten sollte: diesen gottverdammten Brüllhals, der als Hitlers Sprachrohr mit schuld war an der Fortsetzung des seit Stalingrad aussichtslosen Kriegs. Goebbels, der mit Frau und sechs Kindern ständig als Vorzeigefamilie in der Deutschen Wochenschau posierte. Goebbels, der schon einmal durch eine Affäre mit einer Schauspielerin aufgefallen war. Oder diese Lempertz, die offenbar für ihren Erfolg alles tat. Goebbels war sicher genauso von ihr verführt worden wie er jetzt.

»Hallo, Süßer, was ist denn?«

Sie sah seine gefurchte Stirn, den leicht angewiderten Blick. Aber ihm war klar, dass er vorsichtig sein musste. Eine Frau, die mit dem Reichspropagandaminister ins Bett ging, war eine Gefahr.

»Ach, du hast meine kleine Tätowierung gesehen, stimmt’s?«

Blohm fühlte sich ertappt. Sein Mund war trocken. Er, der noch vor kurzem Hunderte Soldaten in höchster Gefahr kommandierte, war außerstande, etwas zu sagen.

»Johann Goethe!« Sie sah ihn ernst an, ließ sich wieder neben ihn aufs Sofa fallen, die Beine über seine legend. »Mann, Fritz, er ist nun mal der deutsche Dichter. Das war so eine Laune. Ist doch nicht verkehrt, wenn man Goethe als Schauspielerin auf der Haut trägt, oder?« Sie trank jetzt einige große Schlucke aus ihrem Glas und verschüttete dabei auch etwas Wein, der zunächst auf ihren entblößten Busen tropfte und ihr von dort ganz langsam den Bauch hinabrann.

»Komm, leck den Wein auf!« Sie tauchte einen Finger ins Glas und spritzte zwei, drei weitere Tropfen auf ihren Bauchnabel. »Lass mich nicht so betteln, Fritz! Komm, leck den Wein auf!«

Blohm erwiderte ihren Blick. Wieder funkelten ihn ihre Augen an, aber er spürte, dass es ein Funkeln der Lüge war. Er ersparte es sich und ihr, sie auf das fehlende W in der Tätowierung hinzuweisen. Johann Wolfgang Goethe. Und auf das »von«, das mit Goethes Erhebung in den Adelsstand noch hinzugekommen war.

»Warst du eigentlich auf der Krim auch so stumm?« Ihre Stimme klang nun leicht gereizt. Sie wischte sich die Tropfen auf dem Bauch mit ihrem Negligé weg. Die Situation musste für sie erniedrigend sein. Sie zog sich vor ihm aus, und er saß bewegungslos da wie eine Statue. Eine wie sie bekam doch normalerweise jeden Mann ganz schnell rum.

»Ich muss jetzt gehen! Ich habe Familie. Ich bitte um Verständnis.« Blohm schob ihre Füße zur Seite und erhob sich. »Ich danke für die Einladung und den Wein!«

Die Schauspielerin lachte hell auf, fast schon hysterisch.

»Er hat ja keinen Tropfen getrunken davon.«

Blohm ging auf ihren Satz nicht ein, knöpfte sein Hemd vollständig zu und schritt ohne weitere Worte aus der Wohnung.

Draußen brauten sich Wolken zu einer schwarzen Wand zusammen. Jeden Augenblick konnte ein Gewitter losbrechen. Schnellen Schrittes eilte er ins wenige Minuten entfernt gelegene Ferienhaus der Schwiegereltern. Die Möwen kreisten tief. Ihre Schreie waren, so schien es ihm, lauter als je zuvor. In der Ferne schlugen Blitze in die aufgewühlte Ostsee ein. Das Meer leuchtete. Das Meer tobte.

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6

Der Himmel war von einer königlichen Bläue. Ein weiterer heißer Sommertag brach an. Keine Wolke weit und breit. Doch im Gegensatz zu gestern und vorgestern sollte es laut Wettervorhersage heute keine sintflutartigen Gewitter geben.

Vor dem Eingang zum Schulhof des Goethegymnasiums standen einige Schüler. Zigaretten in der Hand, bliesen sie den Rauch in den Himmel, machten fahrige Bewegungen, lachten nervös. Ihre Haut war unrein, pickelig, bei manchen wie mit Kratern überzogen. Die Pubertät schlug erbarmungslos zu. Auch wenn die erste Stunde wegen eines erkrankten Lehrers ausgefallen war, fehlte es ihnen an Schlaf. Ein ganz normaler Vormittag an einem deutschen Gymnasium.

Etwas war heute dennoch anders. Die Gesichter der Jungs blickten ernster drein als sonst. Argwöhnisch beobachteten sie die beiden schulfremden Personen, die den Schulhof betraten. Volker Remde, der Leiter der Weimarer Kripo, und Mandy Hoppe waren zwar in Zivil und gaben sich alle Mühe, unauffällig zu sein. Aber für Polizisten besaßen bestimmte Jugendliche so etwas wie ein seismographisches Organ. Außerdem hatte sich die neue Nachricht in Windeseile verbreitet.

Die neue Nachricht. Genau darüber tuschelten die Jugendlichen vor der Schule.

Hagen Kellermann war um kurz vor acht Uhr in der Schule gewesen. Bei offener Tür hatte er den Schulleiter Dr. Dengler in seinem Büro nach Anna gefragt, in erregtem Tonfall. Den jeweils zu Klassenbuchführern ernannten Schülern, die täglich vor Unterrichtsbeginn im Sekretariat die Klassenbücher abholten, waren die Ohren in diesem Augenblick um Zentimeter gewachsen.

Ausgerechnet Anna Kellermann, die größte Streberin der Schule, war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Anna, die sich immer beschwerte, wenn sie bei einer Arbeit nicht die höchste Punktzahl erreichte. Die selbst beim Lehrpersonal gefürchtet war, weil sie so brillant argumentieren konnte. Die andere nie abschreiben ließ. Die aber dennoch heiß begehrt war, sobald es um Gruppenarbeiten ging. Weil sie vor Ideen nur so sprühte, blitzschnell eine Gliederung herbeizauberte und die Aufgaben so geschickt im Team verteilte, dass niemand überfordert war. Weil sie das meiste selbst machte. Das Urteil der Mitschüler über Anna war eindeutig: streberisch, hilfreich, bewundernswert, völlig abgehoben. Aber die Schublade, in die sie Anna Kellermann einordneten, ging nicht ganz zu. Denn Anna, die wohlerzogene Tochter aus reichem Hause, war die letzten Monate mit einem Kerl gesehen worden, der als das glatte Gegenteil von ihr durchging.

Remde und Hoppe betraten das Büro des Schulleiters.

»Herr Dr. Dengler, Sie ahnen, warum wir hier sind.«

»Ja, Herr Kellermann war vor einer knappen Stunde bei mir.«

»Gut. Können Sie uns sagen, ob Anna Kellermann vielleicht häufiger nicht im Unterricht war? Ob sie also …«

»… geschwänzt hat? Nein, so ein Typ ist Anna Kellermann nicht.«

»Was für ein Typ ist sie denn?«

»Nun, ich würde mal sagen, sie ist eine Überfliegerin.« Der Schulleiter war vorbereitet, blätterte Anna Kellermanns Zeugnisse der letzten Jahre vor den Kripobeamten auf. »Sie ist ein Star. Hat überall Bestnoten. Außer in Physik.«

»Warum da nicht?«

»Weil die Kollegin, die das Fach unterrichtet, den Ruf hat, so gut wie nie die Bestnote zu vergeben.«

Remde erkundigte sich nach Annas Spind und den Unterrichtszeiten des Vortages, danach gingen ihm die Fragen aus. Hoppe führte das Gespräch weiter.

»Anna ist siebzehn. Ist sie von der fünften Klasse an in Ihrem Gymnasium gewesen, Herr Dr. Dengler?«

»Ja. Aber sie war zwischenzeitlich auch zu einem Austauschjahr in den USA.«

»Hat sie denn enge Freundinnen oder Freunde an der Schule?«

Der Schulleiter blickte auf den Schreibtisch vor sich.

»Das, Frau Kommissarin, müssten wir in der Klasse erfragen. Ich weiß über die Freundschaften unserer Schüler im Allgemeinen nicht Bescheid. Kommen Sie bitte!«

Sie verließen das niedrige Dachgeschoss und erreichten über einen der hohen Flure in den Stockwerken darunter ein schmales, langgezogenes Klassenzimmer.

Hoppe befragte die Klasse. Besondere Vorkommnisse in den letzten Tagen gab es nicht. Jedenfalls fielen niemandem welche ein. Die Schüler waren sehr wortkarg. Weil sie betroffen waren? Oder weil sie etwas verschwiegen? Sie bestätigten nur die wenigen bereits bekannten Fakten: Kurz vor sechzehn Uhr war der Sportunterricht zu Ende gewesen und Anna in Richtung ihres Zuhauses davongeradelt.

»Hat Anna eine Freundin? Oder mehrere? Hat sie einen festen Freund?« Hoppes Fragen standen sekundenlang im Raum, die meisten in der Klasse wichen ihrem Blick aus. Nur eine Schülerin schaute sie an und nickte leicht.

»Ja, bitte, Sie möchten dazu etwas sagen?«, forderte Hoppe sie auf.

Die Schülerin wollte wohl sprechen. Aber ihre Blicke huschten ängstlich zu den Nachbarinnen.

»Na gut, ich schreibe Ihnen meine Handynummer hier an die Tafel. Wenn jemandem von Ihnen noch was einfällt, lassen Sie es mich bitte wissen.«

Die Kripobeamten verließen zusammen mit dem Schulleiter den Klassenraum.

»Wer war das Mädchen in der zweiten Reihe? Das mich direkt angeschaut und mir auf meine Frage hin zugenickt hat?«

»Das war Claudia Zott.«

»Und?«

»Also die Claudia, Moment … ich schau das gleich noch mal nach.« Dr. Dengler blätterte in einem Ordner, den er aus dem Sekretariat mitgenommen hatte. »Ja, genau, Claudia Zott war gleichzeitig mit Anna Kellermann zum Schüleraustausch in den USA.«

»Im selben Ort?«

»Nein, aber nicht weit davon entfernt. Claudia war in Omaha, Nebraska, und Anna in Wichita in Kansas. Sie waren in derselben Regionalgruppe. Die Austauschschüler bestimmter Regionen treffen sich alle paar Monate in den USA.«

»Dann haben sich Claudia Zott und Anna Kellermann dort also getroffen?«

»Davon ist auszugehen.«

»Und warum erzählt sie uns das nicht?«

»Weil, nun, vor der Klasse will man nicht alles ausbreiten. Zumal, wenn vielleicht …«

»Wenn was?«

»Ich gebe wenig auf Gerüchte. Aber etwas ist während Annas USA-Aufenthalt vorgefallen. Sie hat jedenfalls ganz plötzlich die Gastfamilie gewechselt. Es ging wohl um sexuelle Belästigungen durch den Gastvater. Genauere Informationen haben wir als Schule nicht erhalten.«

Hoppe sah zunächst den Schulleiter eindringlich an, dann ihren Chef.

»Kann ich mit Claudia Zott unter vier Augen sprechen?«, fragte Hoppe und ließ ihren Blick auf Remde ruhen.

Der Kripochef nickte. Er kannte sich, er kannte seine Kollegin. Hier war weibliche Empathie gefragt.

»In fünf Minuten ist Pause. Dann lasse ich sie holen. Sie können sie in meinem Büro sprechen. Dort sind Sie völlig ungestört.« Der Schulleiter klappte den Ordner zu.

»Und noch was, Herr Dr. Dengler. Können Sie bitte im Kollegium nachfragen, ob einer Ihrer Kollegen irgendeine besondere Beobachtung bezüglich Anna Kellermann gemacht hat? Konflikte in der Klasse, ungewöhnliche Freundschaften, Kontakte oder Vorkommnisse.«

»Ja, mach ich.«

Hoppe dankte ihm. Remdes Handy klingelte. Schon nach zwei Worten erkannten Hoppe und Dengler auch ohne Lautsprecher, wer dran war: Hagen Kellermann.

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7

Ende Juli 1944, Ostseebad Bansin

Die Strandpromenade in Bansin wirkte wie eine Postkarte aus einer anderen Zeit. Die prächtigen, zu Anfang des Jahrhunderts errichteten Gebäude zeugten von dem großen Aufschwung, den der Ort als »Badewanne Berlins« erfahren hatte. Reiche Unternehmer aus der Hauptstadt ließen sich hier Villen im Stile der Bäderarchitektur bauen, mit filigranen Holzbalkonen und vielfältigen Giebeln und Risaliten, die dem Ort sein unverwechselbares Gesicht verliehen. Vom Kaiser höchstselbst zum Badeort ernannt, stand der Gemeinde eine blühende Zukunft bevor. Doch mit dem Krieg blieben die Besucher aus, die Gebäude begannen zu verfallen.

Fritz Blohm wusste, dass sein Fronturlaub zu Ende ging, auch wenn er den Gedanken daran immer wieder zu verdrängen versuchte. Täglich trieb es ihn ins Gemeindeamt. Dort gingen die Telegramme vom Oberkommando des Heeres ein, die ihn betreffen konnten. Zweimal war auch eine Nachricht von seiner Familie in Bansin angekommen. Doch der Inhalt war traurig: Wegen der Kriegshandlungen und der zunehmend ausweglosen Situation in der von Bomben überzogenen Stadt gab es keine Möglichkeit für seine Frau und die Töchter, ihn in Bansin zu besuchen. Immerhin machte er in den letzten Tagen noch einige Bekanntschaften, die ihn gedanklich vom Kriegsgeschehen ablenkten, allesamt Mitglieder eines Berliner Schauspielensembles, dem auch Katharina Lempertz angehörte. Sie probten im Kursaal, saßen am frühen Abend am Strand und tranken Rotwein, als ob der Krieg auf einem anderen Stern stattfände. So manches Mal sprachen sie ihn an, offerierten ihm einen Becher Wein. Nur wenn er sicher wusste, dass Katharina Lempertz nicht zugegen war, gesellte er sich zu ihnen und hörte sich die ihm so fremden Geschichten von Kostümen, Requisiten und Schminke an.

Blohm betrachtete das Bansiner Gemeindewappen über dem Eingang. Ein grüner Berg war darauf zu sehen, der aus silbernen Wellen emportauchte und eine Insel bildete. Auf dem Gipfel des Berges saß ein Falke aus Gold, der sich anschickte, davonzufliegen. Ja, so ein Falke wäre er jetzt auch gerne. Einer, der nach Berlin zu den Seinen oder ganz woandershin fliegen würde. Hauptsache weg aus diesem mittlerweile aussichtslosen Krieg. Die militärstrategischen Fehler der Heeresführung, allen voran die des Führers, waren katastrophal. Ihm kam es so vor, als ob in Berlin nur noch Verrückte regierten. Dennoch fühlte er sich seinem Eid auf den Führer verpflichtet. Er würde kämpfen, auch den Tod in Kauf nehmen, wenn es denn sein musste.

Blohm betrat das Gemeindeamt. Die Augen der Frau am Telegraphen verrieten ihm, dass es heute so weit war. Sie drückte ihm einen gelblichen Zettel in die Hand.

 

Generalstabsoffizier Fritz Blohm unverzüglich in Schwerin bei der 12. Inf.-Div. melden betreffs neuer Aufgabe. Das ist ein Befehl. Ende.

 

Blohm fühlte das Blut in den Schläfen pochen.

»Na, wohl keene juten Nachrichten?« Die Dame vom Amt lächelte ihn an. Gruß- und wortlos verließ Blohm das Gebäude. Im Ferienhaus der Schwiegereltern packte er rasch seinen Koffer und warf den Schlüssel in den Briefkasten des Nachbarhauses. Noch ein letztes Mal gönnte er sich einen kleinen Spaziergang am breiten Sandstrand. Als er auf der Höhe des Hauses von Katharina Lempertz angelangt war, sah er zu der Etage hinauf, in der sie wohnte. Bewegte sich dort nicht leicht der Vorhang? Und schaute sie da nicht durch den Spalt zwischen den Vorhängen? Schnell schwenkte er in Richtung Bahnhof. Er war froh, dieses Kapitel mit seinem abrupten Weggang abgeschlossen zu haben. Er musste wieder in die Kampfhandlungen eingreifen. Eine Affäre mit dieser fragwürdigen Schauspielerin – das hätte sein Gewissen gegenüber der Familie zu sehr belastet.

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8

Anna, vergib mir, stand in signalroter Schrift auf dem weißen Rauhputz des Supermarkts in der Rainer-Maria-Rilke-Straße.

Susanne Kellermann beugte sich ganz dicht über Woltmanns Handy, dann schüttelte sie ungläubig den Kopf.

»Damit kann nicht meine Anna gemeint sein!«

Woltmann wunderte sich, dass sie nicht »unsere« Anna sagte. Hagen Kellermann kam aus der Küche ins Wohnzimmer zurück. Dass er sich am Telefon aufgeregt hatte, war bis ins Wohnzimmer zu hören gewesen.

»Dieser verdammte Ziegler, der fliegt bald raus!« Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. »Hat sich was Neues ergeben, während ich draußen war?«

»Weißt du etwas von einem Freund, den Anna hat?« Susanne Kellermann saß mit vorgebeugtem Oberkörper und gefalteten Händen auf dem weißen Ledersofa.

»Nein, sie hat keinen Freund. Das wüsste ich!« Hagen Kellermann lief im Wohnzimmer auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

»Jugendliche erzählen ihren Eltern nicht immer alles«, warf Daniela Klein ein, bereute es aber, noch während sie sprach. Die Augenbrauen von Annas Vater zogen sich leicht zusammen, dann donnerte er los.

»Sie brauchen mir hier nichts über meine Tochter zu erzählen. Sie stehen hier rum und stellen Fragen, die …«

»Herr Kellermann, ich verstehe Ihre Aufregung«, ging Woltmann dazwischen. »Ich habe selbst zwei Kinder, die im Alter von Anna sind. Aber wir müssen diese Fragen stellen. Nur so bekommen wir einen Ermittlungsansatz.«

»Ach, Ermittlungsansatz, was für eine Phrase! Was wir brauchen, ist eine systematische Suche in der Stadt, im weiteren Umfeld unseres Hauses. Vielleicht findet man ihr Fahrrad, ihre Tasche, irgendeine Spur, die weiterführt. Es kann doch auch sein, dass …« Kellermanns Stimme stockte.

»Ja?« Woltmann sah den Unternehmer konzentriert an.

»Es könnte doch eventuell eine Entführung sein.« Kellermann stand an der großflächigen Terrassentür und sah abwesend auf zwei sich durch die Baumwipfel jagende Eichhörnchen.

»Haben Sie Grund zu dieser Annahme? Hat das schon mal jemand bei Ihnen versucht?«

»Nein, das nicht. Aber wir sind ja nicht die Ärmsten.«

»Herr Kellermann, die Kripo ist bereits informiert und aktiv. Sie wird bald bei Ihnen vorbeischauen und sicher auch einen richterlichen Beschluss zur Überwachung Ihres Telefons beantragen.«

»Beantragen! Wenn ich das schon höre! Wie lange das in unserem Bürokratenstaat wohl wieder dauern wird! Oh Mann, Mann, Mann!«

Susanne Kellermann zeigte Woltmann und Klein die Garage, in der Annas Fahrrad normalerweise stand, auch den großzügigen Garten mit altem Baumbestand. Woltmann schob die hohe, das ganze Grundstück umgebende Hecke an einer Stelle auseinander und sah in der Ferne das Klinikum. Wieder zurück im Haus, ließen sie sich noch ein Foto von Anna geben. Danach verabschiedeten sich die Beamten von den Kellermanns und fuhren zum Supermarkt in der Rainer-Maria-Rilke-Straße. Dort staunten sie nicht schlecht, als sie sahen, wie ein Rentner in anthrazitfarbenem Latzanzug die letzten Reste des Schriftzugs überpinselte.

»Immer das Gleiche«, brabbelte er, mehr an sich selbst als an die beiden Polizisten gewandt, vor sich hin.

»Wieso übermalen Sie das denn?«

»Ja, soll das Gekritzel etwa bleiben?« Der Rentner nickte in Richtung Supermarkt-Eingang. Dort machte sich eine kurzhaarige Frau mit weißer Schürze an den Einkaufswagen zu schaffen. »Auftrag von der Chefin!«

Der Supermarkt öffnete gerade.

»Ach, die Polizei, das ist ja praktisch«, trällerte die Chefin des Marktes den Beamten entgegen. »Da kann ich ja gleich eine Anzeige wegen des Graffitos aufnehmen lassen.«

Sie blinzelte Woltmann und Klein an.

»Ach, nein, vergessen Sie es, kommt sowieso nichts bei raus.«

»Können Sie uns sagen, wann Sie diesen Schriftzug zum ersten Mal bemerkt haben, Frau, äh…«, fragte Woltmann und blickte auf das kleine Namensschild an der Bluse der Chefin, »… Frau Runkist?«

»Na, junger Mann, nun starren Sie mir mal nicht so auf die Brust.« Frau Runkist lachte auf. »Kleiner Scherz. Also, das Gekritzel muss heute Nacht an die Wand gekommen sein. Ich parke mein Auto immer auf dem Parkplatz da drüben bei der Warenannahme. Als ich gestern Abend um einundzwanzig Uhr gefahren bin, war die Wand noch sauber.«

»Und da haben Sie heute Morgen schon jemanden an der Hand, der das wegmacht?«

Frau Runkist seufzte. »Ach, wissen Sie, wir haben fast jede Woche so eine Schmiererei. Unser Herr Schlegel macht die immer weg. Wir haben dafür sogar extra eine Anti-Graffiti-Farbe gekauft.«

»Ja, je schneller das Zeug weg ist, desto besser«, ergänzte der jetzt hinter der Supermarktchefin stehende Herr Schlegel. »Sonst ist bald die ganze Wand voll. Graffiti ziehen Sprayer genauso an wie Licht die Motten. Ich bin fertig, Chefin, mach mich mal jetzt an die Grünanlagen.«

Woltmann und Klein fuhren zur Polizeiinspektion zurück. Bevor sie ausstiegen, zeigte Woltmann der Kollegin noch mal das Foto auf seinem Handy.

Anna, vergib mir.

»Da hat einer um Vergebung gebeten. Was, wenn er sie nicht erhalten hat?«

»Dann wird er wütend. Kenn ich von Ramu.«

Ramu, dachte Woltmann, stimmt! Das war Danis fünf Jahre jüngerer Freund mit indischen Wurzeln. Ein Hip-Hopper, der ständig mit anderen Frauen flirtete. Das behauptete sie jedenfalls. Was den Fall Anna Kellermann betraf, schien ihm die Deutung Danis jedenfalls voreilig zu sein.

»Entschuldigt sich denn dein Ramu öfter bei dir?«

»Ständig. Aber ich nehm ihm das nicht immer ab. Der macht das nicht aus Einsicht, sondern weil er seine Ruhe haben will. Jedenfalls meistens.«

»Und wenn du ihm nicht vergibst, rastet er aus?«

Die Kollegin zog es vor zu schweigen. Auch wenn sie mir viel anvertraut, dachte sich Woltmann, soll ich wohl nicht alles wissen. Ist ja auch okay. Gab es denn überhaupt jemanden, der Anna Kellermann um Verzeihung bat? Oder überdeutete er das Graffito? Aber wenn eine junge Frau namens Anna verschwand und zeitnah jemand genau diesen Namen an eine Wand ganz in der Nähe ihres Wohnhauses gesprayt hatte, war das nur Zufall?

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9

Anfang August 1944, Oslo–Schweden–Berlin

Blohm fror, obwohl es ein milder Sommertag war. Der Fahrtwind an Deck kühlte ihn aus. Noch einmal waren die letzten Wochen wie in einem Film an ihm vorbeigezogen: die Rettung vor dem russischen Zugriff mit Hilfe des rumänischen Donauschleppers, die Reise nach Bansin, die Begegnung mit Katharina Lempertz, die ihm so unwirklich vorkam, die Fahrt nach Schwerin und Warnemünde und von dort mit dem Kriegsschiff General von Steuben hierher nach Oslo.

Was ihn erwartete, ließ keine gute Laune in ihm aufkommen. Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht hatten in diesen Augusttagen die endgültige Wende des Krieges zur Kenntnis nehmen müssen: Die Westalliierten waren am sechsten Juni in der Normandie gelandet. Eine zweite Front war eröffnet, das Deutsche Reich damit in eine Zange geraten, die es zermalmen würde. Die ersten Atlantikfestungen, jene aufgerüsteten und stark befestigten Städte und Häfen an Frankreichs und Hollands Küste, waren gefallen. Und um einer zusätzlichen Invasion im Norden vorzubeugen, schickte man ihn nun zu einer Einheit nach Norwegen.

»So ein Schwachsinn«, murmelte Blohm vor sich hin und zündete sich eine Zigarette an. Er beobachtete, wie zwei schwarz gekleidete Festmacher am Kai mit einer Wurfleine das schwere Tauwerk an Land zogen und dessen gespleißte Augen über die Poller legten. Das Schaukeln der General von Steuben nahm danach spürbar ab.

»Bald werden die Feinde vor Paris stehen.« Blohm rechnete sich hier in Norwegen immerhin bessere Überlebenschancen aus. Er glaubte nicht, dass die Alliierten im Norden eine weitere Front eröffnen würden. Der Krieg konnte nicht mehr lange dauern. Die Rote Armee rückte im Osten mit Macht Kilometer um Kilometer gegen Berlin vor.

Blohm verließ das Deck, ging in seine Kabine und packte seine wenigen Sachen zusammen. In ein paar Minuten würde er das Schiff verlassen. Ein Militärwagen sollte ihn zu seiner neuen Einheit bringen, deren bisheriger Befehlshaber in die Bretagne abkommandiert worden war.

Er hoffte, noch eine Möglichkeit zum Telegraphieren zu finden.

Bin gut in Oslo angekommen. Macht Euch keine Sorgen, notierte er auf einem Zettel, dazu die Adresse. Dann machte er sich auf den Weg in die zweite Etage, wo die Schiffsleitung saß. Nach einigen Minuten fand er den Raum mit den Telegraphen. Er drückte einem der Soldaten den Zettel in die Hand, dazu, für die anderen nicht sichtbar, eine halbvolle Schachtel Zigaretten.

Er drehte sich um und wollte an Deck zum Fallreep gehen, um das Schiff zu verlassen. Doch im Zwischendeck ging es nicht voran. Die Freigabe zum Landgang war noch nicht erteilt worden. Die Soldaten warteten daher mit großen Rucksäcken, gesenkten Blicken und den Papieren in der Hand, die auswiesen, zu welcher Einheit sie gehörten. Am Kai sah Blohm einen Stoewer im leichten Nieselregen vorfahren. Zwei Männer in feldgrauen Uniformen entstiegen ihm und eilten das Fallreep hoch. Sie sprachen kein Wort, verschafften sich allein mit ihrem energischen, zielgerichteten Auftreten einen Weg durch die Menge der Soldaten. Einer der beiden hielt ein Foto in der Hand, sein prüfender Blick glitt über die Gesichter der Wartenden. Als die Männer Blohm erreichten, musterte der mit dem Foto in der Hand auch ihn akribisch. »Die Papiere«, befahl er dann. Blohm reichte sie ihm. »Mitkommen!«