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Sarah ist 16 Jahre alt und lebt für die Pferde. Mit ihrem eigenen Pferd Indian Summer nimmt sie an Reitturnieren teil und eigentlich ist alles gut, bis sie auf einem Turnier Jan kennen lernt. Sympathisch ist ihr der arrogante Junge ganz und gar nicht, und als ausgerechnet er nach den Sommerferien in ihre Klasse kommt, gerät ihr Leben ganz schön durcheinander. Der Junge ist verschlossen und aggressiv und als auch noch Looping, das neue Pferd, im Stall einzieht, droht die angespannte Situation zwischen beiden zu eskalieren. Als Sarah zufällig Zeugin von Jans größtem Geheimnis wird, tritt ein Waffenstillstand in Kraft, aber gleichzeitig tun sich auch immer mehr Rätsel auf. Was hat es mit Jans Launen auf sich und welche Rolle spielt Looping dabei? Eine Geschichte über Pferde, Freundschaft und den Willen, Schatten zu überspringen.
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Seitenzahl: 716
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die von Anfang an dabei waren.
Ihr seid meine Inspiration.
Jeden Tag.
Jede Nacht.
Der Anfang
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Ich hatte immer das Gefühl, anders zu sein. Nicht, dass ich komisch aussah oder mich seltsam verhielt. Ich sah mich nur in einem anderen Licht. Meine Freunde hatten alle irgendein Talent und ich war überzeugt davon, keines zu besitzen. Dass ich normal war, durchschnittlich. Ich war kein sonderlich risikofreudiges Mädchen, eher im Gegenteil. Ich hatte vor vielem Angst. Ich hatte Höhenangst. Angst vor Menschenmassen. Angst vor Streits und Konflikten. Ich hatte Angst, im Mittelpunkt zu stehen und war eigentlich zufrieden damit, denjenigen zuzusehen, die offensichtlich in egal welcher Hinsicht mehr Talent hatten als ich. Dann hörte ich irgendwann auf, Angst zu haben.
Warum? Weil der strahlende Mittelpunkt der Reitsportszene in mein Leben krachte – oder besser: Ich gegen ihn – und ich ihn aus ganzem Herzen hasste. Ich hätte nie gedacht, dass sich das so sehr ändern würde. Dass ich aufhören würde, Jan so weit weg zu wünschen, wie ich es am Anfang tat. Dass mein Herz jemals wegen ihm schneller schlagen würde.
Aber das hatte sich in den vergangenen Monaten geändert. Ich hatte mich geändert. Er hatte mich verändert. Er war das Vertrauen in mich, das ich selbst nie gehabt hatte. Sonst hätte ich niemals meine Ängste bekämpft. Ich hatte mich selbst überwunden und war über meinen Schatten gesprungen. Wegen ihm.
Wenn ich diese Geschichte erzählen soll, weiß ich nicht mehr, wo ich beginnen soll. Sicherlich bietet sich der Anfang an. Es ist so viel passiert im letzten halben Jahr, dass ich erst einmal überlegen muss, wo es eigentlich begonnen hat. Die ganzen Gedanken. Der ganze Ärger. Die ganzen Rätsel. Der ganze Ärger mit Jan und die ganzen Rätsel um Looping.
Der Anfang… Ja… wo war der noch gleich? Ach ja… in Pfungstadt. Hessen.
Es begann an einem Samstag und regnete in Strömen. Dicke, fette Regenwolken verdeckten den strahlend blauen Julihimmel. Die Wolken waren so dicht, dass man glaubte, es würde bereits dämmern. Aber das tat es nicht. Es war früher Vormittag und der Parkplatz vor lauter Regen aufgeweicht. Das alles hatte etwas trostloses, vielleicht auch bedrohliches, was meinen Optimismus nicht sonderlich verstärkte. Am liebsten wäre ich zurück gefahren, nicht wegen des Regens, sondern wegen dem, was vor mir lag.
Wir waren nach Pfungstadt gefahren, auf ein bundesweites Nachwuchsturnier im Spring- und Dressurreiten. Ich hatte zwei Springprüfungen genannt und meine beste Freundin Kim ritt eine Dressurprüfung. Im Grunde genommen war ich ein ziemlicher Hasenfuß was Springprüfungen anging. Kleine Springen waren für mein Angstempfinden okay. Da fühlte ich mich gut und sicher und hatte auch selten Blackouts, die mein Pferd ausbaden musste. L-Springen waren mit einer Höhe von einem Meter zwanzig schon eine ganz andere Hausnummer. Hier bekam ich oft Angst, aber ich hatte wirklich das Glück ein ganz tolles Springpferd zu haben. Mein Pferd. Indian Summer.
Heute war die Herausforderung allerdings eine ganz andere. Ich hatte bislang eine ganz gute Saison geritten und einige wirklich schöne Platzierungen geholt. Das heißt: Indian Summer war unglaublich gewesen und ich hatte ihn nur mittelschwer behindert. Auf dieser Grundlage hatte Hannes, mein Reitlehrer, beschlossen, dass wir reif für den nächsten Schritt waren. M-Springen. M wie mittelschwer. Die zweitschwerste Klasse, die man reiten konnte. Seit Wochen machte ich mir deshalb vor Angst in die Hosen und da half auch mein Wissen um mein fantastisches Pferd nicht viel. Vor der Höhe und der Weite der Sprünge, immerhin einen Meter dreißig hoch, und nicht zuletzt vor der Kulisse, die Hannes ausgewählt hatte.
Das Nachwuchsturnier in Pfungstadt war ein sehr großes Turnier für unsere ländlichen Verhältnisse, aber Hannes fand, dass Indian Summer und ich der Aufgabe gewachsen waren. „Wer weit kommen will, muss auch was riskieren!“, hatte er gesagt. Damit zog er mich seit Weihnachten auf. Wir hatten über Ziele für das neue Jahr gesprochen und ich hatte aus Spaß gemeint, dass die Teilnahme an den hessischen Meisterschaften mein großer Traum war. Mein utopischer Traum. Hannes fand es weniger utopisch als ich, was mir etwas Angst machte. Klar, mein Pferd war gut, aber ich war es nicht. Dennoch arbeitete er mit mir und Indian Summer darauf hin. Nicht für dieses Jahr, sondern vielleicht für das nächste. M-Springen reiten musste ich dafür also auf jeden Fall. Früher oder später. Später wäre mir eindeutig lieber gewesen. Immerhin war es ein Stil-Springen, das nett und einladend aufgebaut war, damit man schön und sauber reiten konnte, und nicht ein Zeitspringen, in dem über Höhe und Schwierigkeit differenziert wurde.
Das M-Springen hatte ich nur genannt, weil Hannes es beschlossen hatte. „Wer dreimal in Folge ein L gewinnt“, hatte er gesagt, „der kann auch mal in ein M rein reiten.“ Ganz ehrlich? Wir hatten drei Mal gewonnen, weil mein Pferd unglaublich zuverlässig und treu war, nicht weil ich das so gut konnte. Meine Platzierungen auf Turnieren verdankte ich im großen und ganzen Indian Summer, einem damals neunjährigen Hessenwallach. Ich nannte ihn nur Iana. Iana war toll und riesig. Zu riesig. Immer wieder hatte man mir gesagt, er sei zu groß für mich. Ich war 1,68m groß, Iana knapp 1,83m. Damit war er viel zu groß und stark für mich, aber ich liebte ihn und er liebte mich. Ich glaube, er hätte alles für mich getan und ich ganz sicher alles für ihn. Man sagte ihm viel Springvermögen nach und siebenjährig hatte er sogar mit Wolf Rufinger, dem Besitzer des Stalls, in dem Iana wohnte, erfolgreich Schleifen in Dressurprüfungen der Klasse M gesammelt. Dass wir ihn damals vor zwei Jahren kauften, war mehr Zufall gewesen als Absicht. Iana war verletzt gewesen. Ich ritt damals schon seit einiger Zeit in der Reitschule und war mit Mathias, Wolfs Sohn, in einer Klasse und seit dem Kindergarten befreundet. Wolf bot mir an, mich während Ianas Verletzungspause um das Pferd zu kümmern. Später durfte ich ihn als Reitbeteiligung reiten und dann, als ich ihn schließlich nur noch alleine versorgte und ritt, bot Wolf ihn mir zum Kauf an.
Meine Mutter war nicht sehr angetan von der Idee. „Sarah“, hatte sie gesagt, „du weißt, wie teuer das ist…“ Ja, das wusste ich. Und ich wusste auch, dass es zu teuer war für meine alleinerziehende Mutter.
Dass wir Iana dann doch kauften, lag vor allem daran, dass mein Opa mich nicht unglücklich sehen konnte. Opa überzeugte meine Mum und sprang mit dem Kaufpreis ein. Es wurde hart und heftig verhandelt, aber alles freundschaftlich und mit Augenzwinkern. Rufingers Preis für Iana war am Ende verhältnismäßig gering und er handelte mit meiner Mutter einen Deal aus. Ich half im Stall und beim Reiten der anderen Turnierpferde aus und Indian Summer stand für ein besseres Trinkgeld in einer der tollsten Reitanlagen im Umkreis: der Silberburg. Die Burg war Wolf Rufingers Ausbildungs- und Verkaufsstall, ein Traum für Pferde, eingebettet in den Taunus, umgeben von Wäldern und Feldern. Wolf Rufinger war eine Koryphäe im Dressursport, zu aktiven Zeiten für Deutschland bei Weltmeisterschaften am Start, Wertungsrichter und gefragter Trainer. Insgeheim hatte Wolf aber ein Faible für Springpferde. So kam es, dass neben rund 15 Dressurcracks auch einige Springpferde ihr Zuhause auf der Silberburg hatten – zu denen mittlerweile auch Indian Summer gehörte.
Man darf nicht denken, ich hätte Angst vorm Springen. Gut, schon, ich war ein Schisser, aber es war ein bisschen wie fliegen. Gerade mit Iana war es wie abheben und segeln. Trotzdem hatte ich viel Respekt, aber Iana liebte es. Deshalb würde ich also heute ihm zu liebe in dieses M-Springen reiten und mir vor Angst in die Hose pieseln.
„Komm, lass uns mal zur Meldestelle gehen.“ Ich schrak aus meinen Gedanken, als ich Kims Stimme hörte und fand mich sofort in der Realität wieder: Im Regen auf irgendeinem Stoppelacker in der hessischen Provinz. Ich nickte und folgte ihr durch Schlamm und Pfützen vorbei an riesigen Pferde-Transportern. Einige waren bunt beschriftet mit prominenten Namen des Reitsports und das machte mir Angst. Die besten Reiter meiner Altersklasse aus ganz Deutschland waren nach Pfungstadt gekommen und ich war mitten drin. Natürlich wusste ich auch, warum das Feld derart prominent besetzt war. Es war eine der letzten Formüberprüfungen der deutschen Nachwuchsreitern vor den Europameisterschaften in drei Wochen. Die Konkurrenz war stark und viele Augen waren auf die Prüfungen am Wochenende gerichtet. Viele der guten Nachwuchsreiter hatten mehrere Pferde dabei um in möglichst vielen Prüfungen ihr Können zu zeigen. In den Qualifikationsprüfungen für die EM würde ich nicht starten, sondern in einer der kleineren Rahmenprüfungen. Dennoch war es beeindruckend und einschüchternd die ganz Nachwuchsreiter der Nation zu sehen, die wie aus dem Ei gepellt mit ihren Kaderjacken über das Gelände liefen.
Um zur Meldestelle zu kommen, mussten wir am Springplatz vorbei. Das Springen wurde gerade aufgebaut. Mir wurde sofort mulmig. Das war ziemlich hoch. Iana machte die Höhe nicht sonderlich viel aus, aber als ich an diesem fürchterlichen Regentag mit Kim am Parcours vorbei lief, wurde mir schon etwas schlecht. Das war unglaublich hoch. „Und das bei dem Regen…“, murmelte ich, während wir zu zweit zur Meldestelle liefen, um die Starterlisten zu holen.
„Stell dich nicht so an“, lachte Kim. Sie war meine beste Freundin seit ich denken konnte. Sie, ihre Eltern und ihr Bruder Kai, wohnten uns genau gegenüber. Wir waren zusammen in den Kindergarten gegangen und besuchten seit der Grundschule dieselbe Klasse. Wir hatten gemeinsam Flötenunterricht gehabt und unsere erste Reitstunde geteilt. Kim war, wenn man mich als Ausgangswert nahm, in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Wo ich lange in der Schule lernen musste, flogen ihr die guten Noten nur so zu. Sie war außergewöhnlich hübsch, nicht zuletzt wegen der philippinischen Gene ihrer Mutter. Sie war gertenschlank und besaß ein Gesicht, um das sie jedes Mädchen in der Schule beneidete. Ihre Haare waren lang, stark und glänzten wie schwarzes Ebenholz. Sie hatte ein Talent für den Reitsport in die Wiege gelegt bekommen, von dem ich nachts nicht träumen wollte – und doch war ich nie neidisch auf Kim gewesen. So unterschiedlich wir sein mochten: Sie war meine beste Freundin, ich gönnte ihr alles. Sie war wie meine bessere Hälfte. Irgendwie in jeder Hinsicht.
Kim startete an diesem Tag in einer Dressurprüfung für Junioren der Klasse M. Wie Wolfs Sohn Mathias ritt Kim im hessischen Dressurkader, der Landesauswahl – dort, wo ich im Traum irgendwann einmal hin wollte. Kim bekam jede Menge Sponsoring und Training vom Verband gestellt und war erst in den Osterferien bei der Bundessichtung in Warendorf gewesen. Talent und Erfolg und Beziehungen. Ich besaß weder genügend Talent noch hatte ich Beziehungen, zumindest nicht solche wie sie. Aber ich hatte ein paar Erfolge, war stolz darauf und glücklich mit dem, was ich hatte: Ein eigenes, gesundes Pferd und trotz Muffensausen hatte ich doch Spaß an dem, was ich tat.
Wir studierten unsere Starterlisten und machten uns auf den Rückweg. Ich war in der Mitte meiner Prüfung an der Reihe, Kim hatte noch viel Zeit. Wieder wanderte mein Blick in den Parcours. Das war wirklich ganz schön hoch gebaut. Flau war mir immer noch im Magen und ein bisschen Angst mischte sich mittlerweile darunter.
„Komm schon, Sarah…“ Kim nahm meine Hand und zog mich weiter. Die meisten Jugendlichen, die mir entgegen kamen, meistens umrahmt von Trainern und Eltern, kannte ich nicht. Sie trugen alle Jacken mit den Verbandswappen darauf. Zwei, drei sah ich mit dem Bundesadler – die Spitze der deutschen Nachwuchsreiter, Mitglieder im deutschen Bundeskader.
Wir liefen an einer Gruppe Reiter vorbei, die der Erzählung eines Mädchens lauschten und dann laut loslachten. Die Gesichter der Reiter waren mir fremd, das Mädchen, das so lebendig erzählt hatte, kannte ich jedoch etwas besser. Sie hieß Maica Zander, hatte zwei sehr gute Springpferde und wohnte gar nicht so weit von mir entfernt. Ich kannte sie von den Turnieren im Rhein-Main-Gebiet. Maica war unglaublich. Sie war so selbstbewusst und immer gut gelaunt, ein richtiger Sonnenschein. Jeder mochte sie. Sie hatte eine charmante, einnehmende Art an sich, die richtig ansteckend war. Nichts schien ihr je die Laune verderben zu können. Selbst der strömende Regen nicht.
„Hallöchen!“, begrüßte sie uns überschwänglich und drückte sowohl mir als auch Kim einen Kuss auf die Wange. „Ich hab gesehen, du hast das M auch genannt, Sarah-Hase! Ist das dein erstes Mal?“
Ich nickte, allerdings nicht so überschwänglich wie Kim. Kim glaubte tatsächlich an mein gutes Gelingen später. Ich nicht.
„Oh, das ist großartig. Ich drück dir die Daumen, wir sehen uns gleich beim Abreiten!“ Und damit drehte sie sich mit einem eleganten Schlenker um die eigene Achse und hüpfte beschwingt davon. Ihre Gelassenheit hätte ich gerne gehabt.
Kim und ich liefen zurück zum Hänger-Parkplatz. Dort parkte, fast nicht zu übersehen, der große silberfarbene LKW der Silberburg. Fünf Pferde passten dort hinein, heute hatten wir jedoch nur drei an Bord. Mein Pferd Indian Summer, Kims Stute Stardust und das Pferd von Mathias Rufinger, Falkenbraut. Mathias klingt noch heute ungewohnt in meinen Ohren, wir nannten ihn alle Mattes. Er saß im Führerhaus des LKWs und lernte Physik. Wieso, war mir nicht wirklich klar, denn er war spitze in der Schule, vor allem in Physik.
Mattes sah nur kurz auf, als wir zurückkehrten. Er lächelte uns an, aber das Lächeln galt mehr Kim als mir. Sie waren seit fast einem halben Jahr Monaten zusammen und er war bis über beide Ohren verliebt in Kim.
Gemeinsam entriegelten wir die Rampe und Iana wieherte uns entgegen. Stardust war verhaltener, brummelte uns lediglich leise zu, Falkenbraut ignorierte uns gänzlich. „So, die Herrschaften“, erklärte Kim, „aufwachen. Die Arbeit wartet, Dicki.“
Kim nannte Iana immer so. Gut, vielleicht war er nicht nur groß, sondern auch ein wenig proper, aber ich mochte ihn so, wie er war und er mochte Futter jeglicher Art. Ich öffnete die Trennwand und Iana trottete gelassen die Rampe hinunter. Mittlerweile hatte der Regen nachgelassen und es tröpfelte nur noch, dennoch hingen die schwarzen Wolken bedrohlich über dem Springplatz.
Aus dem LKW holte ich meinen Sattel und wischte noch einmal kurz über den rotbraunen Pferderücken, bevor ich sattelte. Die weiße Turnierdecke war schon unter den Sattel geschnallt. Kim half mir routiniert, legte Iana die Gamaschen zum Schutz der Beine an und hielt ihn fest, als ich meine Jeans abstreifte und die weiße Turnierreithose anzog. Gerade, als ich fertig war mit umziehen, tauchte Maica an unserem LKW auf. Der Anhänger ihrer Eltern parkte nicht weit von uns entfernt. Sie blieb neben Iana stehen und starrte plötzlich sehr entmutigt auf den Zufahrtsweg hinunter. „Ach nee…“, murmelte sie und sah aus, als habe sie in eine extrem saure Zitrone gebissen. „Man, nicht schon wieder...“
Kim und ich sahen in die Richtung, in die auch Maica sah. „Was ist denn?“, fragte ich zurück. Maica verzog das Gesicht nur noch mehr. „Ey, die haben uns in Warendorf schon krass deklassiert, das macht keinen Spaß. Wenn die da sind, bekommt man nur noch Plastikblumentöpfe als Preis ab. Und zwar extrem hässliche Plastikblumentöpfe.“
Ein großer, grüner LKW schleppte sich die Zufahrt entlang und steuerte auf den Parkplatz zu. Es war ein dunkelgrüner LKW mit Springpferde-Motiv auf der Seite. Groß und fett prangte der Schriftzug SofTECH unter dem Springpferdemotiv. Der LKW war ein nagelneues Fabrikat, die Seitenwände konnte man bestimmt zu einem geräumigen Wohnabteil ausfahren. Auf der letzten Pferdemesse hatte ich mir so einen LKW von Innen angeschaut und fast geweint, als ich den Preis gesehen hatte. Da rollte gerade ein Einfamilienhaus mit Garten auf uns zu. Freistehend, in bester Lage. Mit Pool und Sauna.
Gemächlich kam der LKW näher. Münchner Kennzeichen, ich erkannte drei Insassen. Direkt dahinter fuhr ein BMW X5, ebenfalls in dunkelgrün. Beide Fahrzeuge parkten auf der anderen Seite des Parkplatzes direkt nebeneinander.
„Kennst du die?“, fragte ich und sah Maica belustigt den Kopf schütteln.
„Schätzchen, wo wohnst du eigentlich? Wer kennt die nicht?“ Sie schürzte die Lippen. „Hoffentlich hat der nur die zweite Garde dabei. Oh, man, das wird witzig.“ Dann sah sie uns an und schüttelte sich. „Das wird was werden.“
„Wer ist das denn?“, fragte Kim.
„Luna Seidler und das pissige Germanwunderkind“, Maica rollte die Augen und zwinkerte Kim dann zu. „Naja, ich bin mal mein Babypferd fertig machen. Bis gleich.“
„Germanwunderkind…“, murmelte ich und zog den Sattelgurt fest. „Was meint sie damit?“ Kim musterte mich kritisch, zuckte dann aber anstelle einer Antwort nur mit den Schultern. Während ich mich in den Sattel schwang, warf Kim Iana eine leichte Abschwitzdecke über und öffnete die Beifahrertür. „Reit schon mal runter, ich komm gleich nach.“ Sie lächelte und rutschte neben Mattes.
Gemächlich ritt ich mit Iana den Weg hinunter Richtung Abreiteplatz. Iana war im Gegensatz zu mir gar nicht aufgeregt. Aufmerksam schritt er unter mir dahin, ein Ohr nach vorn und das andere zu mir gerichtet. Wir gehörten zu den ersten, die auf dem Abreiteplatz erschienen, hatten aber immer noch reichlich Zeit. Mein Blick fiel wieder auf den gigantischen dunkelgrünen SofTECH-Truck. Ein älterer Mann mit Baskenmütze entriegelte gerade beide Rampen. Aus dem BMW, der direkt daneben parkte, stieg ein Mädchen mit langen, blonden Haaren aus, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie trug Jeans und einen braunen Blouson. Geschmeidig schlüpfte sie ins Innere des Transporters.
„Sarah!“ Ich zuckte zusammen und sah in das kritische Gesicht von Wolf Rufinger. „Fang mal mit dem Reiten an und träum nicht so rum.“ Ich nickte und nahm die Zügel auf. Wolf war kein herzlicher Mensch, aber ich mochte ihn. Er war streng und kritisch und perfektionistisch. Zu mir war er immer etwas sanfter als zu Mattes oder Kim, vielleicht weil ich Springen ritt und nicht Dressur.
Iana schnaubte laut durch die Nüstern und trabte schwerfällig an, als ich ihm die entsprechenden Hilfen gab. Er kannte die Prozedur. Trab auf linker und auf rechter Hand, erst auf großen gebogenen Linien, dann auf kleineren Kreisen in allen Gangarten. Dann Zirkel und Volten, so nannte man die Schlangenlinien in der Reitersprache. Heute gestaltete sich das Aufwärmprogramm schwierig. Der Boden war tief und schlammig, Iana kam immer wieder ins Stolpern. Außerdem nieselte es wieder und schnell waren Iana und ich bis auf die Knochen nass. Blöde Idee, dachte ich, richtig blöd Idee. Im Grunde waren die Bedingungen für mein erstes M-Springen ja nicht besonders rosig.
Nach einer Weile sah ich aus den Augenwinkeln, wie Bewegung in die Menge kam und parierte Iana zum Schritt durch. Auf Wolf Rufinger kamen drei Menschen zu, die er alle per Handschlag begrüßte. Wolf begrüßte zuerst den Mann zu seiner rechten. Er war etwa Ende vierzig, das dunkle, braune Haar mit ein paar wenigen grauen Strähnen durchzogen. Er wirkte ziemlich sportlich, trug Jeans und Timberlands, dazu eine schwarze Wachsjacke, die irgendwie nicht wirklich zu ihm passte – allerdings zum Wetter.
Neben ihm stand das blonde Mädchen, das mir bereits aufgefallen war, als ich zum Platz hinunter geritten war. Sie strahlte Wolf freundlich an und reichte ihm die Hand. Sie schienen sich zu kennen. Die Haare hingen ihr bis hinunter zum Schulterblatt und glänzten seidig. Sie war schlank, hatte lange Beine, die in der dunklen Jeans fast endlos aussahen, und wirkte sehr nett. Sie hielt einen hellblauen Schirm in der Hand, der einen seltsamen Kontrast zu dem dunklen Himmel darstellte.
Als mein Blick zum ersten Mal auf den Jungen im Hintergrund fiel, hatte ich sofort das Gefühl, dass er nicht hier sein wollte. Alles an seiner Körperhaltung deutete darauf hin. Er wirkte kalt, unnahbar und distanziert, als ob er gezwungen sei, hier zu sein. Auch optisch passte er so gar nicht hierher. Seine hellblaue Jeans war über beiden Knien zerrissen. Die Jeans war an den Innenseiten seitlich aufgeschnitten und schleifte ein wenig im aufgeweichten Schlamm. Dazu trug er schwarze Chucks, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hatten. Die Regenjacke, die er trug war schwarz und ein großer, schräger Stern prangte darauf. Er sah mehr aus, als wolle er auf ein Rock-Festival als auf ein Reitturnier.
Er war ohne Frage ein sehr gutaussehender Junge, aber die tiefe, senkrechte Falte auf seiner Stirn machte ihn älter und ließ ihn sehr übelgelaunt aussehen. Er war blass, hatte Schatten unter den Augen und schien hier nur weg zu wollen. Er schien auch gar nicht Anteil zu nehmen an dem, was um ihn herum geschah, vermutlich kapselte er sich mit den In-Ear-Kopfhörern total von der Außenwelt ab.
Er lehnte mit beiden Unterarmen auf dem Zaun des Platzes und starrte vor sich hin. Er hob nicht den Blick, sah einfach vor sich hin – nachdenklich und abwesend - und irgendwann hob er den Kopf. Ich weiß nicht, ob er mich ansah. Gemessen an meiner Durchschnittlichkeit, ging ich allerdings nicht davon aus. Er schien nicht wirklich hier zu sein, sondern mit den Gedanken weit, weit weg. Sein Blick war leer. Fast stumpf. Er biss sich angestrengt auf die Unterlippe und kaute darauf herum, bis das blonde Mädchen ihn sanft an der Schulter berührte. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er drehte sich zu Wolf um. Jetzt lächelte der Junge matt und angestrengt und reichte ihm die Hand. Er passte nicht hierher.
Als Kim mit Hannes zum Abreiteplatz kam, verließen die drei Unbekannten mit Wolf den Vorbereitungsplatz in Richtung Bewirtung. Die weißen Zelte standen auf der anderen Seite des Springplatzes und sahen aus wie eine helle Insel in dieser ganzen Schlecht-Wetter-Düsternis. Nach einer kurzen Begrüßung und Hannes obligatorischem Kommentar über das Wetter, nahm er mich und Iana sofort in Beschlag und übernahm die Vorbereitung für die Prüfung. Im Trab und Galopp achtete er auf das, was wir uns zuhause erarbeitet hatten, baute uns erste Probesprünge auf und sah mich schließlich erwartungsvoll an. „Alles gut?“
„Weiß nicht… Ich bin echt nervös“, sagte ich und sah Kim flehend an. „Ich muss nochmal…“, schnell rutschte ich aus dem Sattel und drückte ihr Iana in die Hand. Das war so typisch ich, dass es mir fast unangenehm war.
Hannes rollte die Augen und murmelte etwas das klang wie „immer dasselbe mit dir“ und warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. „Beeil dich, die Prüfung fängt in 5 Minuten an.“
Kim zwinkerte mir zu. Sie kannte mich lange genug um zu wissen, dass ich zum einen eine Konfirmandenblase hatte und zum anderen die Toilette bestimmt nicht finden würde. Diese Marotte war schlimm und unmöglich, aber ich war so nervös vor Prüfungen, dass ich immer aufs Klo musste. Normalerweise fand ich die Toiletten erst, wenn es fast zu spät war. Daher war ich über mich selbst erstaunt, dass ich sie dieses Mal sofort fand. Die Toiletten waren in Containern hinter der Bewirtung untergebracht. Während ich mir die Hände wusch, sah ich auf die Uhr. Ich war schon fast zu spät dran und beeilte mich, zurück zum Abreiteplatz zu kommen. Ich beeilte mich zu sehr. Ich wollte durch das Bewirtungszelt abkürzen, stolperte über eine Stufe und fiel.
Aber ich fiel nicht einfach nur hin, ich krachte mit voller Wucht gegen ihn – den Jungen vom Abreiteplatz. Eine einfache Kollision wäre nicht so dramatisch gewesen – allerdings verschüttete ich bei dem Zusammenstoß sein Getränk, vermutlich heißen Kaffee, über ihn und drückte gekonnt seinen Kuchen gegen sein schwarze T-Shirt mit dem Ramones-Schriftzug. „Verdammt, pass doch auf!“, zischte er.
„Tut mir leid…“, murmelte ich. Wütend funkelte er mich an und griff nach einem Stapel Servietten auf dem Tresen. „Nix da tut mir leid! Scheiße, verdammt…“ Er begann den Kuchen von seinem Shirt zu wischen und sah mich dann an. Er kniff die Augen ein bisschen zusammen und hielt dann für einen Moment inne. Etwas veränderte sich in seinem Blick. War es Neugier? Oder einfach nur Wut? Dann rieb er die Flecken weitestgehend heraus und starrte mich dabei weiter schlecht gelaunt an.
„Ich hab gesagt, es tut mir leid!“
„Mh, jaja, schon gut. Schaff dir ‘ne Brille an und lass gut sein.“ Er sagte es nicht versöhnlich, sondern mit einem so arroganten Unterton in der Stimme, der zwar nicht zu seinem Aufzug, allerdings zu seinem Aussehen passte.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. „Das passiert eben, tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen.“
Nun baute er sich vor mir auf. Er war groß, fast einen Kopf größer als ich, bewegte sich sehr berechnend und wusste, das sah ich in seinem Gesicht, dass er unverschämt gut aussah. Ich wurde wütend. Er hatte genau die Art lässige Arroganz an sich, die ich nicht leiden konnte. „Mh, ja, wenn du nachher im Parcours ein genauso gutes Auge beweist wie eben, bin ich gespannt, wer sich mehr verletzt: Du oder dein Pferd.“
Ich starrte ihn mit unverhohlener Wut an. Was war das denn für ein blasierter, eingebildeter Typ? „Sag mal, geht‘s noch?!“
Er sah mich an. Er stand einfach nur da und blickte auf mich hinab. Er lächelte nicht, bewegte keine Miene. „Du solltest dein Pferd weiter abreiten. Nicht, dass wirklich was passiert.“ Damit drehte er sich um und ging Richtung Toilette davon.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen.
***
Kim hatte sich alles angehört und schließlich genickt. „Was für ein Idiot.“
Ich war fertig mit meiner Vorbereitung für das Springen und zog mein Jackett gerade an. Ich hatte den ganzen Weg zurück zum Abreiteplatz vor mich hin geschimpft. „Weißt du, der sieht nicht so aus, als ob er auch nur die geringste Ahnung davon hat, wie man Springreiten auch nur schreibt. Nur weil seine blonde Freundin halbwegs anständig reiten kann…“ Ich schnaubte laut.
„Sarah, entspann dich mal…“ Kim lächelte. „Du solltest dich auf das Springen konzentrieren und nicht auf einen herablassenden Idioten mit LK1 am Zaun…“ LK1. Leistungsklasse 1 war die höchste deutsche Leistungsklasse im Reiten, die man durch 25 Siege oder Platzierungen in schweren Prüfungen bekam. LK1 am Zaun hatten all diejenigen, die alles vom Zaun aus viel besser konnten.
Ich musste widerwillig lachen. Dennoch verstand ich die übertriebene Reaktion des Jungen nicht. Natürlich war es ärgerlich und ich trug die Schuld, aber das, was er gesagt hatte und vor allem wie er es gesagt hatte, war gemein gewesen. Die Überheblichkeit und Arroganz, die in seiner Stimme gelegen hatte, war mir zwar nicht fremd, aber ich kannte sowas meistens nur von eingebildeten Mädchen – nicht von den Jungs. Und ich musste zugeben, dass die Arroganz, mit der er mir so respektlos begegnet war, mich ziemlich verletzt hatte.
Iana brummelte leise durch die Nüstern und holte mich auf den Erdboden zurück. Es war jetzt nicht die Zeit, mich darüber zu ärgern. Sanft strich ich ihm über den feuchten Hals, spürte das warme Fell unter meinen Fingern und atmete durch. Schließlich galoppierte ich an, ritt ein letztes Mal über den Probeoxer und lobte den Fuchs ausgiebig. Ich zitterte, so nervös war ich. Gemeinsam mit Kim ritt ich zum Einritt. Zwei Reiter waren noch vor mir dran. Ich sah mir die Ritte genau an, prägte mir nochmal die Linienführung ein und hoffte inständig, dass wir den anspruchsvollen Parcours irgendwie meistern würden. Wolf stand am Platzrand, immer noch neben dem blonden Mädchen, das abwesend auf den Platz sah, und dem Mann mit der schwarzen Wachsjacke. Die beiden Männer unterhielten sich leise. Der arrogante Junge war nicht dabei.
Als Wolf uns bemerkte, zwinkerte er mir zu. „Viel Glück…“, formte er stumm mit den Lippen. Ich lächelte knapp.
Mein Herz galoppierte wieder davon. Besser wurde die Aufregung auch nicht, als ich aus den Augenwinkeln sah, dass der Junge zurückgekehrt war. Er stellte sich neben Wolf und das Mädchen und beobachtete mich argwöhnisch. Meine Nervosität wurde nicht besser dadurch, oh nein, bestimmt nicht! Sein Blick, so kalt und eisig, folgte Iana und mir, bis wir vor dem Richterturm hielten und grüßten. Seinen Blick spürte ich förmlich in meinem Rücken.
Nicht unbedingt prompt galoppierte Iana an und ich ritt auf den Start zu. Die erste Distanz vom ersten auf den zweiten Sprung ging direkt auf Wolf, die drei anderen und auf Kim zu und ich konnte nicht anders als mich zu fragen, warum der Typ so dämlich grinste.
Reiß dich zusammen, Sarah. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für sowas. Konzentrieren konnte ich mich dennoch nicht, was recht unvorteilhaft war, denn der erste Sprung kam rasend schnell näher. Indian Summer war lang und behäbig. Viel zu schnell waren wir in Absprungnähe und ich vergaß die Hilfen zu geben. Iana riss die Beine hoch, übersprang sich enorm und rettete uns beiden damit den Hals. Beherzt schraubte sich Iana in die Luft und mich riss es um ein Haar aus der Balance.
Etwas – Erstaunen vielleicht – huschte über das Gesicht des Jungen und es passierte genau das, was ich befürchtet und er prophezeit hatte. Ich vermeterte mich an jedem folgenden Sprung. Ich sah einfach nicht, ob wir passend kamen oder nicht, Iana sprang dadurch entweder viel zu früh oder viel zu spät ab. Und dann passierte genau das, wovor ich schon im Vorfeld Angst gehabt hatte. Ich sah die große Distanz nicht. Ich war unsicher, wie viele Galoppsprünge ich reiten musste. Meine Gedanken huschten wieder zu dem Vorfall vorhin. Zwar geschah das nur für einen Sekundenbruchteil, aber trotzdem war das ein fataler Fehler. Iana tat das einzig sinnvolle in dieser Situation. Er zog die Notbremse. Und ich rauschte an seinen Ohren vorbei mitten in den Sprung. Alles um mich herum wurde schwarz.
***
Als ich die Augen aufschlug, sah ich in das Gesicht eines Parcourshelfers und spürte Ianas Nase über mir.
„Alles okay?“, fragte der Mann und ich rappelte mich auf. Meine Knie waren weich wie Butter, aber mir ging es, soweit ich das beurteilen konnte, gut. Mein Hintern tat weh, meine Reithose war voller Schlamm, aber ich war okay. Ich nickte und hörte entfernt Applaus. Ich klopfte Iana den Hals und ließ mich von dem Mann wieder in den Sattel werfen. Du musst noch einen Sprung machen, hämmerte eine Stimme in meinem Kopf. Ich schluckte. Mir war schlecht vor Angst und ich wollte losheulen. Iana schnaubte ab, als ich antrabte, und spitzte die Ohren. Ich sah mich im Parcours um und galoppierte an. Mein Kopf war wie gelähmt, als ich gegen den ersten Sprung ritt. Den niedrigsten und nettesten. Bitte spring, flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Iana zog an, ich krallte mich in die eingeflochtene Mähne und hoffte, nicht wieder zu stürzen. Als Iana landete, schluchzte ich auf. Danach lief der Rest wie im Film vor meinem inneren Auge ab.
***
„Alles in Ordnung?“, Kim und Hannes stürzten auf mich zu.
Ich nickte, wischte mir mit dem schlammigen Handschuh über die Augen und kämpfte mit den Tränen. „Mir geht‘s gut.“
„Sicher?“, Kim sah mich besorgt an und folgte mir schnellen Fußes zum Hängerplatz.
„Sicher“, gab ich zurück und sah Wolf neben der Wachsjacke und dem Idioten auf den Abreiteplatz kommen. Der Junge starrte mich nur an. Um seine Oberlippe zuckte es.
Der Sturz geriet in den Hintergrund. Die Gefühle tobten in mir und es war mir unbegreiflich, wie dieser Vollidiot mich so aus der Fassung hatte bringen können. Ich war wütend auf mich selbst und auf ihn, dazu frustriert und ich wollte mich verkriechen. Das Letzte, was ich wollte war, sein selbstgefälliges Grinsen zu sehen, das mich am Ausritt erwartete. Es war nur ein kurzer Blick, den er mir zu warf, aber der reichte, um mir den Rest zu geben. Ich hatte mich total blamiert, dabei hätte ich diesem Typen doch nur zu gern bewiesen, dass ich besser reiten konnte…
„Mach dir nichts draus“, versuchte mich Kim aufzumuntern, „Heute Nachmittag wird‘s besser.“ Sie strahlte mich an und ich sah, dass sie es ernst meinte. „Hauptsache, dir und dem Dicken ist nichts passiert.“
Mattes wartete am LKW auf uns. Er sah vermutlich meinen frustrierten Gesichtsausdruck und fragte nicht weiter nach, wie es bei mir gelaufen war. Er hatte eine ruhige, zurückhaltende Art an sich, die an sich sehr angenehm war. „War‘s nicht gut?“
„Ach, frag nicht!“ Ich klang resigniert und war wütend, dass mich dieser Junge so aus der Fassung gebracht hatte. Kim machte eine beschwichtigende Geste hinter meinem Rücken und er nickte bloß.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte er vorsichtig nach.
„Mich hat‘s zerlegt.“
„Was? Echt? Ist was passiert?“
Ich sah ihn wütend an. „Nein.“
„Komm, ich lad dich auf ne Cola ein.“ Kim lächelte sanft und ein Teil der Wut verzog sich, als ich ihr folgte. Ich hatte meine dreckigen Reitsachen gegen meine Jeans getauscht und fühlte mich ein bisschen mehr wie ein Mensch.
Am Abreiteplatz blieben wir beide stehen. Maica trabte bereits mit ihrer jungen Stute um den Platz. Die Stute ließ die Ohren hängen und auch Maica sah diesmal nicht sonderlich glücklich aus. Das Wetter schien allmählich doch auf sie abzufärben. Ich sah am Einritt auf die Startertafel. Neben mir gab es noch zehn weitere Reiter, die nicht heil und unbeschadet, sondern vielmehr mit zahlreichen Verweigerungen und Fehlern den Parcours verlassen hatten – und dementsprechend ohne Wertung waren. Es sah ehrlich düster aus…
Und gerade deshalb hätte das, was dann geschah, nicht spektakulärer sein können.
Der Himmel riss auf. So kitschig es nun im Nachhinein klingen musste, der Himmel klarte schlagartig auf und die Spätjulisonne brach mit aller Gewalt durch die Wolken, als sie auf den Platz kamen. Ich weiß heute nicht mehr, wen ich zuerst wahrnahm: den lackschwarzen, wunderschönen Hengst, der nervös schnaubend vor sich hin tänzelte, so elegant und leichtfüßig, perfekt gebaut, oder den Jungen, der auf ihm saß. Vermutlich war es das Pferd.
Es war aber nicht irgendein Pferd. Es war das schönste Pferd, das ich bisher gesehen hatte. Zumindest erschien es in der Situation so. Alles war schlammig und matschig und dieses Juwel kam strahlend in der Sonne auf den Platz getänzelt. Das Fell des Pferdes war pechschwarz und reflektierte die Sonnenstrahlen wie ein geschliffener Onyx. Locker tänzelte das Pferd auf den Platz, wölbte eindrucksvoll den Hals und kaute sich am Gebiss in die Tiefe. Schneeweißer Schaum tropfte auf seine Brust. Wach wanderten die ausdrucksstarken Augen umher und das Pferd blähte die Nüstern aufgeregt auf. Hell wieherte es und wartete auf Antwort. Der Schweif war ebenso schwarz wie das restliche Fell an Hals und Brust – Rücken und Bauch waren von einer dunkelblauen Abschwitzdecke verborgen. Die Decke flatterte im Wind und unter den eleganten, leichtfüßigen Bewegungen des Pferdes.
Es war einfach nur ein schönes Pferd – wunderschön! Alles an ihm war voller Leben und schimmerte im Sonnenlicht – selbst die kleinste Schnalle an der Trense funkelte.
„Wow…“, brachte Kim heraus – immerhin, denn ich blieb sprachlos und stumm. Ja, es war das Pferd, das ich zuerst registriert hatte. Hätte ich erst ihn gesehen, wäre dieser Moment vermutlich nie so gewesen, wie er mir in Erinnerung geblieben war.
Er hatte sich umgezogen, trug nun Stiefel und weiße Reithosen. Lässig saß er auf dem Pferd, hielt die Zügel in einer Hand, mit der anderen klopfte er dem Hengst beruhigend den Hals. Als das Paar an uns vorbei kam, bemerkte ich den dunkelblauen Pikeur-Blouson. Handgroß und golddurchwebt prangte der Bundesadler auf dem Ärmel der Jacke. Keine Chucks mehr, keine zerrissene Jeans, keine schwarze Regenjacke. Allerdings Kopfhörer in den Ohren. Und auch sein Blick hatte sich verändert. Wie konnte ich aber nicht sagen.
Der Rappe wieherte erneut. Gellend laut drang das Wiehern über den Platz und von irgendwoher bekam er Antwort. Der Junge klopfte ihm abwesend den Hals, blieb stehen und gurtete nach. Sie standen im hellen Sonnenschein, einer kleinen, lichtdurchfluteten Insel, während der Großteil des Platzes weiterhin im dunklen Schlechtwetter versunken blieb.
Der Auftritt hätte nicht eindrucksvoller sein können. Jeder auf dem Abreiteplatz starrte zu dem Paar hinüber und Kim und ich gehörten dazu. Wir waren unfähig etwas zu sagen, geschweige denn den Mund zu schließen.
„Das glaub ich nicht“, sagte Kim und ihr Mund stand offen, „Sarah, hat der tatsächlich Turniersachen an?“ Kim sprach in einem sehr ehrfurchtsvollen Ton, den ich von ihr gar nicht gewohnt war. Sie hatte über ihrem Bett ein Poster von Abercrombie&Fitch hängen, auf dem ein halbnackter Typ seine Bauchmuskeln in die Kamera hielt. Vermutlich verwandelte sich in ihrem Kopf das Abercrombie-Model über ihrem Bett und tauschte Boxershorts gegen Reitstiefel.
Im Licht der Sonne trabte der Junge schließlich an. Der Rappe spielte mit den Ohren und tänzelte erst unruhig unter ihm, bevor er immer ruhiger wurde. Der Trab bekam Rhythmus und Takt. Elegant und kraftvoll fußte der Schwarze ab, nur um dann plötzlich fidel in die Luft zu springen und ausgelassen Bocksprünge zu proben.
Wir müssen ihn ganz schön angestarrt haben, denn plötzlich sah er uns an. Er zog eine Augenbraue hoch und grinste uns an. „Was ist? Habt ihr noch nie ein gutes Pferd gesehen?“ Er betonte das Wort „gut“ und zog es seltsam in die Länge. „Ach ne“, sein Blick heftete sich an mich, „wer keine Distanzen sieht, erkennt auch keine guten Pferde…“
Der Seitenhieb galt mir. Kim schubste mich und zischte mir ein „cool bleiben“ zu. Bevor mich dieser Spruch zur Weißglut hatte bringen können, nahm sie meinen Arm und zog mich weiter. „Arrogantes Arschloch!“, zischte ich ihm hinterher. „Denkst du, nur weil dein Pferd gut aussieht, trifft das auch auf dich zu?!“
Er musste es trotz der Kopfhörer gehört haben, denn er drehte sich kühl zu mir um, lächelte und zwinkerte mir zu. „Sei froh, dass deinem Pferd vorhin nichts passiert ist“, sagte er. Fies, hämisch und arrogant. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Ich war so wütend! Es kochte in mir, die Gefühle brodelten fast über.
„Sarah, reg dich nicht auf...“, sagte Kim besänftigend, „Der kann doch froh sein, wenn es ihn nicht am ersten Sprung zerreißt...“
Das hörte der Typ natürlich auch und schüttelte nur abfällig den Kopf. Er parierte sein Pferd zum Halten durch und reichte dem Mann in der Wachsjacke am Platzrand seine Jacke. „War das nötig?“, fragte der Mann.
„Ja“, gab er nur trocken zur Antwort und ritt wieder an. „Scheißtag…“, setzte er noch hinterher. Der Mann sagte noch etwas, das ich allerdings nicht verstand, aber es klang nicht nett.
Kim starrte ihm trotzdem nur staunend hinterher, während ich vor Wut fast an die Decke ging. Ich war wirklich wütend. Und aufgebracht! Der sollte sich mal wundern! Der in seinem geklauten Bundeskader-Pulli! Der konnte doch garantiert eh nicht reiten!
Wolf stand am Springabreiteplatz und unterhielt sich mit der schwarzen Wachsjacke. Auch er konnte seine Augen kaum von dem Rapphengst lassen und schüttelte den Kopf. „Sag bloß, das ist er?“, fragte er ungläubig.
Der Mann mit der Wachsjacke nickte und sah zu dem Rappen und dem Idioten hinüber. „Ja, ist er“, hörte ich ihn sagen. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und beobachtete den Jungen auf dem Rappen angespannt.
„Den hätte ich nicht wieder erkannt. Seit wann habt ihr den Rappen?“
„Seit knapp zwei Monaten.“
Wolf lachte, „Ich hätte ihn wirklich nicht wiedererkannt, den Teufel... Springt er auch?“
„Ja... der springt... Wirst ihn ja gleich sehen. Bert hat ihn letzte Woche schon gesehen und war, doch, nennen wir es ruhig begeistert.“ Der Wachsjacken-Mann namens Theo lächelte Wolf zu. Wolf wiederum drehte sich lächelnd und kopfschüttelnd zu Kim und mir um. „Kim, willst du nicht fertig machen??“
Sie blinzelte. „Schon dabei, Chef…“
„Hilfst du ihr?“, fragte er an mich gewandt.
„Nichts lieber als das“, gab ich knapp zur Antwort und konnte es gar nicht erwarten, endlich von hier wegzukommen. Sowohl Wolf als auch Theo-Wachsjacke registrierten meine Antwort, die unnötig boshaft klang, mit einem Stirnrunzeln. Ich hatte mich hinreißen lassen.
Wieder glitt mein Blick zu dem Rappen und unweigerlich auf seinen Reiter. Das Paar galoppierte mittlerweile in einem großen Zirkel um den Platz. Er hatte den Hengst in perfekter Stellung und Biegung unter sich versammelt. Wortlos bog er auf die Mittellinie ab auf den Oxer zu, der zum Warmspringen aufgebaut war. Lässig überwand der Rappe den Sprung und ich schloss die Augen. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Der Idiot ritt großartig. Er gab dem Schwarzen die Zügel hin, der sich genüsslich in die Tiefe streckte, und parierte neben uns zum Halten durch. Diesmal gab er keine Spitze auf mich ab, sondern sah lediglich die Wachsjacke an. „Sieben oder acht von drei auf vier?“ Er meinte die Anzahl der Galoppsprünge von Sprung drei zu Sprung vier. Ich hatte es mit acht versucht, war aber kläglich an der Distanz gescheitert. Wie in der ganzen Prüfung.
„Sieben“, meinte die Wachsjacke nachdenklich.
Der Junge nickte langsam und ritt, gefolgt von Wachsjacken-Theo und Wolf zum Einritt. „Ich komm gleich“, nuschelte ich zu Kim. Ich wollte das nicht sehen. Ich wollte es einfach nicht sehen, aber etwas in mir musste. Vermutlich meine masochistische Ader. Irgendwie wusste ich da schon, dass es so kommen würde, wie es kam. Ein gutaussehendes Arschloch, mit einem Pferd wie gemalt, musste auch dem Klischee nach begnadet sein in allem was er tat. Ein weiterer Hieb in mein kläglich gezüchtetes Selbstbewusstsein und das mir selbst vorgehaltene Spiegelbild meiner eigenen Durchschnittlichkeit.
Locker trabte der Junge in den Parcours ein, bog sein Pferd durch, ließ es auf dem Weg zum Richterturm den Schenkeln weichen und grüßte routiniert und abgebrüht.
Der Lautsprecher knackte: „Als letztes Paar in der Bahn: die Startnummer 230, Jan von Frankenthal mit Excalibur.“
Damit hatte der Idiot einen Namen. Jan von Frankenthal.
Als das Paar an uns vorbei galoppierte, verstummte auch der Letzte. Wie im Lehrbuch setzten die beiden über den ersten Sprung und es sah aus, als bekäme der Hengst Flügel. Technisch perfekt und harmonisch absolvierten sie die ersten Sprünge. Die Distanz, die ich so versaut hatte als er mich angegrinst hatte, meisterten sie mit links. Und ich bildete mir ein, dass er entgegen der Absprache, die Distanz mit sieben Galoppsprüngen zu reiten, sie doch mit acht Galoppsprüngen ritt. Ruhig und lässig. Es schien, als seien die beiden eine verschmolzene Einheit und ich musste mir bitter eingestehen, dass der Typ leider wirklich reiten konnte – und das fanden auch die Richter.
***
Ich spürte den Schlag in die Magengrube tatsächlich. „9,0… Das kann doch nicht ---“ Die Notenskala ging bis 10. Von 0 für schlecht, bis 10 für ausgezeichnet.
Wachsjacken Theo und Wolf schlugen ein und freuten sich beide, als wäre es um etwas Wichtiges gegangen. „Sehr gut, hätte meiner Meinung noch mehr geben können“, kommentierte Wolf Rufinger das Ganze und lief munter mit Theo zurück zum Abreiteplatz. Ich blieb zurück, versteinert, wie unter Schock.
Jetzt hatte der aufgeblasene Schnösel jedenfalls einen Namen. Jan von Frankenthal. Das „von“ merkte man ihm an. Und wie. Die angeborene Arroganz, die nur der deutsche Geldadel hatte. Der Junge ritt an mir vorbei und grinste belustigt. „Ich glaube, du ärgerst dich dunkelgrün, dass ich nicht am ersten Sprung geflogen bin...“
Ich schnappte nach Luft und setzte zu einer schnippischen und geistreichen Erwiderung an, doch mir fiel zum einen nichts ein, was ihn auch nur annähernd so getroffen hätte, wie jede seiner möglichen, folgenden Antworten mich getroffen hätten – und zum anderen war er sofort umringt von einer Vielzahl an Leuten. Sie legten dem Hengst die Decke über den Rücken und der Mann in grüner Jacke steckte dem Pferd ein Zuckerstückchen zu. „Gutes Gefühl?“, fragte ein älterer Mann in Jeans mit französischem Akzent und klopfte dem Pferd den Hals.
Jan von Frankenthal nickte. „Ganz ordentlich. Ist noch ein bisschen stark über dem Sprung, aber das krieg ich hin bis zum Lehrgang.“
„Die Stute nimmst du nicht mit?“
Der Herr von und zu schüttelte den Kopf. „Nein. Ich nehme ihn mit.“ Er klang gereizt. Ich hätte mich nicht getraut, einen Erwachsenen so anzuschnauzen.
„Nimm sie auch mit – du hast den Platz ohnehin gut...“
„Nein! Sie ist die Saison über schon genug gelaufen, ich nehm den, damit basta.“ Nichts an seinem Tonfall ließ mich daran zweifeln, dass Jan von Frankenthal wusste, was er wollte – und dass er stets das bekam was er wollte; auch wenn ich keine Ahnung hatte worum es ging.
Ohne Zweifel war er gut – das stand außer Frage – aber, und auch das stand außer Frage, er war ein arroganter, selbstverliebter Kotzbrocken. Und mir tat der Hintern weh.
Die Kirschbäume vor der Reithalle der Silberburg wiegten sich im sanften Sommerwind. Die Blätter raschelten im Wind, ein paar Schäfchenwolken trieben vor dem blauen Himmel. Es war warm, ein schöner Ferientag. Ich saß auf dem Koppelzaun und sah auf die grüne Wiese hinaus. Iana rupfte genüsslich das saftige Gras, hob immer mal wieder den Kopf und sah sich um. Er war zufrieden.
Ich mochte diesen Ort. Die Koppeln, die Reitanlage. Die Silberburg war ein übriggebliebenes Bauwerk aus dem Mittelalter, das erst als Steinbruch gebraucht und später im zweiten Weltkrieg zerbombt worden war. Allein eine Scheune und zwei kleinere Gebäude waren halbwegs unversehrt geblieben. Die Scheune war später von Wolfgang Rufingers Vater wieder aufgebaut und zum Pferdestall umgebaut worden. Aus den kleineren Gebäuden war zum einen das Verwaltungsgebäude entstanden, das abseits auf der rechten Seite des alten Stalltrakts und des im Neubau befindlichen Stutenstalls lag. Über dem Verwaltungsgebäude waren zwei geräumige Zwei-Zimmer-Wohnungen. In einer wohnte Hannes, in der anderen Tina Stock, die zweite Bereiterin.
Die alte Burgmauer stand noch in Überresten auf zwei der acht Hauskoppeln und diente teilweise als natürlicher Zaun. Die Burg hatte ein riesiges Umfeld, ein Bach floss durch die Koppeln und auf der anderen Straßenseite der Landstraße lag der große Reitplatz mit den zwei Dressurvierecken und der großen und kleinen Reithalle. Das Reitplatzarsenal wurde von mittlerweile gelben Feldern umgeben, die wie große, goldene Teppiche aussahen. Ober- und unterhalb der Burg war Wald. Nach Norden stieg der Wald sanft an, bis es irgendwann richtig mittelgebirgig wurde. Taunus eben. Endingen, meine Heimatstadt, konnte man vage in der Ferne erkennen. Endingen war nicht wirklich groß, aber man hatte alles was man brauchte – und ein Kino.
Pensionspferde standen kaum in der Burg – nur Remus und Romulus, zwei Berittpferde von Hannes, und Indian Summer. Und Stardust, die Stute meiner Freundin Kim. Wolf war Reitsportler aus Leidenschaft und betrieb die Anlage aus reinem Eigennutz. Er züchtete junge Pferde, bildete sie aus und verkaufte sie. Momentan hatte er eine ganze Menge guter Pferde im Stall stehen, darunter auch einige Deckhengste. Salem und Star of Skyline waren die wohl bekanntesten, denn beide waren mit WM-Gold behängt. Außerdem wohnten in den großzügigen Boxen Graf von Krolock, ein sechsjähriger Schimmelhengst, Romulus, Vollbruder zu Remus – und Baxter, ein ziemlich durchgeknallter, aber begnadeter Scheckhengst.
„Na“, hörte ich eine leise Stimme hinter mir und ich drehte mich herum. Kim stand hinter mir. Sie lächelte, schwang sich dann, genau wie ich, auf den Koppelzaun und sah mit mir auf die Weide hinaus. Kopf an Kopf standen Dusty und Iana da, kraulten sich gelegentlich die Mähnen und versenkten ihre Nasen dann wieder im grünen Klee. Die Sonne lachte vom Himmel und nichts erinnerte mehr an das verregnete Wochenende.
Kim kaute gedankenverloren auf ihrem Kaugummi herum und verjagte immer wieder eine Fliege, die sich auf ihre Nasenspitze setzte. „Sarah ...“, murmelte sie irgendwann und setze sich auf.
„Ja“, gab ich vorsichtig zurück. Ihr Ton klang so unvertraut, so fremd. Das ließ mich aufhorchen. „Kim, was ist los? Ist was passiert?“ Ich sah Kim an und das Mädchen nickte stumm. „Wir ziehen um. In zwei Wochen. Nach München. Mein Papa wurde versetzt und Kai will ja eh da unten studieren und...“ Ihre Stimme erstarb und sie sah traurig unter sich.
Mir blieb die Luft im Hals stecken und urplötzlich hatte ich Wackersteine im Magen. „Ihr zieht nach München? Nicht wirklich, oder?“
Doch Kim nickte schweigend. „Ich weiß es schon seit Juni... aber ich konnte und wollte es nicht erzählen. Ich wollte dir die Ferien nicht verderben... tut mir leid...“
Ich schüttelte langsam den Kopf. „Ist doch nicht schlimm...“, sagte ich mechanisch, konnte aber nicht wirklich etwas sagen. Wir waren zusammen aufgewachsen und nun das? Ich lächelte zaghaft und sah meine Freundin vorsichtig an. Kims Blick lag schwer und traurig auf Dusty, die sich gerade mit den Hinterhufen hinter den Ohren kratzte.
„Ich...“, sie schluckte ihre Tränen hinunter, „ich habe gehofft... mein Papa würde es sich noch mal überlegen...“, sie atmete tief durch, „Jetzt, wo er doch mehr Geld kriegt... aber...“ Die Tränen traten ihr jetzt doch in die Augen und Kim fiel mir schluchzend gegen die Schultern. „Ich will nicht weg. Ich will hier nicht weg. Ich will nicht nach München – ich will bei euch bleiben...“ Kim sah mir verzweifelt in die Augen. Ich kannte diesen Blick. Es ging ja nicht nur um unsere Freundschaft, sondern auch um ihre erste Liebe. So, wie sie mich ansah… Ich verstand das alles nicht… das ging zu schnell.
Als Kim sich beruhigt hatte, holten wir die beiden Pferde von der Koppel und brachten sie in die Boxen. Keiner sagte etwas. Ich spürte einen so dicken Kloß im Hals und ich wollte nicht wissen, wie dick ihr eigener war. Kim blieb noch lange bei der schönen Stute sitzen. Sie strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und sah mich traurig an. „...Mattes...“
„Er weiß es auch noch nicht?!“
Kim zuckte stumm mit den Schultern und wieder traten ihr die Tränen in die Augen.
Dann hörten wir Schritte. „Na, ihr zwei? Kommt ihr mit auf den Pla --- was ist los?“ Mattes stand hinter uns, die Hände in den Hosentaschen versenkt. Plötzlich Sorgen im Gesicht. Kim sah Mattes aus rotverweinten Augen an und rannte davon. Vielleicht spürte er etwas, vielleicht wusste er es bereits – oder er sah einfach den verzweifelten Blick in meinen Augen.
Er ließ die Schultern sinken und rutschte mit dem Rücken an der Box hinunter. Reglos saß er eine ganze Weile auf dem kühlen Boden, bis er schließlich Luft holte. „Sie zieht doch um, oder?“
Ich konnte nur stumm nicken und hoffen, dass ich nicht heulen würde. Sein Blick senkte sich, das Leuchten aus seinen Augen verschwand und er biss sich fest auf die Unterlippe. Er musste sich von mir wegdrehen und ich war überzeugt, dass er genauso mit den Tränen kämpfte wie ich selbst. Fast ein halbes Jahr waren Kim und Mattes jetzt zusammen. Es war die erste große Liebe für beide – und jetzt stand sie vor dem Aus. Das war der Grund, warum ich dem Verlieben gegenüber sehr skeptisch eingestellt war – es tat nur weh, wenn es vorbei war.
Ich weiß nicht, wie lange er da saß und auf den Boden starrte, bis er aufsprang und den Stall ohne ein weiteres Wort verließ. Ich blieb zurück. Betäubt. Erstarrt. Fassungslos…sie zog weg. Meine beste Freundin zog einfach weg.
***
Kim und Mattes saßen auf der Wiese hinter der Verwaltung, unter einem der Kirschbäume. Sie redeten ruhig miteinander. Der Wind rauschte in den Blättern und sie konnten sich beide nicht richtig in die Augen sehen. Kim liefen stumm die Tränen die Wange hinunter und Mattes schluckte sie krampfhaft hinunter. Er spielte mit ihren Fingern in seiner Hand und schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Kim, nein...“ Doch sie nickte nur und schluckte den großen Kloß im Hals hinunter.
Ich wollte mich unbemerkt an ihnen vorbeischleichen und nach Hause fahren, doch sie sahen mich. „Sarah, warte!“ Langsam drehte ich mich um und lief zögernd auf die beiden zu. „Na, ihr zwei...“ Mein Blick streifte Mattes und traf den von Kim. Ich sah die roten Augen des Mädchens, sah die Augen von Mattes glänzen. Sie waren beide fertig. Total fertig.
„Na, du eine...“, gab Kim zurück und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
Die Blätter des Kirschbaums wisperten im Wind und zwei Blätter fielen aus der Baumkrone. Eins sank vor Kim zu Boden und das andere verfing sich in ihren Haaren. Mattes griff mechanisch nach dem Blatt und zog es heraus. „Oh, man...“, sagte er stockend, „wisst ihr eigentlich… wie schnell die Zeit vergeht?“
Wir sahen den Jungen überrascht an. Mattes zuckte unsicher mit den Schultern. „Heute vor zwei Jahren hat mein Vater auf der WM Gold geholt.“
„Das weißt du noch?“
„Ja. Weil heute vor zwei Jahren der Schuppen gebrannt hat.“ Damals hatte es geblitzt, der alte Schuppen hatte Feuer gefangen, aber den Stallungen war nichts passiert. „Und in zwei Wochen geht die Schule wieder los, der Voigt wird uns mit binomischen Formeln triezen, der Fröhlich wird aus uns Hochleistungssportler machen wollen – und Kim ist dann...“ Mattes sah unter sich. „Die Ferien waren so schnell vorbei – und jetzt... jetzt ist alles vorbei...“ Er holte tief Luft und presste die Lippen aufeinander. „Aber... auch wenn es jetzt vorbei ist... die Welt dreht sich doch weiter, oder? Die Sonne wird weiter auf- und untergehen...“ Plötzlich blies ein warmer Sommerwind über uns hinweg und Mattes atmete tief ein. „Ich... ich hoffe, dass... selbst wenn unsere Beziehung untergeht...... wir wenigstens Freunde...“, er schluckte und seine Stimme erstarb. Er zog Kim an sich heran und umarmte sie. Wortlos vergrub er sein Gesicht an ihrer Schulter und ich glaube er hoffte, dass dieses verfluchte Brennen in seinen Augen aufhören würde. „Mattes...“, flüsterte Kim an seinem Ohr und ihre Stimme verschwamm fast mit dem Wind, „Ich vergess dich nicht... keine Angst... dafür habe ich dich viel zu gern...“
Er holte tief Luft und fuhr ihr mit der Hand den Rücken hinunter. Er zog sie noch ein kleines bisschen näher an sich heran, flüsterte ihr leise etwas ins Ohr und ich sah, dass sie nickte.
Der Wind, der die ganze Zeit mit den Blättern des Kirschbaums gespielt hatte, verstummte schließlich. Die Stille war plötzlich regelrecht drückend. Ich wollte nicht glauben, was passieren würde. Wirklich nicht, aber doch gab es keinen Zweifel, dass es so kommen würde. Zwei Wochen. Mehr nicht…
Die Zeit verging viel zu schnell. Am Vorabend ihrer Abreise feierte Familie Nondas ein großes Abschiedsfest mit allen Freunden und Bekannten. Es war schrecklich. Und schrecklich schön. Es wurde viel gelacht und viel geweint, Reden gehalten, Anekdoten erzählt, die Erwachsenen tranken viel Alkohol. Unsere ganze Klasse war da, alle wollten Kim Auf Wiedersehen sagen. Ich wollte nicht, aber ich musste. Es war schrecklich. Vielleicht einer der schlimmsten Tage meines Lebens.
Noch mehr Tränen flossen am Tag darauf, als das Auto der Familie gepackt war und Dusty polternd im Transporter vor dem ausgeräumten Reihenhaus stand. Kim umarmte mich und Mattes gleichzeitig, und weinte, als meine Mutter Christine sie ein letztes Mal drückte. Sie stieg, nachdem sie Mattes ein letztes Mal geküsst hatte, in den Wagen. Kims Eltern verabschiedeten sich ebenfalls von mir, Mattes und von Christine. Dann rollte der Wagen die Eichenbrugstraße hinunter und der Pferdehänger verschwand aus unserer Sicht. Mattes schluckte die letzten Tränen hinunter und fuhr wortlos mit seinem Fahrrad nach Hause, während meine Mutter und ich zurück in das Haus gingen. „So ein Abschied tut weh... aber das geht vorbei… und sie ist ja nicht aus der Welt“, sagte meine Mutter matt. Es sollte wohl aufmunternd klingen, aber es bewirkte nur das Gegenteil.
Ich sagte nichts, sah sie schweigend an und rannte die Treppen in mein Zimmer hinauf. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich weinend auf meinem Bett gelegen habe und an all die ganzen Jahre dachte, die wir gemeinsam verbracht hatten. Sie fehlte mir in diesem Augenblick schon so sehr… so unglaublich sehr, wie sollte das erst in ein paar Wochen sein?
Ich weiß nicht, wie viel später ich mich aufraffte und nach unten kam. Meine Mutter saß auf der Terrasse und sah in unseren kleinen Garten hinaus. Das Reihenhaus gegenüber stand nun leer. Familie Nondas war weg. Ich sah, dass meine Mutter schluckte. Auch ihr ging die Sache nah. Vor ihr lag ein Fotoalbum, in das sie liebevoll Zeugnisse meiner Kindheit eingeklebt hatte. Als ich mich zu ihr setzte, war es in der Mitte aufgeschlagen. Das Foto zeigte mich und Kim mit sechs Jahren am Tag unserer Einschulung. Riesige, bunte Schultüten, größer als wir selbst, mit Ranzen, die so unförmig gewesen waren, dass es mich wunderte, dass wir damals jeden Morgen heil in der Grundschule angekommen waren.
Meine Mutter fuhr sich durch die dichten blonden Haare und schluckte. „Ein Abschied mehr.“ Liebevoll nahm sie meine Hand und drückte sie sanft. „Das geht vorüber, Süße…“
Mein Blick blieb an ihrem Gehstock hängen und ich seufzte leise. Seit sechs Jahren hatte sie aufgrund eines Autounfalls halbseitig Lähmungserscheinung. Sie war auf der Autobahn gefahren, die Bremsen hatten versagt, sie war durch die Mittelleitplanke gekracht, über die Gegenfahrbahn geschlittert. Der Wagen hatte sich dreimal überschlagen und war dann seitlich eine Böschung hinunter gefallen. Erst in einem Baum war er zum Stehen gekommen. Sie hatte Glück im Unglück gehabt, hatten die Ärzte gesagt, sie hätte auch tot sein können. Sie hatte eine hässliche Narbe am Haaransatz zurückbehalten und eben diese Schwierigkeiten mit der Motorik ihrer linken Körperseite. Für meine Mutter war der Unfall trotzdem ein Schlag ins Gesicht gewesen. Mit einem Mal waren alle Träume zerplatzt. Sie hatte gesungen, sehr erfolgreich sogar. Sie hatte klassischen Gesang studiert und Engagements in Wiesbaden am Staatstheater und Frankfurt an der Oper gehabt. Sie war wirklich gut gewesen.
Der Unfall hatte das alles zunichte gemacht. Zwei Jahr Reha, Rückschläge und langes Sitzen im Rollstuhl hatten an ihr gezerrt. Erst allmählich hatte sie gelernt die Behinderung, das fast steife linke Bein und die fast taube linke Hand in den Griff zu bekommen, sich damit zu arrangieren. Mittlerweile hatte sie die Aussetzer so weit im Griff, dass sie kaum noch auffielen. Sie war unglaublich stark, viel stärker als ich es war. Sie hatte sich nie unterkriegen lassen und ihr Leben nicht weggeworfen. Vermutlich hatte sie daran gedacht. Als es passiert war, war sie neunundzwanzig gewesen und ich erst neun. Mich selbst hätte so ein Schicksalsschlag vermutlich niedergemetzelt, aber nicht meine Mutter. Bis heute ist mir kein Wort eingefallen, das meine Bewunderung für sie treffend beschreiben könnte.
Sie hatte sich wieder aufgerappelt und weiter gemacht. Sie sang und synchronisierte – auch für Disneyfilme. Sie war die deutsche Standard-Synchronstimme für eine junge, aufstrebende Amerikanerin namens Ester Collins. Und sie gab Gesangsunterricht und leitete unseren Schulchor.
Einen Vater habe ich nie gehabt. Meine Mutter war mit 19 schwanger geworden, viel zu jung, wie sie zugab, und mein Vater hatte sich nie wirklich für sie oder die Schwangerschaft interessiert. Ich nahm das seltsam phlegmatisch an, hatte auch nie gefragt, wer mein Vater war und ob ich ihn kennen durfte. Mir hat eine Vaterfigur nie gefehlt. Ich war mit so viel Liebe groß gezogen worden, hatte eine große Verwandtschaft und liebevolle, tolle Großeltern, die besten der Welt.
„Sarah, Spatz… ich weiß, das ist schlimm, aber es gibt die Post und das Telefon. Du hast ihre Nummer, ihre eMail-Adresse und ihr könnt euch in den Ferien ja besuchen. Ach ja, du sollst übrigens Andy zurückrufen!“
Meine Tränen versiegten und ich lächelte matt. „Mach ich.“ Andy war mein Cousin und bester Freund. Er hatte eine komplizierte Elternschaft und ich blickte da trotz unserer Verwandtschaft nicht vollkommen durch. Er lebte jedenfalls beim zweiten Mann seiner Mutter und dessen dritter Frau. Beide hatten eine gemeinsame Tochter. Andys leibliche Mutter lebte mit ihrem ersten Mann und Andys leiblichen Vater in zweiter Liebe in Bayern und hatte nochmal ein Kind bekommen. Um nicht zu sagen: Andy war mit den Menschen, bei denen er lebte zwar nicht verwandt, aber adoptiert und verschwägert, was ihn selbst aber nicht weiter störte.
Andy war ein sehr genügsamer Mensch, der das Leben mit einer Lässigkeit hinnahm, die ich manchmal selbst gerne gehabt hätte. Er ging mit mir in eine Klasse, und hatte mehr Freundinnen gehabt als ich mich erinnern konnte. Damals hielt er sich für extrem cool. Andy war eigentlich hoffnungslos romantisch und wartete auf die große Liebe – hätte das in der Öffentlichkeit aber niemals zugegeben. Als ich ihn anrief, wollte er eigentlich nur hören, wie es mir jetzt ging. Natürlich war er auch da gewesen, aber er hatte sich schnell verdrückt. „Schlimm“, antwortete ich nur und schwieg. „Okay, das klingt nach Pizza und Schokoeis. Ich bin in fünfzehn Minuten da.“ Das war das Tolle an Andy. Er war praktisch veranlagt und wir tickten recht ähnlich – vor allem in Bezug auf Kummerbewältigung. Nichts gab es, was Schokoeis nicht lösen konnte. Zwanzig Minuten später saßen wir in meinem Zimmer, aßen Pizza Margaritha und suhlten uns im Selbstmitleid. Kim war auch eine von Andys besten Freundinnen gewesen und ihr Umzug hatte ihn mindestens genauso getroffen wie mich. „Aber sie kommt doch mal wieder her, oder?“, fragte Andy, als er die Pizzaschachtel von sich schob.